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Pädagogische Provinz




Herakleia am Scheideweg
Eine weibliche Allegorie



Es ist einer der Ur-Erziehungsgeschichten schlechthin. Sie spielt im antiken Griechenland und erzählt, wie der junge Herakles, in der Blüte seiner Helden-Adoleszenz und in Erwartung großer Dinge, über sein weiteres Leben nachdenkt und dabei an einen Scheideweg gerät, einen innerlichen wie einen äußerlichen, gefasst von dem Sophisten Prodikos in eine nur allzu-fassliche Allegorie. Es erscheinen dem jungen Heros nämlich zwei schon äußerlich sehr unterschiedliche Frauengestalten. Die eine ist aufgebrezelt wie Kim Kardashian und will ihn verführen; sie verspricht ihm ein Leben voller Genüsse und ohne jede Arbeit und Last und Zwang. Die andere, im schlichten Gewand und ungeputzt (nein, kein Beispiel fällt bei), will ihn überzeugen; sie preist ihm ein Leben im Dienste der Tugend voller Arbeit, aber auch voller Ehre an. Nun gut, der Erzähler hat einen ziemlichen bias in der Präsentation und rhetorischen Ausschmückung dieser Wahl, aber das war es gar nicht, was mich am meisten bei dieser Geschichte beschäftigte. Vielmehr versuchte ich mir vorzustellen, wie die Allegorie denn funktionieren würde, wenn Herakles – Herakleia wäre; also eine junge Frau, die versucht, eine Entscheidung über ihren Lebensweg zu treffen. Das ist nun eine berechtigte Frage, nicht nur am Internationalen Frauentag, und ich ging deshalb etwas in die innere Einsamkeit meiner Schreibstube und imaginierte mir zur Feier des Tages –

Herakleia, sie steht an einer Lichtung im Wald, und zwei Wege liegen vor ihr. Herakleia ist jung, hübsch, und es ist ihre Lieblingsstelle: ein Platz voller guter Gedanken (Plätze guter Gedanken erkennt man daran, dass man dort gern Yoga machen würde. Oder umgekehrt). Aber heute hat Herakleia zweifelnde Gedanken; sie knabbert an ihrer Lippe und denkt an ihre Zukunft. Da treten ihr zwei – nein, es sind gar nicht Männer-, sondern Frauengestalten entgegen! Natürlich ist es nett, sich den jungen Brad Pitt vorzustellen, in der Blüte seiner augenzwinkernden Verführungskraft; und der andere wäre vielleicht – nee, nicht Peter Sloterdijk, das würde so nicht funktionieren. Denn eigentlich, eigentlich, so dämmert es mir an dieser Stelle – müssen es wohl zwei Frauen sein. Sie ist schließlich nicht Helena, sondern Herakleia; und sie will sich nicht verlieben, sondern sich entscheiden!

Es nähern sich Herakleia also zwei weibliche Gestalten (nicht divers, das wäre noch eine andere Geschichte. Eindeutig weiblich) aus zwei verschiedenen Richtungen. Die erste läuft etwas unnatürlich, so also würde sie auf einem unsichtbaren Cat Walk entlang stolzieren; dazu passen auch die High Heels einer bekannten Designer-Marke, deren roten Sohlen grell im grünen Gras leuchten. Sie ist in ein enges Kostüm gepresst, man ahnt mehr als dass man es sieht, dass solche Körperformen außerhalb der virtuellen Welt nur durch Einsatz streng einschnürender Mittel geformt werden können. Ihre samtig-langen Haare hat sie Undinen-artig über die eine Schulter gelegt, reflexartig streicht sie immer wieder darüber, dann sieht man ihre Finger mit den langen künstlichen Nägeln schimmern. Überhaupt schimmert alles etwas an ihr, von der Haut über das Handy bis hin dem schmalen Pad, das sie aus einer schimmernden Designer-Tasche zieht; offensichtlich hat sie eine Powerpoint-Projektion vorbereitet. Sie schaut sich etwas unsicher nach einer Steckdose um –

Nein, so geht das nicht, ruft Herakleia energisch dazwischen. Sie rauft sich die Haare dabei. (Welche Farbe haben ihre Haare eigentlich?)

