1) Ordnung. Was man zählen kann, ist übersichtlich. Vielleicht hat es sogar eine Rangfolge. Aber auf jeden Fall ist es abzählbar. Das beruhigt enorm.
2) Vollständigkeit. Jemand hat sich Mühe gegeben und eine Liste gemacht. Sie hat gut nachgedacht und alles draufgeschrieben, was ihr eingefallen ist. Wir vertrauen darauf, dass sie das ordentlich gemacht hat.
3) Offenheit. Aber, hey!, wenn nicht, dann auch kein Problem! Verlängern wir die Liste! Schließlich gibt es unendlich viele Zahlen, Sterne, Striche!
4) Alltagstauglichkeit. Wir alle arbeiten täglich mit Listen. Einkaufslisten, Hitlisten, Things-to-do-Listen (oder not-to-do). Things to see, before we die. Es funktioniert. Natürlich vergisst man mal was, o.k., aber dann macht man halt eine neue Liste.
5) Beherrschbarkeit. Listen kann man in kleinen Schritten abarbeiten, baby steps, wenn es sein muss. Kein Stress. Und wieder ein Punkt abgehakt!
6) Knappheit. Zeit ist knapp. Aufmerksamkeit auch. Listen bringen Dinge auf den Punkt! Romane kann man später immer noch lesen. Vorher macht man besser eine Liste, welche man lesen will.
7) Buntheit. Listen können das Unvereinbarste auf der Welt vereinen. Queen und die Wildecker Herzbuben, wenn einem danach ist. Ein neues Auto und Klopapier. Die Pyramiden und Gelsenkirchen. Whatever.
8) Inventarisierung. Man zählt durch und weiß, was man hat. Besitz macht stolz. Alles meins. Und nachgezählt! Hey, da fehlt doch was! Sorry, verzählt. Noch mal von vorn.
9) Beschwörung. Zählen hat etwas Magisches. Und Zahlen haben eine tiefere Bedeutung, einige jedenfalls. 1, 2, 3 ganz sicher. 10 sowieso. 13, aber hallo! 42, natürlich. Und alle Prim dazu. Und das eigene Geburtsdatum, natürlich. Und die persönliche Glückszahl. Schließlich hat auch Gott die Welt nach einer ordentlichen Schöpfungsliste in sieben Punkten erschaffen. Und was ist die DNA schon anders als eine Liste?
10) Ordnung. Sagten wir schon? Kann man nicht oft genug sagen. Das Leben ist unordentlich, die Welt ist unordentlich, und der Schreibtisch meistens auch. Listen sind Oasen der Ordnung (und es ist besser, wenn sie 10 Punkte haben statt 9, s. 9).
1. Das Essen wird niemals aufgegessen.
Das war schon bei Star Trek so, der Mutter aller Serien. Aber da hat man es noch verstanden, weil das Essen entweder aus dem Replikator kam oder noch lebte und fidel auf dem Teller herumkrabbelte wie die berüchtigten klingonischen Würmer. Bis heute jedoch wird in jeder Krimiserie das köstlichste Essen eines Sternekochs ebenso stehengelassen wie Moms liebevoll zubereitetes Frühstück oder das sorgsam zu Verführungszwecken für die Liebste hingezauberte Menü bei Kerzenschein. Wahrscheinlich würde es einfach viel zu lange dauern es zu essen, man isst ja heute sowieso nur noch Fast food im Stehen oder Take-Away zwischen Computertastatur und Gym. Die Stars könnten sich auch mit Tomatensauce statt mit Serienruhm bekleckern, was immerhin eine hübsche Ergänzung zu den üblichen Versprechern und Rumflachsereien im Gag Reel wäre. Oder es ist gar kein echtes Essen. Oder die Stars sind alle auf Diät, obwohl sich speziell Polizeireviere vor allem von Donuts und Pizza zu ernähren scheinen. Und schlechtem Kaffee, natürlich. Der Kaffee wird aber immer getrunken.
2. Man spricht nie während der gemeinsamen Autofahrt über das, was man soeben erlebt hat, sondern immer erst nach dem Aussteigen.
Der Ermittler fährt mit seinem Assistenten zum Tatort oder zu einem Zeugen oder wieder weg davon, das kommt ziemlich häufig vor, man kann ja nicht immer nur im Department rumstehen und sich über den Chef ärgern und die Computer die Arbeit machen lassen. Aber offensichtlich gibt es ein Verbot, im Auto miteinander über den Fall zu reden; denn erst, sobald man aussteigt, stimmt man die Taktik ab oder tauscht Eindrücke aus und kommt dabei natürlich sofort auf die nächste geniale Idee. Während der Fahrt muss also strengste Schweigepflicht geherrscht haben. Oder man hat über das Wetter geredet und die Kollegen gelästert. Oder Opern angehört. Tun wir ja alle im Auto, oder?
3. Autos müssen niemals getankt werden.
Obwohl sie wirklich viel benutzt werden in Krimiserien. Immer steht eines bereit, geputzt, frisch betankt, ordentlich von der Inspektion für einsatzbereit erklärt. Auch unvorhergesehene weite Fahrten über Land werden nicht zum Tanken unterbrochen. Wahrscheinlich sind es alles extrem ökologische Dienstwägen mit einem minimalen Verbrauch, selbst die großen schwarzen furchteinflößenden SUVs vom FBI, das zivile Äquivalent eines Panzers, die eigentlich genau so viel Benzin schlucken müssten wie ein solcher. Bekommt aber nur das FBI, diese Wunderautos, das ist wieder eine von diesen Verschwörungen der Regierung.
4. Man ist an jedem beliebigen Ort in jeder beliebigen Großstadt ohne Verkehrsstau in zwei Minuten.
Alle Krimiserien spielen in den Großstädten, weil dort das Verbrechen ist und das bunte Leben und die Filmstudios. Aber während der Normalbürger erkleckliche Teile seines Alltags jeden Tag im Stau verbringt, müssen auch die sechsspurigen Boulevards in amerikanischen Mega-Citys eine Extraspur für Polizeiautos haben. Und jede Menge Abkürzungen, ja geradezu Wurmlöcher – denn egal wo eine neue Spur auftaucht, eine Wohnung gestürmt werden soll, ein frisches Verbrechen begangen wird, die Polizisten sind innerhalb weniger Minuten dort und können gerade noch rechtzeitig das Schlimmste verhindern. Die kürzeste Linie zwischen zwei Punkten wird offensichtlich von Polizeiautos auf magische Weise erzeugt, auch ohne Lalü-Lala.
5. Man sieht auf den ersten Blick auf die erste Seite einer dicken Akte, was in einem mehrseitigen, komplizierten Dokument steht.
Unsereins müsste sich erst mal hinsetzen und die Lesebrille auspacken und dann ganz von vorn bis zum Ende lesen. Aber in den Polizeistationen wimmelt es nur so von Schnellesern und Leuten mit fotografischem Gedächtnis. Ein Blick nur, und flugs haben wir eine Riesenliste von Telefonnummer gescannt, eine Bilanz durchschaut, den Lebenslauf von sieben Bösewichten memoriert. Außerdem steht bei dicken Akten offensichtlich alles Wesentliche auf der ersten Seite. Die restlichen fünfhundert könnte man auch gleich in den Müll tun, niemand schaut sie jemals an. Das Leben würde so viel einfacher sein!
6. Auch komplizierteste Anweisungen an Programme können mit drei beliebigen Tastendrücken ausgelöst werden.
Computer spielen eine immer größere Rolle bei den Ermittlungen, und nicht immer sind die Ermittler ganz up to date. Aber trotzdem sind selbst IT-mäßig minderbegabte Kollegen in der Lage, auf einem fremden Computer mit nur drei Tastendrücken alles Relevante zu finden. Spezialisten müssen die Tasten eigentlich kaum noch berühren; und so schnell, wie sie tippen, könnten sie alle entweder bei jedem Sekretärinnen-Wettbewerb antreten oder sie tippen wirklich nur Blödsinn. Solch bedienungsfreundliche Programm hätte man auch gern, aber nein, man quält sich mit Windows-Menüs! Auch die Rechner stürzen natürlich niemals ab. Das Internet ist niemals zu langsam. Im Internet findet man alles auf den ersten Versuch. Die Welt ist eine Scheibe.
7. Wenn man das Passwort geknackt hat, tauchen sofort aus dem Nichts Berge von Daten und Tabellen auf dem Bildschirm auf.
Offenbar handelt es sich sämtlich um Dateien, die man nicht aus einem Verzeichnis mühsam auswählen und öffnen muss, sondern die sich von selbst öffnen, sobald man sich einloggt; und husch, poppt ein Fenster nach dem anderen auf, und alle sind gleich wichtig, und es ist niemals die Einkaufsliste oder der Berg von Spam dabei. Nein, sobald man das richtige Passwort hat, öffnet sich der Sesam ganz von alleine und spuckt einem sozusagen freiwillig all seine Schätze vor die Füsse, behält den Datenmüll aber zuvorkommenderweise für sich. Das ist endlich einmal wirkliche künstliche Intelligenz!
8. Im Krankenhaus findet man immer sofort den zuständigen Arzt.
Wahrscheinlich haben alle diese Ärzte keine festen Dienstzeiten, sondern immer Bereitschaft. Sie arbeiten nicht nur im Krankenhaus, sondern essen, schlafen, leben, vermehren sich hier. Auch sind sie niemals anderswo auf Visite oder in einer Besprechung, sondern stehen einfach rum und sind immer zuständig und geben bereitwillig und verständlich Auskunft. Krankenschwestern hingegen haben grimmig zu schauen und ihr Revier zu verteidigen. Wahrscheinlich müssen sie das auch, um mit den immer anwesenden Ärzten fertig zu werden.
9. Die Schulstunde ist immer zu Ende, auch wenn der Lehrer gerade erst angefangen hat zu reden.
Es kann natürlich Zufall sein, dass die Ermittlungsbeamten ein Schulzimmer oder einen Vorlesungssaal immer genau zwei Minuten vor Ertönen der Schlussglocke betreten. Oder die Stunden speziell in amerikanischen Bildungsinstitutionen sind generell nur fünf Minuten lang, damit man schneller zur Pointe kommt (was eine Menge erklären würde). Jedenfalls kommt der Zuschauer immer genau rechtzeitig zur Pointe und zur anschließenden Verabschiedung der im Allgemeinen bemerkenswerten aufmerksam und intelligent aussehenden Schüler oder Studenten. So hätte man sich sein Studium damals auch gewünscht, im Fünf-Minuten-Takt und dann noch witzig!
10. Die Frauen sind immer perfekt geschminkt, ob nach dem Sex, in der Küche, beim Joggen.
Das ist ja auch eigentliche eine Selbstverständlichkeit. Ungeschminkt geht ja wirklich keine mehr aufs Klo. Aber erstaunlich ist, dass dieses Make-Up auch einen wirklich anspruchsvollen Morgenlauf oder eine heiße Sexszene unbeschadet übersteht. Außerdem sind all die perfekt geschminkten Frauen immer sorgfältig gekleidet und tragen auch zuhause, wenn sie wirklich keinen Besuch erwarten, High Heels. Man fühlt sich ja einfach besser auf zehn Zentimeter Abstand zum Erdboden.
11. Immer wenn ein zu bekannter Nebendarsteller auftaucht, ist er der Mörder.
Hollywoods Personal ist begrenzt, vor allem für Nebenrollen mit starkem Charakter. Die sind offensichtlich alle in wenigen Schubladen fürs Casting vorsortiert, und es spart ja auch geistige Arbeit, wenn die gleichen Leute immer die gleichen Typen spielen, sowohl für die Darsteller als auch für die Zuschauer. Und sie sehen ja auch wirklich so aus wie die Rollen, die sie spielen. Und es lohnt sich einfach nicht, Leute mit einer mittelhohen Gage für absolute Nebenrollen mit zwei Sätzen zu verbraten; man braucht das Geld schließlich für die horrenden Gagen der Serien-Stars.
12. Immer wenn eine Nebenfigur zwei Sätze mehr als unbedingt nötigt sagt, ist sie der Mörder.
Dialogzeit ist Gold wert. Die Gags wollen untergebracht sein, und die Handlung vorangebracht, und der Zuschauer festgehalten. Sinnloses Rumgerede, Konversation, Smalltalk, das passiert nur anderen Leuten. Nie wird jemand vollgesülzt. Wenn aber doch einmal zwei Sätze fallen, die weder lustig sind noch handlungstragend, dann werden sie sich später mit absoluter Sicherheit als zentraler Schlüssel zur Lösung des Falles herausstellen. In diesem Universum geht keine Information verloren!
13. Hauptfiguren tragen niemals vollständige Schutzkleidung.
Auch wenn absolut regelmäßig das SWAT-Team vor der Tür steht und das Polizeiteam martialisch aufgeplustert mittendrin: Einen Helm tragen Handlungsträger nie. Ist ja auch logisch, man würde sie nämlich nicht mehr erkennen. Er würde auch die Frisur zerdrücken oder gar das nur lässig weggesteckte blonde Langhaar der weiblichen Ermittlerinnen zuverlässig aus dem Weg halten, wenn mal wieder alles drüber und runter purzelt. Deshalb führen die Hauptfiguren zwar das SWAT-Team an, weil sie die wahren Helden sind und nicht dämliche breitschultrige Nebenfiguren, deren Gesicht man besser hinter einem Helm mit Gesichtsschutz verbirgt; aber sie haben dabei sehr zuverlässige Schutzengel, die alle Kugeln am Kopf vorbei auf die schusssichere Weste umleiten. Die Trefferquoten sind übrigens meist sehr ungleich verteilt zwischen Guten und Bösen. Richtet wohl auch eine unsichtbare Hand.
14. Mindestens einmal in jeder Folge versucht jemand wegzurennen, wenn er den Polizisten sieht.
Dabei sollte auch sehr dumpfen Zeitgenossen inzwischen klar sein, dass das die dümmste aller Strategien ist: Wer rennt, ist automatisch schuld, und wenn wir in den USA sind, endet das Ganze leicht mit hässlichen Schusswunden. Aber nein, selbst schwer Übergewichtige zeigen enorme Kondition und Beweglichkeit, wenn der offensichtlich unbesiegbare instinktive Drang einsetzt, vor der Polizei wegzulaufen. Sie könnten ja auch einfach warten, während die Polizisten aus dem komplementären Instinkt heraus schon los gelaufen sind, und sich dann friedlich irgendwo verstecken. Aber so ist das mit Reflexen, wenn die Badge kommt, sprintet der Hund – sorry, der Böse.
15. Wenn jemand allzu klug ist, hat er/sie einen schwerwiegenden menschlichen/sozialen Defizit.
Genies sind Serienfutter. Menschen können die unglaublichsten Dinge, und dazu gehört auch die verschärfte Anwendung von Logik, Einsicht, Intelligenz, sei sie angeboren oder antrainiert, die nun einmal äußerst hilfreich bei der Lösung von Verbrechen ist. Aber niemand mag Besserwisser, Intelligenzbestien, Freaks und Nerds. Es wäre auch ungerecht, wenn diese Monster nicht nur intellektuell überlegen, sondern auch noch sympathisch und liebenswert wären! Deshalb wird die Liebenswürdigkeit für uns Rest-Normalos reserviert. Klugheit hingegen wird bezahlt mit sozialen Absonderlichkeiten, notfalls auch ein wenig liebenswerten Macken, auf jeden Fall mit kommunikativer Inkompetenz. Und am Ende des Tages ist es zwar Klasse, wenn der Fall aufgelöst ist und der Böse sicher hinter Gittern – aber nur die Liebe zählt!
16. Jedes Team wird irgendwann zu einer großen Familie.
Was vor allem in den Specials dann so lange wiederholt wird, bis man es wirklich nicht mehr glaubt; jede Familie, die so oft und viel davon spricht, was für eine große glückliche Familie sie ist, muss ein ziemlich schwerwiegendes Problem haben. Interessanterweise haben die Hauptfiguren in der Serie immer eine kaputte Familie; und wenn einmal einer eine glückliche Ehe führt, wie auch immer bei den beziehungsunfreundlichen Arbeitszeiten, wird der Ehepartner spätestens in der zweiten Staffel ermordet. Aber eben deshalb ist es ja so wichtig, dass es wenigstens im Team ordentlich menschelt, auch und gerade wenn es sich aus den unterschiedlichsten Charakteren zusammensetzt, die sich auf der Straße keine zwei Minuten unterhalten würden. Wenn wir schon unsere Ehepartner nicht lieben und mit den Kindern auch nur rumknatschen, so verstehen uns wenigstens unsere Kollegen!
17. Jeder Ermittler muss irgendwann zum Therapeuten.
Aber nicht vor der dritten oder vierten Staffel. Erst dann haben sich die Hauptfiguren so in unseren Köpfen und Herzen etabliert, dass sie langsam ein bisschen anfangen dürfen, schwach und problematisch zu werden. Aber nur ein bisschen! Denn zum Glück finden sie, ohne jede Wartezeit oder Ärger mit der Krankenkasse, sofort den besten Therapeuten der Welt, der speziell nur für sie gemacht ist und mit dem es sofort klickt. Natürlich dauert keine Session 45 Minuten, aber das braucht ein solcher Super-Therapeut auch nicht. Seine Fragen kommen ganz harmlos daher und treffen immer tief ins Schwarze, dorthin, wo es wohlig wehtut. Ein Leben lang werden wir nach diesem Therapeuten suchen, der uns so mühelos versteht, und wir werden ihn nicht finden. Können wir auch nicht, er arbeitet ja beim Fernsehen.
18. Die schlimmsten Feinde sind nicht die Verbrecher oder die Gangs, sondern das Nachbarrevier/das FBI/der CIA.
Das schlimmste, was einem Ermittlungsbeamten passieren kann, ist, dass es einen Streit um die Zuständigkeit gibt. Polizisten zeigen ein Revierverhalten, da kann der prächtigste Hirsch blass werden. Wenn Hierarchien ausgerangelt werden müssen, kann das Verbrechen schon einmal in den Hintergrund rücken; und die vielbeschworene „Liaison“ ist meist genauso zweifelhaft, wie sie im Deutschen klingt. Zudem ergibt sich dabei die willkommene Gelegenheit, andere Behörden als korrupt vorzuführen und damit selbst einen kritischen Ehrenpunkt setzen zu können. Man mag sich gar nicht ausdenken, wie effizient Verbrechensbekämpfung sein könnte, wenn einmal alle Agenturen wirklich zusammenarbeiten würden!
19. Man muss niemals spülen, niemals putzen, niemals einkaufen, niemals waschen, niemals niesen.
Dabei wird die Effizienz schon dadurch ziemlich gesteigert, dass die Hauptfiguren niemals alltäglichen Tätigkeiten wie Einkaufen, Putzen oder Spülen nachgehen müssen. Die Wohnungen sind mysteriöserweise meist aufgeräumt (haben aber verdächtig wenig Tageslicht), und wenn sich jemand doch einmal dekorativ an den Herd stellt, sind alle Zutaten von magischer Hand um ihn versammelt worden. Wenn dann etwas gekocht wird, wird es nicht gegessen (s. Regel 1). Zwar trägt Frau auch bei der Polizei jeden Tag ein anderes Outfit (s. Regel 10), aber jemand anderes wäscht es; auch wann und wo sie all die schicken Klamotten einkauft, werden wir nie erfahren. Wahrscheinlich hat ein fortschrittliches Polizeirevier inzwischen nicht nur eine Kinderbetreuung, sondern auch einen Wäschedienst und einen Einkaufsservice. Und niemals niest jemand. Noch nicht mal im Gag reel!
