Satiren und Satiriker
Wer war zuerst da, die Henne oder das Ei, die Zeit oder der Raum, der Spötter oder der Verspottete? Nie werden wir es wissen, und wahrscheinlich ist es, dass sie, irgendwie, auf einmal beide da waren und sich anstarrten, und die Henne sagte, guck, ein Ei, hab ich gemacht!, und aus dem Ei kroch eine Mini-Henne und sagte: Nee, ich! Oder jemand, es sei ein kleines Neandertalerweibchen, rutschte auf einer Bananenschale aus (Ur-Bananen, natürlich) oder stolperte über einen neuen Faustkeil, der gestern noch nicht in der Höhle gelegen hatte, und der große, tumbe Neandertalermann zog sie an den wirren Zöpfen hoch und grunzte: Weiber, sogar ohne Schuhe können sie nicht gehen! Sie kicherte und biss ihn in die Hand, und er schrie auf und machte dann einen kleinen Spottgesang daraus, für seine Jagdgenossen, über die ewige Dummheit der Weiber; es kann aber auch umgekehrt gewesen sein, warum nicht: Er, der große tumbe Neandertaler mit dem breiten Kinn und dem flachen Schädel, hatte sich seinen Jagdspieß in den großen Zeh gestoßen, weil er vor lauter Übereifer über einen Stein gestolpert war, der gestern noch nicht im Wald gelegen war, und jemand, zum Beispiel ein etwas kleineres Neandertaler-Weibchen, fauchte: Männer, keine Augen im Kopf, immer nur der Größte und Tollste sein wollen, aber niemals vor die eigenen Füße sehen!, und er schmiss sie auf den Höhlenboden, konnte sich aber ein Grinsen in den breiten Mundwinkeln nicht verkneifen. Die Eltern der Satire waren das Stereotyp und die Spottlust, ihre Paten waren die menschliche Schwachheit und eine seltsame, noch kaum erkennbare Sehnsucht nach etwas – nennen wir es: Gerechtigkeit, und sie entwickelte sich zu einem ziemlich kräftigen, nicht besonders beliebten, aber umso heftiger zuschlagenden Rotzbuben; oder zu einer blitzgescheiten, nicht besonders beliebten, aber umso spitzzüngiger aus-teilenden jungen Dame; oder zu einer Mischung aus bei-dem, es kommt nicht darauf an: Satire darf nämlich – ätsch, reingelegt, wir sagen jetzt nicht „alles“, weil nämlich etwas, was alles darf, am Ende nichts erreichen wird außer einem unbegrenztem geistigen Tyrannentum und einer völlig folgenlosen und megalomanischen Rotzlöffeligkeit. Nein, Satire darf eine ganze Menge, weil sie nämlich: notwendig ist und war und wahrscheinlich immer sein wird, falls nicht die Menschheit doch jemals versehentlich nach Utopia gerät, dem Land, in dem Milch und Honig fließt (am dritten Tag aber werden alle nach Wein und Brot schreien) und alle lieb zueinander sind und sich von morgens bis tief in die Nacht wertschätzende hyperkorrekte Nichtigkeiten sagen werden (am vierten Tag wird ein Redeverbot erlassen, weil die Leute anfangen sich in den Milchflüssen ertränken zu wollen) und es weder Herrschaft gibt noch Neid noch Laster noch Ehebruch noch Habsucht noch Fanatismus noch Terrorismus noch Mann noch Frau noch – aber es hört schon keiner mehr zu, sie sind alle geflohen aus Utopia und suchen sich eine Höhle, mit Bananenschalen und Steinen zum Stolpern.
Wir springen derweil noch einmal zurück in der Zeit, zu den Anfängen der Satire. Aus dem Neandertalermann ist jetzt ein Grieche in einer elegant geschwungenen Toga geworden, er steht neben anderen Männern auf der Bühne, eine Maske im Gesicht, und verhöhnt dahinter die Frauen, die soeben ihren bizarren Sexstreit beschlossen hatten, damit endlich Friede sei; er tut es aber, weil er ein gebildeter Grieche ist, in wohlgesetzten Versen und mit der ein oder anderen Anspielung auf Homer. Sein Kumpel, ein gewisser Aristophanes, hatte gerade den Sokrates verhöhnt, eine umstrittene Persönlichkeit: Auf Wolken hatte er ihn herabschweben lassen, den großen Redner und Sophisten, der aus Weiß Schwarz machen konnte und umgekehrt, allein durch seine klugen, wendigen Worte, seine Dialektik, sein professionelles Besserwissertum! Und recht geschah es dem Schlaumeier und Klugscheißer, dass er den Schierlingsbecher bekam (dass er ihn allerdings wirklich trank, war nicht vorgesehen, man hatte ihm doch alle Wege zur Flucht offengehalten; aber das passiert, wenn die Leute keine Satire verstehen)! Aber die polis ist die polis, alle (also: natürlich die Privilegierten, nennen wir sie ruhig: die alten weißen Männer) sind eine Familie, und es gibt für alles Grenzen: Komödie mag sein, das Volk will unterhalten werden, und im Chor spricht seine große Weisheit. Aber der Spott, der verletzende höhnende Spott, das Schlechtreden, das Herabreißen der Mächtigen von ihren Thronen, die Verkehrung aller Verhältnisse – es schien, man war noch nicht reif dafür. Ein wenig Lächerlichkeit, nun gut, in dahinhumpelnden Jamben, nicht den großen fließenden Hexametern; schließlich konnte man nicht nur die Helden loben, ihren Edelmut, ihre Tapferkeit, ihre Verschlagenheit und List, sondern es gab zu allem ein Gegenteil. Aber machte man sich nicht selbst ein wenig schlecht, so erwog es Aristoteles (und wenn man irgendjemand eine Gelehrtensatire hätte schreiben wollen im antiken Griechenland, es wäre sicherlich über ihn gewesen!), wenn man – über schlechte Menschen, niedere Taten, lächerliche Angewohnheiten in der Sprache der Dichtung, wenn auch holpernd-jambisch, sprach? Aber nun gut, es hatten sich eben auch Komödiendichter entwickelt im Lauf der menschlichen Dinge, und er würde später dann auch noch über die Komödie schreiben, der kluge Aristoteles, aber leider, leider – verloren, untergegangen, nur noch ein Stoff für Mittelalter-Krimis.
Deshalb machen wir nun einen nur noch mittelgroßen Sprung und finden uns mitten in den Wirren der römischen Kaiserreiche: Die politischen Fraktionen sind verfeindet, die Rechtsanwälte stacheln die Erbschleicher auf, die Ehemänner betrügen ihre Frauen und umgekehrt, die Ärzte machen die Kranken noch kränker und die Neureichen erst! Das soll ein Weltreich auf zivilisatorischer Mission sein, wie so viele nach ihm? Drunter und drüber ging es, dekadent, lasterhaft, übertrieben; Völlerei, Hurerei, Betrug, Korruption, Lügengespinste, Intrigen in jedem Haus, an jeder Straßenecke, sogar in Tempeln und Palästen – darin waren sie groß, die Römer! Und jeder wollte der größte sein, der wichtigste, der reichste, der mächtigste! Menschen, wo findet man sie? Man gebe mir eine Lampe, hatte Diogenes gesagt, noch ein Grieche. Er hatte eben die Satire nicht gekannt; und es waren erst Juvenal und Horaz, die beiden römischen Urväter der Satire, die diese Lampe erfanden. Erbarmungslos leuchteten sie in die dunklen Winkel der Städte und die Gesichter der herrschenden Stände, und sie sahen – Menschen. Wirkliche Menschen. Verführbare Menschen, überforderte Menschen, zu viele Menschen auf zu engem Raum, ein Menschenmeer in ewigem Kampfgewoge. „Denn schwer ist es, keine Satire zu schreiben“, so schrieb der bissige Juvenal; kochte einem doch die Galle, wohin man sah, vor allem wenn man eine leicht aufkochende Galle hatte und nicht das beruhigende Phlegma des Phlegmatikers oder die schwermütige Abgeklärtheit des Melancholikers. Und dann wird man, von diesen bösartigen Kraken, diesen Ziegenböcken beschimpft? „Geißeln sollt ich nicht?“ Juvenal wird einen Moment sentimental; von Herkules würde er lieber singen (doch auch der musste Augiasstämme ausmisten, so summt es im satirischen Subtext), oder von Ikarus, der vom Himmel gefallen war, oder von Diomedes, der den Autorennen frönte – nein, es geht nicht, schon wieder muss man den dicken Notizblock füllen mit satirischen Skizzen, sie sind überall, diese Heuchler und Lügner, die reich werden, während die Tugend friert! Denn schwer ist es keine Satire zu schreiben! Und war es nicht so gewesen von Menschenbeginn? Deukalion und Pyrrha waren verschont worden von den allmächtigen Göttern, die den Sündenpfuhl der Menschheit wegschwemmten; und als sie, einem Gebot der Götter folgten, die Steine hinter sich warfen, wurden Männlein aus Deukalions und Weiblein aus Pyrrhas Steinen, Menschheit 2.0 sozusagen, eine große Hoffnung, eine Chance, ein zweiter Versuch – aber bei Juvenal klingt das etwas anders als bei Ovid: Denn kaum hatte Pyrrha den Männern „die nackten Mägdelein gezeigt“, ging das ganze Spiel von vorn los und Stunden später war die Menschheit schon reif für die nächste Sündflut. Woraus man lernen kann, so Juvenal: „Alles wie‘s treibt der Mensch, Wunsch, Furcht, Zorn oder Vergnügen, Freude und Rastlosigkeit – dies alles ist Stoff für mein Büchlein“. Die Peitsche, das war von nun an das Werkzeug des Satirikers; und sie zog Blut.
Horaz aber, ach, er wollte kein Geißler sein. Er war ein freundlicher Mann, wohlbeleibt, von geringen politischen Ambitionen; er liebte das Landleben und war seinem Gönner Maecenas dankbar. Seine Satiren peitschen nicht, sie geißeln nicht, aber sie sind auch nicht harmlos; denn sie zeigen die gleiche verderbte Welt wie die Spottgesänge Juvenals. Ehebruch und sexuelle Ausschweifung, falscher Ehrgeiz, Standeshochmut, Aberglauben, Schmeichelei, Unbildung – people will be people. Weise jedoch ist es, sich zurückzuziehen; zu leben nach den Maximen des Epikurs, der nicht etwa schweinische Ausschweifung predigte, sondern Selbstgenügsamkeit und Mäßigkeit, die unterschätzesten Tugenden der Welt; und gelegentlich ein Brieflein zu schreiben, eine kleine Satire, in Versen, keiner zu viel und keiner zu wenig, geglättet und poliert in Gedanken und Worten, nur für die Freunde, nicht für die Masse natürlich! Auf seine Vorgänger sah Horaz hin-gegen ein wenig herab: Zwar hatte Lucilius ja irgendwie recht mit seinen boshaften Spottversen, aber eigentlich waren es Massenprodukte, geschrieben für den schnellen Erfolg, den Beifall der manipulierbaren Massen. Aber verdienten die Massen den Spott nicht genauso wie die Großen und Herrschenden? Jeder hatte doch sein hobby-horse, seine Manie, seinen blinden Fleck; was wäre schon gewonnen, wenn man sich über alles und jedes öffentlich lustig machte, in endlosen Versen ohne Gewicht und Maß, nur um der eigenen kleinen Manie, dem eigenen kleinen hobby-horse, dem: Autorenwahn zu frönen? Nein, ein Poet war wahrlich nicht jeder Spötter, der in Versen dilettierte. Noch nicht einmal er, Horaz, war wahrscheinlich ein Dichter; denn der wahre Dichter sang Erhabenes, er begeisterte die Herzen und die Gedanken (Aristoteles nickt im Hintergrund, er schreibt gerade an seinem Manuskript über die Komödie, aber er ist nicht glücklich dabei)! Was Horaz jedoch schrieb, in diesen kleinen Satiren, auch sermones genannt, war einfach nur das, was schon sein altehrwürdiger Vater ihn gelehrt hatte: Schau auf die Menschen, hatte er gesagt, beobachte ihr Tun und Treiben; und du wirst Vorbilder finden (wenige), aber vor allem: Schreckbilder! Sieh, wie sie handeln, analysiere es und dann – schau in dich selbst; schau, ob du von diesem Fehler frei bist, frei sein kannst! Das erste Opfer des Satirikers sollte immer– er selbst sein! Nur wer den Balken im eigenen Auge sieht, darf die Feder ergreifen; es muss nicht die Peitsche sein jedesmal, es reicht auch, wenn man in einer müßigen Stunde ein wenig von seiner mühsam erworbenen Weisheit seinen guten Freunden mitteilt. Man sieht Horaz förmlich auf einer Ruhebank liegen in seinem Sabinum, das er von seinem Gönner Maecenas erhielt; wie er die Blicke schweifen lässt über die eigenen Weinberge und dem Sklaven einen ruhigen Auftrag gibt, ihm noch einen kleinen Becher Wein zu holen; wie er sich an eine Szene erinnert, gestern auf dem Markt, an der ihm dieses oder jenes aufgefallen war, was ihn heute in seinen Schreibfinger juckte; er geht kurz in sich, ja, da hockt wohl die gleiche Schwäche und löckt, aber er lässt sie nicht hervor, sondern greift lieber zum Schreibkiel, und schon fließen die Verse, sanft, reif, wie der inzwischen eingetroffene Wein; ein kleiner Becher, nicht zu viel. Das Leben des Satirikers kann geradezu gemächlich sein. Nicht jeder ist ein Juvenal.
Satire und Menschenfeindlichkeit scheinen Wahlverwandte zu sein: Stellen Satiriker doch gern die Menschen von der allerschlechtesten Seite dar, rücken ihre Schwächen in den Vordergrund, reiten auf ihren Fehlern herum (es sind mehr oder weniger immer die gleichen: Lüge, Heuchelei, Machtgier, Intrigengeist, und vor allem: der Stolz, der böse Stolz!), malen schwarz und schwärzer, man könnte auch sagen: bis zur Kenntlichkeit! Nun ist die Frage, ob es besser ist, ein Menschenfeind oder ein Menschenfreund zu sein, seit der Aufklärung scheinbar geklärt: Zwar mag es sein, dass wir nicht in der allerbesten aller möglichen Welten leben, aber der Mensch, ist er nicht verbesserungsfähig, lernfähig, bildungsbereit und überhaupt von Natur aus gut? Und auch, wenn wir bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit gern Plattitüden wie ‚Irren ist menschlich‘ oder ‚das ist doch nur menschlich‘ von uns geben, meinen wir trotzdem zu wissen, dass der Mensch als solcher doch das beste aller möglichen Wesen ist (jedenfalls ganz sicher besser als die dummen Tiere oder die allzu kluge KI!) Nein, als Men-schenfreund fährt man ganz sicher komfortabler als der auf Fehlern herumreitende Menschenfeind: Man sagt den Menschen nicht immerzu die Wahrheit, sondern – nun ja, eine freundliche Version davon. Deshalb hat man auch Freunde und ist nicht einsam wie der arme Menschenfeind, der mal wieder versehentlich und dann auch noch allzu heftig gesagt hat, was doch keiner hören will: die ungeschminkte Wahrheit nämlich, das, was bleibt, wenn man ihr das menschenfreundliche Mäntelchen herunterreißt und auf den nackten Körper schaut. Die Wahrheit selbst schert das im Übrigen nicht besonders; sie kümmert sich nicht um Feinde oder Freunde, sondern um das, was ist, und nicht um das, was sein sollte, wenn wir die beste aller möglichen Welten oder die besten aller möglichen Menschen hätten (das könnte sowieso keiner aushalten). Ihr ist es auch ziemlich egal, ob der Mensch von Natur aus gut (die Aufklärung) oder schlecht (die katholische Kirche) ist; sie hält es eher mit den Existentialisten: Der Mensch ist (allerdings nicht frei. Alles hat seine Grenzen!).
„Schwer ist es, keine Satire zu schreiben“, hatte Juvenal gesagt; und Jonathan Swift gilt gemeinhin als sein würdigster Nachfolger in Sachen Menschenfeindlichkeit und satirische Bissigkeit. Kaum könnte man es glauben, wenn man sein Porträt sieht: Ein Chorknabe schaut daraus hervor, etwas ungeschickt verkleidet mit einer übergroßen weiß gepuderten Perücke; sie verstärkt das Engelhaft-Knabenhafte noch, dazu die sinnlich, beinahe weiblich geschwungenen roten Lippen, der sanfte Blick unter dichten Augenbrauen – nur die Nase wagt sich einen Schritt zu weit vor, vielleicht. Auch das Leben war ihm nicht prinzipiell ungnädig, dem irischen Dekan und Autor: Er hatte Freunde, Gönner sogar, er hat zwar nicht geheiratet, aber offensichtlich eine Reihe von Frauen genug fasziniert, dass sie mit ihm länglich korrespondiert haben oder sogar ein geheimes Verhältnis mit dem recht kon-servativen Dekan eingingen. Einige Zeitgenossen nahmen es übel, dass er zu schnell die politischen Fronten gewechselt hatte und von den liberalen Whigs zu den konservativen Torys übergelaufen war; das System sich einander heftig bekriegender politischer Parteien, soeben erst erfunden in England, zeigte von Anbeginn, dass es wenig übrig hatte für Überläufer (man könnte auch sagen: Leute, die gelegentlich ihre Überzeugungen änderten, aufgrund neuer, besserer Einsichten). Und natürlich war auch das religiöse Klima vergiftet: Die diversen Dissenter-Bewegungen waren zwar seit dem Toleranz-Akt erlaubt, aber es wurden immer mehr, die der anglikanischen Mutterkirche (die zwar selbst in einem Akt von Dissentertum sich von der katholischen Mutter losgerissen hatte, aber man vergisst so leicht…) den Rücken kehrten und immer neue Reformen wollten. Swift hat sie unsterblich gemacht in seiner Satire The tale of the tub, wo sich drei Brüder um einen ererbten Mantel streiten; und wer wissen will, wie man sich so über einen Mantel streiten kann, dass man zu unversöhnlichen Erzfeinden wird, der lese das Märchen (es ist aber keines, dazu später mehr). Schlimm war allerdings die Krankheit. Swift litt wohl lebenslang am Meniere’schen Syndrom, einem tückischen Drehschwindel, den man bis heute nicht hinreichend behandeln kann; und den sicheren Horizont zu verlieren in einer Welt, die sich sowieso immer schneller zu drehen begann und dabei durchaus gelegentlich ins Taumeln geriet, war wohl nicht besonders hilfreich. Im Alter wurde er dann dement und invalide. Die gerechte Strafe für einen Menschenfeind, wird der Eine oder die Andere höhnisch gedacht haben (people will be people): Auch als Chorknaben getarnte Menschenfeinde holt das Schicksal irgendwann ein (karma is a bitch)!