Wie bitte? (das hatte ich auch nicht vorhergesehen. Aber wenn Geschichten sich selbständig machen, soll man sie laufen lassen).

Das geht so nicht, wiederholt Herakleia, jetzt etwas sanfter. Total das Klischee, du hast zu viel amerikanische Serien gesehen! (Ja, könnte sein)

Ja nun, wende ich ein, das ist nun einmal das Wesen von Allegorien. Sie spitzen zu, sie übertreiben, sie machen Dinge über-sichtbar, und damit landet man nun einmal bei Klischees. Es ist ja nicht so, dass Klischees nicht wahr sein können!

Ja klar, kapiert, literarisches Mittel, sagt Herakleia, etwas gelangweilt. (Woher weiß sie das?) Bin ja nicht blöd. Bin sogar gebildet (wtf???), bin ja nicht Herkules, das Ding mit der Keule fand ich schon immer ziemlich daneben. Ich habe aber auch die eine oder andere Spielzeugschlange getötet in meinem Babystuhl. Und nun gut, wir können dein kleines Allegorie-Spiel ja weiterspielen; aber darf ich das Gegen-Klischee machen? (das Bild der Dame mit den High Heels ist derweil stillgestellt; sie ist in einem ungünstigen Moment erwischt, ihr Gesicht zeigt eine Spur von Schwäche, von Unsicherheit, von -)

Dann mach mal, sage ich.

Also, holt Herakleia aus (sie hat braune Haare übrigens; oder hatte sie eben nicht noch blonde?): Ich sehe eine Frau, mittleren Alters, sie läuft etwas watschelig auf Birkenstock-Sandaletten daher, sie sind nicht mehr ganz neu. Ihre Kleidung ist – dem Wetter und der Gegend angemessen, zweckbestimmt, praktisch, sie hat auch viele Taschen. Ihren Händen sieht man an, dass sie viel arbeitet, sie sind etwas rauh und ein Fingernagel ist eingerissen. Ihrer Figur merkt man an, dass sie Kinder gehabt hat, mehrere wahrscheinlich; danach ist sie nie wieder so richtig in Form gekommen. Sie versprüht einen Duft nach -warte, gleich habe ich es! -, ja nach Essig-Reiniger und Milchpulver, mit einer Kopfnote von Kamillentee. Mache ich es gut bisher?

Dafür, sage ich, dass das Klischee ja gar nicht so sehr in Serien verbreitet ist, machst du es sehr gut. Immerhin hast du ihr keine Kinder an den Rockzipfel gedichtet –

Ja, sagt Herakleia versonnen, hatte ich überlegt. Aber man soll nicht übertreiben, wenn man übertreibt! (Jetzt spuckt sie auch noch altkluge Aphorismen aus!)

Gut, lassen wir es dabei, sage ich. Jetzt kommt der zweite Teil der Allegorie, die beiden großen Ansprachen. Ich mach dann mal weiter, wenn ich darf?

Aber bitte doch! (Herakleia hat sich wieder verändert. Ihre Hautfarbe ist dunkler geworden, das Haar – wird, noch während ich schaue, schwarz und kraus? Heilige Diversität, wo soll das noch hinführen?)

Also, übernehme ich mit aller Erzähler-Souveränität, die ich noch meistern kann (meistern, dafür hätte ich auch gern mal ein weibliches Wort!): Frau Nr. 1, nennen wir sie, um im Klischee zu bleiben: die Powerfrau, zückt ein dickes, gleichwohl elegantes Marken-Portemonnaie, es ist bis zum Rand gefüllt mit Kreditkarten aller Farben und Banken. Du wirst reich sein, sagt sie, nein, nicht nur reich, sondern superreich! Du wirst leben von der Arbeit anderer, die du niemals zu Gesicht bekommst, denk nicht an sie. Du wirst Erfolg haben, nein: du wirst die Super-Karriere machen, du wirst in Aufsichtsräten sitzen und Regierungen beraten, die Presse wird sich reißen um dich, und du hast so viel Assistenten und Assistentinnen wie du brauchst, damit du dich um rein gar nichts kümmern musst. Männer wie Frauen werden dir zu Füßen liegen