20. Genau deshalb lieben wir Krimiserien!
Die Welt ist nicht in Ordnung, und sie ist es doch. Das geht so: Zuerst wird die Welt ein bisschen schwärzer gemalt, als der Normalbürger sie in seinem behüteten Alltagsleben, fernab von Mord und Totschlag und Menschen- und Drogenhandelt erlebt; und wir gruseln uns wohlig auf unserem Sofa. Aber dafür klappt alles andere ein wenig besser, die Leute sind ein bißchen schöner (oder wenigstens charakteristischer), alle eine große Familie und die böse Welt ist auf eine verquere Weise trotzdem heil; und wir fühlen uns getröstet auf unserem Sofa. Und das gleiche jede Woche aufs Neue, immer wieder. Ein Muster, das funktioniert. Alte Bekannte, die uns nicht im Stich lassen (außer nach der sechsten Staffel, durchschnittlich). Mit gerade genug Platz für Variation, damit man nicht allzusehr verunsichert wird, sondern unterhalten, nicht gelangweilt, aber auch nicht überfordert – was eine Wanderung auf einem sehr schmalen Grad ist. Aber der Mensch ist nun einmal ein homo serens, und er steht auf episch. Aber nur in kleinen Portionen, natürlich.
Wir lieben die Deutsche Bahn. Sie brachte uns an den Polarkreis und bis zum Sackbahnhof in Athen kurz vor der Ägäis. Wir verbinden viele schöne Erinnerungen mit ihr, von den ersten eigenen Kinderfahrten in die Sommerfrische bis hin zu den Fahrten mit dem ersten eigenen Kind. Die Bahn hat uns zuverlässig an die unterschiedlichsten Ziele gebracht – früher oder später jedenfalls (in letzter Zeit zunehmend später). Es gibt allerdings einige Regeln, die die kundige Bahnfahrerin beachten sollte, um das Reiseglück nicht völlig zu zerstören.
1) Man meint besonders sicher zu gehen, wenn man reserviert.
Weit gefehlt. Nicht nur ist Reservieren (zunehmend) teuer, so dass auf kürzeren Strecken mit mehrfachem Umsteigen das Reservierungsentgelt dem eigentlichen Ticketpreis, vor allem wenn er im undurchschaubaren Sparpreis-Dschungel ergattert wurde, ziemlich dicht auf den Fersen ist. Nein, Reservieren ist unzuverlässig. Da, wie mehrfach von Zugbegleitern auf Anfrage mitgeteilt wurde, die reservierten Plätze in diesem Super-Hochtechnologie-Betrieb auf Diskette (ehrlich!) an den Zugführer übergeben werden, kann alles mögliche passieren. Keine Diskette, die falsche, ein falsches Format, zerkratzt oder zerknickt, was auch immer. Jedenfalls steht mit schöner Regelmäßigkeit dort, wo eigentlich die teuer bezahlte Reservierung stehen sollte: „Platz ggf. freigeben“. Unkundige Bahnfahrer stürzt das in die völlige Verwirrung, weil sie nicht wissen, dass es Bahnsprech für „Das Reservierungssystem ist mal wieder ausgefallen, es kann also sein, dass jemand diesen Platz reserviert hat, vielleicht aber auch nicht, vielleicht kommt er auch gar nicht, obwohl er reserviert hat, keine Ahnung!“ ist. Deshalb irren allenthalben verwirrte Menschen durch den Zug, die gar nicht mehr wissen, wo sie sich hinsetzen dürfen, da nämlich alle Plätze „ggf. reserviert“ sind. Was der der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtige Bahnreisende mit dieser Formulierung anfängt, ist ein noch größeres Rätsel: Wer ist wohl dieser „ggf.“, der alle Plätze für sich reserviert hat? Früher, als noch praktisch handgemalte Zettel von Zugbegleitern in kleine dafür vorgesehene Behältnisse an den Fensterscheiben angebracht wurden, konnte das nicht passieren. Also im Notfall einfach setzen und das gesparte Geld für einen schlechten Kaffee im Bordbistro ausgeben (außer, s. unter 3).
2) Man meint besonders ungestört und friedlich seine mehrstündige Fahrt verbringen zu können, wenn man sich in eines der Ruheabteile setzt.
Weit gefehlt. Aus nicht ganz erfindlichen Gründen ziehen Ruheabteile Großfamilien magisch an. Es reicht aber auch schon eine ziemlich kleine Familie, um den Lärmpegel im eigentlich stillgestellten Großraumwagen empfindlich ansteigen zu lassen; und er steigt mit zunehmender Fahrzeit (+ Verspätung) + zunehmender Langeweile + zunehmender Gereiztheit der Eltern oder sonstiger Betreuungspersonen gefühlt exponentiell an. Wer sich dann beschwert, ist kinderfeindlich. Natürlich machen Kinder Lärm, kein Problem, und natürlich sollen sie Bahn fahren, möglichst viel und billig sogar; aber vielleicht sollte man dafür einen Lärmwaggon einführen, da man offensichtlich nicht auf den gemeinen Menschenverstand der Erziehungsberechtigten setzen kann. Unbedingt zu meiden sind auch Schulklassen (obwohl das in der Smartphone-Epoche, wo man selbst mit Gegenübersitzenden nicht mehr spricht, sondern elektronisch chattet, deutlich besser geworden ist) und fidele Rentnerklubs sowie diejenigen Mitfahrer, die einfache Piktogramme offensichtlich ebenso wenig verstehen können wie die erzürnten Blicke der Mitreisenden: Wenn nur einer telefoniert im ganzen Abteil, hören wirklich alle mit. Und niemals ist es eine Geschichte, die man wissen wollte.
3) Man meint sich zwischendurch im Bordrestaurant entspannen und gepflegt verpflegen zu lassen, während die reizenden deutschen Landschaften vorüberhuschen.
Weit gefehlt. Ganz abgesehen davon, dass man auf immer mehr Hochgeschwindigkeitsstrecken entweder auf Tunnel- oder Lärmschutzwände blickt, bekommt man auch nicht immer etwas zu Essen. Oder das, was man gern gegessen hätte, weil die Bahn damit wirbt und es auf der Speisekarte auch ganz lecker aussieht. Manchmal, aber das ist selten, bekommt man noch nicht einmal etwas zu trinken; dann gibt es dafür den berühmtem „Abteilverkauf“, für den für eine Flasche Mineralwasser (wenn es aus ist, aber auch nur Cola) von Wagen 11 bis Wagen 2 laufen muss, allein davon verdurstet man schon wieder auf dem Rückweg. Nein, auf langen Strecken gehen offensichtlich die attraktiven Gerichte zuerst aus, und dann eines nach dem anderen auch die unattraktiveren, bis es schließlich nur noch verpackte Sandwiches gibt, mit denen man lieber den etwas klebrigen Boden schrubben würde. Kaffee hingegen gibt es oft schon zu Beginn der Fahrt nicht, weil die Kaffeemaschine – die neben der Klimaanlage das empfindlichste Teil der Bordelektronik zu sein scheint (von den Toiletten reden wir lieber nicht) – mal wieder kaputt ist. Außerdem dauertelefonieren all diejenigen, die aus dem Ruheabteil verjagt worden sind, nun im Bordrestaurant (ist aber eigentlich genauso verboten). Die Geschichten werden auch im Bordrestaurant nicht besser.
4) Man meint, in der Bahn unabhängig vom Wetter bequem und temperiert reisen zu können.
Weit gefehlt. Die schon erwähnten Klimaanlagen, wenn sie denn funktionieren (was sie zunehmend nicht tun), können kühlen. Das können sie sehr gut. Vor allem im Sommer. Wer jemals im Sommerkleidchen mit Sandalen von Hamburg nach München gefahren ist, weiß, wie man sich am Polarkreis fühlt, wenn man die Daunenjacke vergessen hat. Schließlich sitzt man mehrere Stunden ziemlich still, das regt den Kreislauf nicht gerade an; und wenn die Füsse einmal Eisestemperatur erreicht haben, tauen sie auch nicht mehr auf, wenn man bei den kurzen Halten ähnlich panisch wie die Raucher nach draußen springt (Vorsicht, erhöhte Verletzungsgefahr!). Wenn man Glück hat, ist aber einen Wagen weiter die Klimaanlage ausgefallen. Natürlich ist es dann tropisch und feuchtwarm, aber besser ein wenig Schweiß als erfrorene Zehenspitzen. Ehrlicherweise muss man sagen, dass das Problem vor allem Frauen, die von Natur aus frostempfindlich konstruiert sind, betrifft; deshalb beschweren sich die Männer auch, falls der Zugbegleiter doch wider Erwarten nach langem Bitten und Vorzeigen erfrorener Zehen versuchen sollte, die Temperatur zu erhöhen. Insgesamt empfiehlt sich also auch beim Zugfahren, wie beim Bergwandern, für Frauen die berühmte Zwiebeltaktik bei der Bekleidungswahl. Das führt aber leider zu einem Problem bei 5).
5) Man meint, man könne mit der Bahn bequem auch größere Gepäckstücke transportieren.
Ganz weit gefehlt. Die Gepäckfächer sind für Hamsterkäfige ausgelegt, sogar die Handgepäckklappen im Billigflieger kommen einem größer vor. Ganz zu schweigen davon, dass die wenigsten von uns einen XXL-Reisekoffer mal eben über den eigenen Kopf stemmen können (goldene Regel: die körperlich schwächsten Mitfahrer haben immer die schwersten Koffer). Zwar gibt es ein Pseudo-Gepäckfach am Eingang des Großraumwagens, aber zur Reisezeit ist das gefüllt, wenn die ersten drei Reihen ihr Zeug mühsam verstaut und ihren Platz eingenommen haben. Von da an stehen die Koffer, Taschen, Rucksäcke, Musikinstrumente, Surfbretter, Kinderwägen, Fahrräder, IKEA-Monster-Plastiktüten im Weg. Oder auf den ohnehin zur Reisezeit knappen Sitzplätzen. Oder vor den Toiletten (na gut, sind sowieso zur Hälfte kaputt). Man erinnert sich etwas nostalgisch an eine Zeit, in der es noch Gepäckwägen gab, gute Erfindung eigentlich.
6) Man meint, man sei schneller am Ziel, wenn man eine Verbindung mit möglichst knappen Umsteigezeiten wählt.
Völlig daneben. Zwar baut die Bahn für mehrere Milliarden Euro einen ganzen unterirdischen Bahnhof, weil sich dann die Haltezeit in Stuttgart um durchschnittlich sieben Minuten verkürzt. Allerdings verlängert sie sich durchschnittlich um eine Stunde, wenn man den Anschluss-ICE verpasst hat, weil er im Stundentakt fährt. Und das kommt (zunehmend) häufig vor, weil die Verkürzung der Fahrtzeiten bisher vor allem eine Verkürzung der Haltezeiten ist. Eine Haltezeit von fünf Minuten reicht aber in einem größeren Bahnhof schon kaum, um auf ein Gleis am anderen Ende des Bahnhofs zu kommen, zumal wenn man zuerst die ganze Länge eines ICE ablaufen muss (mit Gepäck, siehe oben unter 5), und ohne Kaffee, siehe oben unter 3). Und bei der kleinsten Verspätung ist der Anschluss fort, die Wartepolitik ist nämlich (zunehmend) rigider geworden, damit Verspätungen nicht krebsartig durch das ganze System fortwuchern. Tun sie aber trotzdem. Derweil steht man eine Stunde in Fulda. Kassel. Mannheim. Für den nächsten ICE, der dann natürlich überfüllt ist, weil er die Fahrgäste vom verpassten Anschluss auch noch aufnehmen muss. Am Ende ist man viel später, als wenn man gleich die Verbindung mit den etwas flexibleren Anschlusszeiten genommen hätte (man kann dann auch einen besseren Kaffee in einem der Coffee-Shops am Bahnhof kaufen).
7) Man meint, man könne sich auf die Ansagen des Zugchefs verlassen, der in beruhigendem Ton versichert, der Anschluss nach Stuttgart werde in Mannheim noch erreicht.
Ganz im Gegenteil, bei der Einfahrt sieht man ihn schon ausfahren. Hat wohl doch nicht geklappt, die Kommunikation mit der Leitstelle. Aber auch, wenn der Zugchef in bedauerndem Ton mitteilt, der Anschluss werde heute leider nicht mehr erreicht (wie immer, murmeln die Dauerpendler vor sich hin), ist das keine Gewähr dafür, dass der Zug nach Stuttgart drei Gleise nicht noch ganz friedlich da steht und die fitteren unter den Reisenden (ohne Gepäck) eine gute Chance haben, wenn sie gleich lossprinten. Natürlich kann der Zugchef nicht sagen, dass der Zug noch erreicht wird, wenn es nur noch zwei Minuten sind; denn dann muss man auch den nicht ganz so beweglichen Fahrgästen Zeit geben, die drei Gleise zu überwinden, und das dauert erfahrungsgemäß vier Minuten. Solange man aber noch rennen kann, sollte man rennen; es gilt das Autopsie-Prinzip. Erspart vielleicht eine Stunde in Fulda, Kassel, Mannheim (siehe unter 7).
8) Man sollte niemals mit dem TGV fahren.
Die Sitze sind komfortabler, die Anzeigen besser, das Personal hübscher. Es gibt auch mehr Platz für Gepäck. Nur die Bordverpflegung ist nicht besser, Franzosen halten Essen im Zug offensichtlich für eine Verirrung, die nur Deutschen passiert. Außerdem kommt man mit großer Wahrscheinlichkeit am Ende in Paris an. Trotzdem lieben wir die Deutsche Bahn natürlich.
Es gibt keinen Grund zum Lachen. Nicht nur heute, mit Krieg und Terror und Flucht und Klimakatastrophe und all den neuen Geschwistern der apokalyptischen Reiter. Nein, das war schon immer so; und wer am längsten lacht, hat nur noch nicht verstanden, dass auch ihm am Ende das Lachen im Halse steckenbleiben wird. Totgelacht, heißt die Diagnose. Tatsächlich sind schon Menschen am Lachen gestorben. Menschen können an allem sterben, vor allem aber an der Übertreibung von allem, zu der sie von Natur aus neigen. Es gibt keinen Grund zum Lachen.
Es gibt keinen Grund zum Lachen. Dass Lachen gesund sei, behauptet der allzeit fröhliche Volksmund, aber wenn man weiß, was schon alles in diesem Volksmund gewesen ist, hält man lieber einen Sicherheitsabstand ein. Die Krankenkasse bezahlt zwar das Lach-Yoga und die Lach-Therapie, Scharen sich den Bauch vor Lachen haltender Menschen stehen in Volkshochschulsälen und Parks und gackern gemeinsam ab, was das Zeug hält, einfach so. Hinterher ist man erschöpft, wie nach jedem Sport, und das mag den einen oder anderen kleineren Krieg aufschieben. Aber nicht verhindern. Es gibt keinen medizinischen Grund zum Lachen.
Es gibt keinen Grund zum Lachen. Beim Lachen reißt man den Mund auf und zeigt die Zähne, und auch wenn die heutzutage vollsaniert, lasergebleicht und kieferorthopädisch feinjustiert sind, bleibt das eine archaische Drohgebärde: Ich fress‘ dich gleich, hätte der Urmensch gegrunzt, die Werbung sagt es etwas vornehmer: Damit Sie auch morgen noch kräftig zubeißen können! Der Gebissene weint eine Runde. Der Sieger lacht Tränen. Es gibt keinen Grund zum Sieger-Lachen.
Es gibt keinen Grund zum Lachen. Zumindest keinen guten. Man lacht sehr häufig aus Schadenfreude. Man lacht über das Ungeschick und Dummheit der anderen, man lacht über die Fehler und Macken der anderen. Man übergießt andere mit Spott und mit Häme, man schüttet sich geradezu aus vor Lachen über den Tolpatsch, den Clown, den Pechvogel. In gehobenen Kreisen nennt man das gern Satire, dann darf man sogar alles. Der Pechvogel darf zum Ausgleich über sich selbst lachen. Sonst wäre er ja auch noch humorlos. Es gibt keinen moralisch vertretbaren Grund zum Lachen über Andere.
Es gibt keinen Grund zum Lachen. Lachen verbindet zwar, und geteiltes Lachen ist vervielfachtes Lachen. Aber wer sich zu leicht am Lachen der Masse anstecken lässt, sollte besser gut geimpft sein. Auch die lachende Masse kann kritisch werden; die Ausgelachten bleiben draußen, und vom brüllenden Gelächter ist es nur noch ein kleiner Schritt zum hysterischen Gebrüll. Es gibt keinen Grund zur Verbrüderung im Lachwahn.
Es gibt keinen Grund zum Lachen. Dass Lachen befreit, glauben nur diejenigen, die sowieso schon frei sind. Die anderen bekommen Lach-Reservate angewiesen, den Karneval mit seiner pseudo-anarchischen Aufhebung der fröhlich weiter existierenden Machtstrukturen, das Privatfernsehen mit seiner permanenten Wir-lachen-uns-kaputt-Maschine, Youtube mit seiner unendlich weiter produzierenden Pleiten-, Pech- und Pannen-Show. Wer zu lang lacht, hat sich um den Verstand gelacht. Es gibt keinen politischen Grund zum Lachen.
Es gibt keinen Grund zum Lachen. Die Mona Lisa lächelt, der Buddha grinst, die seligen Engel feixen. Sie sind ja auch Engel, Götter, Idole, und zudem soll man Lächeln nicht mit Lachen verwechseln. Die olympische Götterversammlung wenigstens hat nicht weise gelächelt, sondern aus vollem Herzen gelacht und sich gar nicht mehr eingekriegt über ihren hinkenden Mundschenk; unauslöschliches Gelächter flog auch dem armen betrogenen Hephaistos um die Ohren, als er den Liebhaber seiner Frau auf frischer Tat mit einem selbstgehäkelten Netz umstrickte. Hephaistos fand das nicht so lustig. Christus hat auch nur bei Monty Python am Kreuz noch gelacht, sonst hielt es die heilig-römische Kirche aus gutem Grund mit Lachverboten. Allein der Teufel grinst satanisch im Hintergrund. Es gibt keinen Grund zum Lachen auf dieser Erde.
Es gibt keinen Grund zum Lachen. Dass Tiere nicht lachen, macht das menschliche Lachen nicht automatisch zur einem strahlenden Zacken in seiner eingebildeten Krone. Tiere töten auch sehr selten Art- und Familiengenossen; sie rotten keine Arten aus, sie zerstören nicht die natürliche Umwelt, sie verfallen keine Süchten und keinen politischen Ideologien. Tiere sind mit Überleben beschäftigt, ein sehr ernstes Geschäft. Sie können auch keine Menschen-Videos bei Youtube gucken, obwohl das wirklich lustig für sie sein könnte. Es gibt keinen Grund für die Überheblichkeit des menschlichen Lachens.