Nun gut, er hat es ihnen auch nicht leicht gemacht mit seinem Werk. Der Dekan war noch kein Autor im modernen Sinne, und er hätte es sicherlich auch nicht gewollt (große Teile seiner Satire im Tale of the tub gelten den grub street-Autoren, Vielschreibern für den Massengeschmack). Er wollte keine schönen Geschichten erfinden, und wenn er ein Märchen erzählt, endet der Erzähler im Wahnsinn. Er konnte zwar gelegentlich nette Gedichte für die Damen schreiben; aber dann setzte er sich wieder hin und schrieb ein Pamphlet darüber, dass der notleidenden irischen Bevölkerung am besten geholfen werden könne, wenn sie einfach ihre Babys essen; sind sowieso zu viel, die Bälger, und ganz frisch und jung (nein, nicht ausgedacht). Er hatte eine Neigung, das mag vom Chorknabenhaften kommen, zur Skatologie, was ein fancy word für Scherze über Exkremente ist; es ist aber nicht ganz klar, ob die Abhandlung Human ordure botanically considered wirklich von ihm war oder nur von jemand, der ihm übelwollte. Und schreiben konnte er übrigens, oh ja, er war sogar ein begnadeter Erzähler! Das merken die Zeitgenossen spätestens, als er mit Gullivers Travels (die ihn unsterblich gemacht haben, wenn auch, leider völlig missverständlich, als harmlosen Kinderbuchautor) seinen ersten echten Bestseller schreibt; er veröffentlicht ihn trotzdem anonym und mit den üblichen Sicherheitsvorkehrungen, man weiß ja nie, vielleicht würde es doch jemand merken, dass das Buch alles andere als harmlos war. Denn Swift leidet nicht nur am Drehschwindel und an der juvenalischen Krankheit – schwer ist es, keine Satire zu schreiben! Nein, er hat darüber hinaus ein Symptom, das er im vierten Buch von Gullivers Travels den klugen Pferden, den Houyhnhnms, zuschreiben wird: Er kann nicht lügen. Wozu lügen? Wer lügt, sagt das Ding, das nicht ist, sagen die klugen Pferde, und dagegen ist wenig einzuwenden, außer: Warum soll man nicht Dinge sagen, die nicht sind (und was passiert dann eigentlich mit der Literatur? Ganz einfach, sagen die Pferde. Wir brauchen keine!)? Weil es Verrat ist, deshalb. Verrat an der Sprache, die doch die Welt abbilden soll, so wie sie ist – und damit genug überfordert ist; und Verrat an der Wirklichkeit, mit der es die Menschen zu tun haben. Wer ihnen Lügen sagt, Wolkenschlösser baut, Ideale vorträumt, immer wieder das Ding sagt, das nicht ist – muss sich nicht wundern, wenn die Menschen die Wirklichkeit verlassen. Es wohnt sich schlecht in ihr, wenn man auch in einem Wolkenschloss residieren kann und keine Verantwortung über das übernehmen muss, was man so den lieben langen Tag daherplappert.
Als Swift seinen ersten im engeren Sinne literarischen Text schreibt, das sehr verwirrende Tale of the tub, nimmt er wenig Rücksicht auf die Lese- und Unterhaltungsbedürfnisse seiner Zeitgenossen (und der Nachwelt, die trotz Bergen von Kommentaren und Schlüsseln immer noch relativ hilflos vor diesem Text-Ragout steht). Und was verspricht der Autor dem Leser nicht noch alles! Einen panegyrischen Essay über die Zahl Drei; eine Universalgeschichte des Ohres; eine Beschreibung des König-reiches Absurdistan – man könnte sich wahrhaft fürchten! Soll man auch. Denn genau darum geht es Swift: eine Satire auf eine Art von Autor, der über alles und jedes – und damit letztendlich über gar nichts schreibt. Auf eine Art Gelehrte, die alles wissen, vor allem aber das, was man nicht wissen kann und niemals wissen wird (eine Generallandkarte der terra incognita). Wenn man aber ein „judicious and candid reader“ ist (und auf diesen hofft Swift heimlich), könnte man schon am Anfang erkennen, wo die Reise hingeht. Da erzählt uns der Erzähler nämlich, nach einem Berg von Widmungen, Vorreden, Erklärungen von Verlegern, Buchhändlern und Gönnern, den man erklimmen muss, um endlich freie Sicht auf den Text zu bekommen – er erzählt uns also, was es mit dem Märchen von der Tonne eigentlich auf sich hat. Wenn Seeleute auf hoher See sich nämlich mit einem mächtigen Wal konfrontiert sehen, groß wie der sagenhafte Leviathan, der mit ihrem schwachen Schiff spielen will – dann werfen sie ihm schnell eine Tonne hin. Es ist ein klassisches Ablenkungsmanöver, und der Leviathan ist sich nicht zu schade, mit einer Tonne zu spielen. Das Auswerfen der Tonne ist, so könnte man auch sagen: eine Abschweifung – und schon ist man mitten im Text, der nämlich zur Hälfe aus dem Märchen besteht (der Geschichte der drei Brüder und ihres Streits um die rechte Überlieferung des Mantels, ja genau, Variante der Ringparabel, aber viel unübersichtlicher) und zur Hälfte aus periodisch dazwischen geschalteten Abschweifungen, die sich zunehmend steigern und sogar irgendwann in einer monströs meta-mäßigen Abschweifung über Abschweifungen gipfeln. Und während man sich gerade eben mühsam in das Märchen hineingelesen hatte, noch mühsamer die gleichnishaften Bezüge zu den dargestellten Religionsgruppen (Katholiken, Anglikaner, Dissenter) hergestellt hat, seine eigenen Vorlieben sortiert und ein wenig gespannt ist auf die Fortsetzung – platzt doch wieder eine Abschweifung dazwischen! Aber wenn man weiter fortschreitet, wenn das Märchen immer wirrer wird und die Abschweifungen immer weiter schweifen – merkt man auf einmal, dass man nicht mehr genau unterscheiden kann zwischen Haupt- und Nebensachen, Geschichten und Gedanken, Tonne und Schiff. Der Text tanzt auf der Tonne um das Schiff herum, und der Leser wird zunehmend seekrank (vielleicht hat sich so die Schwindelkrankheit angefühlt, ein Tanz auf einer Tonne auf den Wogen?). Abschweifung, das hört sich für heutige Ohren so abwertend an; komm zum Thema, ist der moderne Mensch geneigt zu sagen, auf den Punkt! Aber die Abschweifung ist ein ehrenwertes rhetorisches Mittel, und nur weil wir alle Grobrhetoriker sind heutzutage, hat sie ihren Sinn nicht verloren, und der ist: Zum Thema hinzuführen, nicht von ihm weg; aber auf einem Umweg, der gerade nicht unnötig ist, sondern erleuchtend. Der Autor zeichnet uns die Wahrheit nicht vor, stromlinienförmig auf den Punkt zielend; er bereitet uns auf sie vor, er schult uns darin, sie selbst zu suchen und auf eigenen Wegen zu finden, nicht stromlinienförmig, sondern gekrümmt, verschlungen, selbstreflexiv, ein wenig skeptisch gegenüber starken Thesen und ein wenig misstrauisch gegenüber Erzählern, die meinen, die ganze Geschichte zu kennen.
Denn das ist vielleicht die stärkste Lektion, die dieser Text für seine Leserinnen vorbereitet: Trau keinem Erzähler! Trau speziell nicht diesem Erzähler, er gehört nämlich genau zu diesen Typen, über die er die ganze Zeit lästert, diesen Vielschreibern und Alleswissern und Seelenverkäufern, die lügen wie gedruckt, Dinge sagen, die nicht sind und nicht sein können (eine Landkarte der terra incognita, einen Universalkanon der Vernunft, das endgültige Gemeinplatzbuch, eine Geschichte der Welt im Taschenbuch, und immer im Blick auf das allgemeine Wohl der Menschheit)! Und wie sie mit Bildern um sich werfen! Um die Tonne taumeln Mäntel, Ragouts und Leitern; denn Leitern, so sagt der Erzähler in einem Anfall von Wahrheitswut, wie er sie gelegentlich hat, sind der Anfang des Parteigeistes: Wer auf eine Leiter steigt, um zu sprechen – und es kann auch eine Kanzel sein, notfalls sogar eine Wanderbühne –, hat sich schon über seine Hörer erhoben, meist auch über den gesunden Menschenverstand. Er will überzeugen, belehren, verkaufen, herrschen. Denn wer dem Parteigeist verfällt, diesem wahren Leviathan, wird immer weiter emporklettern auf der Leiter: „Und da nun der Geist des Menschen, wenn er seinem Denken Sporn und Zügel zu fühlen gibt, nicht mehr inne hält, sondern ganz von selber in die beiden Extreme rennt, ins Hohe und Niedre, Gute und Böse, so entrückt ihn sein erster Gedankenflug in der Regeln zu den Vorstellungen all dessen, was im höchsten Grade vollkommen, abgeschlossen und erhaben ist; dann aber schwingt er sich aus seinem eigenen Bereich und seiner Sehweite hinaus und mehrt nicht, wie nah die Grenzen der Höhe und der Tiefe nebeneinander liegen; und im gleichen Lauf und Schwung fällt er, plumps, hinab auf den tiefsten Boden der Dinge“.
Genau das aber passiert dem Erzähler. Gerade hatte er noch den Wahnsinn gepriesen, als das notwendige Medium, in dem große Dinge geschehen – Eroberungen! Systeme! Revolutionen! –, und nur wenige Abschweifungskehren später ist es um ihn geschehen. Er hat, wie er selbst zugibt, seiner Phantasie keine Zügel anlegen wollen, und sie ist mit ihm davongestiegen, immer höher auf der Leiter. Deshalb hat das Tale auch kein Ende; es zerfasert wie der endlose Anfang, denn wenn man aufhören würde zu schreiben, gäbe man die Definitionsmacht ab, den Diskurs preis, die Wörter frei und der Leser könnte sich emanzipieren (hat er aber schon, er hört irgendwann auf zu lesen, und man hat dabei das seltsame Gefühl, das sei durchaus im Interesse des Autors). Wir sehen den Erzähler noch von ferne auf der Tonne herumtanzen, er verspricht uns noch größere Werke, natürlich kommt jetzt, endlich, der „Plan zum allgemeinen Wohl der Menschheit“, bei dem noch jeder Wahnsinnige geendet ist, aber der Wal hat zum Glück sein Maul schon geöffnet.
Menschenfeindlich? Ach ja. Wer das Positive sucht, der wird sich schwertun es zu finden zwischen Abschweifungen über Abschweifungen und Märchen über Märchen (Swift hat, das nur im Nebensatz, hier den überforderten Erzähler erfunden, der dann spätestens bei Thomas Mann seine Triumphe feiern wird, ein genuin modernes Produkt unendlicher Selbstreflexivität). Gelegentlich scheint es auf, das Positive. Aber nur ein judicious and candid reader wird es finden; und war die Lektüre nicht, so anstrengend und ermüdend sie streckenweise war, nicht gerade eine Lektion in skeptischer Lektüre, eine Einübung in den kritischen Geist des Lesens? Wenn man gut aufgepasst hat, findet man dann gelegentlich Spurenelemente des Positiven: Sie heißen Heiterkeit und Witz und gesunder Menschenverstand und (man könnte auf den Verdacht kommen, das sei ein Grundmotiv der Satire schlechthin!), oder, negativ formuliert: Systemfeindlichkeit. Universalitätsskepsis. Metaphysikkritik. Systeme und Institutionen sind Hilfsleitern ins Unendliche und Phantastische. Sie füttern den menschlichen Stolz, diese Krücke im Angesicht der eigenen Bedürftigkeit, sie mästen die Überheblichkeit des Gelehrten und Philosophen gegenüber dem Ragouthaften der Welt, sie preisen die schlechte Schneiderkunst der Ideologen, die immer neue Mäntel erflicken (ein Tippfehler, der stehen bleibt), um ihre nackte Ideenlosigkeit und ihren schamlosen Opportunismus zu überdecken.
Aber zum Glück gibt es ja auch noch Gulliver, genauer und nicht so harmlos-kinderbuchhaft: The travels into several remote nations of the World by Lemuel Gulliver. Man könnte immer noch meinen, es handele sich dabei um einen der schon damals massenhaft produzierten und verschlungenen Reiseberichte mit halb erfundenen Ge-schichten über Kuriositäten der Natur und exotische Völker, gemischt mit einer guten Prise Robinson Crusoe, aber das wäre immer noch viel zu harmlos. Nein, Gulliver ist zwar auf der Oberfläche freundlicher als das Tale, ganz sicher zugänglicher, humorvoller und verständlicher und tendiert schon fast zur heiteren Satire – aber dann doch nicht ganz (als Kind fand ich die Geschichte von Gulliver bei den Zwergen im Übrigen genauso unerträglich grau-sam wie die Grimm’schen Märchen; wer lange Haare hat, kann sich gut vorstellen, wie es ist, ausgestreckt auf dem Boden an eben diesen einzeln festgenagelt zu werden). Goethe sah das genauso: Als Märchen habe Gulliver zweifellos gewirkt; aber das Erzieherische, was der Autor eigentlich im Blick hatte, sei wohl kaum erreicht worden. Und so schreibt Swift selbst denn auch im Vorwort der zweiten Auflage in einem fiktiven Brief Lemuel Gullivers einige Sätze, die zwar ironisch klingen, aber vielleicht doch einen bitteren Ernst unter der Oberfläche transportieren, sie lauten: „Ich kann nicht erkennen, dass mein Buch auch nur einzige der von mir beabsichtigten Wirkungen hatte. Ich hätte erwartet, dass Sie mich brieflich wissen lassen würden, wenn Parteien und Fraktionen ausgerottet wären; Richter aufrecht und belesen; Verteidiger ehrlich und bescheiden, mit einem Hauch von gesundem Menschenverstand; die Erziehung der jungen Leute von Adel vollständig verändert; die Ärzte verbannt; die Frauen voller Tugend, Ehre, Wahrheit und Gemeinverstand; Witz, Verdienst und Bildung belohnt“. Nein, die Menschheit ist nicht vernünftig geworden nach der Lektüre von Gulliver, noch nicht einmal vernünftiger. Die Satire nicht unnötig geworden. Der Parteigeist nicht kuriert, die Berufsstände nicht entkorrumpiert, die Erziehung nicht reformiert; noch nicht einmal die moralische Besserung der Frauen hat entscheidende Fortschritte gemacht (ja, Swift war ein wenig frauenfeindlich; aber Frauen waren auch nur eine Gruppe, wie die Ärzte, die Richter, Anwälte, und Gruppen – dazu später). Lemuel Gulliver entgeht dem Wahnsinn zwar am Ende, aber er wird definitiv ein Menschenfeind; er, der auf allen seinen Reisen in einer Vielzahl von first-contact-scenarios, wie sie im Lehrbuch jeder modernen Ethnographie stehen könnte, sich geradezu vorbildlich offen und aufnahmebereit verhielt, von Stereotypen absah und allein seiner Neugierde und Ehrlichkeit verpflichtet war; der ein biederer Erzähler war und ein selbstkritischer Mensch. Wie konnte das nur passieren? Wie ward Lemuel Gulliver ein Menschenfeind?