Herakleia kann sich nicht mehr zusammenreißen, es hatte die ganze Zeit in ihr gegluckert, jetzt bricht sie in Gelächter aus: zu Füßen liegen, ehrlich? Auch noch koloniale Metaphern, oder was? Werden sie auch meine Füße küssen? Ich bin kitzelig an den Füßen!

Wenn du willst, knurre ich (das Gör! Nein, ich schaue jetzt nicht mehr hin, welche Farbe ihre Haare haben, wahrscheinlich sind es pinkfarbige Dreadlocks). Der Punkt ist: Du kannst Sex haben ohne Ende, mit wem auch immer, wann immer, wo immer, mit welchen Hilfsmitteln auch immer. Du wirst liebreizende, wohlerzogene, bildhübsche Vorzeigekinder haben, soviel und mit wem und auf welche Weise du willst; aber deine Geburten werden nicht schmerzen, und die Kinder werden dich nie belästigen. Du wirst durch die Welt in deinem Privat-Jet fliegen, in den hipsten Gourmet-Restaurants essen und die Sonne wird nie untergehen für dich!

Ach ja, sagt Herakleia verträumt, das habe ich mir schon immer gewünscht, direkt nachdem ich Indien fertig erobert habe, oder war es doch China? Und wahrscheinlich passiert auch all das noch klimaneutral und wer-weiß-wie-Öko-gelabelt? Bitte bitte! (sie schaut einen Moment wie Greta Thunberg, das war zu erwarten) Und Polarlichter, bekomme ich Polarlichter, zum Frühstück am besten?

Äh, sage ich, das war nicht im Rundum-Sorglos-Paket für die Erfolgsfrau. Kostet wahrscheinlich extra.
Finde ich schwach
, sagt Herakleia. Soll ich den zweiten Teil wieder machen?

Aber sehr gerne doch! (ich sehe, wie sie nach und nach kahl wird. Es ist nicht gar nicht schlimm, weil sie einen schöngeformten Kopf hat. Ihre Stimme wird dunkel)

Ich kenne dich Herakleia, und ich werde dir das Leben wahrheitsgemäß schildern. Vergiss niemals: Nichts Gutes geschieht ohne Mühe und Arbeit; und jedes Glück hat seinen Preis! Es kann sein, dass du Erfolg haben wirst in deinem Beruf; aber du musst deine Talente finden, sie ausbilden, und dann brauchst du immer noch eine Menge Glück. Du kannst Karriere machen, wenn du willst; aber glaube ihnen niemals, dass du alles haben kannst! Wenn du Karriere machst, ist es möglich, dass du die Freude an deiner Arbeit verlierst. Du wirst viele Dinge tun müssen, von denen du nicht überzeugt sein wirst; du wirst Kompromisse schließen müssen; du wirst Fehlentscheidungen anderer ertragen müssen. An der Spitze wirst du allein sein. Ein Netzwerk ist keine Familie. Eine Familie hingegen ist ein Projekt, und es ist eines der schwersten, weil es lebenslang ist und Opfer erfordert. Du kannst Kinder haben, Kinder sind ein Segen, und sie werden dir Schmerzen, Arbeit und Mühe machen; sie werden dir Enttäuschungen bereiten, aber auch unvergleichbares Glück. Es ist gut, wenn du dafür einen Partner hast. Du solltest deinen Partner sorgfältig auswählen. Es hilft, wenn man verliebt ist, aber es hält nicht ewig. Nach der Verliebtheit beginnt die Arbeit. Du wirst nicht immer so jung und schön sein, wie du heute bist. Du wirst alt werden, und du wirst krank werden. Gesundheit wird nicht geschenkt; sie ist etwas, wofür man arbeiten muss, und es geht nicht immer gerecht dabei zu. Sogar der Genuss muss erarbeitet werden, wenn man ihn beherrschen will und nicht von ihm beherrscht werden will. Doch je mehr Sinne du ausbildest, desto mehr Freuden wirst du haben können. Du musst sie aber auch verlieren lernen, denn du weißt nicht, was die Zukunft bringt, und es könnte gut sein, dass es schlimmer wird. Wenn du etwas zum Guten bewegen willst auf dieser Welt, geht das nur durch Arbeit und Mühe. Eine Gemeinschaft funktioniert nur, wenn viele gemeinsam für sie arbeiten, ganz konkret und Tag für Tag. Es gibt nichts Gutes, außer man tut es, hörst du! Und rede nicht zu viel davon. Sei sparsam mit Worten und sei sorgfältig mit Worten; aber schenke jedem, der es verdient hat, ein gutes Wort und ein Lächeln. Und vergiss niemals, niemals: Nichts Gutes geschieht ohne Mühe und Arbeit, und jedes Glück hat seinen Preis!