Es gibt keinen Grund zum Lachen. Die Philosophen, im allgemeinen wenig lustige Leute, haben zum Ausgleich ihrer penetranten Ernsthaftigkeit den weisen Narren erfunden. Der weise Narr macht sich über die Verkehrtheit der Welt lustig und zeigt ihr dabei ihr angeblich wahres Gesicht. Aber nicht jeder Narr ist weise; und den Unterschied zwischen dem weisen Narren und dem närrischen Narren erkennt nur der Weise. Narren erkennen nur Narren. Und die Welt bleibt sowieso verkehrt, selbst wenn ihr ab und zu doch ein echter weiser Narr den Spiegel vorhält und aus vollem Herzen lacht (vielleicht lacht er ja eigentlich über sich selbst?). Wäre die Welt nicht verkehrt, hätte man das Lachen gar nicht erst erfinden müssen. In der besten aller möglichen Welten ist das Lachen arbeitslos (der Philosoph übrigens auch).
Es gibt wirklich keinen Grund zum Lachen. Wahrscheinlich ist das der einzige Grund für das Lachen.
1) Behandle Kinder wie Menschen!
Kinder sind keine besondere Spezies. Sie sind nicht da zum Knuddeln und Herzen und Verhätscheln – dafür gibt es Haustiere und Teddybären. Kinder sind auch nicht da, damit die Erwachsenen etwas zum Lachen haben oder auf jemand von oben herabschauen können. Man tut Kindern keinen Gefallen damit, dass man die Kindheit zum verlorenen Paradies verklärt: jeder, der Kind war, also genauer: Jeder, weiß, dass die reale Kindheit das nicht ist und niemals gewesen ist, selbst unter den besten Bedingungen. Die romantische Idealisierung der Kindheit ist eine Projektion von Erwachsenen, die keine Lust haben, erwachsen zu werden und einen Vorwand dafür brauchen, sich selbst kindisch aufzuführen. Kindisch ist aber das Gegenteil von kindlich; kindisch ist sein alberner Stiefbruder, er hat eine Clownsnase aufgesetzt und spricht eine seltsam künstliche Sprache, er will immer im Mittelpunkt stehen und die ganze Zeit gelobt sein. Kinder hingegen sind kleine Menschen, aber mit einem durchaus ausgewachsenen Anspruch auf all das, was wir jedem Menschen zugestehen sollten: Menschenwürde, Respekt, Individualität.
2) Sprich ernsthaft mit Kindern!
Zwar muss jedes Kind seine Muttersprache erst verstehen und sprechen lernen, aber die Natur in ihrer unendlichen Weisheit hat dafür gesorgt, dass jedes Kind das auch will und ziemlich schnell hinbekommt, sogar mit mehreren Sprachen. Wenn man allerdings ein eingebildetes Pseudo-Gebabbel mit ihm spricht, macht man ihm diesen mühsamen Job nicht eben leichter. Es lernt dabei nämlich nicht nur eine falsche Sprache, sondern es lernt, dass Erwachsene unendlich leicht zu manipulieren sind. Man muss nur ein bisschen niedlich tun und den Blödsinn wiederholen, den sie einem gerade vorgebabbelt haben, schon sind sie hingerissen. Hinterher wundern sie sich dann, warum das Kind keinen geraden deutschen Satz sprechen geschweige denn schreiben kann. Es hat es so gelernt von euch, deshalb!
3) Spiele ernsthaft mit ihnen!
Das Gegenteil von Spiel ist nicht, einem verbreiteten Irrtum zufolge, Ernst (der Ernst des Lebens!), sondern Regellosigkeit und Chaos. Ein Spiel hingegen ist ein Ausschnitt der wirklichen Welt, durch Regeln gegliedert und durch Abläufe strukturiert; eine kleine Welt für kleine Menschen. Kinder spielen Spiele, wenn man sie denn lässt, mit heiligen Ernst. Sie beharren meist sehr streng auf der Einhaltung von Spielregeln, und wenn es sein muss, erfinden sie sogar neue. Kindlicher Anarchismus hingegen ist eine Wunschvorstellung von regelmüden Erwachsenen, und mit nichts kann man Kinder mehr zur Verzweiflung treiben als damit, dass man ihnen alle Freiheit der Welt lässt. Die viel beschworene kindliche Kreativität entsteht aber nicht aus der grenzenlosen Freiheit, sondern aus einem begrenzten Angebot, das genügend Freiheitsgrade zur schöpferischen Entfaltung innerhalb äußerer Regeln hat. Natürlich können diese Regeln dabei umdefiniert werden; ersetzt werden sie aber nur durch neue Regeln und nicht durch Nichts (von Nichts kommt nämlich Nichts).
4) Mache Kinder neugierig auf Neues, aufs Lernen, auf die Welt!
Kinder leben zweifellos in ihrer eigenen Welt; jedenfalls so lange, bis man sie durch allzu frühzeitigen Medienkonsum davon entfremdet hat und sie sich nur noch für hinreichend laute und grellbunte virtuelle Welten interessieren. Die reale kindliche Welt wächst von Geburt an mit allem, was man Kindern zeigt und zugänglich macht, und je mehr und je vielfältigere Welten man ihnen erschließt, desto begieriger werden sie sie aufnehmen und desto leichter werden sie sich in fremden Welten später zurechtfinden. Weltwissen ist ein Netz mit vielen, vielen Knoten: Und je enger es geknüpft ist, desto mehr Fische wird man fangen. Hingegen ist der sicherste Weg, die natürliche Neugierde eines Kindes zu zerstören, es in eine Art fürsorglicher Schonhaft zu nehmen. Sie kommt daher mit Sätzen wie: „Das ist noch nichts für Dich“, oder „Das verstehst du noch nicht“ (die meist eigentlich bedeuten: „Das interessiert mich auch nicht“, und: „ich habe es auch noch nie kapiert“) und erreicht seine maximal schädliche Wirkung mit dem jedes Jahr zu allen Einschulungsfeiern millionenfach von wohlmeinenden Erziehungsberechtigten wiederholten Satz: „Ach du armes Kind, jetzt musst du in die Schule! Jetzt beginnt der Ernst des Lebens!“ (was eigentlich bedeutet: „Ich fand Schule echt blöd, und ich will auf keinen Fall, dass du besser in der Schule wirst, als ich es war!“) Die Strafen, die man für diesen Satz verhängen müsste, können gar nicht drastisch genug sein. Und wenn man sich dabei die Zunge abbeißen müsste, der einzig pädagogisch richtige Satz lautet: „Endlich darfst du in die Schule! Du wirst lesen und schreiben und rechnen lernen, das sind unglaublich nützliche Dinge! Du kannst dann selbst Bücher lesen, du glaubst gar nicht, wie toll das ist! Und so viel Interessantes wirst du lernen, jeden Tag etwas Neues, ich beneide dich wirklich!“ Denn Lernen ist kein notwendiges Übel und keine Schikane, sondern – man kann es nicht pathetisch genug sagen – ein Quell des Wissens und der Freude und der einzige Weg der friedlichen persönlichen Welteroberung. Und wenn das Kind dabei klüger wird als seine Eltern – umso besser, dann hat diese verkorkste Menschheit vielleicht eine Chance mehr! Und vielleicht können sogar seine Eltern endlich wieder mit Lernen beginnen. Das geht in jedem Alter, übrigens.
5) Interessiere dich ernsthaft für ihre Welt!
Da Kinder kleine Menschen sind, die sich ihre eigenen kleinen Welten erobern, haben sie immer etwas zu erzählen – eine Entdeckung, die sie gemacht haben (es kommt nicht darauf an, ob richtig oder wichtig), eine Freude, die sie teilen möchten (auch wenn es ‚nur‘ eine kindliche Freude ist), eine Ungerechtigkeit, die ihnen widerfahren ist (daraus besteht die Kindheit zu großen Teilen). Sie tun das meist ohne taktische Hintergedanken und unbeeinflusst davon, was man sagen darf oder nicht sagen darf oder was der andere vermeintlich hören will. Meist wollen sie noch nicht mal angeben oder gut dastehen. Sie reden einfach drauflos. Gespräche mit neugierigen und unbefangenen Kindern sind die besten Gespräche, die es gibt, und man sollte sie suchen und schätzen wie seltene Goldstücke. Dafür muss man sie aber als Gesprächspartner ernst nehmen und nicht nur pflichtbewusst daherfragen und dabei in der Suppe rühren: „Und wie war es heute in der Schule?“ Toll, natürlich. Oder meistens eher doof. Wenn man an einer echten Antwort interessiert ist, muss man schon ein wenig genauer fragen. Und das kann man nur, wenn man sich wirklich dafür interessiert, wie es war in der Schule, ganz genau und im einzelnen. Und wenn man davon überzeugt ist, dass man in jedem echten Gespräch mit Menschen, auch mit sehr kleinen, selbst etwas lernen kann. Wer meint, unendlich viel klüger als seine Kinder zu sein, ist natürlich nur daran interessiert, die eigene Weisheit auszubreiten. Man ist aber gar nicht klüger, sondern nur älter.
6) Antworte auf alle ihre Fragen. Wenn du keine Antwort weißt, informiere dich!
Das Risiko solch echter Gespräche ist allerdings, dass einem vor Augen geführt wird, dass man nicht klüger, sondern nur älter ist. Vor allem, wenn das Kind mal wieder eine Frage stellt. Zwar werden wenig Sprichwörter so gern von Erziehungsberechtigten und Lehrern unbedacht im Munde geführt wie: „Es gibt keine dumme Fragen!“, aber daraus ziehen die wenigsten die Konsequenz, dass also jede Frage auch eine kluge Antwort verdient. Allerdings ist niemand von uns allwissend, die meisten haben vielmehr noch nie gewusst, wie ausgerechnet dieser Vogel heißt oder jenes Unkraut (ist halt Unkraut; irgend so ein Piepmatz, wahrscheinlich ein Spatz). Deshalb greifen die meisten, es lebe die kognitive Dissonanz, lieber zur zeitsparenden Antwort: „Was ist denn das für eine blöde Frage!“ – und wieder ist ein Kind in seinem Wissensdrang frustriert und von seinen Eltern enttäuscht (sie sollten doch alles wissen, sie sind doch die Großen!). Ein Loch sollte man sich in den Bauch fragen lassen und sich noch darüber freuen – und dann gemeinsam zu Wikipedia oder was immer gerade Nützliches zur Hand ist gehen und das Loch im Bauch wieder zustopfen. Und wieder hätte man etwas gelernt, vielleicht sogar etwas Unnützes. Aber es gibt gar kein unnützes Wissen (alles webt mit am Netz, s. 4), sonst gäbe es nämlich auch dumme Fragen.
7 ) Lobe Kinder nicht sinnlos, tadele sie nicht sinnlos!
Eine ebenfalls in modernen Erziehungstheorien sehr stark verbreitete Vorstellung ist die von der unendlichen Wirksamkeit positiver Verstärkung: Lobe ein Kind nur genug, und es wird ein stabiles Selbstwertgefühl entwickeln und alle Herausforderungen im Leben meistern! Sicherlich wurden Kinder früher zu viel getadelt; und die Auswüchse eines allzu autoritären, verbotsgesättigten Erziehungsstils konnten dramatisch sein. Nun aber jedes Kind von morgens bis abends in den höchsten Tönen dafür zu loben, dass es seinen Job als Kind macht, also das tut, was ihm die Natur sowieso einprogrammiert hat – essen lernen, schlafen lernen, laufen lernen, sprechen lernen, lernen lernen –, und zwar bei jedem winzigen baby step in die richtige Richtung und notfalls sogar in die falsche, ist ebenso wenig hilfreich. Das Kind lernt als erstes: Gelobt werde ich sowieso, egal ob ich mir Mühe gebe oder nicht, Mama schimpft ja sowieso nie, und Papa ist immer begeistert. Und wenn sie doch schimpfen, heul ich eine Runde. Muss noch nicht mal besonders echt aussehen. Nein, loben will gelernt und dosiert und richtig eingesetzt sein, damit es seine zweifellos segensreiche Wirkung entfalten kann. Und dazu muss man auch mal tadeln. Das steckt jedes gesunde Kind weg, wenn es weiß, dass es nicht besser verdient hat. Nur so erzeugt man echtes Selbstwertgefühl und nicht kleine Tyrannen.
8) Verbote sind erlaubt, aber begründungspflichtig!
Auch Verbote haben einen schlechten Ruf in der modernen Erziehung. Sie setzen voraus, dass sich jemand selbst für klüger hält und deshalb für einen weniger Klugen entscheiden darf; oder, schlimmer noch, dass jemand sich für stärker hält und einem Schwächeren einfach seinen Willen aufzwingen kann. Nun sind Kinder, (s. 1) kleine Menschen und als solche gleichberechtigt; und sie sind (s. 4) nicht prinzipiell dümmer, sondern haben nur noch weniger gelernt und weniger Lebenserfahrung. Warum also sollte irgend jemand ihnen etwas verbieten, und aufgrund welcher Autorität? Tatsächlich ist die Berufung allein auf elterliche Autorität nur in Extremfällen, zur Abwendung akuter Bedrohungen und großen Schadens, gerechtfertigt (dann aber wirklich!). In allen anderen Fällen sollte man in der Lage sein, auf Nachfrage eine halbwegs rationale Begründung für ein ausgesprochenes Verbot liefern zu können (also nicht: „Weil ich es sage!“). Wenn man aber einmal ein Verfahren rationaler Entscheidungsfindung etabliert hat und seine Spielregeln (s. 3) einhält, lernt das Kind mehr aus einem begründeten Verbot, als es aus einer anti-autoritären Spielwiese jemals mitnehmen könnte: nämlich den Gebrauch der eigenen Urteilskraft im konkreten Fall. Dann kann es natürlich passieren, dass Kinder einem umgekehrt etwas verbieten. Und wieder hat man etwas gelernt (s. 6).
9) Verlange nicht von Kindern, was du nicht auch von dir verlangen würdest!
Denn Eltern sind, ob sie das nun wollen oder nicht, ein Vorbild. Das Vorbild schlechthin. Ihre Kinder schauen zu ihnen auf, und wer ihren Respekt zerstört, wird langfristig ganz sicher auch ihre Liebe zerstören. Kinder haben ein extrem stark ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl, das wahrscheinlich in ihrer natürlichen Egozentrik gründet: Keiner soll besser behandelt werden als ich, und das gilt auch und gerade für die Eltern! Warum soll ich keine Schokolade esse, wenn sie es doch ständig tun? Warum soll ich mein Zimmer aufräumen, wenn im Wohnzimmer das totale Chaos herrscht? Warum soll ich nett zu anderen Leuten sein, wenn sie ewig über andere herziehen und total unhöflich sind? Nein, die größte Verantwortung für Eltern ist nicht, immer nur das Beste für ihr Kind zu wollen; es ist, selbst das Beste auch zu tun, und zwar stündlich, täglich, immer, so konsequent und zuverlässig wie möglich! Kindererziehung ist Selbstdisziplin in Reinform und damit die beste Chance, selbst endlich erwachsen zu werden. Schlechte Vorbilder sehen Kinder anderswo noch genug; davor kann sie sowieso niemand schützen. Und es ist ja nicht so, dass es zuhause niemals Schokolade geben darf und das Zimmer immer picobello sein muss. Wie in allen guten Dingen ist es auch hier das Maß, das entscheidet; und die richtige Dosierung lernt man, auch hier, nur durch Übung der Urteilskraft in der Praxis, was auch bei den meisten Erwachsenen bitter nötigt ist (s. 8).
10) Lüge Kinder nicht an. Niemals.
Kein Mensch will von Natur aus lügen. Das Gehirn will das nicht, Lügen ist mühevoll, und es kostet Energie, sich irgendwelche Geschichten auszudenken und sie sich zu merken. Es gibt auch keinen Grund, die Unwahrheit zu sagen; das führt nur zu Ungerechtigkeit (s. 9). Ein Kind, das das Lügen nicht von den Erwachsenen gelernt hat, wird immer die Wahrheit sagen. Es fühlt sich unwohl beim Lügen. Wenn es allerdings sieht, dass man große Vorteile ganz leicht durch Lügen erlangt, und dass man auch nicht dafür bestraft wird, wird es das Lügen lernen. Machen ja doch alle, sagen die Großen. Ist nicht so schlimm. Gibt sogar lustige Geschichten von ganz großen Lügenbolden. Das sind aber Geschichten, würde ein kluges und ehrliches Kind sagen, habt ihr den Unterschied nicht begriffen?
11) Verwende Kinder niemals zur Befriedigung deiner eigenen Bedürfnisse oder zur Kompensation deiner Niederlagen!
"Mein Kind soll es einmal besser haben als ich!" Was so harmlos als erzieherische Generalmaxime, ja geradezu als ultimative Selbstverleugnung daher kommt, hat eine hässliche Rückseite. Ich bin mit meinem Leben nicht zufrieden, steht da kleingedruckt in dunkler Schrift; ich habe es nicht geschafft, aus welchen Gründen auch immer, die Welt war böse zu mir, ich war einfach nicht gut genug, aber mein Sohn, meine Tochter – die werden es schaffen, die werden es der Welt zeigen! Und flugs haben die armen Kinder ein schweres Gepäck auf ihren schwachen Schultern aufgeladen bekommen: Sie sollen all das endlich wahr machen, was ihren Eltern versagt war! Das elterliche Bedürfnis dahinter ist durchaus verständlich, und es muss auch gar nicht immer schiefgehen. Aber allzu oft ist „das Beste“ für das Kind eben doch „das Beste“ seiner Eltern: Denn woher sollten sie überhaupt wissen, was das persönliche Beste dieses kleinen, noch ganz schemenhaft erkennbaren Wesens ist? Oder vielleicht will es sogar gar kein Bestes, sondern ist zufrieden mit freundlicher Mittelmäßigkeit und Bescheidenheit, wer weiß? Kinder hingegen wollen immer auch das Beste für ihre Eltern, und das ist ihr gutes Recht. Eine glückliche Familie zum Beispiel. Dass Mama und Papa sich liebhaben und nicht streiten. Wenn man sich mit seinen Kindern darauf einigen könnte, dass das das Beste für alle wäre, wäre schon viel gewonnen.
12) Vergiß deine Kindheit nie!
Deine reale Kindheit, nicht die eingebildete oder nostalgisch verklärte Version. Im Guten wie im Schlechten. Sonst wirst du nie erwachsen werden.
I'm only human, don't put the blame on me!
Rag N Bone Man
Even if it's not your fault it's your responsibility.
Terry Pratchett
Ursprünglich ging die Geschichte so: Adam und Eva waren im Paradies, und sie kannten weder Gut noch Böse und deshalb auch keine Schuld. Dann kam die böse Schlange und verführte sie, mit einem Apfel oder was auch immer, darauf kommt es im Einzelnen nicht an. Worauf es hingegen ankommt, ist, dass Eva und Adam sich einem göttlichen Verbot widersetzt hatten – „macht was ihr wollt, aber lasst die Finger vom Baum der Erkenntnis, das bekommt Menschen nämlich nicht!“ – und dafür mit Vertreibung aus dem Paradies des Nichtwissens in eine Welt höchst unsicheren Wissens bestraft wurden, lebenslänglich und bis ins xte Glied ihrer Nachkommen. Adam und Eva waren schuldig geworden – aber eigentlich schuld war doch die Schlange, oder? Wenn sie nicht mit verbotenen Früchten gelockt hätte, wäre ja nichts passiert! Nein, Adam und Eva konnten gar nichts dafür, schließlich hatten sie ja noch gar keinen freien Willen zu diesem Zeitpunkt!