Wir überspringen zur Beantwortung dieser Frage in einem sehr großen Satz die ersten drei Reisen (die bekannteren) und konzentrieren uns auf das vierte Buch, Gulliver im Land der Houyhnhnms. Die Wesen mit dem (absichtlich unaussprechlichen) Namen sind, das ist offensichtlich, verkörperte Vernunftwesen. In sie schreibt Swift all das ein, was er über das neue Wundertier, den neuen Stein der Weisen der Aufklärung, die so hochgepriesene ‚allgemeine Menschenvernunft‘, weiß und vor allem: was er von ihr fürchtet. Schon, dass er der Vernunft dabei einen barbarisch klingenden Namen gibt, könnte einen misstrauisch machen (immerhin ist man jetzt schon ein judicious and candid reader); demgegenüber tragen die Gegenpole der Vernunftpferde, die etwas unter-menschlichen, fellbedeckten und ihren Instinkten ausgelieferten Yahoos einen eigentlich ganz fröhlichen Namen. Gulliver nun findet sich exakt in der Mitte zwischen den Fronten, hie Vernunft, dort tierische Instinkte und Triebe; und mit bemerkenswerter Geschwindigkeit schlägt er sich auf die Seite der Vernunft, er verfällt ihr geradezu, ihrer Konsequenz, ihrer Eindeutigkeit, ihrer Unbestreitbarkeit. Warum nur kann er kein Pferd sein? Warum bleibt er für die hochherzigen Houyhnhnms immer nur ein besserer Yahoo, den man in Kleider gesteckt hat (Kleider, wir denken für einen Moment zurück ans Tale, sind im Grunde alle Mäntel: Sie bemänteln etwas, das man verstecken möchte)? Ein Wesen, das Kleider trägt, lügt auch. Es zeigt sich nicht in seiner Natur. Es verdeckt das Ding, das ist (den Körper, nicht den Geist). Was Gulliver jedoch nicht sieht, nicht sehen will, ist: Die Houyhnhnms zahlen einen Preis für die absolut gesetzte Vernünftigkeit. Sie haben keine Instinkte (notfalls verzichtbar), aber auch nur wenige, schwache soziale Emotionen (Wohlwollen und Freundschaft, aufklärerische Generaltugenden von hoher Unverbindlichkeit und eher geringem Trostpotential). Sie haben einen totalitären Klassenstaat (wie noch jede Vernunft-Utopie), in dem es der Eindeutigkeit der Vernunft wegen keinen Widerspruch gibt, sondern nur staatliche Lenkung und Einheit. Kinder sind Allgemein-gut und werden im Interesse des Staates erzogen. Heira-ten werden innerhalb einer Klasse be- und geschlossen, Scheidung ist nicht vorgesehen (die Ehen beruhen schließlich auf Wohlwollen und Freundschaft). Es gibt einen geringeren Wortschatz (wer keine Wörter für Lügen und Laster braucht, ist schneller fertig) und keine schriftliche Literatur (die ja doch nur Dinge sagen würde, die nicht sind).
Der moderne Mensch ist, aber auch schon der aufgeklärte Mensch war schnell fertig mit dem Urteil, es lautet: Weg mit der Vernünftigkeit um jeden Preis! Bleiben wir – menschlich, fehlbar, schwach! Wir müssen ja nicht gleich Yahoos werden – oder müssen wir vielleicht doch? Denn ganz so einfach geht die Rechnung nicht auf. Es spricht ja durchaus einiges für die Vernunft, auch in ihrer etwas totalitären Form. Es gibt im Vernunftstaat keinen Krieg, und das allein ist ein Gewinn an Menschenleben und Lebensqualität, der kaum zu beziffern ist. Die Gesellschaft ist befriedet, da es kaum oder nur wenig Privatbesitz gibt und ökonomische Ungerechtigkeit gar nicht erst entstehen kann; es gibt keine Armut und keinen Reichtum. Es gibt auch kein Verbrechen, einen weiteren Gipfel menschlicher Unvernunft. Es gibt dafür, und das ist geradezu hypermodern, einen äußerst sorgsamen und nachhaltigen Umgang mit natürlichen Ressourcen; wer künstlich erzeugte Bedürfnisse gar nicht erst aufkommen lässt, kann gut mit dem leben, was die Natur von sich aus hergibt. Auch der dadurch entstehende Gewinn an per-sönlicher Autonomie und Zufriedenheit ist kein ganz kleiner Posten in der Rechnung. Das alles jedoch gibt es nur mit bedingungsloser Anerkennung der Vernünftigkeit. Keine halben Sachen, keine Kompromisse; wie Gullivers Gastfreund (den er in vorauseilender Unterwürfigkeit immer als „Herr“ tituliert, die Vernunft ist eine strenge Herrscherin) mit seiner geraden Vernunft feststellt, wird er schon beinahe dadurch korrumpiert, dass er Gullivers Erzählungen aus der Menschenwelt, die Geschichte ihrer Laster, ihrer Verbrechen, ihrer Ungerechtigkeiten – nur anhört. Er will kein Wort haben für das Laster; denn wenn man das Wort hat, folgt die Sache, und das Laster wird von einem Ding, das nicht ist, zu einem Ding, das ist. Deshalb müssen die Houyhnhnms Gulliver auch folgerichtig exilieren: Allein seine Anwesenheit würde ihren Vernunftstaat korrumpieren.
Wie ist es also nun mit der Vernunft bestellt, wenn wir uns die Rechnung genau anschauen? Von der absoluten Vernunft profitieren die Gemeinschaft und der Staat, sie ist der Inbegriff des greater good. Den Preis zahlt das Individuum, das nicht vernunftkonform ist. Jedenfalls nicht in seinem jetzigen Zustand. Vielleicht es auch nie sein wird. Das kann man bedauern oder auch nicht, was jedoch Swift gnadenlos klarmacht, ist: Wer die Vernunft auf den absolutistischen Thron hebt, macht das Individuum zu ihrem bedingungslosen Untertan. Keine Schwäche mehr, keine Entschuldigung, keine Ausflüchte. Irren ist nicht menschlich, sondern dumm. Der Mensch ist nicht schwach, sondern korrumpiert. Man kann verstehen, dass sich die Interpreten von Gulliver verzweifelt an Capitain Pedro de Mendez festklammern, einer Figur, die ganz am Schluss kurz auftaucht, Gulliver rettet und versucht, ihn in einer Art Konfrontationstherapie wieder langsam an die Menschheit zu gewöhnen; ist er doch die einzige Figur, die Menschenfreundlichkeit mit Vernunft verbindet. Aber er ist eine Nebenfigur, ein Nachgedanke, vielleicht sogar, wenn man sich den Namen anschaut, eine Märchenfigur; und das Ganze ist ein Glücksfall, Gulliver hätte genauso gut auch in die Hände von Piraten fallen können. Ist Menschlichkeit ein Glücksfall?
Tatsächlich spricht einiges dafür, dass Swift so dachte. In einem Brief, entstanden direkt im Zusammenhang mit dem Gulliver, schreibt er: „Ich habe schon immer alle Nationen, Berufsstände und Vereinigungen gehasst, und all meine Liebe richtet sich auf Individuen. …. Ich habe Materialien zu einer Abhandlung gesammelt, die die völlige Falschheit der Bestimmung des Menschen als animal rationale beweisen wird und zeigen, dass er nur der Vernunft fähig ist (rationis capax)“. Hier hat man den ganzen vermeintlich menschenfeindlichen Swift auf einen Punkt, und es ist ein guter Punkt: Die eigentlichen Monster, die wahren Leviathane, sind Staaten, Institutionen, Parteien, Kollektive; sobald der Mensch zur Gruppe wird, degeneriert er. Individuen kann man lieben (wenn man Glück hat); Kollektive nicht. Das ist ein Gedanke, der durchaus tief und nicht ganz einfach ist: Warum wird das Individuum, das immerhin der Vernunft fähig ist (und das ist eine Voraussetzung, die unendlich viel vernünftiger ist als die strikt aufklärerische Bestimmung des Menschen als animal rationale), zum Monster, sobald es sich mit seinesgleichen in einer Art Interessenverband – sei es eine Partei, ein Berufsstand, durchaus auch: ein Geschlecht oder ein System – zusammenschließt? Warum kann der Satiriker nur ein Menschenfreund sein, wenn er über konkrete Einzelpersonen spricht, und warum wird er ein Menschenfeind, wenn er über Gruppen schreibt? Die Frage ist grundlegend, und sie verlangt eine grundlegende Antwort mit ein wenig Mut zur Verallgemeinerung, so gefährlich sie auch ist – aber man muss ja nicht gleich ein System daraus machen (die Universaltheorie der Satire, in fünf Grundsätzen zum allgemeinen Gebrauch in allen möglichen und unmöglichen Welten):
Ad 1: Alle Satiriker sind extremfeindlich und Denker der goldenen Mitte. Die goldene Mitte, der Ausgleich wider-streitender Impulse, ist etwas, was Individuen gelingen kann, wenn sie sehr geschult, selbstkritisch, aufrichtig sind (ja, genau: judicious and candid readers; und beides ist genauso wichtig, die Urteilskraft und die Ehrlichkeit). Kollektive hingegen tendieren notwendig zur Verstärkung ihrer Partikularinteressen (und ja, das hat Implikationen für Parteien-Demokratien, die sich seit einiger Zeit aufs Unschönste sichtbar und spürbar machen). Sie treten deshalb in Konkurrenz, sie betonen die Unterschiede, sie entwickeln Aggression und eine Tendenz zur Dominanz.
Ad 2: Alle Satiriker sind systemfeindlich und Denker der Erfahrung und Beobachtung; sie tendieren, philosophie-historisch gesprochen, zu Empirismus und Skeptizismus. Denn wenn sie ihre Erfahrungen und Beobachtungen zu einem System konsolidieren würden, würden sie den gleichen Machtanspruch entfalten wie politische Herrscher und religiöse Führer: Ich habe Recht. Ich habe die Wahrheit erkannt, für immer und ewig. Das Wissen ist an sein Ende gekommen. Ich habe Recht. Ich habe die Macht über den Diskurs. Ihr sprecht nur noch in meinen Begriffen, ihr denkt nur noch nach meinen Regeln. Ich Habe Recht. Punkt!
Ad 3: Alle Satiriker wollen wirken und bessern, sie können nichts anders, auch wenn sie sich vollständig im Klaren darüber sind, dass es ihnen nicht gelingen kann (die Satire operiert immer im Angesicht des Absurden). Sie wollen nebenbei ein wenig unterhalten, ganz sicher; aber sie wollen nicht illusionieren wie die schöne Literatur, obwohl auch sie gern ein Geschichtchen erzählen, da Geschichtchen bekanntlich besser wirken, den Verstand anregen und Systemdenker zuverlässig in die Flucht schlagen. Sie lieben den Witz, die Schlagfertigkeit (die gelegentlich kleine Wunden schlägt, nun ja, die wahre Wahrheit tut eben weh), die Heiterkeit, die Aufrichtigkeit; ihr Ideal ist, man kann es nicht oft genug sagen, der judicious and candid reader, der nicht der bessere Mensch ist, sondern der aufmerksamere, der selbstkritische, der urteilsfähige.
Ad 4: Deshalb sind die wirklich guten, wirklich radikalen, wirklich schonungslosen Satiriker die größten Menschenfreunde, denn sie schneiden sich ins eigene Fleisch mit ihren Texten. Auch wenn der Preis ist, dass der Erzähler wahnsinnig werden muss, damit die Leser sehend werden; auch wenn der Preis ist, dass die Identifikationsfigur nur noch mit Pferden sprechen kann, damit die Leser sehen, dass die Vernunft überall wohnen kann, aber ganz sicher nicht in philosophischen Systemen mit Exklusivitätsanspruch und permanenter Selbstüberhöhung.
Ad 5: Deshalb sind die Satiriker sogar die besseren Philosophen (was man auch an Voltaire sehen kann): Eine radikale Satire beruht auf radikaler Analyse (deshalb richtet sie sich immer gegen den Krieg; es gibt kein rationales Argument für den Krieg, nicht eines), diese wiederum beruht auf scharfer Beobachtung, ausgiebiger Erfahrung, Fähigkeit zur Selbstkritik. Sie kennt kein Apriori, weder über den Menschen noch über die Welt noch über zulässige oder nicht-zulässige Erkenntnisverfahren; und sie kämpft gegen die Korrektheit, den Mehltau des Denkens, der sich niemals auch nur in die Nähe einer Grenze wagt und ständig das Ding sagt, das nicht ist (auch bekannt als: das ‚Ideal‘). Sie vollzieht dabei durchaus eine Verallgemeinerung; aber sie spricht nicht über das fehlbare Individuum (das tut das Pasquill), sondern über die Korruption, die unfehlbar eintritt, wenn fehlbare Menschen sich in Gruppen zusammenschließen und dadurch die erste Stufe auf der Leiter der Selbsterhöhung betreten, unweigerlich gefolgt von der unstoppbaren Gewaltdynamik des Parteiengeistes. Schließlich setzt sie das Ganze in eine Parabel, eine Fabel, eine phantastische Reise, ein Gleichnis um – warum? Weil sonst keiner zuhört; weil nur so der ganze Mensch angesprochen wird, nicht nur sein Verstand; weil Überzeugungen besser funktionieren, wenn man sie selbst erworben hat und am Ende sagen kann: Aha, ich hab‘s verstanden! Die Wahrheit ist nämlich immer nur wahr für das Individuum, das sie gefunden hat; deshalb ist jedes System Vergewaltigung. Und die Menschheit, sie ist, allerhöchstens, zur Vernunft befähigt, und wer das für Menschenfeindlichkeit hält – ach was, der liest sowieso keine echte (radikale) Satire und tanzt niemals auf Tonnen; er wohnt im Wolkenkuckucksheim und bewacht die Nachbarn, dass sie auch keine unsauberen Meinungen einziehen lassen und sagt am liebsten von morgens bis abends das Ding, das nicht ist (aber sein sollte, wenn er endlich das Sagen hätte!).
Aber Voltaire war nun leider kein Philosoph. Dicke Bücher sind über ihn geschrieben worden, über einen der wenigen waschechten Heroen der Aufklärung: über den Tragödiendichter, den Staatshistoriker, den Schelm und Freund der Frauen, den Kämpfer für Toleranz und Gerechtigkeit, den Satiriker und den Lyriker, den Unternehmer und erfolgreichen Spekulanten, den bissigsten aller Kirchenkritiker, der kurz vor seinem Tod — eine fake-Beichte ablegte und dann an den Papst schrieb und um eine kleine Reliquie für die neu erbaute Landkirche auf seinem Gut, Ferney, bat (er erhielt ein Stück von dem Büßerhemd des heiligen Franziskus, fast könnte man meinen, die katholische Kirche verstünde Ironie!). Vieles war Voltaire in seinem Leben, und als er seinen Geburtsnamen ablegte (zufällig nämlich hieß er sogar Francois-Marie!) und seine bürgerliche Herkunft und sich als ‚Voltaire‘ neu erfand, war es das erste Autoren-Branding der Geschichte: Voltaire, ein Name, ein Wort, ein Selfmade-man und Alleskönner. Nein, ein Fast-Alles-Könner; denn die, die Voltaire kennen, Gelehrte, die sich ihr Leben lang mit diesem Kosmos eines Menschen beschäftigt haben, die seine Magenleiden kennen und seine Diätmacken, seine Publikationstricks und noch die entlegensten seiner Pamphlete, sie alle bescheinigen dem Autor eines Dic-tionnaire philosophique portatif bedauernd und gar nicht wenig herablassend: Er sei kein Philosoph gewesen, lei-der, leider, leider!
Nun hatte das Wort philosophe im 18. Jahrhundert eine andere Bedeutung als vorher (sagen wir in der Antike: jemand, der die Technik des Denkens beherrschte und Wissen produzieren konnte) und nachher (sagen wir heute: jemand, der entweder einen Lehrstuhl an einer öffentlichen Hochschule hat, den man aber nur bekommt, wenn man sich sehr damit zurückhält eigenständig zu denken; oder jemand, der öffentlich versucht, Selbsthilfebücher zu vermarkten). Nein, im Frankreich des beginnenden 18. Jahrhunderts, in dem die Sonne des Sonnenkönigs zwar noch ziemlich hell schien, aber schon fast von der aufgehenden neuen Sonne der Lumières in den Schatten gestellt wurde, war ein philosophe jemand, der gefährlich dachte. Also vor allem: Gedanken, die der Religion oder der absolutistischen Herrschaft gefährlich werden konnten. Das waren: entweder materialistische Gedanken — es gibt nichts außer dem, was wir wahr-nehmen, sehen, fühlen können, Gott ist eine Wunschprojektion, der Geist ein Gespenst, die Vernunft eine schwache Ersatzbesetzung für intelligente Triebe; oder es waren deterministische Gedanken: Wenn jedes Ding eine Ursache hat und jede Ursache eine Wirkung hervorbringt, ist die Kette der Kausalität geschlossen; seit Anbeginn aller Dinge gab es nichts außer kausal zusammenhängenden Ursachen und Wirkungen, und bis zu ihrem Ende wird es nichts anderes geben; Freiheit ist — undenkbar. So ähnlich dachte Voltaire im Übrigen tatsächlich, nur dass er dabei noch gläubig blieb: Sein Gott war ein allmächtiger Vater, der die Dinge so gut eingerichtet hatte, wie es ihm eben möglich war in der „besten aller möglichen Welten“ (und konnte man sich nicht wirklich noch viel schlechtere ausdenken?) und sich dann verabschiedet hatte, lasst die Kinder spielen, hat er vielleicht gesagt, sie verstehen nicht viel, aber sie meinen alles zu verstehen. Es sind eben Kinder.
Insofern war Voltaire gar kein ganz schlimmer philosophe, nicht das öffentliche Schreckgespenst wie seine Freunde von der Encyclopdie, dem ersten großen philosophischen Demokratisierungsprojekt vor Wikipedia, allen voran La Mettrie mit seinem homme machine. Und seine Zeitgenossen haben ihn durchaus als einen solchen gemäßigten philosophe wahrgenommen. Nicht jedoch die Nachwelt, nicht jedoch die Voltaire-Forschung, so kluge und weit sie auch ist, und schon gar nicht die akademische Schulphilosophie; nein, nein, nein, sagen sie, kluge Gedanken mag er gedacht haben, er hat sie auch sicherlich schön und spitz und eindringlich formuliert, aber es waren eben nur — einzelne Gedanken. Verstreut aus einem Füllhorn, also habe man einen unendlichen Vorrat, und hier und da haben sie ein wenig Wurzeln geschlagen, aber eine ganze, eine ordentliche, ein — und nun sagen wir endlich das Wort, das schlimme Worte, das Totschlagwort: ein gedanklich in sich geschlossenes System, das habe er nun wirklich nicht hervorgebracht! Man sieht Hegel im Hintergrund streng schauen und den Kopf schütteln: Nein, so geht das nicht. Philosophie ist nicht dieser oder jeder dahingestreute Gedanke, wie er jedem — vielleicht sogar gelegentlich einer Frau? — durch den Kopf schießt, Philosophie ist ein Gedankenpalast, solide gegründet auf Definitionen und Aprioris, syllogistisch widerspruchsfrei verschränkt und mit dem Zement des allesbeherrschenden Begriffs haltbar gemacht für die Ewigkeit.
Nun, da hätte Voltaire wohl ein wenig geschmunzelt und einen seiner klugen Sätze gesagt. Vielleicht hätte er den Satz wiederholt, der am Ende seines Candide steht: Il faut cultiver notre jardin – und das ist im Gegenteil zu vielem, was ernsthafte Philosophen so sagen, durchaus wörtlich gemeint. Denn Voltaire hat seinen Garten bestellt, in Ferney unweit des Genfer Sees, er hat Wein angebaut und Gemüse und eine funktionierende Uhrenindustrie in Gange bracht, und sogar der Papst hat sein Unternehmertum geheiligt durch die Übersendung einer dummen, kleinen Reliquie für die Dorfkirche. Daneben ist der Satz natürlich auch bildlich gemeint, aber wahre Philosophen springen nicht immer gleich los auf die bildlich-übertragene Ebene, oh nein, sie lesen erst einmal, was da steht, buchstäblich, literally, und dann erst machen sie den kleinen Aufschwung zur bildlichen Bedeutung: Bildlich, also, heißt es: Reden kann jeder, einen Garten anbauen aber nicht. Das ist nämlich ein kultureller Prozess, und Prozesse haben hässliche Angewohnheiten, die reine Begriffspaläste und Luftschlösser aus Gedanken nicht haben: Sie sind nicht vollständig planbar. Sie haben Umgebungsbedingungen, die können sich ändern, mal gedeiht der Wein, mal gedeihen die Radieschen, man macht Fehler, man lernt dazu, man lernt nie aus. Daneben steht das System, der Gedankenpalast des ordentlichen Philosophen; eifersüchtig wacht sein Herr und Meister darüber, dass niemand daherkommt und ein wenig an den Grundfesten rüttelt oder die architektonische Gestaltung der Türme kritisiert. Hoffentlich kommt demnächst ein ordentliches Erdbeben daher und zerstört den unbewohnten Palast von Grund auf; die Gärten jedoch, sie bleiben, wenn man Mühe und Arbeit in sie steckt und ein wenig Herzblut.
Aber Voltaire war kein Philosoph, so sagen die Forscher, sie müssen es wissen; sie gehören zu den Leuten, die gern Begriffspaläste besuchen und sich wohlig und kenntnisreich in ihnen ergehen. Denn selbst einmal vorausgesetzt, Voltaire sei, das können wir ihm ja zugestehen, ein durchaus origineller Denker gewesen, ein kritischer Kopf, jemand, der sich sogar mit Mathematik und Naturwissenschaften auskannte (mit seiner Mätresse studierte er Newton, nicht nur Matratzen), jemand, der ziemlich sicher die zeitgenössischen Philosophen gelesen hatte und den einen und den anderen der Alten dazu. Seine Analysen, vor allem in seinen Satiren, den philosophischen Märchen und contes philosophiques, waren messerscharf und ließen keinen Stand ungeschoren, keine menschliche Schwäche und schon gar nicht die bizarren Gedankengebäude der Religionen und die massenmörderischen Machtspiele der Politik (noch jede Satire hat den Krieg verdammt. Es gibt einfach keinen Grund für einen Krieg, sobald man sich einmal zusammenreißt und den Gedanken ‚Krieg‘ zu Ende denkt. Niemals. Das haben Philosophen bisher auch nicht erkannt). Aber leider, leider, sobald es darauf ankam, all diese verstreuten, klugen Gedanken, all diese kaum bestreitbaren einzelnen Weisheiten – zusammenzudenken, zusammenzuschmieden, durch einen ordentlichen Begriffsbeton zu erhärten und den Palast zu erbauen, damit er sich gegen Himmel erstrecke – geht Voltaire wieder eine kleine satirische Laune durch, und er macht eine Satire auf Leute, die Begriffspal-äste bauen, die sie gar noch für unzerstörbar, ewig und immerwahr halten! Gegen solche Leute hilft nur – und so endet seine Wissenschafts- und Philosophiesatire Micromegas, und es ist die ultimative Satire auf Systemgläubige aller Art, nach der es keine weiteren Satiren darüber geben muss –; sie endet damit, dass der kluge und weise Micromegas vom Planeten Sirius dem Sekretär der Erdenakademie ein Buch verspricht, das den Endzweck aller Dinge ein- und für allemal klären werden in extra kleiner Schrift für die etwas schwächlichen Augen der Mini-Erdenbewohner (Micromegas kommt aus einer anderen Galaxie mit etwas anderen Größenverhältnissen, er hat deshalb einige andere Maßstäbe), und als das Buch kommt, ist es – leer. Natürlich ist es leer. Micromegas ist halt kein Philosoph!
Wer nun aber meint, das sei der Weisheit letzter Schluss, der hat die ganze Geschichte offensichtlich nicht verstanden. Denn Voltaire philosophisches Märchen macht ganz genau klar, wie ein ordentlicher Wissenschaftler vorgehen sollte, um das Wissen, was ihm in seinem persönlichen Universum mit seinen persönlichen Methoden und Instrumenten zugänglich ist, zu erschließen; jedenfalls, solange wir Geschöpfe Gottes bleiben und nicht Gott selbst werden (wer sich allerdings für Gott selbst erklärt, kann alles Mögliche erkennen, kein Zweifel! Was gibt es nicht für wunderbare Gedankenpaläste von selbsternannten Menschengöttern!) Auf ein paar einfache Regeln zusammengefasst, lautet das Rezept: Immer von den Sinnen ausgehen, es gibt nichts anderes für sinnliche Wesen; was nicht in den Sinnen war, hat im Verstand nichts zu suchen (das hat Voltaire von Locke in England gelernt, und er hat es fürs Leben gelernt, und der Gedanke ist einfach, und wer ihn bestreitet – nun, er mag seinen Palast bauen. Er bleibt aber akut einsturzgefährdet). Erlaubt sind jedoch Instrumente, wissenschaftliche Instrumente, technische Instrumente: Wenn Micromegas in Voltaires gleichnamiger philosophischer Erzählung zufällig durch die Diamanten von seiner Kette schaut, die ihm zufällig vor die Füße gepurzelt waren, und dabei zufällig entdeckt, dass sie ihm die Miniaturwelt der Erdenbewohner vergrößern, umso besser! Zufälle nutzen, sie sind des Forschers bester Freund! Wohingegen all diejenigen, die vorher schon wissen, was sie finden wollen, die ein telos haben, einen festgesetzten Endzweck des Beweises, ein quod demonstrandum erat – sich genauso gut gleich die Augen verbinden und die Ohren verstopfen können, es kommt ja nicht darauf an, was sie sehen oder hören, sondern nur auf das, was sie denken wollen! Dann, zurück zu Micromegas, wenn man seine Erfahrungen gemacht hat, sie gründlich gemacht, sie gesammelt hat, sie untereinander verglichen hat und seine ersten, vorsichtigen Schlüsse daraus gezogen hat – sollte man sie wieder in Frage stellen. Am besten, indem man sie mit jemand anders diskutiert. Noch besser, wenn dieser andere eine andere Perspektive darauf hat, zum Beispiel kommt er vom Mars und ist ein Zwerg für eine Sirioten, aber immer noch ein Riese für ein Menschlein! Reden, Diskutieren, Abgleichen. Dabei um Himmelswillen nicht versuchen, die Dinge allzu sehr zu vereinfachen, beispielsweise, indem man verrückte und ausgefallene Vergleiche dafür sucht oder entlegene Analogien zu Rate zieht – das sind Dinge, die Dichtern recht schön anstehen und vielleicht dem einen oder anderen Wissenschaftler, wenn er auf einem Mondspaziergang einer Dame die Wunder des Universums erklärt. Vielleicht können sie sogar ab und an zu einer Erkenntnis verhelfen, das wollen wir gar nicht abstreiten – aber sie erklären wissenschaftlich nichts. Sie demonstrieren philosophisch nichts. Sie erweitern den Kreis des Wiss- und Erkennbaren nicht. Dieser Kreis aber ist, und das ist das einzige Apriori, das Voltaire wahrscheinlich wirklich anerkennen würde, ohne jede Ausnahme und fundamentalst: begrenzt. Ein System tut nur eines: Es zeigt die Grenzen des Denkvermögens seines Erfinders an. Die Zahl der Dinge, die wir nicht wissen können, ist unendlich viel größer als die derjenigen, die wir – zu einem bestimmten Zeitpunkt, unter bestimmten Voraussetzungen, mit den gegebenen Mitteln – wissen und erkennen können. Je mehr wir zu wissen meinen, desto mehr erkennen wir, was wir alles nicht wissen können – das zumindest ist ein Gedanke, der wenigstens moderne Naturwissenschaftler beschleicht, vor allem: die größten von ihnen.
Aber Voltaire, leider, leider, war kein Philosoph, was hilft es, wenn er so kluge Gedanken hatte! Im Kern geht das Argument nämlich so: Philosophie ist systematisches Denken, ausgehend von apriorischen Grundsätzen, fort-schreitend über logische Schlussketten und endend in einem Zusammenhang von Gewissheiten. Oben stehen dann Gott, der Weltgeist, die Vernunft (alles metaphysische Synonyme), oder, am schlimmsten: der Mensch, die sogenannte Krone der Schöpfung (das einzige Tier, das den Krieg erfunden hat. Und bisher nicht überwunden). Voltaire aber, nun, sein Gedanke geht so: Es gibt keine ersten Prinzipien, es gibt keine Aprioris, die Basis sind allein Erfahrungen. Erfahrungen macht jeder selbst. Einige davon kann man durch Schlussverfahren systematisieren und verallgemeinern, andere nicht. Oder noch nicht. Damit aber, husch, hat er sich selbst schon als Philosoph dequalifiziert, denn wer ein ordentlicher Philosoph ist, wird anhand von folgendem Syllogismus entschieden:
(1) Philosophie ist ein in sich widerspruchsfreies und allgemein gültiges System von Begriffen.
(2) Voltaire hat niemals solch ein System hervorgebracht.
(3) Voltaire ist kein Philosoph.
Syllogismen sind natürlich ganz wunderbar. Mit der gleichen Sicherheit könnte man nämlich auch postulieren:
(1) Philosophie ist die Erzeugung von Luftschlössern aus Seifenblasen.
(2) Wer noch nie ein Luftschloss aus Seifenblasen erzeugt hat, ist kein Philosoph.
(3) Hegel ist kein Philosoph.
Voltaire hingegen hätte, in all seiner Bescheidenheit, gesagt (aber er hätte es viel lustiger gesagt, und er hat es im Micromegas lustiger gesagt): Das Errichten von philosophischen Systemen ignoriert die einzige absolut sichere menschliche Erkenntnis, nämlich diejenigen ihrer notwendigen Begrenztheit (und Skeptiker dürfen gern, mit Grund, hinzufügen: ihrer Standortgebundenheit). Systemphilosophen sind deshalb – aber hier breiten wir mit Voltaire den gnädigen Mantel des Schweigens über diese Verkehrung aus und versprechen stattdessen, demnächst einen Band an die Akademie zu schicken, in extra großer Schrift (die Philosophen sind schon alt und leiden gelegentlich an Sehschwäche, sie haben auch zu viel in Bücher mit zu kleiner Schrift gestarrt), in dem genauestens aufgezeichnet steht – was man alles nicht wissen kann.
"In der Tat wäre es recht sonderbar, wenn die gesamte Natur, sämtliche Gestirne ewigen Gesetzen gehorchte, indessen es ein kleines fünf Fuß hohes Lebewesen gäbe, das unter Mißachtung dieser Gesetze stets handelte, wie es ihm beliebte, ganz nach Gutdünken seiner Laune. Es würde zufällig handeln, aber bekanntlich ist der Zufall nichts. Wir haben dieses Wort erfunden, um die bekannte Wirkung jeder unbekannten Ursache zu bezeichnen. Meine Gedanken halten notwendig Einzug in meinem Gehirn; wie sollte mein Wille, der von ihm abhängt, zugleich durch Notwendigkeit bedingt und absolut frei sein?"
Voltaire, Der unwissende Philosoph
Natürlich ist schon die Theorie absurd, das sieht man auch bei wenig philosophischem und einem Minimum an gesunden Menschenverstand auf den ersten Blick: Wir leben angeblich in der ‚besten aller möglichen Welten‘ – geht’s noch? Aber nun, es war kein geringerer als Gottfried Wilhelm Leibniz, der das gesagt hat; also kein Feld-Wald-Wiesen-Philosoph von der Sorte „Was ist die Welt, und wenn ja wie viele?“, aber auch kein gelehrter Philosophiehausmeister, der den Kanon verwaltet und putzt bis in seine esoterischsten Ecken (im Candide von Voltaire sagt Pangloss, ein sehr überzeugter Philosophiehausmeister: „Das hat Leibniz gesagt, und das kann deshalb nicht falsch sein!“ Die Struktur des Arguments – aber nein, das lassen wir für später). Oh nein, unser Leibniz war noch ein echter Universalphilosoph im besten Sinne des Wortes; er war ein frühreifes Kind mit einem wahrscheinlich photographischen Gedächtnis, die europäischen Höfe rissen sich bald um den jungen Gelehrten, der schnell noch ein paar historische Abrisse und politisch-diplomatische Werke verfasste, bevor er mit flinker Feder die Infinitesimalrechnung und eine Rechenmaschine erfand, sich in der Optik und Paläontologie herumtrieb und heimlich von einer universalen Sprache träumte – eindeutige Begriffe sollte sie haben, und dann erst würden die Wissenschaften wirklich eine, die ganze, die wahre Wissenschaft sein! Wahrscheinlich war er selbst eine Muster-Monade, und die ganze Welt ging in seinen Kopf hinein, wo sie aber schon längst vorher gewesen war; denn jede Monade ist ein Spiegel der ganzen Welt, und sie hat keine Fenster. Leibniz aber hatte, immerhin, Fenster: Durch sie schickte er seine Briefe zu seinen ge-lehrten Kontakten in ganz Europa, 15.000 sind erhalten. Heute denkt man vor allem an Kekse, wenn man an Leibniz denkt, und daran kann man sehen, wie ungerecht die Welt ist, nein: wie dumm, wie vergesslich, wie undankbar, wie versessen auf Süßigkeiten materieller oder immaterieller Art. Und das sollte - die „beste aller möglichen Welten“ sein?
Nein, bis heute hat wahrscheinlich niemand das Gefühl, er würde persönlich in der besten aller möglichen Welten leben, auch wenn unsere heutige Welt zumindest in ihren überprivilegierten Teilen schon ziemlich behaglich geworden ist, so dass wenig Grund zur materiellen Klage besteht. Aber das, was Voltaire damals endgültig vom Glauben abfallen ließ, war das berühmte Erdbeben von Lissabon: 1759 fand es statt, ausgerechnet an Aller-heiligen – massive Erdstöße, gefolgt von einem Tsunami und einem Brand, die vermutete Zahl der Toten schwankt zwischen 30.000 und 50.000, die Stadt, eine Metropole des Handels, der Bildung und der Religion, wurde zerstört bis auf die Grundmauern. Ein Erdbeben war das, was Leibniz ein ‚physisches Übel‘ genannt hatte: Übel, die die Natur selbst zu verantworten hat, Katastrophen, Krankheiten, Elend, Tod, und dieses beherrschen die Menschheit zweifellos bis heute, wenn auch in leicht veränderter Form (in Neil Gaimans gemeinsam mit Terry Pratchett verfassten Roman über die Apokalypse, Good Omens, ist der apokalyptische Reiter „Pest“ neuerdings durch „Pollution“ ersetzt; es ist im übrigens das einzige und endgültige Buch über die Apokalypse und ihre absurderen Seitentriebe und wahrlich eines modernen Leibniz würdig). Gegen die Natur ist kein Kraut gewachsen, ebenso wie gegen den Tod, denn eigentlich sind sie das Gleiche. Und, seien wir ehrlich, mit den ‚moralischen Übeln‘, die aus der vermeintlichen menschlichen Freiheit entspringen (oder auch nur ihrer Illusion, im Ende macht das wenig Unterschied) sieht es auch nicht viel besser aus als zu Leibniz oder Voltaires Zeiten: Nicht sind die Kriege abgeschafft, nicht der Völkermord verhindert, nicht die Vergewaltigung verschwunden; nicht die Herrschaft der Reichen über die Armen, nicht die Korruption der Mächtigen, nicht das kleine alltägliche, nicht das große, organisierte Verbrechen. Die ‚beste aller möglichen Welten‘? Noch nicht einmal in Utopien funktioniert sie. Himmel, wären wir nicht schon froh über eine eher mittelmäßig gute/schlechte Zwischenwelt? Wie konnte der große Leibniz nur auf eine solche wahnwitzige Idee kommen?