Mit der Vertreibung aus dem Paradies des Sündenfalls wegen begann also nicht nur die Geschichte der menschlichen Freiheit; es begann auch die unendliche Suche nach dem eigentlich Schuldigen, das blame game. Mit Eva und Adam ist nämlich die Schlange aus dem Paradies entkommen, und sie verführt uns arme Menschen bis heute. Tückischerweise häutet sie sich dabei ständig und erscheint dadurch in immer neuer Gestalt. Immer aber ist und bleibt sie schuld (denn was wäre die Alternative?). Und ihre Lieblingsgestalten sind:
1) der Bruder/die Schwester/der oder die Anderen!
Schon kleine Kinder wissen ganz genau, wer für den verschütteten Brei, das kaputte Spielzeugauto oder die heruntergerissene Lampe verantwortlich ist: der böse Bruder natürlich! die gemeine Schwester! Die armen Einzelkinder haben es etwas schwerer, aber mit dem ersten Spielkameraden findet sich auch der erste Schuldige: Sie hat angefangen! Nein, er war es! Das lernt jedes Kind von seinen Eltern seit Adam und Eva. Und das ändert sich auch nicht grundlegend im weiteren Verlauf des Lebens: Sobald ein anderer da ist, ist er potentiell schuld. Schlangen sind überall, es sind immer die anderen.
2) der Lehrer!
In der Schule lernt man fürs Leben. Das klappt nicht immer. Manchmal lernt man auch gar nichts, manchmal lernt man das Falsche, manchmal hat man spontan alles vergessen, was der Lehrer jetzt schon wieder von einem wissen will. Daran ist natürlich der Lehrer schuld. Hat er die armen Kinder wieder überfordert oder unterfordert, hat er nicht gut und spannend genug erklärt, war er zu schnell oder zu langsam, ist er überhaupt ein Langweiler oder ein Nichtskönner? Schließlich weiß jeder, der selbst einmal in die Schule gegangen ist (also jeder) aus eigener Erfahrung, dass die Lehrer immer schuld sind. Sonst wären ja schließlich die Kinder schuld, und die sind schließlich noch Kinder und daher allgemein vermindert schuldfähig. Das Muster funktioniert bestens bis weit ins Studium hinein und wird im Evaluationszeitalter geradezu heilig gesprochen (komischerweise ist noch nie einer auf die Idee gekommen, die Schüler oder Studenten zu evaluieren, und Noten sind keine Evaluation): Die Schlange schlängelt sich durch alle Bildungsinstanzen.
3) die Eltern!
Spätestens ab der Pubertät sind die Eltern an der Reihe: Was haben sie einen vermurkst mit ihrer komischen – wahlweise autoritären oder anti-autoritären, aber auf jeden Fall falschen – Erziehung! Erziehung funktioniert offensichtlich nie, und es ist ein Wunder, dass sich überhaupt noch jemand damit Mühe gibt (andererseits wollen all die Erziehungsratgeber verkauft werden). Erziehung ist allerdings nur verantwortlich für schlechte Eigenschaften und misslungene Lebensentscheidungen (s.u. 12, bad lifestyle choices); hingegen ist alles, was gut und gelungen an uns ist, natürlich unser eigenes Werk. Das Muster erinnert an die Bankenkrisen der jüngeren Gegenwart: Geht das Geschäft gut, bekommen die Manager exorbitante Boni, weil sie so klug und vorausschauend gehandelt haben. Geht es schlecht, bezahlt der Staat exorbitante Beträge aus dem Steuereinkommen, weil er nicht gut genug aufgepasst hat. Genauso bezahlen Eltern in der Regel ewig für ihre Erziehungsschuld und kassieren nie für ihren Erziehungserfolg. Als Faustregel fürs Blamegame kann man hier schon vorläufig einmal festhalten: Erfolge gehen immer auf das Konto des Individuums, Misserfolge werden immer vergemeinschaftet. Oder hat man schon mal gehört, dass Adam und Eva sich bei der Schlange dafür bedankt haben, dass sie endlich frei wurden?
4) der Partner/die Partnerin!
Ist man endlich in ein Alter gekommen, wo man selbst die Verantwortung für sein Handeln übernehmen kann – sagen wir also, rein fiktiv, mit der Volljährigkeit –, übernimmt der Beziehungspartner direkt von den Eltern die Schuldenlast. Natürlich nicht gleich am Anfang, wenn man noch frisch verliebt ist und es sowieso keinerlei Anlass gibt, sich zu beschweren und nach Schuldigen zu suchen. Aber sobald die Verliebtheit zur Beziehung mutiert, beginnt das Schuldkarussell: Hättest du nicht – wärest du doch – kannst du nicht einmal? Beziehung ist Arbeit, und wo gearbeitet wird, fallen Erfolg oder Versagen, Leistung oder Minderleistung an. Die gegenseitigen Rechnungen können ins Unendliche wachsen und werden beim Scheidungsanwalt abbezahlt. Die Schlange ist schon ganz fett gefressen davon.
5) der Kollege/der Chef!
Das Gleiche gilt dort, wo im engeren Sinne des Wortes gearbeitet wird, also: im Job – und das Arbeitsleben bietet geradezu unendliche Möglichkeiten zur Schuldverschiebung. Berufliche Hierarchien sind nämlich nicht nur dafür da, Gehaltsunterschiede zu rechtfertigen, sie sind auch Verantwortungs- und Schuld-Verschiebebahnhöfe! Seien es unfähige Bosse oder faule Beamte, technische Nieten oder überarbeitete mittlere Manager, einer verschiebt die Schuld fröhlich zum anderen und wieder zurück, und so vagabundiert sie durch die Hierarchien; mal ist sie hier, mal ist sie dort, aber sie wird schneller weitergereicht als eine heiße Kartoffel, so dass man sie eigentlich niemals zu fassen bekommt. Und überall, wo ein Team arbeitet, ist der Einzelne sowieso aus dem Schneider: Das Team hat es verbockt, keine Ahnung, ich hab‘ zwar dazu gehört, aber es macht doch jetzt keinen Sinn, das auf den Rücken Einzelner auszutragen oder? Am Ende wird evaluiert. Oder es gibt Feedback (nur positiv, natürlich). Beides hat normalerweise keinerlei Konsequenzen. Die Schlange lacht sich kringelig.
6) der Trainer!
Der Sport, genauer: der Leistungs- und Profisport, hat ein eigenes Unterkapitel verdient. Mühsam hat es unsere Zivilisation dahin gebracht, dass eigens herangezüchtete Leistungssportler Unsummen Geldes für schier unglaubliche körperliche Leistungen vollbringen. In Wettbewerben treffen sie aufeinander, um sich zu messen, dabei wird noch viel mehr Geld verdient, und am Ende hat einer (oder eine Mannschaft) gewonnen. Und wer ist schuld, dass die anderen verloren haben, oder dass es wieder einmal nicht so viel Medaillen gegeben hat, wie beflissene Funktionäre vorher auf geduldigem Papier prophezeit haben? Der Trainer natürlich. Wird sofort entlassen. Der neue hat ein, höchstens zwei Spiele Zeit, sich zu bewähren. Dann wird er wieder entlassen, wenn’s nicht gleich geklappt hat. Zum Glück dreht sich das Ganze im Kreis, und der Entlassene findet mit einigem Glück schnell wieder eine Stelle bei einem anderen Verein, der gerade seinen Trainer entlassen hat. Dass die Spieler schlecht gespielt haben, die Schwimmer nicht schnell genug geschwommen sind etc. etc. etc. – o.k., schlechten Tag gehabt, geht uns doch allen so, und der Stress! Nee, schuld sind die Trainer. Harter Job, sagt die Schlange.
7) der Arzt!
Gesundheit ist nicht nur eine des höchsten, sondern auch eines der heikelsten Güter. Das realisieren die meisten von uns erst, wenn es zu spät ist. Natürlich, man hätte sich ja die Zähne regelmäßig putzen können, dann würden sie einem nicht schon von der Rente ausfallen. Man hätte das Rauchen sein lassen können, hat eh nie so richtig geschmeckt, und man hat gestunken. Ja, mehr Bewegung, man hat es ja immer wieder versucht, aber wo soll man die Zeit hernehmen? Gesunde Ernährung, sowieso, aber ab und zu muss man halt sich was gönnen! Und jetzt sagen die Ärzte, dass man da nichts mehr machen kann! Da holen wir uns aber erst mal eine Zweitmeinung, oder? Überhaupt, Ärzte, die wollen doch nur Geld verdienen an den Krankheiten der Leute, darum machen sie uns alle kränker, als wir sind! Und eigentlich sollte man, bei all dem Fortschritt in der Medizin, doch endlich mal ein Mittel gegen Demenz oder Diabetes oder gegen Altern überhaupt gefunden haben! Jetzt sollen wir unser Leben ändern. Als ob man für seine Gesundheit verantwortlich wäre (s.u., die Gene). Es war die Schlange, die ganze Zeit, und sie hat uns mit Hamburgern vollgestopft, auf die Couch gefesselt und die Joggingschuhe versteckt! Und außerdem waren es -
8) die Gene!
Damit kommen wir endlich zu den großen Schuldträgern, den Hauptverantwortlichen für die menschliche Misere insgesamt. Erster Kandidat: das Evolutions-Roulette - kann ich doch nichts dafür, wenn ich schlechte Gene habe! Interessanterweise wird das Argument oft vorgetragen von Leuten, die im nächsten Atemzug ein Glaubensbekenntnis zum freien Willen des Menschen abgeben, und man ist geneigt zu sagen: Was denn nun? Denn selbst wenn man, vernünftigerweise, davon ausgeht, dass Natur und Kultur, Angeborenes und Erlerntes, miteinander interagieren und nur wenige Dinge in den Genen so festgelegt sind wie die Haarfarbe oder eine Erbkrankheit, bleibt die Frage: Wie kann ein Wille wirklich frei sein, wenn er zu – naja, je nachdem, mal zu 20, mal zu 50, mal zu 80 % genetisch bestimmt ist? Aber vor der Hand leben wir alle in schöner Schizophrenie vor uns hin: Wenn es uns passt, ist der Wille frei, und wir können uns unsere Erfolge selbst zuschreiben; und wenn es uns nicht passt, sind die Gene schuld, und wir hatten keine Wahl (s.o., der Vergemeinschaftungstrick). Schließlich könnten wir, wenn der Wille frei wäre, auch die Schlange endlich töten; aber wir behalten sie lieber weiter in ihrem Schlangenkorb, aus dem wir sie jederzeit wecken können, wenn wir sie brauchen.
9) die Gesellschaft!
Die Gesellschaft ist immer dann schuld, wenn man ein Verhalten rechtfertigen möchte, das gegen lästige Normen oder Konventionen verstößt – indem es zum Beispiel Triebverzicht oder Bedürfnisaufschub oder auch nur eine gewisse Disziplin von uns verlangt. Dann erklärt man eben diese Regeln und Konventionen flugs zu verkrustet, erstarrt und überholt, und schon kann man machen, was man will und gilt sogar noch als unkonventionell, freier Geist und vorbildlich unangepasst. Gesellschaft ist in dieser Entschuldigung ein Synonym für systematische Unterdrückung, unter der das arme geknechtete Individuum stöhnt und ächzt. Natürlich funktionieren menschliche Gesellschaften nur, wenn sie Regeln, Konventionen und geteilte Werte haben, sonst wären sie Kegelvereine oder Aktiengesellschaften. Und im Großen und Ganzen leben die meisten auch ganz gut damit. Aber hier funktioniert der Vergemeinschaftungstrick besonders gut: Für gelungenes, friedfertiges, förderliches Zusammenleben ist nämlich nicht die Gesellschaft verantwortlich – denn wer soll das eigentlich bitte sein, außer den konkreten Einzelnen? Für Reibungen, Spannungen, Probleme im Zusammenleben hingegen wird die Gesellschaft in Vollkasko-Haftung genommen – denn schließlich kann sich keiner ihrem kollektiven Druck widersetzen, hier wirkt die Masse! Die Schlange liebt die "Gesellschaft". Schade, dass es sie im Paradies noch nicht gab.
10) die Medien!
Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass es im modernen bürgerlichen Staat drei Gewalten gibt. Inzwischen gibt es definitiv mindestens vier Gewalten (und es besteht der Verdacht, dass „die Wirtschaft“ noch eine fünfte ist, die sogar gewaltiger ist als alle anderen zusammen). Die vierte sind die Medien, und sie sind weitgehend unkontrolliert, nehmen aber für sich in Anspruch, die drei klassischen Gewalten (Legislative, Judikative, Exekutive, und die sind sowieso kaum noch auseinander zu halten) zu kontrollieren. Niemand kann sich den Medien entziehen, und ihr Herrschaftsbereich wächst mit jedem Tag, an dem Gott das Internet wachsen lässt. Bevor wir nur die geringste Chance haben, uns ein Weltbild zu formen, ertrinken wir schon in einem Meer von Bildern; bevor wir einen ersten eigenen Gedanken fassen können, werden wir mit Meinungen überschüttet; bevor wir Freunde gewinnen, haben wir Follower und verteilen Likes. Medien wecken Bedürfnisse, von denen wir vorher nicht wussten, dass wir sie hatten; sie erzeugen Sehnsüchte, die das Leben nie befriedigen kann. Die Medien sind die größte Schlange von allen geworden, und man bräuchte schon ein Heer von Schlangentötern, um sich dagegen zur Wehr setzen zu können! Bis dahin jedoch sind sie schuld, an allem: an falschen Vorstellungen vom Leben, an schlechten Vorbildern, an Shitstorms und Kinderpornographie, am ins Unendliche wachsenden Materialismus um des lieben Wachstums willen, an der unendlichen Simplifizierung der Welt zum Zweck ihrer Darstellbarkeit in Bildern und Dreiwortsätzen. Und so weiter. Man könnte natürlich abschalten. Aber die Schlange grinst von allen Kanälen, hochaufgelöst und in 3D.
10) das System/die Globalisierung!
Die Medien in Verbindung mit der Gesellschaft haben eine ältere Variante eines Globalschuldigen abgelöst, der in der zweiten Hälfe des 20. Jahrhunderts mit seinen ideologischen Grabenkämpfen der absolute Favorit im blame game war: das gute alte System nämlich – egal, ob das kommunistische oder kapitalistische oder der Katholizismus. Das System war ebenfalls eine anonyme Unterdrückungsmaschine, der man sich nicht entziehen konnte und die den Einzelnen zum willenlosen Rädchen in einer großen Maschine machte; deshalb war Widerstand geradezu Pflicht für das aufrechte Individuum! Inzwischen haben sich die großen Systeme bis zur Ununterscheidbarkeit vermischt, und sogar die meisten Religionen überlassen ihre Schäfchen im Großen und Ganzen ihrem ziemlich fragwürdigen Gewissen. Ihr Nachfolger ist, mehr oder weniger, die Globalisierung, die nun den gesamten Globus als Freihandelszone und Menschenrechtsreservat umzieht. Der Globalisierung jedoch kann man sich noch weniger entziehen als den Systemen, die wenigstens in einer gewissen Konkurrenz standen; nur noch einige Nischen existieren, in denen sehr in die Jahre gekommene isolierte Systeme vor sich hin erstarren (in Nordkorea zum Beispiel). Die Schlange aber hat sich aufgepumpt und umspannt jetzt die ganze Welt (und nach Nordkorea will wirklich keiner migrieren, selbst wenn sie alle Grenzen öffnen würden).
11) der freie Wille selbst!
Für den äußerst unwahrscheinlichen Fall, dass all diese Entschuldigungs-Mechanismen – die man auch noch weiter schuldmindernd kombinieren kann! – doch einmal nicht funktionieren, weil man als unabhängig handelnder Einzelner ganz allein definitiv großen Mist gebaut hat, bleibt eine allerletzte Hintertür: die bad lifestyle choice. Das ist mehr oder weniger unübersetzbar, bedeutet aber im Kern: Ich habe aus freiem Willen Mist gebaut (nämlich einen falschen Lebensstil gewählt); ich bin aber nicht verantwortlich dafür, weil jeder das unhintergehbare Menschenrecht hat, schlechte Entscheidungen zu treffen, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden. Der freie Wille selbst ist schuld! Menschen machen Fehler, Irren ist menschlich, nobody is perfect, und richtet gefälligst nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet! Das ist ziemlich raffiniert, und die Schlange ist stolz auf ihre Sophistik. Die Logik dieser Entschuldigung geht so: Der Mensch hat einen freien Willen. Das wird dadurch bewiesen, dass er falsche Entscheidungen treffen kann (ein besserer Beweis ist noch niemanden eingefallen, außer: es kann ja wohl nicht sein, dass wir deterministische Maschinen sind oder tierische Instinktwesen, und was nicht sein darf, kann bekanntlich auch nicht sein). Wäre der Mensch ein Vernunftwesen, würde er ja nur richtige Entscheidungen treffen! So aber wird jede falsche Lebensentscheidung geradezu zum Adelsdiplom: Erst im Irren zeigt sich das eigentlich Menschliche – und nicht etwa im mühsamen rationalen Urteilen, das auf Wissen und Erfahrung und Nachdenken beruht und danach strebt, gute, tragfähige, lebensfreundliche Entscheidungen zu treffen. Irren ist also nicht nur menschlich, sondern Menschlichkeit ist Irren! Je mehr irren, desto menschlicher! Die logische Verkehrtheit dieses Umkehrschlusses zeigen beliebige Beispiele: Nasebohren ist menschlich, ergo: Menschlichkeit ist Nasebohren! Je mehr Nasebohren, desto menschlicher! Die Schlange beißt sich selbst in den Schwanz.
Das wäre nun alles nicht schlimm und nur ein lustiges blame game, wenn Handlungen nicht Folgen hätten – und zwar nicht nur für einen selbst, sondern für andere, die sich unter Umständen nicht dagegen wehren können. Fehler werden gemacht, und Menschen leiden darunter. Wenn niemand mehr Schuld ist, will aber auch keiner mehr Verantwortung übernehmen. Soll die Gesellschaft doch richten! Die Globalisierung. Die Medizin. Der Paartherapeut. Die Jugendämter. Die Versicherungen. Leute, die dafür bezahlt werden. Andere Leute eben! Schließlich sind sie auch schuld!