Nun sollte man nicht vergessen, auch wenn wir es immer wieder tun, dass Leibniz ein tiefgläubiger Mensch war; genauso wie sein Zeitgenosse, der zweite universelle Denker und Wissenschaftsreformator, der gleichzeitig mit ihm die Differentialrechnung erfand, John Isaac Newton nämlich. Alles, was sie zu wissen glaubten und sich zu denken erlaubten, beruht auf diesem einen Satz, nein, eher einem Satzgebäude aus massiven Aprioris, die freudig umeinanderkreisen und sich dabei gegenseitig immer fester in den Grund rammen: Es gibt einen Gott, er ist allmächtig, allweise, allgütig. Wir wissen, dass es ihn gibt, weil wir wissen, dass es die Welt gibt; wo es ein Geschöpf gibt, gibt es auch einen Schöpfer. Weil Gott die Welt geschaffen hat, und weil Gott allmächtig, allweise, allgütig ist, ist es die beste aller möglichen Welten. Denn warum hätte ein perfekter Schöpfer eine schlechte Welt schaffen sollen? Das tun nur schlechte Architekten und unfähige Handwerker. Es wäre eine Beleidigung seiner selbst gewesen, oder, fachmännisch gesprochen: Es gibt keinen zureichenden Grund für eine schlechtere als die beste aller möglichen Welten. Nein, diese Welt, wie wir sie sehen und wahrnehmen, muss zwingend die beste aller möglichen Welten sein; wäre sie es nicht – wäre Gott ein Betrüger. Ein Dilettant, bestenfalls. Ein zweitklassiger Autor, im schlimmsten aller Fälle. Jedenfalls kein Mathematiker.
Denn das, was wir genauso gern verdrängen wie Leibnizens tiefe Gläubigkeit, war sein mathematischer Geist. Mathematik ist dem meisten von uns irgendwie unangenehm heutzutage: Eine Sprache, die jeden Tag mehr ihre universale Gültigkeit beweist, zweifelsfrei, aber die wenigstens schaffen es, diese Sprache zu erlernen, jedenfalls in ihren tieferen, komplexeren Gründen. Mathematik war von Anfang an eine elitäre Angelegenheit; einmal bewiesene Formeln sind Gesellschaftskritik ebenso unzugänglich wie demokratischen Verfahren, und sie haben diese nervige Tendenz, einfach immer Recht zu haben. Die Mathematik spricht, sie ist, seit Newton, die präziseste Art und Weise, über die Natur zu sprechen, sie zu erklären, sie verständlich zu machen; Worte, ach Worte, sind schwache Werkzeuge dagegen, von Grund auf zweideutige Zeichen und die Quelle allen Missverstehens (was etwas anderes ist als mathematisches Unverständnis). Und für Leibniz wie für Newton und schon für einen großen Teil der Philosophen des Altertums war es deshalb eine Selbstverständlichkeit, dass ein Philosoph auch mathematisch zu denken hatte. Ob der Satz, dass hier niemand hineinkäme ohne Kenntnis der Geometrie, nun über der platonischen Akademie gestanden hat oder nicht, ist ein wenig unerheblich wie alles historisch-kontingente, aber dem Sinn nach stand er da. Es sei immer nützlich, richtig zu denken, selbst bei nutzlosen Dingen, hat Fontenelle gesagt, ein etwas unterschätzter Aufklärer, der versuchte, die Naturwissenschaften unter die Leute zu bringen. Sogar Voltaire hat mit seiner langjähri-gen Geliebten, Madame de Châtelet, die Newtonschen Principia Mathematica studiert; sie ist dabei weiter gekommen als er, aber immerhin, es war ihm offensichtlich völlig klar, dass das genau das war, was ein zeitgenössischer Philosoph, der sich seines Namens nicht schämen wollte, tun musste: die zeitgenössische Mathematik studieren. Worte, ach. Am Ende von Candide steht eines der meistzitierten (und wenig beachtetsten) Worte der Weltliteratur: il faut cultiver notre jardin; davor sagte aber Candide: „Cela est bien dit“, wohl gesprochen, nett gesagt, aber: Der Garten wartet. Der Worte sind genug gewechselt, hätte er auch sagen können. „Es lässt sich viel darüber sagen“, endet Voltaires kurze Geschichte des weisen, guten Brahmanen, der auch nicht versteht, warum kluge Leute lieber klug sein wollen, auch wenn die dummen offensichtlich glücklicher leben. Es lässt sich viel darüber sagen. Oder auch nicht (das ist der Satz, den der weise Leser dazu denken muss). Der Garten wartet.
Was aber haben Voltaires lakonischer Schlusssatz und Leibnizens Mathematikergeist nun mit der „besten aller möglichen Welten“ zu tun? Nun: Es wäre zu überprüfen, ob man den Satz einmal nicht nur oberflächlich se-mantisch mit den üblichen Missverständnissen lesen könnte (reale Gärten, metaphorische Gärten, ironische Gärten?), sondern auf ein mathematisches Problem, eine mathematische Theorie beziehen könnte. Das ist ein unangenehmer Gedanke, ich weiß; deshalb nehmen wir erst einen Umweg. Der Umweg führt uns, natürlich, über den schon erwähnten Candide, Voltaires satirischen Groß-Gegenschlag gegen die Leibniz’sche Theorie der besten aller möglichen Welten. Die Satire Candide ist die blutrünstige, spektakuläre, von physischen und moralischen Übeln nur so strotzende Darstellung der schlechtesten aller möglichen Welten. Die Titelfigur, ein argloser deutscher Jüngling aus Westfalen, wird in diese Schlachtenwelt durch einen ungerechten Fußtritt hineinbefördert; wie alle anderen Figuren verliert er wesentliche und unwesentliche Körperteile bei seiner Reise durch die neue und die alte Welt; im Gegensatz zu den anderen Figuren, vor allem seinem Lehrer Pangloss, einer Leibniz-Karikatur, verliert er am Ende auch seinen Glauben an die beste aller möglichen Welten und will nur noch sein Gärtchen kultivieren. Aber wir eilen voraus, und es kommt gar nicht so sehr auf das Ende an, sondern erst einmal auf den Weg, auch wenn dieser auf den ersten Blick als eine nur schwach zusammenhängende Aneinanderreihung von menschlichen Monstrositäten in allen Zeiten, Ländern, Ständen erscheint, deren einfaches Rezept ist: Man denke sich eine beliebige Grausamkeit aus und multipliziere sie mit einer großen Zahl (nicht mit unendlich. Das hat seinen Grund). Candide ist die Mutter aller satirischen Übertreibung, nie wieder, weder vorher noch nachher, ist so übertrieben worden. Aber musste es nicht so sein? Musste man nicht der besten aller möglichen Welt die schlechteste aller Welten gegenüberstellen, den maximalen Optimismus mit dem maximalen Pessimismus konterkarieren? Denn zeigt das nicht, wie der erschöpfte Leser vielleicht irgendwann feststellen könnte, dass beide Extreme gleich unwahrscheinlich sind? Eine Welt, in der alles nur schlecht ist, könnte es die überhaupt geben? Wären wir nicht alle längst tot, schon lang vor dem finalen atomaren Vergeltungskrieg und der explodierenden Klimakatastrophe, vor der Ausrottung der Arten und dem Verschwinden der Wälder? Wenn es aber die schlechteste aller möglichen Welten nicht gibt, wie sieht es dann aus mit der besten ---?
Wir lassen diesen schon beinahe mathematischen Gedanken ein wenig in der Luft schweben, neben Candide und seinem Lehrer Pangloss-Leibniz, die schon wieder streiten, und begeben uns auf die Suche nach der Mitte; irgendetwas zwischen der besten und der schlechtesten aller möglichen Welten muss es doch sicherlich geben? Mitten im Roman kommt Candide deshalb nach Eldorado. Die Straßen sind mit Gold gepflastert, die Kinder spielen mit Edelsteinen, es gibt keinen Hunger, keine Not, kein physisches Elend; der Staat ist aber, wie alle Utopien seinesgleichen, streng abgeschirmt von der Umwelt. Doch die Menschen sind im Großen und Ganzen glücklich und dankbar gegenüber ihrem einen Gott, den sie nicht fanatisch verehren; sie pflegen die Wissenschaften und die Künste und beachten die Gesetze, das heißt: Sie bleiben daheim. Candide will jedoch nicht bleiben, und zwar aus verschiedenen Gründen. Zum einen hat er immer noch nicht die verlorene Kunigunde gefunden, die immer mehr die ätherische Qualität eines Traumbildes bekommt, wie jede ideale Geliebte; zudem beschleicht unsere Reisenden der Verdacht, sie wären hier bald genauso wie alle anderen. Tatsächlich ist das der Preis, den, wie auch Swifts Gulliver schon in der besten aller möglichen Welten bei den Houyhnhms erfahren musste, man für den Vernunftstaat zahlt: ein Verlust an Individualität, an Differenz, an (vermeintlicher) Einmaligkeit. In Eldorado, bei den klugen Pferden, im vollendeten Kommunismus sind alle gleich. Es gibt keine Not, keinen Zwang, keine Unterdrückung. Es wäre die beste aller möglichen Welten, aus der Perspektive Gottes wie der der allmächtigen, allweisen, allgütigen Vernunft. Und wir wollen nicht in ihr leben, noch nicht einmal, wenn man viel uns Geld dafür gäbe und alle Straßen mit Gold gepflastert wären.
Und so flieht Candide Eldorado und sucht weiter nach Kunigunde und ist beinahe schon genauso froh, als er sein verlorenes rotes Lama findet (Frauen, Haustiere, Ideale – eines ist wie das andere: austauschbar). Und als er sie gefunden hat, Kunigunde also, ist die Welt um nichts besser geworden. Inzwischen aber, aus welchem wirkenden Grunde auch immer, hat man auch einen Weisen gefunden, er ist natürlich alt, und er sagt im Wesentlichen: Schluss mit dem Geplapper, an die Arbeit mit euch Jammerlappen! Nur sie schützt vor den drei Hauptübeln der Menschen überhaupt, welche das sind: Mangel (ein physisches Übel, hätte Leibniz gesagt), Laster (das moralische Übel) und Langeweile (ja, es gibt noch eines, Leibniz nennt es das metaphysische Übel, es ist sozusagen ein Mathematiker-Übel, und es kommt daher, dass die Welt endlich ist und damit – substantiell nicht perfekt). Auf weitere Diskussionen über die Güte oder die Schlechtigkeit der Welt lässt er sich nicht ein, er speist sie vielmehr mit einem Geschichtchen ab: Den Pharao würde es wirklich nicht kratzen, wie es den Ratten auf seinen Galeeren gehe. Gott ist nicht verantwortlich für mindere Übel. Er ist noch nicht einmal verantwortlich für eingebildete Übel. Übel sind das, was Menschen aus sich und der Welt machen, die doch eigentlich die beste aller –
Damit sind wir zurück bei Leibniz und fast am Ende von Candide. Am Ende nämlich bestellen unsere Frührentner, physisch massiv lädiert, nicht nur ihr Gärtchen, sondern sie entdecken ihre je unterschiedlichen Talente als Pastetenbäcker, Schneiderin und Tischler. Und, oh Wunder: Dabei werden sie sogar bessere Menschen! Denn, so zeigt das Schlussbild in einer kurzen, verdächtig mit dem Glanz des wahrhaft Positiven schillernden Szene: Arbeit lenkt nicht nur ab vom Elend der Welt, sie vermindert es. Ganz handfest (physisches Übel, mehr bessere Pasteten und funktionierende Kommoden), aber auch moralisch (ordentliche Arbeit bildet ordentliche Charaktere; und ja, wir sind hier in einem Bereich, wo wirkende und Zweckursachen ein wenig verwirrend umeinander tanzen, vielleicht sind sie ja doch nur eine Erfindung von Philosophie-Hausmeistern?). Und schließlich: Man kann zwar gelegentlich über philosophische Theorien ein wenig reden, wenn es denn sein muss; einer hält schon wieder einen Vortrag und alle anderen von der Arbeit ab, es ist natürlich Pangloss, es ist immer noch der gleiche Vortrag wie am Anfang, „beste aller möglichen Welten“, blabla-bla, „nötiger Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen“, vom ersten Fußtritt an bis ins Gärtlein, blablabla; und Candide sagt ganz einfach: „Gut gesagt“. „Wohl gesprochen“. Er sagt nicht „richtig“, er sagt nicht „falsch“. Er sagt: Kann man sagen, wenn man will. Oder auch nicht. Metaphysische Übel entstehen durch Rechthabenwollen. Man kann aber auch einfach den Diskurs verlassen und Gott einen lieben Mann sein lassen; natürlich ist er immer noch da, aber warum sollte er sich um die Ratten kümmern in seinem Weltschiff? Ratten sollten sich um sich selbst kümmern und ihre besonderen Rattentalente entwickeln (na gut, vielleicht schlechtes Bild; also, ohne Pest natürlich, Pollution ist schon schlimm genug). Am Abend können sie sich gern Geschichten erzählen von der besten aller rättischen Welten; aber nur zu Unterhaltungszwecken und zum Vertreiben der Langeweile, der größten Pest einer verwöhnten Menschheit.
Was nun hätte Leibniz gesagt, zum Schluss des Candide, der mathematisch denkende Universal-Philosoph? Vielleicht folgendes (ähnlich hat er es auch gesagt): Schaut euch die Mathematik an, die ungeliebte. Es gibt in ihr unvorstellbar große Zahlen und unvorstellbar kleine. Wir wissen, dass es beides gibt, aber wir wissen nicht, was die größte oder die kleinste Zahl ist; weil wir es nicht wissen können. Was wir aber wissen, aus der Natur und aus der Mathematik, ist, dass alles miteinander verknüpft ist, notwendig und immerdar, das Kleinste und das Größte und alles dazwischen; es ist, sagt Leibniz in einem poetischen Anfall, wie das Meer, der große Ozean, und wenn ihr an einer beliebigen Stelle einen beliebigen Stein ins Wasser werft, spürt der ganze Ozean die Wellen (theoretisch). Wie dieses alles jedoch gefüllt ist, womit, in welcher Reihenfolge, in welcher Mischung die kleinen und die großen Fische schwimmen – dafür gibt es unvorstellbar viele verschiedene Möglichkeiten, die Gott auch alle kennt. Aber als die Sorte Gott, die er ist (hoffen wir, dass er der beste aller möglichen Gotte ist, aber diesen beunruhigenden Gedanken spricht Leibniz nicht aus), konnte er aus all diesen Möglichkeiten nur die allerbeste wählen, was denn sonst! Wenn man deshalb auch nur den winzigsten Teil dieses Universums ändert, ändert sich alles; wenn ihr den Stein nicht werft, bricht der dritte Weltkrieg nicht aus. Also muss alles in der besten aller möglichen Welten genau so sein, wie es ist, und wer die winzigste Einzelheit entfernt, zerstört die ideale Ganzheit.
Ja, aber nun kommt so ein Oberschlauer, sagt Leibniz, ein Romanenschreiber wahrscheinlich (er sagt es nicht ganz so polemisch, aber in der Sache schon). Und der sagt: Man könnte sich doch eine Welt vorstellen, in der alles perfekt und picobello wäre. Kein physisches, moralisches oder metaphysischen Übel; kein Elend, kein Laster, keine Langeweile (um mit Voltaire zu sprechen). Aber wie wir alle wissen, sagt der weise Leibniz, bringt gerade etwas Schlechtes häufig etwas Gutes hervor; manchmal bringen sogar ziemlich große Übel ziemlich massiv Gutes hervor! Wer aber, sagt der Mathematiker Leibniz, könnte das alles vergleichen, das alles berechnen, bei der unendlichen Anzahl der theoretisch möglichen Welten? Bleiben wir beim Indizienbeweis: Schlechtes kann Gutes bewirken; und bleiben wir bei der Prämisse: Gott kann nichts anderes schaffen als – nun, nicht das Perfekte, sondern das Beste (das Beste wäre ein zweiter Gott). Und hier könnte, interessanterweise, Voltaire ihm sogar zur Hilfe springen: Denn zeigt uns nicht Candide, dass die perfekte Welt – statisch, lebensfeindlich, immergleich, am Ende: todlangweilig ist? Keine Bewegung mehr, nirgends, in Eldorado. Sie würde im Kältetod erstarren vor lauter Perfektion. Ende aller Kräfte, Ende aller Schöpfung. Sie hat nie stattgefunden. Es wäre ein toter Gott, der eine solche perfekte Welt erschüfe, und noch nicht einmal die Galeerenratten oder die roten Lamas wollten dort leben.
Das nun ist ganz klar ein anthropologisches oder psychologisches Zusatzargument und wäre Leibniz als solches vielleicht nicht ganz recht gewesen; uns soll es aber recht sein, wenn Mathematik und Anthropologie sich einmal aufs schönste unterstützen! Und natürlich meinte Voltaire, auch wenn er bis zum Ende seines Lebens überzeugter Deist war (also einen natürlichen Gott glaubte), nicht, dass diese unsere Welt wirklich die beste aller möglichen ist; dazu brauchte man schon Leibnizens Mathematikergeist und nicht Voltaires doch eher skeptische Nase. Deshalb nur als abschließende Übung in mathematischer Demut ein kleines Zusatzargument jetzt wieder von Leibniz, das vielleicht sogar das zukunftsweisendste aller seiner Gedankenspiele ist: Wenn also, so argumentiert er als Mathematiker, Kosmologe und Philosoph, wenn unsere Erde nur ein Planet ist, der unsere Sonne umkreist, es aber wahrscheinlich unendlich viele weitere Sonnen mit unendlich vielen weiteren Planeten gibt, dann zeigt sich deutlich, „wie gering unsere Erde im Verhältnis zur sichtbaren Welt ist“. Und Leibniz spekuliert nun weiter, aus dem Geist der (mathematischen) Wahrscheinlichkeit heraus: „Möglicherweise sind die [anderen] Sonnen ja von lauter glücklichen Menschen bewohnt und nichts nötigt uns zu der Annahme, dass es viele Verdammte gebe, denn wenige Beispiele und wenige Muster genügen für den Nutzen, welche das Gute aus dem Übel zieht“. Und er schließt mit einer gewissen Erbarmungslosigkeit: „So verliert sich der uns bekannte Theil des Universums beinah in das Nichts im Verhältnis zu dem Teil, den wir nicht kennen und doch mit Grund annehmen können. Da nun alle Übel, die man mir entgegenhält, nur auf diesem Beinah-Nichts sich befinden, so können auch diese Übel ein Beinah-Nichts in Vergleich zu den Gütern des ganzen Universums sein“. Groß gedacht, zweifellos; aber man hört ein leises Jammern im Hintergrund, Zadig sagt, „Aber… aber….aber… aber“ (der Engel ist aber schon verschwunden), und wir alle sagen: „Aber das Individuum? Aber …. ich?“ „Nett gesagt“, sagt Candide, aber wir sollten nun wirklich unseren Garten bestellen, auch wenn Gott uns wieder einmal nicht dabei hilft.
Er ist ein Glückspilz, von Geburt an. Reich, schön, klug, beliebt. Definitiv überprivilegiert, würde man heute sagen. Sogar ein wenig weise ist er schon, er strebt nämlich nicht nach unnützem Wissen, sondern nach dem Umgang der Weisen, ist es denn zu glauben, so jung und schon derart weise! Sogar Glück in der Liebe hat er, na gut, das ist vielleicht nicht direkt verwunderlich: Semira, die schönste, edelste und reichste Frau weit und breit ist ihm versprochen (von Weisheit ist bei ihr allerdings nicht die Rede, das könnte einen ein wenig misstrauisch machen, aber sie ist ja nur eine Frau). Er hat eigentlich nur einen Fehler, unser Zadig: Er glaubt nämlich, all dies würde ihm einen Anspruch auf Glück verschaffen. Wie kommt er nur auf die Idee? Reicht es denn nicht, schön, gesund, reich, ge- und beliebt, ja sogar in jungen Jahren schon weise zu sein? Aber nein, das Lebensglück muss es auch noch sein! Und so holt das Schicksal aus, nein, eigentlich ist es der – durchaus verständliche – Neid der weniger Begüterten, und es schlägt Zadig seine erste Wunde: Konkurrenten überfallen ihn, er kämpft, heldenhaft, er rettet die Geliebte, nur eine kleine Wunde am Auge (am Auge? ach, wer sehen kann, der sehe!) trägt er davon, gefährlich sieht sie aus, aber eigentlich kommt es nur darauf an, die Ärzte zu überleben, und dann heilt seine robuste Natur ihn von allein. Glück gehabt. Leider verlässt ihn daraufhin Semira, sie steht nicht auf Einäugige, so hört man, und – gleich noch einmal Glück gehabt, denn so viel Wechselhaftigkeit war wohl nicht das beste Rezept für eine erfolgreiche Ehe. Zadig leidet an diesem Treuebruch, aber nicht zu lange, denn eines schönen Tages steht er auf und zieht einen klugen (oder weisen?) Schluss: Lieber eine kluge Frau als eine allzu schöne! Und so nimmt er eine kluge Frau, sie findet sich schnell für unseren Überflieger, Asora heißt sie, und sie gilt nur ein wenig als leichtsinnig. Aber hat sie die Intrige verdient, mit der Zadig unter Beihilfe eines bereitwilligen Freundes – Kador heißt er, und er ist immer dann zur Hand, wenn man ihn braucht, und wer hätte nicht gern einen solchen Freund, man schenkt ihm auch gern ein wenig Geld? – ihre Tugend zu Fall bringt? Wie auch immer, Asora besteht nicht, ihre Klugheit ist nämlich größer als ihre Tugend, und flugs verstößt sie Zadig, in einem Nebensatz. Noch einmal Glück gehabt, es war wohl doch wieder die Falsche!
Etwas überdrüssig der Frauen, verzieht sich Zadig, kaum merklich gealtert, in seine Luxusvilla auf dem Land und widmet sich ganz den Wissenschaften, der Arme! Dort erforscht er nun die Tiere und die Pflanzen und wird so scharfsinnig dabei, dass alle späteren Sherlock Holmesse vor Neid die karierte Mütze zerknüllen. Gelegentlich prahlt er mit seinem Wissen, ganz unschuldig natürlich, aber doch irgendwie an der falschen Stelle und fällt dafür in Ungnade bei Hof; oder nein, doch nicht, er bekommt immerhin Geld als Lohn für seinen Scharfsinn. Und verliert es wieder an die noch gewitzteren Anwälte, so what, er hat es sowieso nicht nötig! Und wird wieder der Musterknabe, wie wir ihn kennen; großzügig ist er auch noch, alle Welt lädt er in seine Villa zu wunderbaren kulturellen Veranstaltungen, man ist geschmack- und geistvoll ohne Ende. Es zeigt sich, dass er sogar schöne Verse schreiben kann, ganz aus dem Stegreif, ist er nicht ein Tausendsassa! Zufällig aber zerbricht das Täfelchen mit den länglichen Versen, und die verbliebene Hälfte ist – nun, ein wenig missverständlich, Majestätsbeleidigung, könnte man auch sagen, und die Majestät reagiert empfindlich; aber dann, ganz zufällig, findet ein Papagei (ein Papagei!!!) die zweite Hälfte, alles klärt sich aufs schönste, die vollendeten Verse sind das vollendete Herrscherlob, und wieder Glück gehabt! Die Majestät ist ent-leidigt, belohnt ihn, macht ihm zum Berater, ja Zadig bekommt sogar eine Tugendmedaille (Mitarbeiter des Monats, stand wahrscheinlich darauf). Und er verwaltet wirklich weise, was sonst, er fällt salomonische Urteile, zerschneidet den gordischen Knoten in einem Luftsprung, erfindet die lustigsten Tugendproben, ach, was ist das Leben schön, wenn man Verstandesschärfe und Seelengüte hat wie Zadig! Was fehlt ihm noch außer? – ach ja, die Liebe. Fast hätte man sie vergessen. Aber natürlich verliebt sich die Königin Astarte in ihn, sie kann ja gar nicht anders, er ist ein immer noch junger, schöner Mann und dazu ein weiser und gerechter Minister; und Zadig, nun ja, verliebt sich auch, er kann ja gar nicht anders, sie ist eine junge, schöne, liebreizende und schmachtende Königin, dagegen hilft keine Philosophie der Welt! Natürlich kommt der König dahinter, natürlich will er die beiden Schuldigen des Nachts umbringen lassen, aber – gerade noch einmal Glück gehabt! Ein stummer Zwerg (ein Zwerg!!!) lauscht an der richtigen Stelle, warnt sehr originell die beiden Verliebten, Kador, der unentbehrliche Kador ist natürlich zur Stelle, und die Flucht gelingt, im allerletzten Moment –
Atempause. Zadig, soeben dem Tod entronnen aufgrund einer Akkumulation glücklicher Zufälle, verflucht sein Schicksal: Wie konnte es sein, dass er seinen doch durch Weisheit und Tugend doppelt verbürgten Anspruch auf Glück nicht – na gut, seien wir ehrlich: temporär nicht vollständig – einlösen konnte? Derweil bietet sich wieder eine willkommene Gelegenheit für das Gute und Schöne und eine geprügelte Frau zu kämpfen. Leider stellt sich das Ganze im Nachhinein als Missverständnis heraus, aber das Volk urteilt gerecht: Immerhin hat der Fremde einen Mann erschlagen (Nebenfigur, redshirt von Anfang an), darauf steht Sklaverei. Zadigs Käufer aber ist ein guter Mann, der schnell die besonderen Talente seines Sklaven erkennt, und alle werden reich und machen Bildungsreisen und verbreiten nebenbei die wahre Religion auf den Märkten; wir schaffen sogar, über Nacht, die jahrhundertealte Sitte der Witwenverbrennung ab! Was Zadig prompt wieder in einen Schlamassel bringt, diesmal wollen ihm die Priester an den Kragen, aber wer findet sich pünktlich ein zur Rettung? – nein, reingefallen, nicht Kador, sondern die unverbrannt gerettete Witwe, die recht hübsch und verschlagen ist, ein wenig wie die kluge Asora. Aber sie ist nicht für Zadig, oh nein, denn er trauert immer noch der verlorenen Königin seines Herzens hinterher. Auf all seinen Reisen sucht er sie, nebenbei wird er schnell wieder Politikberater und Ehevermittler an diversen Königshöfen, aber, seht nur, wie klug der Weise inzwischen geworden ist: Er erkennt schon selbst, dass zu viel Erfolg immer eine Gefahr ist und macht sich vorsichtshalber rechtzeitig aus dem Wege! Auf Reisen aber lauern auch die Räuber, so ein Pech, zum Glück ist es ein Leichtes für Zadig, sie zu besiegen. Vor lauter Bewunderung über so viel Heldenmut lädt ihn der Räuberhäuptling auf sein Raubschloss einlädt; er ist nämlich, Überraschung!, ein guter Räuber, der es vom Diener zum Schlossherren gebracht hat, ganz self-made-man und Herr seines Schicksals. Er bietet sogar Zadig einen Job an, aber Zadig ist ein Mann mit seiner Mission, sie heißt: Astarte! Zwischendurch läuft er zufällig dem unglücklichsten Menschen der Welt über den Weg, es ist ein armer Frischer, der alles verloren hat, sein blühendes Käse-Geschäft, seine hübsche Frau, sein Häuslein klein, und jetzt wollen noch nicht einmal die Fische mehr beißen – und wer ist schuld? Oh, Zadig ist schuld, so ein Zufall; er hatte, natürlich unwissentlich, durch seine Flucht den Bankrott des Käsehändlers herbeigeführt. Schnell, ein wenig Geld für den Armen! Geh zu Kador, er weiß was zu tun ist (Kador, Kador, wo ist eigentlich Kador, wenn man ihn braucht?)!
Und kaum ist der Fischer versorgt und um die Ecke verschwunden, findet Zadig die gesuchte Astarte. Zufällig natürlich, man könnte auch sagen: Glück gehabt! Sie hat einige raue Zeiten gehabt und arbeitet gerade als Sklavin für einen reichen Fettklops, aber der Fettklops hat ernsthafte gesundheitliche Probleme, und der weise Zadig, der Arzt der Herzen und der Könige, heilt ihn, indem er ihm eine Bewegungstherapie verordnet. Woraufhin der nächste Neider sich anschickt, den Nebenbuhler zu erledigen – aber, im letzten Moment, erreicht Zadig eine Nachricht von der inzwischen offenbar auf einem Zauberteppich nach Babylon zurückgekehrten Astarte, er lässt den vergifteten Fraß stehen und macht sich geschwind zurück auf den Weg nach Babylon. Dort sollen die Tapfersten und die Weisesten des Landes die Königin in einem ritterlichen Turnier gewinnen, Mann gegen Mann; was das mit Weisheit zu tun haben soll, bleibt etwas unklar, aber zum Glück wissen wir ja, dass sich der weise Zadig recht gut schlägt, zumal ausgestattet mit einem glücksbringenden Maskottchen der Königin, einer weißen Rüstung, die – endlich, wir hatten uns schon Sorgen gemacht! – Kador überbringt. Wenig überraschend gewinnt Zadig alle Kämpfe; und dann verschläft er leider den Rest des Kapitels, in dem ihm die Rüstung entwendet wird und ein anderer an seiner Stelle zum Sieger ausgerufen! Ach, ein guter Schlaf, was ist er doch für ein Göttergeschenk.
Jetzt aber nähern wir uns unaufhaltsam dem geistigen und emotionalen Höhepunkt dieser Glücksgeschichte, denn der wieder einmal fliehende Zadig trifft einen Eremiten. Weiser noch als Zadig ist er, immerhin ist er ein Eremit und kann im Buch des Schicksals lesen! Das ist aber keine erbauliche Lektüre, stellt sich heraus; denn wenn man dem Schicksal immer einen Schritt voraus sein muss, muss man manchmal seltsame, uneinsichtige, ja geradezu abscheuliche Dinge tun: Kinder von der Brücke schubsen, damit sie nicht später ihre Verwandten ermorden und ähnliches. Es gibt nämlich keinen Zufall. Sagt der Eremit, der es ja wissen muss, er hat sich zwischenzeitlich nämlich in einen Engel verwandelt, und ist es nicht ein Glück, ein seltenes großes Glück, einen echten Engel zu sehen und auch noch von ihm belehrt zu werden! Zadig aber sagt „aber“. Viermal sagte er „aber“, dann hat der Engel genug von so viel Unbelehrbarkeit und verabschiedet sich in die zehnte Sphäre. Aber –
Aber gar nichts. Zadig folgt dem Rat des Engels (sehr klug!), kehrt zurück nach Babylon, alles löst sich auf, weil er drei triviale Rätsel löst und nachweisen kann, dass die weiße Rüstung eigentlich ihm gehörte – was Kador bezeugt, natürlich, aber vielleicht ein wenig spät, das hätte er auch schon vier Kapitel früher machen können, aber dann wären wir dem Engel Jesrad nicht begegnet und hätten nicht viermal „Aber“ sagen können. Und alles wird gut in einem großen Finale: Zadig heiratet die lang ersehnte Astarte, wird König und regiert weise und gerecht; alle Nebenfiguren dürfen im Abspann antreten und sich entweder ihren wohlverdienten Lohn abholen oder an ihrem Neid ersticken; und es beginnt ein goldenes Zeitalter, regiert von Gerechtigkeit und Liebe (also: Zadig und Astarte), Glück ohne Ende, Sonnenschein und Pfannkuchen für alle, vor allem aber für Zadig, das Glückskind des Schicksal. Aber? – nein, kein Aber! Glück muss man eben haben! Verdienst ist für Kleingeister.
(Vorsicht, Satire!)
Früher wollten alle kleinen Jungen Lokomotivführer werden und alle kleinen Mädchen Tierärztin. Heute wollen alle kleinen Mädchen Supermodel werden und alle kleinen Jungen Profifußballer – und wenn das nicht klappt, dann wenigstens Karrierefrau oder Topmanager! Warum schließlich auch nicht? Lebe deinen Traum! Die Traumfabrik der Massenmedien und der social media hat für jede und jeden das passende Modell im Angebot! Nur passt es meistens leider doch nicht ganz genau und ist auch wenig alltagstauglich. „Berufsberatung für Alleskönner“ zeigt die zutiefst menschliche Tendenz zum Wunschdenken – bei der Arbeit.
Vorsicht, Satire!
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Leseprobe
Für die zukünftige Edelfeder
Sie sind das Lieblingskind des Schicksals! Sie können nicht nur alles erreichen, was Sie wollen, Sie haben ein Recht darauf! Halten Sie fest an Ihren Zielen, Wünschen, Träumen!
Auch wenn Sie nicht mit einer Schreibfeder hinterm Ohr geboren wurden und als Kleinkind lieber 19 Stunden geschlafen haben, anstatt Ihre Wiege oder Ihr Laufställchen investigativ zu durchkrabbeln: Es spricht nichts dagegen, dass Sie eine Edelfeder, ein Starjournalist, ein zukünftiger Talk-Show-Master oder Anchor Man werden!
Sie meinen, Sie könnten nicht schreiben, weil Sie in Aufsätzen in der Schule immer eine 6 hatten und noch nicht einmal ein grundlegendes Verständnis von Orthographie, Interpunktion und Grammatik entwickelt haben (das heißt, Sie konnten weder richtige Worte noch Sätze schreiben und kannten weder Punkt und Komma)? Willkommen in der Medienwelt der funktionellen Analphabeten! Keiner kann mehr korrekt schreiben, und dazu haben die Medien ihren guten Teil beigetragen. Wo früher noch fleißige Lektoren saßen (Leute, die sich mit Rechtschreibung und Punkt und Komma auskannten, inzwischen ausgestorben), arbeiten heute automatisierte Rechtschreibprogramme, die offensichtlich leicht falsch zu bedienen sind (sonst gäbe es weniger Druckfehler in den Zeitungen). Merkt aber keiner, und nur noch unverbesserliche Oberlehrer schreiben deshalb weiter Leserbriefe an die Redaktionen, die auch keiner mehr druckt. Und wenn Sie sich trotzdem vor diesen Pedanten fürchten: Es müssen ja nicht die Printmedien sein! Zeitungen sterben sowieso aus, ohne Werbebeilagen könnte man nicht mal mehr einen halben Redakteur bezahlen, und wahrscheinlich werden die Werbebeilagen auch mehr gelesen als ehemals bedeutende Ressorts wie das Feuilleton (langweilige Berichte über Konzerte, Ausstellungen oder neue Bücher mit viel zu langen Sätzen und Fremdwörtern). Nein, Sie müssen nicht schreiben, wenn Sie nicht wollen; es will ja sowieso keiner lesen. Und die Internet-Medien haben schon längst ihre eigene Sprache hervorgebracht, die mehr lustige Smileys und Emoticons und Emojis und Abkürzungen als Wörter hat – weil es darum nämlich geht, auch und vor allem im modernen Journalismus: um Gefühle und um Kürze. Informationen sind für Computer, nicht für Menschen, und die Nachrichten von heute sind das Altpapier von gestern.