Die Tür zum Paradies ist verschlossen. Manchmal möchte man gern dorthin zurück fliehen; man könnte auch seinen freien Willen gern wieder am Tor abgeben, wenn man dafür nicht die ganzen Pseudo-Entschuldigungen hören müsste, die die Welt mit einem klebrigen Zuckerguss der moralischen Selbstgerechtigkeit überziehen. Aber zum Glück ist man wenigstens nicht schuld an der Vertreibung. Adam und Eva waren schuld. Oder die Schlange. Oder eigentlich Gott, weil das ganze ja nur ein fieser Test war, und warum gab es eigentlich überhaupt Schlangen im Paradies? Kluge Tiere, Schlangen. Wenn der Schlangenbeschwörer die Flöte spielt, nehmen sie eine Drohhaltung ein; sie sind im Übrigen taub und regieren sowieso nur auf Bewegung. Der Flötenspieler kann sich derweil einbilden, er hätte sie beschworen. Sie könnten ihn auch töten. Wenn man ihnen nicht den Giftzahn entfernt hätte. Genau wie einem freien Willen, der so frei ist, dass er keine Schuld mehr kennt. Entschuldigt für immer (denn die Alternative ist undenkbar).
1) Man versteht nicht, weil man nicht zuhört.
Der Klassiker. Zuhören ist eine der unterentwickelsten Tugenden der Menschheit, so erstaunlich das klingt. Wie alle menschlichen Tugenden und Fähigkeiten funktioniert nämlich auch Zuhören nicht einfach so von selbst, sondern will geübt werden, am besten von Kind an. Gerade Kindern aber wird, in einer der fatalen Gutgemeintheiten moderner Erziehung, nahegelegt, bloß nicht zuzuhören: Geh, das verstehst du nicht. Erklär ich dir später. Zerbrich dir mal nicht den Kopf, das machen die Großen schon. Geh lieber spielen. Du willst mir eine Geschichte erzählen? Na gut, aber ganz schnell. Nein, im Gegenteil: Wer Ohren hat zu hören, der höre, so heißt es schon in der Bibel! Ist aber gar nicht so einfach in einer Zeit, wo die Hälfte der Menschheit mit schallisolierenden Kopfhörern herumläuft, um anderen bloß nicht zuhören zu müssen. Wenn Konzentration und Ablenkung streiten, gewinnt die Ablenkung immer. Ist der energetisch günstigere Zustand. Zuhören aber hieße, sein Gehirn in ihm fremde, vielleicht sogar neue Gehirnwindungen legen zu müssen, Synapsen zu aktivieren, die friedlich vor sich hinschlummern. Viel zu anstrengend! Chillen wir lieber zusammen eine Runde!
2) Man versteht nicht, weil man im Stress ist.
Zeit ist Geld, und Zuhören kostet Zeit. Man muss sich auf jemand einlassen, man muss ihn einen Gedanken in Ruhe entwickeln lassen, man muss sich selbst für einen Moment abschalten, das ständige innere Selbstgespräch auf stumm stellen und seine Antennen ausfahren. Das ist alles viel zu mühsam, und man könnte in der gleichen Zeit auch auf dem Handy surfen, Katzenvideos schauen oder eine Runde mal auf Facebook schauen. Du, tut mir echt leid, aber ich hab‘ gerade keine Zeit. Ein anderes Mal, versprochen? Und schön, dass wir geredet haben, echt!
3) Man versteht nicht, weil es einen nicht interessiert.
Wir alle sind in erster Linie Sprecher und nicht Hörer. Von uns selbst wollen wir reden und hören, von uns selbst bekommen wir nicht genug; das gilt aber leider auch für alle anderen, und so fallen wir uns ständig ins Wort, um das Gespräch auf das einzig wirklich interessante und wichtige Thema zurückzubringen: uns selbst. Warum auch sollten einen die komischen Meinungen oder Geschichten anderer Leute interessieren? Kommt sowieso immer das Gleiche. Oder sie wollen einen belehren, noch schlimmer; dann stellt man gleich auf Durchzug, das hat man schon in der Schule gelernt. Interesse aber, das weiß der Lateiner (nicht abschalten!!!), heißt wörtlich: Dabei sein, bei der Sache sein, teilnehmen; Kommunikation ist, ebenfalls wörtlich, Teil-nahme. Teilen aber funktioniert nur gegenseitig. Aber, hey, wen interessiert das schon!
4) Man versteht nicht, weil man nicht versteht.
Die meisten elaborierten (ausgearbeiteten, entwickelten) Sprachen haben einen großen Schatz an Worten. Die deutsche Sprache beispielsweise soll ca. eine halbe Million Wörter haben, und täglich werden es mehr. Und das ist eine gute Sache, weil man mit einer sehr ausdifferenzierten (in kleine Einheiten unterteilten, fein strukturierten) Sprache sich präziser äußern kann. Der Durchschnittsbürger allerdings kommt mit einigen tausend Wörtern aus. Und sie mögen bitte nicht in allzu komplizierten Sätzen aneinander gereiht werden; Nebensätze sind für Literaten (Schönschreiber). Kann man das nicht einfach und verständlich sagen? ist der Lieblingssatz des sparsamen Wortbenutzers. Nein, kann man leider nicht immer. Die Welt wird jeden Tag komplizierter (verwickelter, schwer durchschaubarer) und komplexer (nein, nicht das gleiche, sondern auf vielen Ebenen verflochten, verwoben), aber wir meinen ihr mit einem restringierten (gefesselten, künstlich begrenzten) Wortschatz und Dreiwortsätzen gerecht zu werden. Es lebe Twitter!
5) Man versteht nicht, weil man meint, schon verstanden zu haben.
Es gibt Leute, die nehmen einem immer das Wort aus dem Munde. Es sind Schnellmerker und Besserwisser, und wenn sie selbst reden, neigen sie zu sprachlichen Schnellschüssen. Aber wahrscheinlich behindern wenige Dinge das Verstehen so effektiv wie die Überzeugung, schon verstanden zu haben; ich bin schon da!, ruft der Igel triumphierend jedes Mal, während der Hase noch an einem schönen langen präzisen Satz mit vielen Haken und unerwarteten Wendungen arbeitet. Eigenes Verstehen, das man niemals mit fremden Verstehen abgleicht, versteinert. Wahres Verstehen hingegen höret nimmer auf; es arbeitet sich ab an der Welt und an anderen Menschen, aber es bleibt beweglich und fließt und höhlt mit der Zeit nicht nur den stärksten Stein aus, sondern macht eine Skulptur aus ihm: ein verstandenes und durchgearbeitetes Stück Welt. Wisst ihr alles schon? Hab ich mir doch gedacht.
6) Man versteht nicht, weil Verstehen schmerzhaft oder gefährlich oder folgenreich wäre.
Man kann nicht alles verstehen. Wer alles verstanden hätte, würde es nicht mehr aushalten in dieser Welt der Imperfektion und des Leidens (außer er wird religiös und delegiert das Verständnis an Gott, der bekanntlich alles versteht). Unser Gehirn schützt sich, instinktiv, vor allzu schmerzhaften Einsichten, die negative Folgen für uns selbst hätten; es zwingt uns wegzuschauen, zu selektieren, zu vergessen, im Notfall auch zu lügen und sich zu verstellen. Es gibt jedoch keine unangenehmen Wahrheiten, genauso wenig wie es angenehme gibt. Es gibt nur Wahrheiten, und vielleicht kann man ein wenig daran arbeiten, seine persönliche Schmerzschwelle für Wahrheiten zu senken. Natürlich ist das Glas immer halb voll und immer halb leer; aber immer nur positiv zu denken, mag zwar dem Selbstwertgefühl zuträglich sein, leugnet jedoch die halbe Wahrheit. Deprimierender Gedanke? Na gut, das Glas ist heut mal wieder halbvoll.
7) Man versteht nicht, weil man nur am Beziehungssinn der Aussage interessiert ist.
Kommunikation ist Krieg. Man kämpft um Redeanteile, um Themen, ums Rechthaben. Auch wenn optimistische, aber leider in ihren akademischen Wäldern etwas weltfremd gewordene Philosophen das einige Zeit lang behauptet haben: Es gibt keine herrschaftsfreie Kommunikation, oder wenn doch, dann nur unter Computern. Menschen, die miteinander reden, haben immer eine Beziehung, sogar wenn sie sich nicht kennen und nur eben an der Bushaltestelle übers Wetter plauschen: Sie sind Individuen mit bestimmten Eigenschaften und Erfahrungen; sie haben ein Geschlecht (auch wenn es nur temporär sein mag), ein Alter, einen sozialen Status, einen physischen Zustand – all das geht noch in den allerkleinsten und belanglosesten small talk ein, ohne dass wir es überhaupt beeinflussen können. Mit Männern reden wir anders als mit Frauen, mit alten Menschen anders als mit Kindern, mit Kranken anders als mit Gesunden, mit Reichen anders als mit Armen, mit Gebildeten anders als mit Ungebildeten. Und schon wer als erster das Wort ergreift, hat einen Angriffsvorteil gewonnen: Er bestimmt das Thema, egal ob es um das Wetter und die Börsenkurse geht; er setzt das Niveau des Gesprächs, auf einer sehr weiten Skala zwischen belanglos und bedeutend. In jedem Fall aber will man Recht haben. Stärker sein. Gewinnen. Selbst im kleinsten Wortgefecht. Verstehen ist eine Machtfrage, kapiert?
8) Man versteht nicht, weil man nur am Sachgehalt der Aussage interessiert ist.
Aber selbst, wenn denn der außerordentlich seltene Fall einmal eintreten sollte, dass man ein Gespräch wirklich nur aus Interesse und dem Wunsch nach Belehrung und Austausch führt, um der Sache selbst willen, rein akademisch – hat das Gespräch trotzdem eine Beziehungsebene, und deren Ausblendung verfälscht das Ergebnis ebenso wie die Ausblendung der Sachebene zugunsten der Beziehungsebene das Ergebnis verfälscht. Gerade die Mahnung zur Sachlichkeit und Objektivität ist häufig ein verklausulierter Machtanspruch: Erhebe dich gefälligst auf meinen olympischen Standpunkt! kann nur derjenige sagen, der bereits auf dem Olymp angekommen ist und voll Erbarmen auf Sisyphos herabsieht, der immer und immer wieder seinen Stein hinaufzuwälzen versucht und ein- um das andere Mal scheitert. Aber wir wollen ja nicht persönlich werden, gell?
9) Man versteht nicht, weil es nichts zu verstehen gibt.
Natürlich gibt es jede Menge Unsinn. Das ist kein Problem, das kann man gut verstehen. Es gibt jedoch auch jede Menge weißes Rauschen, Blödsinn, Belanglosigkeit, Verwirrung, Unterstellung, die als echte Erkenntnis, ja sogar als Gewissheit und common sense auftritt. Immer wenn jemand von etwas behauptet, das sei doch „selbstverständlich“, sollte man eigentlich sofort Verdacht schöpfen. Selbst-verständlich ist nämlich gar nichts, noch nicht mal die einfachsten Dinge; dass 1 + 1 regelmäßig 2 ergibt, ist für Mathematiker eines der großen Wunder der Natur, und dass der Apfel vom Baum nach unten fällt, konnte man auch erst reichlich spät physikalisch erklären. Selbst-verständlich ist aber vor allem nichts, was mit Menschen zu tun hat. Erkenne dich selbst!, haben die ganz Alten auf einen ihrer Tempel geschrieben, und innen saß die Pythia und orakelte hilfsweise für diejenigen, die noch nicht so weit gekommen waren mit der Selbsterkenntnis. Heute gibt es dafür Psychologen und Psychiater und Psychotherapeuten, deren Geschäft floriert, je weniger wir uns selbst verstehen. Ob sie allerdings eine wahre Hilfe sind, ist im Einzelfall ebenso zweifelhaft wie bei der Pythia, die wahrscheinlich halluzinogene Stoffe benutzte und auch gegen Bestechungen nicht unempfänglich war. Wichtig ist jedoch, den Rauch und das weiße Rauschen von dem zu trennen, was vielleicht, unter günstigen Bedingungen und mit viel Anstrengung verstanden werden kann und die Mühe auch wert ist. Habt ihr nicht verstanden, too long, don’t read? Kein Problem, dann war es wohl nicht so wichtig. Die Kurzfassung demnächst auf DVD.
Nicht für Geld zu kaufen (in no particular order)
1) ein schöner Traum
2) guter Appetit
3) ein Sonnenstrahl nach wolkigen Tagen
4) ein unerwartet gutes Buch
5) eine unverhoffte Idee
6) ein freundlicher Gruß eines Fremden
7) ein Regenbogen
8) eine ertappte Sternschnuppe
9) eine sich öffnende Blüte
10) Meeresrauschen
11) ein Mondesblick
12) eine anrührende Melodie zur rechten Zeit
13) ein weiter Ausblick
14) ein plötzlicher Fortschritt
15) eine unerwartete Lösung
16) der Wind im Rücken
17) das Vertrauen eines Kindes
18) das Lächeln einer Katze
19) ein gelungenes Gespräch
20) das Gefühl von Gesundheit
21) ein guter Tod
22) ein unerwartetes Wiedersehen
23) ein befreiendes Lachen
24) ein neues Talent
25) eine ehrliche Antwort
26) ein treffendes Wort
27) eine sanfte Traurigkeit
28) Vogelgezwitscher
29) Anerkennung
30) ein geteilter Scherz
31) eine nützliche Entdeckung
32) sanft fallender Schnee
33) springende Delphine
34) umfallende Erdhörnchen
35) der Geruch von Pinien an einem warmen Sommertag
36) ein Vogelschwarm in Formation
37) eine gerechte Entscheidung
38) gefragt zu werden
39) eine vergessene Kindheitserinnerung
40) gute Stimmung mit Freunden
41) eine blaue Stunde
42) Selbstvergessenheit
43) ein schmerzfreies Erwachen
44) akute Verliebtheit
45) Lebensmut
46) das Gefühl der Freiheit nach einer Trennung
47) weiße Weihnachten
48) einen guten Rat
49) das Gefühl, im eigenen Bett zu schlafen
50) eine kluge Entscheidung
51) ein gutes Argument
52) Zeit dann, wenn man sie braucht
53) Stille
54) eine beruhigende Routine
55) eine fröhliche Familie am Samstagnachmittag ohne Einkaufstüten
56) ein scheues Reh im Wald
57) das Finden einer seltenen Muschel am Strand
58) ein spiegelglatter Bergsee
59) wogende Weizenfelder mit Mohntupfen
60) Muster aus Kondensstreifen am Himmel
61) ein vorbeitaumelnder Schmetterling
62) freier Blick auf die Alpen bei Fön
63) der Anblick spielender Hunde
64) aufmerksame Kinder
65) etwas Verlorenes wiederfinden
66) gutes Timing
67) einen Notizblock mit Bleistift zu Hand haben, wenn man einen braucht
68) einen Fehler finden, den man lange gesucht hat
69) frisch sprießendes Gras im Frühling
to be continued
Eine Versehrungs-Liste
Krankheit ist ein Kampf. Gladiatoren, oder Söldner, oder nur der alltägliche Kampf ums Dasein. Das Leben ist kein Geschenk, es muss erkämpft werden. Kampf ist gut, mutig, heldenhaft manchmal sogar. Aber man sollte ein wohldefiniertes Kampfesziel haben: Leben? Besseres Leben? Längeres Leben? Durchgearbeitetes Leben? Und der Körper ist nicht der Feind, auch wenn man ihm ein wenig vorwirft, dass er einen schon/schon wieder im Stich gelassen hat. Wahrscheinlich muss es ein gemeinsamer Kampf werden, ein Bündnis von Körper, Willen und Geist gegen – ja, gegen was eigentlich? Das Fremde, das Eingedrungene, das Bedrohliche, das nach einem eigenen Gesetz in uns Wachsende, nicht nach unserem.
Krankheit ist auch nur ein Wort. Demnächst nachzuforschen: Illness? Maladie? Was ist das Gegenteil von ‚mens sana in corpore sano‘? Wann hat der erste Mensch gebrummt: „Irgendwie fühle ich mich heute anders“. Seltsam. Krank? Ein Schwellenphänomen. Ein Übergang, ein anderer Zustand. Deshalb anders zu beschreiben. Gibt es kranke Metaphern oder nur Metaphern der Krankheit? Vergleiche hinken angeblich immer, das kommt vom dritten Bein. Könnte man ein drittes Auge haben, vielleicht schaut es vom Bauchnabel hinauf? Oder von der Stirn hinunter, wie die Inder glauben? Sind Krankheiten Augen des Körpers, die sich plötzlich öffnen?
Krankheit ist eine Wahrnehmungsveränderung. Schon die Lage ändert sich, die Horizontale wird dominant, der Mensch ist das Wesen, das auch im Liegen denken kann (aber anders). Das Essen schmeckt anders. Die Musik klingt anders. Allein der Reiher auf dem Feld bleibt treu (er war aber schon immer anders).
Krankheit ist ein Glockenschlag. Man fühlt sich nicht mehr allein. Jemand zählt die Stunden für mich mit. Jemand hört sie schlagen. Die Welt bewegt sich noch. Am Tage fließen die Stunden (wenn man Glück hat), nachts schlagen sie. Krankheit ist eine Zeitumstellung.
Krankheit ist ein Raum für sich selbst. Er wächst zusammen zu einem Mini-Universum mit unterschiedlichen Zeitzonen. Die Künste wohnen in ihm, aber auch der Blick aus dem Fenster zu den Vögeln. Schlafen, Liegen, Sitzen.
Krankheit ist wuchernde Sentimentalität: Man möchte sich ein kleines Grab einrichten und darauf schreiben: „Hier liegt mein bisheriges Leben. Ich kannte es nicht“ (in einer Episode von Midsomer Murders, einer meiner Serien zur Krankheit neben Lucifer, klagt eine Figur immer wieder: „Where is my lovely life?“).
Krankheit ist die Erkenntnis, dass niemand einem helfen kann. Niemand kann einem die Schmerzen abnehmen, die Angst, die Entscheidungen schon gar nicht. Bisher glaubte man wenigstens an Erfolge bei der Symptombekämpfung, das stößt jedoch auch bald an seine Grenzen, wenn die Neben- und Wechselwirkungen ihren teuflischen Tanz beginnen. Zwischendurch eine Spritze Hoffnung, aber sie hält nicht lange an (
Krankheit ist ein fremdes Land. Heute Nacht bin ich durch etwas gereist, es sah mal ein wenig wie China, dann wieder ein bisschen nach Japan aus. Jedenfalls kam ich irgendwie nicht zurecht, ich verhielt mich nicht landesgemäß. Ich hatte zwischendurch Begleiter, die mich fremd ansahen und wohl etwas erwarteten. Dann war ich wieder in dem Auto, das ich nicht fahren kann, ich wusste noch nicht einmal, wo Bremse oder Gaspedal waren. Dann war das Auto weg.
Krankheit ist eine Ablösungserscheinung. Der Körper löst sich in Schichten auf. Vorher war man ganz zufrieden dabei, an der Hülle stehenzubleiben. Danach lernt man Körperschichten kennen. Zonen verschiedener Temperatur und Konsistenz. Man möchte nicht wohnen dort.
Krankheit ist eine fortschreitende Entfremdung vom eigenen Selbst. Die Haut reibt ab. Pickel sprießen aus der Kopfhaut, da wo sonst ein dichter lockiger Wald war. Das Körperbild kommt kaum nach im inneren Spiegel, eigentlich will es sich auch nicht sehen.
Krankheit ist ein Besuch von Plagen. Jeder Tag kann einen Überraschungsgast bringen. Selten klopfen sie höflich an, meist treten sie ungefragt ein, und wenn man es merkt, sagt man: „Aua!“ „Aua“ könnte eigentlich ein schönes Wort sein. „Aua“ sagte man vielleicht als Kind, wenn man mal wieder auf die Knie gefallen war. Man muss ein neues Wort finden. Vielleicht sollte man Oi! rufen, so wie die englischen Bobbys es tun, wenn der Verdächtige mal wieder völlig sinnlos versucht wegzurennen. Es ist eine Art Befehlswort, zudem lustig und herrisch zu sprechen. „Oi!, blödes Bauchweh!“
Krankheit ist Anti-Yoga. Man begrüßt jedes Körperteil, aber nicht freundlich-einverstanden. Der Organismus zerfällt in Verschwörungen. Destruktive Gruppenarbeit. Arbeit am Mark. „Komm Schmerz, du letzter den ich anerkenne“ – Rilke war, am Ende, ein Krankheits-Yogi in Perfektion.
Krankheit ist ein Auf und Ab, ein Schlingern, ein Durchdie-Mangel-drehen. Sanfte Wellen wären schön, ruhiger flow. Ausnahmsweise wäre man lieber mittelmäßig.
Krankheit ist ein Quantenphänomen. Sie entsteht durch Beobachtung und verläuft selten kontinuierlich. Irgendwo in der Ferne steht der gesunde Körper, durch geheime Drähte verbunden, aber temporär unerreichbar.
Krankheit ist ein Warteraum. Ohne Fenster. Das Licht gelblich. Verblasste Poster. Gelegentlich eine eher trostlose Pflichtübung in Aufmunterung. Zeitschriften, die von einem anderen Leben schreiben. Unsicherheit. Weglaufgefühle. Eben war die Zukunft noch offen, jetzt könnte sie eine neue Richtung bekommen, die man sich nicht ausgesucht hat (tut man das jemals?) Und dann kommt schon der nächste Warteraum.
Krankheit ist ein Wartesaal mit sehr schlechten Stühlen. Immer wartet man auf etwas. Dass es besser werden möge. Ein Ergebnis, ein gutes, hoffentlich. Den Schlaf, die Ruhe. Das Nachlassen der Schmerzen. Es gibt aber nur sehr schlechte Stühle, die alles nur noch schlimmer machen. Der Raum wird immer enger. Es beginnt zu riechen.
Krankheit ist ein schlechter Geschmack. Das ist schlimm. Geschmack kann man nämlich nicht abstellen. Man kann die Zunge nicht schließen oder zuhalten. Man gewöhnt sich auch nicht daran. Man sucht Vergleiche, sie machen es nicht besser. Gibt es bittere Metaphern? Schleimige Allegorien? Warum nicht einen Gott der Krankheit?
Krankheit ist ein Körpergeräusch. Man hört sich mehr von innen, was selten ein gutes Gefühl ist. Innen wird verarbeitet, maschinell, vielleicht auch industriell. Das Herz ist ein Maschinengeräusch, wenn es holpert, braucht man einen Mechaniker. In der Körperhalle werden die Geräusche doppelt laut.
Krankheit ist ein Strafregister. Nicht wenige Beziehungen werden durch eine begangene Unmenschlichkeit definiert. Es hilft nicht, eigene Fehler anderen übelzunehmen. Es hilft noch nicht einmal, das zu erkennen. Mit Glück bekommt man eine Bewährungsstrafe.
Krankheit ist die Welt, von hinten gesehen. The dark side of the body. Tagseite, Nachtseite. Man sieht auch die Sterne nur von hinten, ihr Leuchten geht in die andere Richtung. Jede Stunde geht die Sonne unter. Jede Stunde hofft man, sie würde wieder aufgehen. Dann geht sie wieder unter.
Krankheit ist eine Nachtseite. Lange Zeit ist die Nacht nur die dunkle Hälfte, man verschläft sie, man verpasst gelegentlich einen Traum. Dann wird sie mehr und mehr ein Gegengewicht, im besten Fall ein Gestaltungsraum, mit Phasen und Einrichtungen und Lageverschiebungen. Wusste man, dass Liegen Aktivität ist? Vielleicht auch eine Vorbereitung
Krankheit ist eine Reduktion; „diminuishing“ ist das schöne englische Wort. Sie reduziert das Ich, ent-zehrt. Sie kostet nicht Kraft, sie macht Kraft unmöglich. Hatte man jemals Kraft zu irgendetwas? Man wird immer kleiner. Möchte verschwinden. Schwund, vielleicht wäre das das deutsche Wort. Aber es ist eher ein aktives In-den-Boden-Gehämmert-Werden. Dich kriegen wir auch noch klein!
Krankheit ist eine funktionelle Störung, die die Herrschaft übernommen hat. Den Begriff fand ich schon lange nützlich, auch wenn er meist von Medizinern als Euphemismus für „Ich kann beim besten Willen nichts finden, sind Sie sich sicher, dass Sie nicht doch gesund sind und meine Zeit stehlen?“ benutzt wird. Nein, gesund ist man eigentlich nie, man funktioniert höchstens innerhalb gewisser Paramater („Ich funktioniere innerhalb normaler Parameter“, sagte Data in Star Trek, wenn man ihn nach seinem Befinden fragte). Jetzt breitet sich die Störung im System aus. Man hätte gern eine Fehlermeldung dafür: „Fehlercode 404“ oder einen der anderen Klassiker. Man ist dann zwar nicht schlauer, aber das Kind hat einen Namen.
Krankheit ist Bitterkeit. Nicht nur der Geschmack (der aber vor allem). Er-Bitterung, ein Bitterwerden von vorher wenigstens gelegentlich Genießbarem. Leben: Gelegentlich Genießbares. Der Rest ist Bitterkeit.
Krankheit ist aufsprossender Neid. Warum sind die Anderen gesund? Gespräch beim Warten auf die Blutabnahme, nein, eigentlich ging es mir ganz gut dabei, keine bleibenden Beschwerden. Warum will man nicht allein verbittern? Man kann Bitterkeit sowieso nicht teilen. Noch nicht einmal mit-teilen.
Krankheit ist eine Übung in Abwägung. Gesunde müssen sich nicht entscheiden. Sie haben ein unbezweifeltes Gut. Kleine Einschränkungen machen noch keine Bedenken. Erst wer die Übel wägen muss, gegeneinander, weiß um die unendliche Grauheit des Seins.
Krankheit ist ein fremdes Land. Wenn man sich zu lange dort aufhält, entfremdet man der Heimat. Es ist ein anderes Land mit anderen Regeln, vielen Schrecken, wenig Freuden: Man würde sagen, es scheint eine dunkle Sonne dort, und die Nächte sind dafür zu hell. Man erkennt seine Bewohner an dem besonderen Blick; er hat eine Art tiefen Grund, eine Art inhalierten Schrecken, eine dunkle ausgezehrte Hoffnungslosigkeit. Ich habe das schon gesehen, bei meiner Schwester, ich war fast beleidigt, dass sie irgendwie ausgezogen schien, uns nur noch auf einer seltsamen Oberfläche zur Kenntnis nahm, aber eigentlich abwesend, in einem anderen Gespräch verwickelt, das wir nicht hören konnten (es fehlte uns ein Organ dafür). Es sah ein wenig unhöflich aus. Jetzt, fürchte ist, sehe ich ähnlich aus. Man ist in andere Gespräche nicht nur verwickelt, sondern wird von ihnen absorbiert. Man versucht, aus Höflichkeit ein Interesse aufzubringen für die Welt der Anderen da draußen. Aber es ist anstrengend und funktioniert nur eine Zeitlang.
Krankheit ist die ultimative Forderung, dein Leben zu ändern. Wirklich diesmal. Niemand ist gesund in meinem Alter, und das hat schon viel früher begonnen. Aber man nimmt es nicht ernst, schließlich will man nicht krank sein (krank sind andere oder alte Leute). Man verschlampt es ein wenig, wie so vieles, man schraubt an den Symptomen herum, und Ibuprofen ist der Meister aller Klassen. Aber es geht nicht weg, es verpuppt sich nur wieder anders, es taucht unter und tut sein mäßig schreckliches Werk. Irgendwann hat man ein kleines Gefolge an unbotmäßigen Begleitern, lästigen Zeitgenossen, sie beschließen immer dann aufzuwachen, wenn man sie gar nicht braucht. Aber man hat nicht die Zeit, ein energisches Wort mit ihnen zu reden, und wofür gibt es schließlich Ibuprofen? Man hat keine Lust sein Leben zu ändern; allerhöchstens poliert man ein wenig an der Oberfläche herum, verschiebt die Möbel, ändert das Farbschema. Sobald es jedoch ernsthaft „Krankheit“ heißt, muss man sein Leben sowieso ändern. Man hat keine Wahl mehr. Man hat aber immer noch keine Lust dazu.
Krankheit ist Erschöpfung. Niemals war mir vorher mir aufgefallen, dass Er-Schöpfung auch ein Gegenteil von Schöpfung ist: ausgeschöpft sein. Jeder Tag schöpft nun an uns, der Lebensmut müsste über Nacht neu wachsen, magisch, die Lebenskraft sich neu erzeugen, re-generieren – aber aus was? Freude, Selbstschöpfung, Vermehrung? Erschöpft aber ist: Der Nachschub bleibt aus. Das Lager ist leer. Die Batterien tiefentladen. Mühsam sucht man Ersatzkanister, Notstromaggregate; kratzt hier einen Rest vom Boden ab, versucht aus Erinnerung zu fühlen. Der Motor stottert höchstens ein wenig. Was hülfe, wäre Magie.
Krankheit ist die Erfahrung: Schlimmer geht immer (die Chemo-Schwestern haben sehr gelacht, als ich auf die Routine-Anfrage zum Befinden antwortete: „Wie immer, nur schlimmer“). Klar wird es zwischendurch auch besser, mal viel, mal wenig, mal plötzlich, mal zäh. Aber irgendwann kann man nicht mehr vergessen: Schlimmer geht immer.
Krankheit ist Wohnen in Betten. Sie haben verschiedene Zeit- und verschiedene Liegezonen, und, trotz aller Anstrengungen, selten eine comfort zone, in die man einfach einrasten könnte. Man braucht Zwischenlagen, je nach Körpergefühl. Dann wird gewendet, das können kleine Kraftakte sein. Das eine entlastet, das andere wieder belastet. Auch das Klima, es ist ein sehr veränderliches Mikroklima, will seine Anpassungen. Zwei Lagen bilden dabei sozusagen die Extreme: der Embryo natürlich, eingerollt für maximale Wärme, bei-sich-sein, sogar die Finger nach innen gekrümmt. Die Außenwelt wird ausgeschlossen, der Igel ballt sich. Der Kontrast dazu: die gerade gestreckte Rückenlage, und schon der abgeknickte Kopf ist ein Kompromiss. In Brentanos Ponce de Leon erkundigt sich der jugendliche Schwärmer, ob die verehrte Frau denn auf dem Rücken schlafe, ganz gerade, das Gesicht zum Himmel. Es ist eine wichtige Frage, die aber nicht jeder versteht. Wohingegen ich wetten könnte, dass Ponce selbst nicht anders als im Embryo schläft. (Bauchlagen hingegen sind ein noch ungeklärtes Mysterium; Teufelswerk?)
Krankheit ist eine Geschichte. Auf Neudeutsch: ein Narrativ, etwas, das nur in der bestimmten Form einer Erzählung angemessen verstanden werden kann. Symptome sind Episoden, Krisen die große handlungsentscheidende Katastrophe; dazwischen gibt es retardierende Momente, Schmerzpausen, vergängliche Linderungen von Symptomen. Und natürlich kann man die Vorgeschichte nicht überspringen, auch wenn man allzu oft in medias res einsetzen muss. Leider sind Ärzte nicht immer die besten Hermeneuten, sie wollen immer gleich zum Ende springen, der katharsis. Hypochonder hingegen über-deuten natürlich. Kranke aber – haben zu wenig Distanz. Sie sind immerhin die Hauptfigur in ihrer eigenen Krankengeschichte. Aber auch gefangen in ihr: Denn narrative Muster sind nicht leicht zu brechen. Und niemand garantiert ein happy end.
Krankheit ist ein Training in Berufsoptimismus. Ärzte haben es alle durchlaufen, sie müssten sonst an sich verzweifeln. Erfahrene Kranke oft auch, immerhin haben sie bisher überlebt; um welchen Preis, das vergisst die gnädige Erinnerung für sie. Leider scheint Optimismus zu einem guten Teil ein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal zu sein. Trainieren kann man höchstens positives Denken, es hat eine leicht durchschaubare Mechanik. Aber das ist gleichzeitig auch seine Grenze.
Krankheit ist eine Inflation des Egoismus. Egoisten sind wir natürlich alle, aber wir können uns gelegentlich von uns selbst ablenken. Beim Kranksein aber drängt sich das Ich vor, gewinnt monströse Proportionen, frisst jeden anderen Gedanken weg: Ich habe Schmerzen, Ich leide, Ich kann das alles nicht, Ich werde sterben. Geh doch weg, möchte man manchmal sagen, du gehst mir wirklich auf die Nerven! Dann tut es wieder weh. Dann fällt es einem wieder ein. Kranksein und den ganzen Tag nicht „Ich“ sagen: Das ist für wirklich Fortgeschrittene!
Krankheit ist eine Einführung in Schizophrenie. Paranoia hat man ja gleich am ersten Tag entwickelt, nach der Diagnose: Warum ausgerechnet ich? Irgendetwas musste Jutta H. falsch gemacht haben, als am Morgen die Ärzte vor der Tür standen. Das macht aber keinen so großen Unterschied, nur weil man paranoid ist, heißt das ja noch lange nicht, dass man nicht verfolgt wird (Weisheit von Nirwana und dem Känguru). Schizophrenie verstärkt eigentlich auch nur die zwei Stimmen, die sich bei jeder halbwegs ernstzunehmenden medizinischen Untersuchung im Kopf herumdrängeln: Sie sollen etwas finden, eine Erklärung vor allem! Nein, sie sollen nichts finden, ich bin doch eigentlich gesund! (klassisches loose-loose). So viele Seelen wohnen in einer kranken Brust. Auf zu engem Raum kämpfen sie. Wahrscheinlich kommt die Psychose, wenn eine endgültig gewinnt (das Ich: diejenige Psychose, die sich durchgesetzt hat und zur Gewohnheit geworden ist?).
Krankheit ist eine Rhythmusstörung. Und damit das Gegenteil vom schönen fließenden, die Zeit verspielenden flow. Fieber natürlich, erhöhter Herzschlag, dann das dumpfe Dröhnen in den Ohren. Dann wieder Stocken, Aussetzen. Die Tagesrhythmen verschwinden, die Nachtrhythmen sowieso, was die Stunde geschlagen hat, hört man in den small hours; man verflucht sie, und die Sonne zieht tagsüber einen verlangsamten Kreis. Schmerzen sind Zeitdehner, Sekundenschärfer. Wenn die Leute nett sein wollen, sprechen sie von „Entschleunigung“ als Zeitgewinn – was ja auch irgendwie stimmt und zu lernen wäre, wäre man denn gesund. Sobald auch nur eine Atempause eintritt, stellt sich der gewohnte Rhythmus im Alltag wieder her, und der ist viel zu schnell. Ein Läufer, der sein Leben lang trainiert hat, so schnell wie möglich zu laufen, wird nicht einfach zum schlendernden Fußgänger, weil eben mal die Puste ausgegangen ist. Unser persönlicher Rhythmus, unser Eigentempo ist tief verwurzelt, und wenn wir ihm nicht folgen dürfen, werden wir unleidlich (was man an jedem Autofahrer sehen kann, der sich an einen Verkehrsfluss anpassen muss). Ent-schleunigung, das wird (Gesetz der Energieerhaltung) wohl ziemlich genau so lang dauern, wie man die Beschleunigung über einen persönlichen Grundtakt gelernt hat. Es sind Muster zu brechen, Zyklen zu entzerren, Automatismen abzubauen. Kaum hat man wieder ein wenig Kraft gespürt, will man schon wieder losstürmen. Wofür? Ist definitiv die falsche Frage.
Krankheit ist eine Verwicklung. Natürlich hat man schon lange vorher nicht mehr an isolierte Ursachen geglaubt, die Philosophen mögen sie nennen, wie sie wollen (zeige mir eine Wirkung, die nur eine Ursache hat, und ich zeige dir deine Blindheit)! Nun wäre es ja gar nicht so schlimm, wenn komplizierte Dinge viele Ursachen hätten; das macht sie schließlich kompliziert, und selbst wenn ich mir beim Gemüseschneiden in den Finger schneide mit dem mal wieder unerwartet scharf geschliffenen Küchenmesser, scheint das ein klarer Schnitt und eine übersichtliche Angelegenheit – aber was kann daraus erwachsen! Krankheiten passieren in Körpern, Organismen, den kompliziertesten und komplexesten Strukturen, die wir kennen. Körper haben immer Vorerkrankungen (nicht nur bei Corona); die Geburt ist der erste Eingriff von außen, und er hinterlässt schon Schäden (man ist versucht zu sagen: Je natürlicher, desto mehr). Am kleinen Zeh piekst es, und das Gehirn macht einen Ausschlag. Nichts, aber auch gar nichts passiert unbeachtet in diesem großen Gefängnis, die Seele führt Protokoll (also, ich meine: durch das ständige Protokollführen entsteht das, was wir „Seele“ nennen oder meinetwegen auch „Selbstbewusstsein“); das Gehirn wertet aus und archiviert (aber wir verstehen die Katalogsystematik nicht immer). Der zweite Zeh schreit aus Solidarität mit, man teilt sich schließlich eine entlegene und lange Nervenbahn. Das Bein krampft ein wenig dazu, nur die Andeutung einer größeren Reaktion. Kurz bricht Schweiß aus, weil das Gehirn die Gefahr mal wieder übertrieben hat und das Blut ins Körperinnere befohlen, damit es die zentralen Bereiche schützt; die Zehen haben insgesamt eine ziemlich niedrige Priorität bei Notrufen. Zum Glück fliegt dann ein Schmetterling vorbei, die Augen übernehmen, crisis averted! Aber je mehr der Körper auf sich selbst schaut, auf stockende Abläufe, auf mögliche Krisensymptome entlegener Provinzen – und jetzt beginnen sie auch noch, sich gegenseitig aufzuwiegeln! –, desto schneller ist ein Stoßtrupp Adrenalin zur Stelle; aber oft war es nur ein Probealarm, oder eine Fehlschaltung, doch die Pumpen laufen schon in vollem Betrieb – ja, ziemlich verwickelt. Manchmal entsteht sogar eine grande complication. Man würde den ganzen Kasten am liebsten neustarten, re-booten, noch einmal auf Anfang setzen! Wenn man nur den Knopf fände!
Krankheit ist Schmerzmanagement. Ab irgendeinem Zeitpunkt kommen Schmerzen niemals mehr allein. Sie sind vergesellschaftet über das Netzwerk des Organismus mit seinen unterschiedlichen Verkehrs- und Zirkulationssystemen, sie sind sym-pathisch, sie fühlen miteinander mit, sie vibrieren mit; sie haben ein Gedächtnis, das sich auch bei fernen Assoziationen wieder aufgerufen fühlt. Aber da auch der kranke Mensch zum Glück nicht multitasking-fähig ist, spürt man immer nur einen oder wenige davon. Und manchmal gelingt es sogar den kleinen, sich vorzudrängeln; geradezu dankbar fühlt man den Zeh, das Knie, sogar den Rücken. Sie kennt man. Nicht besiegbar, aber teilweise beherrschbar in einer Art ausgedehnter Belagerung. Mehr erwartet man ja gar nicht bei begrenzten Kampfesressourcen.