Sie fürchten aber, Sie müssen trotzdem eine mühevolle Ausbildung durchlaufen und werden entweder im Massenvolk der VolontärInnen, PraktikantInnen und sonstigen namenslosen journalistischen Fußvolkes untergehen oder in einem Universitätsstudium mit Kommunikationsmodellen und Presserecht zu Tode gelangweilt? Das sind zwar die klassischen Ausbildungswege, aber dieser Marter muss sich keiner mehr unterziehen. Journalist ist eine ungeschützte Berufsbezeichnung, und Redakteure sind auch nur Journalisten, die in einer Redaktion versklavt sind und darauf warten, Chefredakteur zu werden, damit endlich die anderen über Kaninchenzüchtervereine und Lokalsport berichten müssen! Sammeln Sie besser Lebenserfahrung und Menschenkenntnis anstelle akademischer Bildung oder Zeilenhonorare: Nur wer die Menschen kennt, wird sie dazu bringen, ihm auch das zu erzählen, was sie eigentlich um keinen Preis zugeben wollten. Das gilt vor allem für den politischen Journalisten: Viel wichtiger als jede Ausbildung, stilistische Brillanz oder umfangreiches Faktenwissen sind die richtigen Verbindungen – Kontakte, Kontakte, Kontakte! Politikern und politische Journalisten stehen in einem soliden gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis, beide würden sofort aus der allgemeinen Wahrnehmung verschwinden, wenn einer von ihnen dieses Verhältnis aufkündigen würde. Gemeinsam erklären sie dem dummen Wahlvolk/den Lesern oder Zuschauern die große, unübersichtliche, schwerverständliche Welt der politischen Entscheidungen so, dass es auch kleine Leute verstehen. Verwirren Sie sie nicht mit Informationen, Zahlen, Fakten oder gar Statistik: Um auch nur einfache statistische Zusammenhänge verstehen zu können, braucht man mathematisches Grundwissen, und das haben im Normalfall weder der Journalist noch sein Leser/Zuhörer.
Aber Sie trauen sich weder zu, die Welt zu erklären noch eine Geschichte so erzählen, dass sie nicht nur Hand und Fuß, sondern auch ein Anfang, eine Mitte und ein Ende hat? Immer, wenn Sie etwas erzählen, schlafen ihre Zuhörer schon beim dritten Satz ein und bei Witzen haben Sie immer selbst die Pointe vergessen? Sie wollen ja auch keinen Literaturnobelpreis. Geschichten sind aus einer Zeit, als die Leute auch noch Märchen lasen und dicke Romane und überhaupt Bücher; Zeiten, in denen man noch glaubte, dass man die Welt erklären könnte, weil sie einen Sinn und einen Zweck hatte. Darüber sind wir zum Glück hinaus. Heute zählt das Kurze, das Pikante, der Ausschnitt; es reichen der snapshot, die short cuts, und ein sensationelles Zitat (es muss auch gar nicht stimmen) ist besser und sprechender als ein Lexikonartikel. Wer immer noch Geschichten mit Anfang und Mitte und Ende und Sinn braucht, ist längst zu den Serien-Erfolgen bei Netflix abgewandert. Oder konzentrieren Sie sich gleich auf das Bild! Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, und die Geschichte dahinter denkt sich der Zuschauer dann zum Glück selbst aus (sie muss auch gar nichts mit dem Bild zu tun haben). Oder spezialisieren Sie sich auf Dokumentationen Bildungsfernsehen ist zwar Sparte, aber geht ansonsten immer gut, solange man die Dokus nur massentauglich aufhübscht mit pompösen Sound (Streicher! Wagner!) und etwas mehr Brutalität und Sex als eigentlich nötig zeigt (vor allem bei Tierfilmen); für die Fakten reicht ein halbwegs fotogener Wissenschaftler (gern auch weiblich), der immer vor einem imponierenden Bücherregal abzubilden ist, um seine Kompetenz zu veranschaulichen (es können aber irgendwelche Bücher sein).
Sie interessieren sich aber weder für Geschichte noch für Geschichten noch für überhaupt irgendwas spezielles, sondern möchten nur gern beruflich Alkohol trinken, spät aufstehen und sich mit den Reichen und Schönen herumtreiben? Promi-Reporter ist immer noch eine Wachstumsbranche, auch wenn die freiberufliche Netz-Konkurrenz groß und die Arbeitsbedingungen für echte Paparazzi sind tatsächlich hart, bei eher schwachem Sozialprestige. Aber es gibt seriöse Alternativen. Werden Sie Wirtschaftsjournalist oder Börsenexperte! Hier geht es um die ganz Reichen, hier geht es um das ganz große Geld, und hier geht es um echtes Sachverständigentum! Es reicht zum Glück meist aus, das zu behaupten, und ein ausländisch klingender Titel wird sich schon finden (Hauptsache, es kommt „business“ darin vor). Jeden echten Experten erkennt man daran, dass er sich gelegentlich irrt; und wer die Börse so gut kennte, dass er immer richtig liegt, müsste sowieso nicht mehr als Experte arbeiten. Nein, Experten sind heutzutage vor allem Experten im Experten-Sein, und dazu gehören vor allem ein besorgter, tiefgründiger Blick (eine Akademiker-Brille hilft viel), eine sorgenumwölbte, aber irgendwie auch Zuverlässigkeit vermittelnde Stimme und ein ungetrübtes Selbstbewusstsein. Auch wenn sie nicht fotogen sind, zwei Nicht-Schokoladen-Seiten und eine Stimme, die entweder das Einschlafen befördert oder einem die Haare beim Zuhören zu Berge stehen lässt, haben, müssen Sie dazu allerdings vor die Kamera treten. Alle müssen heute vor die Kamera, auch wenn sie nur gelernt haben dahinter zu stehen und eigentlich auch nichts anderes wollen. Wer nicht vorzeigbar ist, ist nicht existent in der Welt der Erfolgreichen, und ein ordentlicher Anchor muss schon mindestens sehr sexy graue Schläfen und maßgeschneiderte Anzüge haben. Aber daran kann mit etwas Geld, gutem Willen und der einen oder anderen Schönheitsoperation leichter arbeiten als an wahrer Sachkenntnis oder einer guten Schreibe.
Sie haben aber nicht nur keine Ahnung von irgend etwas, sondern eigentlich auch keine Meinung, zu gar nichts, obwohl man sich solche Mühe in der Schule gegeben hat, Ihnen beizubringen, eine Meinung zu allem und jedem zu haben? Das könnte ein Problem sein. Journalismus, zumindest in Deutschland, ist inzwischen beinahe nur noch Meinungsjournalismus, und wenn man denn mal zufällig eine Nachricht zu berichten hat, wird sie sofort im Meer der darüber geäußerten Meinungen ertränkt, selbst wenn es unmöglich ist, zu diesem Sachverhalt überhaupt eine Meinung zu haben (inzwischen hat man auch zu Naturereignissen eine Meinung zu haben, im Notfall ist das Schlüsselwort immer: inakzeptabel, gern auch gesteigert zu absolut inakzeptabel). Meinung kann man aber lernen, auch wenn es in der Schule bei Ihnen nicht geklappt hat; hätten Sie nur etwas besser aufgepasst, hätten Sie damals sogar gleich das Patentrezept dafür lernen können: Eine gute Meinung ist immer das, was der Lehrer hören will! Das ist eine perfekte Leitlinie für den erfolgreichen Journalisten, das auch noch einmal seine enge Verwandtschaft zum Politiker demonstriert: Sagen Sie den Leuten beherzt das, was sie hören wollen! Scheuen Sie nicht vor dem Offensichtlichen zurück! Das Einzige, was Sie dabei keinesfalls nicht tun dürfen, unter keinen Umständen, ist die jeweils aktuellen Sprachregeln der Political Correctness zu verletzen – bei aller Meinungsfreiheit wollen Sie ja nicht, dass sich doch jemand verletzt fühlt, wenn man die Wahrheit sagt, und wie leicht kann das versehentlich passieren! Wahrheit ist eine gefährliche Angelegenheit; bleiben Sie deshalb lieber bei der Meinung, die kann man auch jederzeit ändern.
Verlieren Sie nie den Mut! Alles wird gut, die Zukunft ist freundlich, wir sind es auch!
Sie sind das Lieblingskind des Schicksals! Sie können nicht nur alles erreichen, was Sie wollen, Sie haben ein Recht darauf! Halten Sie fest an Ihren Zielen, Wünschen, Träumen!
Auch wenn es bei Ihrer Taufe nicht gerade Charisma vom Himmel geregnet hat und Sie eher der Typ unkommunikativer Einsiedlerkrebs oder kompromissloser Betonkopf sind: Nichts spricht dagegen, dass Sie ein beim Wahlvolk beliebter und in der internationalen Politik anerkannter Spitzenpolitiker werden können!
Sie haben die Ausstrahlung eines grauen Novembertages auf Island, werden regelmäßig ignoriert, wenn Sie ein Restaurant betreten, und sogar Ihre besten Freunde erkennen Sie nicht auf der Straße? Wenigstens kann Ihnen niemand vorwerfen, dass Sie nur ein hübsches Gesicht mit nichts dahinter sind! Aber lassen Sie sich davon nicht abschrecken: Politiker liebt sowieso niemand, und wenn doch, dann ist sicherlich etwas faul mit den Politikern (denken Sie nur an Silvio Berlusconi oder Donald Trump – wenn es sein muss, auch an Hitler, aber Hitler-Vergleiche sollte man als Politiker und eigentlich überhaupt unter allen Umständen vermeiden, sie sind eigentlich immer falsch). Normale Menschen sehen in Politikern vor allem ihre eigenen schlechten Eigenschaften, ihre eigenen dunklen Geheimnisse, ihre eigene Selbstsucht und ihr eigenes Geltungsbedürfnis verkörpert – warum also nicht auch ihren eigenen Mangel an Ausstrahlung, an Charakter, an Energie? Zeigen Sie dem Wahlvolk, dass man auch als Nichts Etwas werden kann, und das gerade und vor allem in der Politik (die Volksweisheit weiß das seit langem: Wer nichts wird, kann immer noch Politiker werden, das hat sicherlich schon Ihre Oma gesagt!) Charisma hat eine ordentliche Demokratie sowieso nicht nötig, das brauchen nur Tyrannen und Revolutionäre; Blässe ist das neue Sexy fürs Volk (und den Rest erledigt Ihr Spin-Doktor)!
Sie fürchten, Sie werden trotzdem öffentliche Auftritte und Reden nicht ganz vermeiden können? Wenn Sie reden müssen, benutzen Sie mehr „Ähems“ und „Ähs“ als Verben, Ihre Sätze finden niemals das grammatisch eigentlich vorgesehene Ende, und wenn Sie einmal beherzt mit einem Wortspiel in Vorlage gehen, dann kommt sicherlich ein Foul dabei heraus? Das alles verbindet Sie mit großen Vorbildern, vor allem der amerikanischen Politik (und besser ein „Bushism“ als gar kein Zitat! – sagt Ihr Spin-Doktor jedenfalls). Denken Sie daran: Die Beherrschung des elaborierten Codes ist ein Merkmal einer schwindenden Elite, die noch nie das Wahlergebnis merklich beeinflusst hat; und die Medien haben sich längst dem immer restringierteren Code ihrer Benutzer angepasst und werden das, was Sie sagen, sowieso falsch und verkürzt zitieren. Außerdem kommt es in der Politik nicht aufs Reden an, sondern aufs Handeln; Zeichen setzen kann schließlich heutzutage jede Bürgerinitiative, und notfalls reicht auch einfach die kräftig vorgetragene Forderung, endlich mal ein Zeichen zu setzen! Ansonsten lassen Sie Ihre Taten für Sie sprechen! Weniger Steuern versprechen kann jeder im Wahlkampf; aber die Steuern später trotzdem zu erhöhen, das will immerhin geschickt verschwiegen sein!
Sie haben aber leider auch keinerlei Durchsetzungskraft und sind schon als Kind geradezu furchterregend folgsam gewesen? Wo es langgeht, sagt Ihnen Ihr Navi, und wenn es Sie über die Klippe schickt, würden Sie ihm trotzdem folgen? Dafür wird Sie das Wahlvolk mehr lieben als für Ihr fehlendes Charisma! Nichts ist in einer fortschrittlichen Demokratie, die den Glauben an alles und jeden verloren hat, anerkannter und unbezweifelter als der unabhängige Experte, der sich mit einer Sache wirklich auskennt! Stehen Sie zu Ihrem Beratungsbedarf, zu ihrer charmanten Unwissenheit in jeglichen Sachfragen, zu ihrer unkonventionellen Offenheit für alle möglichen Lösungen! Stehen Sie über dem Parteiengezänk, der ewigen Polarisierung, der sturen Rechthaberei – Sie hören zu, wenn man mit Ihnen spricht, Sie denken nach, auch lange, wenn es sein muss – und anschließend überlassen Sie die Entscheidung jemand anders, der dann auch dafür verantwortlich ist, wenn es schief geht! Seien Sie der große, wortkarge, zweifelnde Zauderer (Ihr Spin-Doktor sagt Ihnen schon, wie man das am besten inszeniert), und lassen Sie die untergeordneten Partei-Chargen die Arbeit machen; wer an die Spitze will, braucht Sherpas!
Sie haben aber keinerlei Lust auf endlose Diskussionen und tagelange Versammlungen und halten Parteien für überlebte Traditionsvereine mit einem ziemlich langweiligen Unterhaltungsprogramm und relativ hohen Vereinsgebühren? Da haben Sie absolut Recht. Wer in eine Partei geht, zumal als Jugendlicher, wo man ja wahrlich Besseres zu tun hat, als sich für Politik zu interessieren, ist selbst schuld. Sie gehen Ihren Weg als Seiteneinsteiger und bewahren dadurch Ihre Unabhängigkeit von all dem inzestuösen Parteigeklüngel und der „Eine Hand wäscht die andere so lange, bis beide ganze schwarz sind“-Mentalität, die für die Mafia ja ganz schön sein mag, aber nicht für eine politische Organisation von freien Denkern. Dadurch vermeiden Sie auch eine allzu frühzeitige programmatische Festlegung, die später sehr hinderlich werden kann, wenn sich die Meinungsumfragen mal wieder gewendet haben und man ungern auf der falschen Seite der Statistik auftauchen möchte. Bleiben Sie dicht am Zeitgeist, seien Sie bereit, Ihre Überzeugungen jederzeit zu reformieren (ihr Spin-Doktor wird Ihnen erklären, wie man sein Mäntelchen in den Wind dreht, ohne dass jemand auch nur einen Luftzug spürt)! Die Parteien wirken mit an der politischen Meinungsbildung derer, die keine Zeit und keinen Verstand und keine Lust dazu haben; und Parteiprogramme werden geschrieben von Leuten, die zu viel Lust dazu haben. Bleiben Sie schön in der Mitte, dort ist die Beweglichkeit am größten und dort wollen sowieso alle hin in der Politik – und wenn man sich niemals allzu sehr mit einer Partei identifiziert hat, fällt der Wechsel zu einer anderen, wenn er aus taktischen Gründen denn dringend nötig wird, auch viel leichter!
Für die politische Flexibilität ist es auch eher von Vorteil, wenn Sie keinerlei Menschenkenntnis, sondern vielmehr ein grundlegendes Desinteresse am Denken, Tun und Treiben Ihrer Mitmenschen haben! Wer die Menschen kennt, tut sich erfahrungsgemäß schwer damit, sie zu lieben; das gilt für den Nächsten sowieso und erst recht für den Übernächsten. Und da Sie sich eigentlich überhaupt nur für sich selbst interessieren (was Sie ebenfalls mit den meisten Ihrer Wähler verbindet), werden Sie auch nicht in den gegenteiligen Fehler verfallen, die Menschen zu hassen – was zwar ein guter Ausgangspunkt für einen ambitionierten Diktator ist, in der Demokratie dann aber doch irgendwann hinderlich! Nein, je ferner Sie Ihren Wählern emotional und menschlich stehen, desto souveräner werden Sie strategisch mit ihnen umgehen. Sehen Sie die Masse, nicht den Einzelnen mit seinem im Einzelnen oft bedauerlichen Einzelschicksal; sehen Sie das immense Wählerpotential, nicht den realen Problemberg; behalten Sie den Gipfel im staatsmännischen Blick, nicht das Klein-Klein der Ebene. Sozialromantik ist etwas für jugendliche Idealisten und Minderheiten-Parteien; in der Spitzenpolitik geht es um Geld wie in allen anderen Top-Branchen auch, und wer nichts erwirtschaftet hat, hat auch nichts zu verteilen. (das werden die Leute im Übrigen irgendwann auch ohne Spin-Doktor verstehen).