Krankheit ist verschleierte Zeit. Wahrscheinlich ist das eines der wenigen Dinge, über die man froh sein könnte. Die Zeit des Leidens bleibt undeutlich zurück. Man soll sich nicht erinnern, das ist die kluge Idee der retrograden Amnesie. Wenn es ganz schlimm war, hat man hinterher einen Trauma-Marker mehr: So kann es einem auch gehen. Dazwischen aber liegt verschwommene Zeit, in Zeiten von Corona auch: ein ganzes verschwommenes Jahr. Einzelne Fetzen ragen heraus, trügerische Hoffnungsspitzen. Aber am Ende war es nicht der Hauptkamm, sondern nur eine Hügelkette. Ein Vorgebirge. Und wenn man sonst auch starrsinnig an seinen Fehlern festhält und für nichts und niemand seine Persönlichkeit eintauschen würde: Diese grauen Tage könnte man missen. Der Lernertrag ist schwach, er wird eingebläut für die Dummen: Leben ist schwach. Gesundheit ist Glück. Schmerz kann man nicht verstehen. Der Körper ist eine ewige Baustelle.
Krankheit ist Teufelswerk. Insbesondere Chemotherapie. Der Teufel dringt mit einer roten, wahrscheinlich stinkenden Flüssigkeit ein, kurz überm Schlüsselbein, gar nicht so weit vom Herzen: Zentralkörper. Er soll den Beelzebub austreiben. Es ist eine Teufelsschlacht, gekämpft wird mit sehr schmutzigen Waffen: Schleim, Gestank, Schwermut. Metall. Zersetzung. Blähung. Auflösung. Alles Wörter aus dem Wörterbuch des Teufels. Die Zeit zieht sich, zieht sich, zieht sich, am Morgen wünscht man sich den Abend herbei, und die Nacht schenkt nur ein trügerisches Vergessen, das Minuten anhält, bevor der Teufel wieder aufwacht: Ich bin immer noch da! Ausgetrieben hast du nur deine guten Geister, die Feiglinge!
Krankheit ist die Erkenntnis, dass Gesundheit nicht trivial ist. Alte Leute wussten das schon immer, und was hat man sich darüber lustig gemacht in der Jugend: „Vor allem Gesundheit!“ Dass ohne Gesundheit alles nichts ist und die vermeintliche Wertschätzung von Krankheit eine sentimentale Überschätzung der eigenen Kräfte, konnte man schon bei den Romantikern lernen; oder beim ziemlich viel kranken, aber deshalb seine Gesundheit so besonders hochschätzenden Goethe, der sich dafür nicht zu trivial war. Später, als ich endlich gesunde Bücher schreiben wollte, wurde ich krank (Dichtung und Wahrheit hingegen ist wahrscheinlich das gesundeste Buch, das es gibt).
Krankheit ist ein Beigeschmack. Wahrscheinlich von Tod, wer will das schon so genau wissen. Das Leben ist nicht mehr rein (süß schmeckte es schon lange nicht mehr). Nie wieder wird man unbeschwert sein. Gegen Bitterkeit hilft auch kein Süßstoff.
Krankheit ist eine Lektion in trügerischen truisms. Alles, was man so verspricht (es wird auch wieder besser. Es kommen gute Tage. Du bist nicht allein. Wir können dir helfen, egal was passiert) ist falsch und gelogen. Allenfalls das, woran man nicht geglaubt hat, hilft gelegentlich ein wenig (du bist wirklich tapfer).
Krankheit ist eine Energiekrise. Erst spät lernt man, zumal wenn man physikalisch unbegabt und uninteressiert ist, dass man für alles Energie braucht. Auch für Leben: eine Kraft, einen Antrieb, Lebensmut, allein fürs reine Dasein. Krankheiten aber sind eine Art schwarzes Loch, das alles anzieht und verschwinden lässt; kein lebendiger Ereignishorizont mehr, nirgends. Natürlich versucht man Energie zu sparen, wo es geht, reduziert zum Beispiel die Energiezufuhr (wozu Essen? Es wird doch nur in Schmerz umgesetzt und in Leiden verzehrt). Gibt es negative Lebensenergie, zehrende Mutlosigkeit, nicht nur im Geist, in allen Knochen und Muskeln, ein Vibrieren von Falschem?
Krankheit ist eine Grenzanerkennung. Natürlich habe ich immer an Grenzen geglaubt, ihren Wert und Sinn, ihre Notwendigkeit, das musste man mir nicht erklären oder aufzwingen. Grenzenlosigkeit ist Panik, nicht Chance. Grenzen sind beruhigend, und manchmal kann man ja eine kleine Über-Schreitung wagen. Aber das spricht nicht gegen Grenzen an sich. Im Unterschied zu menschlich gezogenen Grenzen sind natürlich auch nicht willkürlich. Sie existieren (weil es den Tod gibt, natürlich, das ultimative Totschlagargument). Wenn man krank ist, spaziert man an ihnen entlang, mit zunehmender Ehrfurcht (und Panik). Wie gern würde man in seine heile Mitte zurück (Gibt es sie noch? Where is my lovely life?). „Vielzufrieden“, ein Goethewort, gibt es auch „vielverzweifelt“?
Krankheit ist eine Verkümmerung. Man wird kümmerlich, an Leib und Seele, kaum weiß man, was mehr bedrückt, das Drückende der Magenschmerzen, das Gedrückte der Stimmung, das Niederdrücken der ganzen Welt auf die Zukunft. Jede blühende Pflanze klagt einen an, jede Äußerung der Freude, der Heiterkeit, der Leichtigkeit. Man kümmert sich zu sehr, um Dinge, um die man sich nicht kümmern will. „Ver-kümmern“, ein besonders böses Ver-Wort, kann man auch wieder „ver-heitern?“
Krankheit ist ein Auseinanderfallen (can’t hold it together). Eine Redewendung, die man in ihrem wörtlichen Sinn erst versteht, wenn man sie erlebt hat. Leben ist ein Vielteilchenproblem, und das Ich ein schwacher Zusammenhalt aus Bildern, Wünschen, schwankenden Vorstellungen und allerhöchstens metastabilen Zuständen. Es fordert Kraft, Energie, das zusammenzuhalten, Willen auch, vor sich selbst und vor der Welt. Beim Kranksein lässt man ein Stück nach dem anderen fallen, weil man sich nicht mehr zusammenhalten kann. Beschränkung auf das Nötigste, wenn schon alles Mögliche am Körper zu Fetzen geht, diverse Häute als erstes. Häute sollten uns zusammenhalten. Alles Lebendige braucht eine Hülle (Form ist schon Luxus). Hüllen können zerstört werden.
Krankheit ist Management. Keine Wirkung ohne Nebenwirkung, das könnte man sich mal fürs Geschäftsleben merken. Dazu kommen die Wechselwirkungen, mal verstärken sie, mal schwächen sie ab, mal verhindern sie oder führen ganz in die Katastrophe. Niemand managt einen Organismus von außen, noch nicht mal bei Computern klappt das, und ich habe meinen etwas angejahrten Desktop-PC schon lange im Verdacht, dass er heimlich sich in seinen eigenen Schaltkreisen verknotet hat und ohne einen rettenden Neustart, gelegentlich, in einem immer tieferen Sumpf versinken würde. Gern würde ich eine Chemo-Therapie als Re-Booting verstehen, aber wahrscheinlich ist sie eher eine Generalrenovierung nach vorherigem Abriss bis auf die Grundmauern. Was man dabei alles an Altlasten findet, mag man sich nicht vorstellen.
Krankheit ist ein Wendepunkt. Wann er allerdings stattfindet, entscheidet der Körper. Der Geist humpelt mitgenommen hinterher und murmelt: „Äh, hab ich doch gleich gesagt“! Eigentlich ist es aber ein innerer Ruck – etwas könnte sich lösen und endlich, endlich Frieden ausgießen (oder auch nicht). Die Wende, die der Geist nimmt, ist die auf den Tod hin. Das muss nicht falsch sein. Ist der Tod nicht das Offene, von dem Rilke spricht? Geboren werden wir ins Leben, ins Enge, ins immer Bestimmtere. Der eine Weg, den wir gehen, verschließt tausend andere. Am Ende wartet eine Tür. Sie ist immer offen. Wir wissen, dass sie da ist, aber nicht, was dahinter ist. Eigentlich könnte man gespannt sein. Ein wenig freuen könnte man sich sogar, schließlich ist es eine Rückkehr. Aufgehen, Auflösen, Verteilen. Offene Erde.
Krankheit ist, wenn Ibuprofen dein bester Freund wird. Dass Reden nichts nutzt, lernt man ziemlich schnell. Mitfühlen, vielleicht eine kleine Linderung („lind“, das wäre man auch gern einmal wieder). Das Zusichern, das Trösten, das Vertrösten auf bessere Zeiten, kleine oder große Geschenke, Liebesbeweise gar – nichts davon macht, dass der Schmerz aufhört, das Bittere vergeht, es ein Ende hat, oder wenigstens: eine Pause. Nur Ibuprofen. Wie dankbar ist man für die Pause. Natürlich geht es davon nicht weg, aber es geht sowieso nie mehr weg. Aber eine freund-liche Pause. Die Pharma-Industrie hat mehr Dankbarkeit verdient, als sie gemeinhin bekommt.
Krankheit ist single-minded-ness. Natürlich denkt man immer am liebsten und am meisten an sich selbst, jede von uns. Aber es gibt auch noch andere Gehirnteile, mehr Gedankenzüge, auf die man bei Gelegenheit willig aufspringt. Jetzt fährt jeder Zug nur noch in eine Richtung, und da will man nicht hin. Aussteigen können wäre schön, wenigstens gelegentlich ein längerer Halt zum Gedanken-Vertreten. Aber schon pfeift der Schaffner wieder, es geht einem durch und durch. Sagte ich schon, dass es eine Tunnelstrecke ist? Und es gibt sogar Tunnel, da wird das Licht an ihrem Ende immer kleiner.
Krankheit ist ein Verlust an Körpervertrauen. Nun habe ich früher schon oft und viel über Vertrauen nachgedacht. Ich hatte mich sogar schon zu dem Satz verstiegen: „Vertrauen muss man haben!“ (na gut, sagt sich auch leichter, wenn man Geld hat. Und Gesundheit. Oder wenigstens irgendeine Art von Glauben). Jetzt steht jeder Nerv unter Generalverdacht. Jedes Zucken ist ein Symptom, jedes Drücken der Beginn eines neuen potentiellen Leidens. Das ist zu unterscheiden von Hypochondrie, oder nicht? Ach, Hypochondrie war früher nur ein Spiel, eine Begabung, eine Sensibilität, auf die man fast stolz sein konnte; eine andere Art von Deutungskunst. Auch beim Körper kommt der Hochmut vor dem Fall. Am Ende ist das Bein aber wirklich gebrochen.
Krankheit ist die Abrechnung des Körpers. Er vergisst nämlich nichts, während der Kopf wenigstens ab und zu gnädig so tut, als vergesse er (er verlegt aber nur, dann poppt es wieder hoch, wenn man es nicht braucht; oder verweigert die Auskunft, wenn man es wirklich bräuchte). Natürlich hat man den Körper schlecht behandelt früher, er war so eine Art Stiefkind der Persönlichkeit. Und hatte zu funktionieren, schließlich war er jung. Oder noch relativ jung. Oder noch gar nicht so alt. Na gut, irgendwann kann man ihn nicht mehr ignorieren. Dann kommen die Ärzte und finden nichts. Das beeindruckt den Körper auch nicht, der Schmerz hört gar nicht zu, wenn die Ärzte reden. Und wenn irgendwo eine neue Schwäche auftaucht, erklärt sich der Rest des Körpers sofort solidarisch und erinnert sich: Hatte es nicht damals auch dort wehgetan? Ist dort nicht auch etwas noch nicht ganz verheilt? Bald wird es ein Chor: Ich auch! Ich auch! Der Kopf zieht sich ein. Er will sich die Ohren verstopfen, sie sind aber schon mit dabei im Chor, weißt du, schreien sie, der Weg vom Hals zu uns ist kurz, ich kenne ihn gut, der Hals ist ein guter alter Freund von mir, wir tauschen häufig Bakterien aus! Ach, geht mir doch alle weg. Sie gehen aber nicht. Nur noch temporär. Schließlich muss man im Gespräch bleiben.
Krankheit ist eine Erinnerung an Dankesschulden: Der Blick geht zurück, schließlich hatte man irgendwann ein lovely life, auch wenn man es damals noch nicht gewusst hatte. Und Hilfe hatte man bekommen, damals, als die Hilfe noch half. Leute, die an einen geglaubt haben, komisch, fand ich damals schon, warum taten sie das nur? Die einem etwas gezeigt hatten, auch wenn man damals noch nicht gewusst hatte, wofür man es jemals brauchen sollte, Jetzt tut man selbst solche Dinge. Fördert junge Leute, ermutigt sie, interessiert sich für sie. Sie schauen genauso leicht verdutzt wie ich damals wahrscheinlich. Aber plötzlich gewinnt alles eine gewisse Dringlichkeit. Wer weiß, wie lange wir alle noch da sind. Vielleicht sind freundliche Worte das Einzige, das man am Ende mitnehmen kann. Schöne Gedanken, bunte Murmeln.
Krankheit ist das Öffnen alter Wunden. Alles fließt hinaus, was man so sorgsam abgekapselt hatte. Gestank, Eiter, Fäulnis, Bitterkeit, Schwärze. Es verklebt die ganze Welt, nicht nur den kranken Körper. Infiziert sie. Where is my lovely life? Isoliert jetzt, unzugänglich, eingeschlossen in eine Blase. Das Schwarze, Faule, Bittere infiziert derweil auch die Wörter. Wäre es nur mit Leid, vielleicht wäre es auszuhalten. Es ist aber Schmerz, Ausfluss, Schwärze, nicht nur bar aller Schönheit, sondern: sogar immunisiert gegen ihre reine Möglichkeit.
Krankheit ist Arbeit. Sie muss gemacht werden. Vorher, bei den kleineren Vorübungen, dachte man, es reiche, sich im Bett zurückzulehnen und den Dingen ihren Lauf zu lassen; sie wussten dann schon selbst, in welche Richtung sie laufen mussten. Jetzt läuft alles in alle Richtungen, und mit Vorliebe in die falschen. Sackgassen tun sich auf und halten einen fest. Abgründe werden sichtbar, soll man denn jetzt auch noch springen? Wenn man nachlässt, wird die Krankheit gewinnen, sie ist schon auf dem besten Wege, und wäre es denn so schlimm? (Warum sind die Menschen eigentlich immer so überrascht vom Tod, wo es doch die einzige Sicherheit in ihrem Leben ist?) Arbeiten, man würde ja gern, wenn man doch nur ein Ergebnis sehen würde. Einen kleinen Zwischenerfolg, nicht nur eine dilettantische Reparatur. Eine Bewältigung. Man sieht aber nur: sich immer enger zusammenziehende Kreise.
Krankheit ist die Einsicht, dass hope die ultimative bitch ist. Sie gibt sich zwar als die schönere, beliebtere Schwester von karma, tarnt sich aber nur besser. Spiegelt Dinge vor, verspricht immer irgendetwas, und wenn das nicht klappt, das nächste, und so weiter und so weiter. Man darf eben die Hoffnung nicht aufgeben, denn: Die Hoffnung stirbt zuletzt! So halten wir sie am Leben, das reizend-verführerische Monster. Wenn wir alle schon tot sind, hoffnungslos tot, glänzt die Hoffnung ganz allein. Dann kommt aber karma, die Unbestechliche, und hope wird als Verzweiflung wiedergeboren. Was schon immer ihre zweite Natur war, ihr Bodensatz sozusagen; aber dann konnte man nur sehen, wenn man ganz durch sie hindurchschaute.
Krankheit ist ein Jammertal. Natürlich jammert man im Tal und nicht auf dem Berg; über die Höhen streifen die fröhlichen, gedankenlosen Gesunden und werfen nur ab und an einen mitleidig-schauernden Blick nach unten; dann hüpfen sie schnell weiter, gern auch scharf an der Kante entlang, fröhliche Liedchen summend, damit sie das Gejammer von unten nicht mehr hören müssen. Es ist zwar nicht monoton, aber vielstimmig-dissonant; nicht laut, sondern eher verzagt, zitternd, zimperlich, gelegentlich durchbrochen von einzelnen Schmerzensschreiben (breakthrough pain, das kann man auch im Kopf haben). Das Gejammer hallt von den engen Wänden wider und macht es noch schräger für die im Tal; es dröhnt in ihren Ohren, und niemals, niemals ergibt sich eine Melodie daraus. Das Tal wird enger. Dann wird es wieder weiter. Aber niemals sieht man das Licht so richtig. Die Sonne scheint von fern und woanders. Gelegentlich stolpert man über einen Stein. Eine Wunde mehr.
Krankheit ist, wenn man jeden freundlich gemeinten Schönen Tag! als Zynismus versteht. Man kann sich nicht erinnern, wann man den letzten schönen Tag hatte. Es muss wohl vor der Diagnose gewesen sein? Seitdem hatten alle Tage einen Belag auf der Zunge, mindestens. Na gut, seien wir ehrlich: Schon vorher war das Leben nicht direkt eine Reihe von guten Tagen gewesen; schon vorher war es mindestens partiell beschädigt. Und, wenn man genau nachdenkt, das heißt: dahindenkt, wo man nicht hindenken will, weiß man ja auch, dass das genau die Definition von tiefer Depression ist: die absolute Gewissheit, dass es niemals mehr einen guten Tag geben wird, unter welchen Umständen auch immer; auch keinen halbguten (das Gegenteil von gut ist dabei übrigens leer, tot, neutral, nicht etwa schlecht; das unterscheidet die Krankheit von der totalen Depression, in der alles ausgelöscht ist). Man müsste jetzt lernen, nicht auf gute Tage zu warten; man häuft nur Enttäuschung auf Enttäuschung. Trotzdem möchte man jedem ins Gesicht springen, der einem fröhlich-gedankenlos-gutgemeint einen „Schönen Tag!“ wünscht, wenn man gerade wieder um eine Hoffnung ärmer die Arztpraxis verlässt oder die etwas unheimliche Schicksalsgemeinschaft der Chemo-Ambulanz. Komischerweise habe ich dafür das neue Bedürfnis, wirklich netten Menschen wirklich einen „Schönen Tag“ zu wünschen, jenseits der Floskel, die ich weiter verabscheue. Was ich eigentlich damit sagen möchte, ist: Genießt diesen schönen Tag, ihr wisst nicht, ob es euer letzter ist, bevor ihr es nicht mehr könnt! Denn das hat meine Schwester auch gesagt, die schon wusste, dass sie trotz aller Therapie bald sterben würde: „Genießt das Leben, solange ihr könnt!“ Und ich war dumm genug, gedankenlos-halbgesund genug, nicht zu verstehen, dass die Betonung auf dem ‚könnt‘ liegt, nicht auf dem ‚genießen‘!