Sie sind auch noch nie wählen gegangen, halten Steuerhinterziehung geradezu für ein Zeichen politischer Reife und wissen sowieso nicht, wofür man einen Staat braucht? Das ist eine gute Frage, würde Ihr Spin-Doktor sagen, und dann blitzschnell das Thema wechseln. Tatsächlich weiß nämlich heute niemand mehr, wozu politische Gemeinschaften eigentlich gut sind. Das, was jeder weiß, ist, dass die Straßen immer schlechter werden und die Schulen auch, dass der Staat den braven Bürger weder vor Einbrechern noch vor Einwanderern schützt, dass die Steuern immer höher werden und die Renten immer niedriger und dass der Staat alles, von dem er meint, dass es wirklich wichtig sei, in die Privatwirtschaft ausgelagert hat (öffentliche Energieversorgung, Telekommunikation, und demnächst wahrscheinlich auch die Geheimdienste, auf persönliche Empfehlung von Roland Berger). Die öffentliche Meinung ist also schon wieder auf Ihrer Seite; und die schnöde Tatsache, dass eben dieser Staat die Diäten der Politiker bezahlt, sollte ja nicht dazu führen, dass die ihn nicht kritisieren dürfen! Nein, seitdem unsere Nachbarn nicht mehr regelmäßig über uns herfallen, das politische Tagesgeschäft von den Parteien professionell erledigt wird und jeder die staatlichen Dienstleistungen, die ihm nicht gut genug sind, für Geld anderswo besser kaufen kann (so er welches hat, aber das ist natürlich immer noch die wahre Voraussetzung für jede politische Partizipation, verraten Sie es aber keinem!), seitdem sind die Menschen des Staates müde. Werden Sie nicht müde, sie in dieser Haltung zu bestätigen. Es ist die Voraussetzung des Berufspolitikertums!
Sie verstehen aber überhaupt nichts von all diesen abstrakten gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Zusammenhängen und haben auch keinerlei Lust, sich in derart trockene Themen wie Staatstheorie, Steuer- und Sozialsysteme, Gesellschafts- oder Wirtschaftsmodelle einzuarbeiten? Analytisch waren Sie schon immer eine Null, und schon das Gesetz der Kausalität hat Ihren Verstand bei weitem überfordert? Politik ist keine Wissenschaft, sondern common sense, oder, wenn Ihnen das lieber ist, gesunder Menschenverstand. Wenn es eine anerkannte wissenschaftliche Theorie gäbe, die den idealen Staat samt dem idealen Wirtschafts- und Sozialsystem entwürfe, hätte es wenigstens sichtbare Bemühungen gegeben, sie zu vertuschen oder zu verbieten. Nach dem Scheitern des Kommunismus (und wenn Sie mutig sind und es mit Ihrem Spin-Doktor absprechen, dürfen Sie auch sagen: Über den Kapitalismus ist das letzte Wort noch nicht gesprochen…. – und dann vieldeutig schweigen) gelten eigentlich alle solche theoretischen Versuche nicht nur als unnötig, sondern tendenziell als faschistisch und verbrecherisch. Zwar ist wissenschaftlich auch nicht direkt beweisbar, dass die maximale Theorieferne und das dilettantische Ausprobieren der aktuellen „Demokratie+soziale Marktwissenschaft+Globalisierung“-Ideologie wahrhaft „zielführend“ (Lieblingswort Ihres Spin-Doktors) sind, aber damit bleibt der Laden wenigstens am Laufen, wenn auch gelegentlich in die falsche Richtung. Also: Vergessen Sie Ihre analytische Minderleistung, ihren mangelnden Sachverstand, ihr fehlendes gesellschaftliches Grundwissen; wenn das wichtige Kompetenzen wären, würden wir sie unseren Schülern schließlich beibringen, oder? Wichtig aber ist Kritikfähigkeit. Das bringen wir den Schülern bei. Ist ja auch kein Kunststück. Das werden Sie wohl auch noch hinkriegen, oder?
Wenn Sie allerdings Medienkompetenz für die Fähigkeit, eine Fernbedienung zu benutzen und in den Werbepausen wegzuzappen halten, könnte das ein Problem sein. Ein Politiker, der nicht in den diversen Medien, ob social oder Massen- oder Hyper- oder Print-, ist, existiert nicht. Wer nicht twittert, vegetiert nur noch. Ohne Facebook keine Follower, nirgends. Selbst wenn Sie nur als Feindbild in den Talk-Shows vorkommen oder als Model in der Werbung für Inkontinenz-Einlagen: Es gibt keine schlechte PR. Aber dafür haben Sie gleich ein ganzes Team an Coaches und noch mehr Spin-Doktoren, für die Sie notfalls auch den einen oder anderen Berater in Sachfragen opfern können. Schließlich kommt es nicht darauf an, was Sie sagen, sondern wo Sie es sagen und wie viele Wähler zuhören (deshalb heißt es ja schließlich auch, dass jemand seine „Stimme“ abgibt)!
Verlieren Sie nie den Mut! Alles wird gut, die Zukunft ist freundlich, wir sind es auch!
Sie sind das Lieblingskind des Schicksals! Sie können nicht nur alles erreichen, was Sie wollen, Sie haben ein Recht darauf! Halten Sie fest an Ihren Zielen, Wünschen, Träumen!
Nicht jeder von uns ist ein Nachfahre von Picasso oder Rembrandt. Aber auch wenn Sie ästhetisch völlig unsensibel sind, ein Gemälde von Picasso nicht von einem von Rembrandt unterscheiden können und einen Kunstmaler nicht von einem Fassadenmaler: Auch Sie können ein Star der internationalen Kunstszene werden!
Sie halten sich für künstlerisch völlig unbegabt, auf ihren Zeichnungen aus dem Kindergarten konnte man noch nicht mal die Bäume von den Strichmännchen unterscheiden, ihre selbst getöpferten Aschenbecher wurden immer wieder mit Kloschüsseln verwechselt, und wenn Sie ein Kartenhaus bauen wollten, fiel schon das erste Stockwerk zusammen? Talent ist nicht alles und sowieso völlig überbewertet. Die immergleichen Wunderkind-Geschichten der großen Kunstgenies wurden wahrscheinlich entweder von ehrgeizigen Eltern oder von klugen PR-Managern erfunden. Das moderne Konzept von Chancengleichheit beruht ja gerade darauf, dass jeder irgendwie alles kann – wenn man ihn nur genug fördert und ihm hinreichend Möglichkeiten eröffnet, seine ganz persönliche und ureigene Kreativität ungehindert von einengenden Vorurteilen, Regeln und Traditionen zu entfalten. In jedem von uns schlummert ein Künstler und wartet auf den erlösenden Dornröschenkuss! Und wenn der Prinz auf sich wartet lässt, dann küssen Sie sich eben selbst wach (und den Rest erledigt MS Paint oder PhotoShop oder jeder nur halbwegs begabte PC)! [...]
Sie sind das Lieblingskind des Schicksals! Sie können nicht nur alles erreichen, was Sie wollen, Sie haben ein Recht darauf! Halten Sie fest an Ihren Zielen, Wünschen, Träumen!
Natürlich wurde nicht jede Frau wurde mit einem Erfolgsgen, einem eisernen Aufstiegswillen und einem natürlichen Machtinstinkt geboren. Aber auch wenn Sie schon als Kleinkind am liebsten rosa oder pinkfarbene Rüschenkleidchen trugen, ihre Puppenbabys immer in sauber geputzte Puppenhäuser setzten und brav alles taten, was Mama und Papa samt ihren fünf Brüdern von Ihnen verlangt haben: Auch Sie können eine Karrierefrau werden!
Sie sind aber gar keine Frau? Das sind überholte Geschlechterstereotypen! Es kommt nun wirklich nicht darauf an, in welchem Geschlecht Sie geboren wurden; es kommt darauf an, wie Sie sich fühlen! Kultivieren Sie Ihre weibliche Seite, wenn Sie ein Mann sind; stehen Sie zu Ihrer Weiblichkeit, wenn Sie eine Frau sind! Karrierefrau ist ein Berufsbild und ein Bewusstseinszustand, aber keine triviale biologische Tatsache oder willkürliche kulturelle Prägung, der Sie ihr Leben lang ausgeliefert sind. (Und den Rest macht der/die/das gender-Person!) [...]
Für die zukünftige Supermom
Sie sind das Lieblingskind des Schicksals! Sie können nicht nur alles erreichen, was Sie wollen, Sie haben ein Recht darauf! Halten Sie fest an Ihren Zielen, Wünschen, Träumen!
Zum Glück ist nicht jede von uns als Glucke geboren und will so schnell wie möglich so viel niedliche kleine Schreihälse wie möglich in die Welt setzen und aufpäppeln. Aber auch wenn Sie schon Ihren Puppen die Augen ausgekratzt haben und den Goldhamster regelmäßig verhungern ließen: Nichts spricht dagegen, dass Sie eine Supermom werden!
Sie sind unfruchtbar? Das ist ein technisches Detail von untergeordneter Bedeutung heutzutage. Von künstlicher Befruchtung über Leihmutterschaft bis hin zur Adoption steht Ihnen ein weites Spektrum reproduktionstechnischer Möglichkeiten zur Verfügung, die teilweise sogar von den Krankenkassen bezahlt werden! Ganz zu schweigen von den vielen Vorteilen, die die Vermeidung von Schwangerschaft und einer sog. „natürlichen“ Geburt mit sich bringt, nämlich deutlich weniger Gesundheitsrisiken (denken Sie nur an Krampfadern, Schwangerschaftsdiabetes, Cellulitis, postpartale Depression und ähnliche Alpträume). Bei Hollywood-Stars ist das geradezu der Standard, und warum sollten Sie sich weniger wert sein? [...]
Sie sind das Lieblingskind des Schicksals! Sie können nicht nur alles erreichen, was Sie wollen, Sie haben ein Recht darauf! Halten Sie fest an Ihren Zielen, Wünschen, Träumen!
Nun gut, nicht jeder von uns hat von Natur aus Geschäftssinn und Unternehmensgeist. Aber selbst wenn Sie noch nicht einmal Ihr Taschengeld verwalten konnten, beim Limoverkauf in der Schule kläglich versagt haben und inzwischen Stammgast bei der Schuldnerberatung sind: Nichts spricht dagegen, dass Sie Topmanager werden können!
Sie meinen, Sie können nicht rechnen, waren schon in der Schule in Mathe der Totalversager und haben noch nicht einmal verstanden, wie man den Taschenrechner im Smartphone bedient? Darum geht es gar nicht im Management. Es geht darum, Menschen zu führen, innovative Produkte zu entwickeln, Unternehmen zu organisieren und vor allem natürlich: am Markt und an der Börse den maximalen Gewinn für sich herauszuholen! Je weniger Sie dabei von lästigem Kleinkram wie Zahlen und Fakten belastet werden – umso besser! Halten Sie sich den Geist frei für die wirklich wichtigen Entscheidungen, für die unternehmerische Vision, für das ganz große Bild, nicht das Kleinklein. Haben Sie schon Mathe-Genies unter den CEOs der internationalen Konzerne gesehen? Den ein oder anderen Nerd, sicherlich, aber die müssen auch nicht rechnen können, dafür haben sie schließlich Computer. Hauptsache jedenfalls, Sie können die Nullen bei Ihrem jährlichen Bonus zählen. Und für den Rest haben Sie Personal: Buchhalter, in Scharen, mit Ärmelschonern, wenn es sein muss, und ein paar extra für die kreative Buchhaltung (Panama!). [...]
Sie sind das Lieblingskind des Schicksals! Sie können nicht nur alles erreichen, was Sie wollen, Sie haben ein Recht darauf! Halten Sie fest an Ihren Zielen, Wünschen, Träumen!
Nun gut, nicht jeder von uns wurde mit einem Heiligenschein geboren, aber auch wenn sie ein in der Wolle gefärbter Atheist oder Teufelsanhänger sind: Nichts spricht dagegen, dass Sie Papst werden!
Sie meinen, Sie seien überhaupt nicht religiös veranlagt? Wen interessieren die Gene? Der Mensch ist frei geboren und kann alles aus sich machen, nur noch unbelehrbare biologistische Reduktionisten glauben daran, dass überhaupt irgendetwas angeboren ist, außer vielleicht der Haar- und Augenfarbe oder dem biologischen Geschlecht (und selbst das muss ja heutzutage kein Schicksal sein!) Auch der Talentloseste kann religiös werden! Am besten verzweifeln Sie zuerst ein wenig an der Welt (das sollte nicht allzu schwer fallen, es reicht die tägliche Beschäftigung mit den Nachrichten aus aller Welt); Sie werden merken, wie Sie zunehmend die Hoffnung auf ein gutes Ende für die Menschheit –und damit natürlich auch: Sie persönlich! – verlieren, wie Sie mehr und mehr anfangen werden, nach Hoffnungs- und Trostgründen zu suchen: Glaube, Liebe und Hoffnung, das alles verspricht die Religion Ihnen, und zwar umsonst! Machen Sie Baby Steps: Glauben Sie zuerst einem Versicherungsvertreter, dann ihrer Frau, dann einem Politiker und schließlich –an die Unfehlbarkeit des Papstes! Na also, geht doch! [...]
Für zukünftige Nobelpreisträger
Sie sind das Lieblingskind des Schicksals! Sie können nicht nur alles erreichen, was Sie wollen, Sie haben ein Recht darauf! Halten Sie fest an Ihren Zielen, Wünschen, Träumen!
Nun gut, nicht jeder von uns wurde mit dem IQ von Albert Einstein geboren, aber auch wenn sie ein wenig langsam im Denken, eher einfallslos und an nichts so recht interessiert sind: Nichts spricht dagegen, dass Sie Nobelpreisträger werden!
Sie meinen, Sie waren in der Schule eine Null, haben nur von ihren Nachbarn abgeschrieben und das auch noch falsch, und Lernen für eine Verirrung von unsympathischen und unbeliebten Strebern gehalten, die eben nicht schön oder nicht stark genug waren, um sich auf dem Schulhof gegen die Bullies durchzusetzen? Unser Gehirn ist, das zeigen alle neueren Forschungen, noch im hohen Alter plastisch und lernfähig! Zwar wird das Lernen mit zunehmenden Alter immer schwerer und mühevoller, aber angesichts des rapide sinkenden Leistungsniveaus des durchschnittlichen Gymnasiasten haben auch Späteinsteiger eine echte Chance. Ein Abitur ist schon lange kein Reifezeugnis mehr, sondern eine Lizenz fürs Komasaufen und das anschließend Abhängen im Gap Year, und damit auch wirklich jeder studieren kann, haben wir an den Universitäten die Bologna-Reform eingeführt! Studieren Sie kürzer, oberflächlicher und vor allem Kompetenzkompetenzen, Wissen ist völlig überbewertet und Gründlichkeit etwas für verklemmte Spießer! [...]
Sie sind das Lieblingskind des Schicksals! Sie können nicht nur alles erreichen, was Sie wollen, Sie haben ein Recht darauf! Halten Sie fest an Ihren Zielen, Wünschen, Träumen!
Nun gut, nicht jede von uns hat die Natur mit einer Traumfigur ausgestattet. Aber auch wenn an Ihrer Wiege keine Fee gestanden und Ihnen ewige, unwandelbare Schönheit geschenkt hat: Nichts spricht dagegen, dass Sie ein Supermodel werden!
Sie meinen, Sie seien zu klein? Wachsen Sie über sich selbst hinaus! Zeigen Sie innere Größe! Schon wenn Sie nur gerade gehen, werden Sie ein paar Zentimeter größer. Groß ist, wer Groß denkt! Und wer sagt Ihnen, dass nicht in ein paar Jahren auch etwas kleinere Models gesucht werden? Lassen Sie sich von der Modeindustrie nicht klein machen, gründen Sie eine Initiative für „Equal Heights“! (Englisch kommt immer besser in der Branche) Schluss mit der Diskriminierung auf dem Laufsteg, Klein ist das neue Groß! (und den Rest besorgt Photo Shop) [...]
Für zukünftige Profi-Sportler
Sie sind das Lieblingskind des Schicksals! Sie können nicht nur alles erreichen, was Sie wollen, Sie haben sogar einen Anspruch darauf! Halten Sie fest an Ihren Zielen, Wünschen, Träumen!
Nun gut, nicht jeden von uns hat die Natur zum Leistungssportler prädestiniert, aber auch wenn sie von eher schwächlicher Konstitution sind, im Schulsport immer zuletzt in die Mannschaft gewählt wurden und die Treppe vom Erdgeschoß ins erste Obergeschoss für eine sportliche Herausforderung halten: Nichts spricht dagegen, dass Sie ein Profifußballer werden!
Sie meinen, Sie seien zu klein oder zu schwach oder beides? Dagegen hilft konsequentes Training, am besten von Kindesbeinen an. Das Fitneß-Studio sollte ihnen nicht zur zweiten, sondern zur ersten Heimat werden (die Hausaufgaben können warten, welcher Profisportler braucht schließlich Rechtschreibung?) Unter der gezielten fachmännischen Betreuung durch einen personal trainer (eine lohnende Investition in eine sichere Zukunft) können Sie jeden beliebigen Muskel aufbauen (und den Rest besorgen freundliche Steroide). [...]