Krankheit ist ein Anti-Verdrängungsmechanismus. Adressiere deine Wunden! Stell dich ihnen endlich! Mit welchem von ihnen kannst du leben? Arzt, hilf dir selbst! Lern deinen Körper kennen! Nicht nur die Symptome, die verhassten, ihre psychologische Seite; auch ihre physiologische. Du musst dich gleich nicht mit ihnen befreunden. Sieh sie als Partner!
Krankheit ist ein Erinnerungsbad. Dinge steigen auf, wenn man sie lässt. Nicht nur unerfreuliche, nicht nur erfreuliche. Stell dir einen Kopf als Erinnerungsbad vor, so wie Dagobert Ducks Goldtaler-Speicher. Sie gehören alle dir! Spring hinein. Nicht alles, was Gold ist, glänzt (und manchmal sind die scheinbar geringwertigsten am kostbarsten, unwichtige Momente, blankpoliert vor lauter Unbenutztsein). Unterscheide nicht. Sie müssen zu dir kommen. Sie werden deinem Leben nicht nachträglich Wer geben, denn sie verschwinden mit dir. Vielleicht geben sie ein wenig Stütze. Vielleicht ein wenig Tiefe. Vielleicht ein wenig mehr Verständnis und Klarheit vor dem dunklen Horizont.
Krankheit ist gefühlsverstärkende Wiederholung. Als ich als Jugendliche Gitarre spielen lernte, habe ich den Sinn von Wiederholungen nie verstanden. Wozu nochmals das Gleiche spielen? Wird der Komponist pro Note bezahlt? Ist es Faulheit? Aber man versteht, später, wenn man nicht mehr nur mechanisch Noten vom Blatt spielt (geht es schon besser-schneller-fehlerfreier?), sondern sie mehr spürt. In der Krankheit spürt man mehr. Man setzt sich an die Gitarre oder das Klavier und ist böse oder traurig (aber gerade noch stark genug für diese kleine Aktivität). Man spielt etwas, was man kennt, und dann spielt man behutsam die Wiederholung nach; weil sie beim zweiten Mal nämlich anders klingt. Und man sie auch selbst anders hört (das hätte man schon vom Lesen wissen können, wie oft hat man den Leuten den hermeneutischen Zirkel bitte erklärt?). Wiederholung ist nie die gleiche. Man hat niemals das gleiche Kopfweh, auch wenn man meint, es ziemlich gut zu kennen. Nicht nur, weil das Kopfweh immer anders ist, das ist trivial und physiologisch. Sondern weil man selbst schon zwei Minuten später eine Andere ist. Das macht es nicht besser. Lassen wir es einfach mal so, wie es ist.
Krankheit ist weder ungerecht noch gerecht. Sie ist so, wie sie ist. Gibt es überhaupt irgendeine Sache auf dieser Welt, die von sich aus „gerecht/ungerecht“ oder „moralisch gut/böse“ ist? Man zweifelt, schon länger. Man sucht, wie so oft, nach einem spezifizierenden Index: Gut für was oder wen („Good for you“, die neue Modeformel, sie hat den guten alten Altruismus fast vollständig abgelöst)? Gerecht oder Ungerecht in welchem Zusammenhang? Jedem das Seine oder Jeder das Gleiche, damit die Welt ein „better place“ wird, weil man „the right thing“ getan hat? Nein, seitdem Gebote höherer Instanzen abgeschafft wurden (good for god), ist die Moral ein substanzloses Bläschen geworden und besteht aus sprachlichen Pusteblumen. Denn die Dinge scheren sich nicht um die Moral. Krankheiten scheren sich höchstens um Ursachen, „Ätiologie‘ nennt man das, und wie immer sind die Ursachen und Wirkungen verflochtener als die Zöpfe auf Medusas Kopf; einige bringen wir schon mit auf die Welt, andere legen uns Erzieher und Vorbilder nahe, wieder andere sind total zufällig (falls man an Zufall glaubt, jenseits von Gut und Böse). Aber natürlich hätte man lieber eine saubere Erklärung, auch für die (moralisch unsinnige) Schuldfrage. Trägheit, Strafe, ästhetischer Hochmut, Bequemlichkeit, psychische Deformation, ungesteuertes Suchtverhalten, alles verschlingt sich und verfilzt – oder war das alles, so lange es währte, eben „good form me“? Gut, böse, gerecht, ungerecht, krank, gesund – alles Entscheidungen, und als solche natürlich mit Folgekosten. Aber keine Substanz. Es ist, wie es ist.
Krankheit ist eine Entscheidung, jeden Tag. Ist das ein Tag, an dem man voll und ganz krank ist, in dem die Krankheit alle Kräfte und die gesamte Konzentration braucht, was beinahe schon wieder entlastend ist? Oder ist es ein Tag, wo man die Krankheit ignorieren kann und will, damit das Adrenalin eine kleine Welt trägt und täuscht? Beides ist besser als unentschiedene Tage, man quält sich, mehr mit der Entscheidung, nein, mehr mit den Symptomen, nein, mit der Entscheidung, oder doch? Unentschiedenheit ist eine unterschätzte Qual.
Krankheit ist, wenn jede Lebensäußerung zur Lüge wird. Jeder Satz, jedes Lächeln, jeder Vorsatz, alles, was zu sagen scheint: Es ist gar nichts. Es gibt eine Zukunft. Ich bin ein normaler Mensch, ich spreche, ich lächle, ich plane. Wenn es in einem reißt und brennt und wehtut, zu lange ohne Pause, auch nachts. Wenn man eigentlich nicht sprechen möchte in verständlichen Sätzen, sondern stöhnen und klagen. Das tut man natürlich nicht. Aber innen tut man es. Die Seele wird ganz rauh davon.
Krankheit ist, wenn das „Du bist krank und es tut weh und nimmt das alles niemals ein Ende?“ jeden Gedanken begleitet. Dass etwas jeden Gedanken begleitet (das wunde Hirn gibt die Zitatquelle gerade nicht frei), ist kein schöner Gedanke, noch nicht einmal bei schönen Gedanken. Es ist wie ein Ohrwurm, der einem nicht aus dem Denken geht (dazu kommt der musikalische Ohrwurm, der sich seit der Chemo auf einer endlosen Verzweiflungsrille festgefressen hat). Jeder andere Gedanke hat sozusagen nur noch einen halben Antrieb, er stottert und will nicht in Gang kommen, weil ein zweiter mitdenkt und mitzehrt. This way lies madness (nein, noch ein Gedanke, der sich besser nicht festfressen soll).
Krankheit ist eine Vibration im ganzen Körper. Etwas hat jeden Nerv ergriffen, nicht laut und explizit, sondern als Mitschwingen (am deutlichsten im halbchronischen, an- und abschwellenden Tinnitus). Keine good vibes, bad vibes, ein Globalzittern, wahrscheinlich: eine Über-reizung. Indem man versucht ihr zu entkommen, wird sie stärker. Oder die Nerven werden schwächer. Man sieht sie richtig vor dem inneren Auge, straff gespannte Seile, vibrierend, die immer dünner werden unter der Spannung. Darauf balanciert eine arme Seele, bemüht um Haltung.
Krankheit ist, wenn man möglichst viele menschliche Bande zu lösen versucht. Sie fesseln einen an diese Welt, und das ist schlecht. Allein käme man leichter fort. Instinktiv tut man das Gegenteil. Man festigt sie noch durch Bekenntnis, Mitteilung, Aufschließen, Aufforderung zum Trost. Und zerrt dann nur schwerer an ihnen.
Krankheit ist, wenn man auch den Glauben an ein persönliches happy end aufgibt. Zwar glaubt man schon lange nicht mehr, dass die Menschheit zu retten ist (eine unheilbare Krankheit: Evolutionsverweigerung); aber erst spät merkt man, dass man für sich selbst automatisch eine Ausnahme gemacht hatte. Der Tod allein ist natürlich kein happy end; auch nicht das Gegenteil. Er fällt einfach nicht in die Erfahrung.
Krankheit ist, wenn man immer weniger „Ich“ sagen kann. Leicht fiel es einem noch nie. Nun aber bekommt man schon einen Schub Selbstmitleid (Selbstmitleid kommt, wie Hitzewellen, in Schüben), wenn man nur „Ich“ denkt. Ich soll nicht so leiden und zittern und verzweifelt sein. Ich soll irgendwo anders wohnen, wo das Leben noch einigermaßen ungetrübt ist (where is my lovely life?), in einer Schutzburg, umgeben von schönen Dingen und schönen Gedanken. Zum Leiden schickt es das „Man“ nach draußen. Man ist jede und niemand. Man leidet unpersönlich (und kann deshalb leichter darüber schreiben).
Krankheit ist Ent-Eignung. Man möchte alle Spuren löschen, die Ich früher so sorgsam gelegt hat. Nichts soll mehr „Mein“ heißen (Leben ist das Gegenteil davon: Möglichst viel soll „Mein“ heißen). An jedem „mein“ klebt die Erinnerung daran, dass es einmal besser war. Und dass das nichts zu bedeuten hat, gar nichts, angesichts der Möglichkeit dieser Zustände.
Krankheit ist, wie sie ist. Das ist einer derjenigen Sätze, die man im Friseursalon oder auf der Chemo-Ambulanz auf häufigsten hört. Natürlich hört man auch, von den getroffenen Lebensfrohen (gar nicht wenig) die Phrasen des „Alles-wird-Gut-Wir-müssen-optimistisch-bleiben-das-Glas-ist-halbvoll“ – und irgendwie klingen sie hier zumindest halbwahr, hilfreicher und empfundener jedenfalls als im gedankenlosen Geplapper der Gesunden. Aber die base line ist: „Es ist, wie es ist“. Abgefunden, nein: angenommen. Widerstand ist zwecklos. Man kann daraus lernen, dass Resignation nicht ein schwaches Gefühl ist, sondern einfach nur sachlich sein kann (selbst bin ich gerade erst hier angekommen. Ich bin wirklich krank).
Krankheit ist ein Kompensationsgeschäft. So wenig Freuden nur noch, die man leisten kann. Einschränkung, Ausgrenzung, Erschöpfung. Essen ist ein Problem. Gehen ist ein Problem. Schlafen ist ein Problem. Aber kaufen! Der Klick gelingt noch mit dem müden kleinen Finger. Wenn das Päckchen dann endlich ankommt, kann es sein, dass man zu müde ist um sich zu freuen. Es lohnt eh nicht, die Freude ist immer kurz, die erwartete noch kürzer. Und wozu hat man wieder ein Stück mehr angesammelt? Sollte nicht lieber alles weg?
Krankheit ist ein Schwanken zwischen Spurensicherung und Spurenverwischung. In stärkeren Momenten spürt man das Bedürfnis nach Nachleben: der eigene Wikipedia-Eintrag, die verewigte Homepage, Bücher schreiben (die man dann versteckt vor der Veröffentlichung, hinter Pseudonymen beispielsweise), die sich stapelnden Fotobücher (aber: die Furcht vor dem Testament, dem schreckerregenden „Letzten“ Willen!). Aber dann soll alles lieber weg, was sollen die Überlebenden damit, Mühe und Arbeit ist es, und Schmerz beim nötigen Ausmisten, und Erinnerung, die Staub und Schimmel ansetzt. Weg mit den peinlichen Jugendtagebüchern, mit den verblassten Fotoalben, mit den ungeliebten Büchern, mit dem Wohlstandsüberfluss-Müll, der sich angestaut hat! Variationen über das Lassen: Gehenlassen, vorlassen, nachlassen, hinterlassen, übriglassen. Sein lassen.
Krankheit ist zunehmende Schwäche. Immer wieder behauptet irgendeine Halb- oder Dreiviertelberühmtheit in irgendwelchen bunten Medien, der Kampf mit dem Krebs habe er/sie/es stärker gemacht. Kann ich nicht finden. Er hat mich schwächer gemacht, eindeutig körperlich schwächer: noch mehr Baustellen, noch mehr Wunden, noch mehr Langzeitschäden. Aber mindestens genauso seelisch: Die schon dünnen Nerven sind ein ganzes Stück dünner geworden, sie vibrieren bei jedem Lufthauch und wittern den großen Sturm – denn er ist einmal gekommen, weiß man denn, ob er nicht wiederkommen wird, er kommt ja immer wieder? Das Bild dazu ist der Drahtseiltänzer: Einmal in den Abgrund geblickt, und die Sicherheit ist für immer dahin.
Krankheit ist ein ständiger Begleiter. Ständig trippelt er neben einem her und quatscht die ganze Zeit, er sagt noch dazu immer das gleiche: Ich leide, ich leide, ich leide. Niemals lässt er einen auch nur einen Augenblick allein, nicht beim Spaziergang, nicht beim Essen, selbst auf dem Klo oder in der Nacht gibt er keine Ruhe. Geh weg, möchte man ihn anschreien, lass mich doch nur einen Moment in Ruhe! Aber man kann sich nicht verstecken vor ihm, denn er sitzt innen. Dort kreist er in einer Endlosschleife, wie eine steckengebliebene Schallplatte. Oder für eine Zeit, die Schallplatten sowieso nicht mehr kennt: Wie eine Band mit Endlosansage: Die Weiterfahrt des Zuges verzögert sich. Die Weiterfahrt des Zuges verzögert sich bis auf Weiteres. Die Weiterfahrt des Zuges verzögert sich auf unbestimmte Zeit. Die Weiterfahrt – man möchte nur noch gegen die Wand fahren.
Krankheit ist ein Sündenbock, und nur äußerlich ein humpelnder, jammernder, klagender, der sich ständig an den Hörnern kratzt. Nein, er ist geradezu stark und beinahe unsterblich: Alles kann man ihm aufladen, körperliche Wehwehchen und seelische Stürme, die sieben Todsünden (Auswahl und Gewichtung je nach persönlicher Vorliebe) und die kleinen Alltagsschwächen: An all dem ist die Krankheit schuld! Leider wird die Last, mal wieder, gar nicht weniger, wenn man sie dem armen Sündenbock aufgeladen hat; manchmal wird sie sogar schwerer, weil man dazu noch ein schlechtes Gewissen bekommen hat, das doch auch etwas wiegt, auch wenn es nur ein Gewissensjucken ist: Denn die Krankheit ist ja gar nicht an allem Schuld. An manchem natürlich; an einigen Tagen an vielem, an wenigen: an allem. Aber dann ist sie doch nur wieder eine Aus-rede, eine Aus-flucht, ein Aus-lass. Denn man kann sich selbst gar nicht teilen in eine gesunde und eine kranke Hälfte oder wie immer die Tagesproportion sich gerade anfühlt. Sündenböcke muss man zähmen.
Krankheit ist eine Anhäufung von Kollateralschäden. Irgendwann ist die Invasion abgeschlossen, die schlimmsten Schlachten sind geschlagen, sogar der Stellungskrieg hat irgendwie ein Ende gefunden – aber die Schäden bleiben. Zerstörte Erde, in den Schleimhäuten. Verkrampfungen, in allen Muskeln und Knochen. Mittelgroße Traumata, tief gebunkert in der Psyche, lange Halbwertszeiten. Gezeichnete Haut, gealterte Haare, einer stabilen Blutversorgung entfremdete Gliedmaßen. Alle Wiederaufbauprämien helfen nicht. Die Zeit soll ihre üblichen Wunder tun, aber die Zeit rechnet in ziemlich unmenschlichen Zeiträumen.
Krankheit ist die Konditionierung des Körpers. Er entwickelt über die langen Wochen der Chemo hinweg seine eigenen Routinen und Zyklen. Ist die Infusion dann weg, erinnert er sich trotzdem, dass es Mittwoch ist. Und schon beginnt die bekannte Welle, alles verläuft in dieser Krankheit in Wellen, nur leider ist das segensreiche Kortison nicht mehr dabei, dass einen zwei Tage lang auf der Welle reiten ließ. Jetzt ist es ein ziemlich trostloses Wellenreiten geworden, auf einem fiktiven Meer, doch der Körper lässt sich nicht davon abbringen. Gelernt ist gelernt.
Krankheit ist eine Wiederholungslektion. Irgendwann meint man, man habe seine Lektion gelernt. Sie hört trotzdem nicht auf. Na gut, es ist immer noch ein wenig mehr zu lernen. Sie hört trotzdem nicht auf. Man kann die Lektion schon im Schlaf aufsagen (wozu man viel Zeit hat, weil man ja schlecht schläft). Notfalls könnte man auch ein Buch darüber schreiben, Lektionen von vorn bis hinten. Sie hört trotzdem nicht auf. Lebenslanges Lernen, schön und gut, aber wann wird man endlich freigesprochen und darf die Schule verlassen, wenn es sein muss: auch auf eigenes Risiko?
Krankheit ist eine Wiederholungslektion. Irgendwann meint man, man habe seine Lektion gelernt. Sie hört trotzdem nicht auf. Na gut, es ist immer noch ein wenig mehr zu lernen. Sie hört trotzdem nicht auf. Man kann die Lektion schon im Schlaf aufsagen (wozu man viel Zeit hat, weil man ja schlecht schläft). Notfalls könnte man auch ein Buch darüber schreiben, Lektionen von vorn bis hinten. Sie hört trotzdem nicht auf. Wiederholtes hält besser, klar, haben wir auch gelernt, in langen Jahren als Lernende und Lehrende. Aber irgendwann will doch keine mehr zuhören!
Krankheit ist eine Wiederholungslektion. Irgendwann meint man, man habe seine Lektion gelernt. Sie hört trotzdem nicht auf. Na gut, es ist immer noch ein wenig mehr zu lernen. Sie hört trotzdem nicht auf. Man kann die Lektion schon im Schlaf aufsagen (wozu man viel Zeit hat, weil man ja schlecht schläft). Notfalls könnte man auch ein Buch darüber schreiben, Lektionen von vorn bis hinten. Sie hört trotzdem nicht auf. Wiederholtes wird irgendwann wahr, auch so eine Einsicht, die man früher einfach für Unsinn gehalten hätte. Nein, wenn man etwas lange genug sagt, wird es wahr; also, ein bisschen wahr, und das ist schon mehr, als man von den meisten Dingen sagen kann, die man gemeinhin für wahr hält.
Krankheit ist eine Wiederholungslektion. Nur aus Erfahrung wird man klug.
Some Things to do when one is dead
Ruhig sein.
Nicht wollen.
Still sein.
Nicht denken.
Zufrieden sein.
Nicht hoffen.
Verteilt sein.
Nicht konzentrieren.
Alles sein.
Nicht Ich sein.
Ausgeglichen sein.
Nicht Partei ergreifen.
Unbeschäftigt sein.
Nicht handeln.
Besitzlos sein.
Nicht haben.
Zeitlos sein.
Nicht erinnern.
Sprachlos sein.
Nicht nennen.
Gedankenlos sein.
Nicht wissen.
Ziellos sein.
Nicht wollen.
Mühelos sein.
Nicht arbeiten.
Sinnlos sein.
Nicht deuten.
Schmerzlos sein.
Nicht leiden.
Frei sein.
Nicht atmen.