Ich bin sprachlos. Es war die Stimme der Vernunft gewesen, die gesprochen hatte, so klar und rein, wie man sie selten hört. Etwas Melancholisches hatte Herakleia beim Sprechen umschwebt, wie der kleine Dämon auf Dürers Kupferstich; einen Moment versuchte ich auch, sie als Athene zu sehen, mit dem Medusenhelm und einer Eule auf der Schulter, aber das funktionierte nicht, die Eule wollte nicht stillsitzen, und Medusa grinste. Und als ich wieder hinsah, war sie einfach nur – Herakleia, eine junge Frau, an einem Scheideweg in ihrem Leben und unsicher und voller Zukunft, die an ihrer Lippe knabberte.

Kulturelle Klischees, sagt sie (sie schaut in meinen Kopf. Auch das noch!). Du musst aber auch immer deine Lieblings-Heldinnen recyclen, oder? Wie wäre es denn mal mit einem zeitgemäßeren Rollenmuster?

Das war jetzt gegen die Spielregeln, sage ich. Du solltest ein Gegen-Klischee zur Powerfrau entwerfen, eine brave Hausfrau oder so, oder wegen mir auch eine grün-aktivistisch-bewegte Vorstadt-Mami, oder – ach, irgendwas konservativ- oder progressiv-biederes! Aber das war ja

War mir zu langweilig, unterbricht mich Herakleia. Und überhaupt, wer hat sich eigentlich diese dämlichen Spielregeln ausgedacht? Ein alter weißer Mann, gell? (sie lächelt dabei, wir lächeln gemeinsam, und dann lächeln wir gemeinsam nicht mehr) Alte weiße Männer hatten einige ziemlich gute Ideen, sagte ich. Klar, sagt sie, und einige ziemlich schlechte Ideen. Aber vielleicht kommt es ja eher darauf an, sagte ich, überhaupt Ideen zu haben, vorher weiß man sowieso von den meisten nicht, ob sie gute oder schlechte sind? Macht aber Mühe und Arbeit, sagt Herakleia. Kann ich nicht lieber den Ruhm von den Ideen anderer Leute abernten? Machen wir doch gerade, sage ich. Das Scheideweg-Spiel ist ja die Idee von jemand anderem, die wir uns, wie soll ich sagen: angeeignet haben? Aneignung, sagte Herakleia, ist ok, aber nur wenn sie  – „Mühe und Arbeit macht“ sagten wir im Chor.

Außerdem muss ich ja vielleicht nicht gleich ganz so vernünftig werden, sagt sie mit einem Augenzwinkern und einer Stimme, die wieder ganz jung ist und ein wenig ab und ab hüpft beim Sprechen, oder? Ich kann ja erstmal ganz was anderes ausprobieren, irgendetwas dazwischen, mit High Heels und Arbeit und Mühe, oder mit Birkenstocks und dem MacBook? Die Schuhe hätte ich nämlich wirklich gern, egal welchen Weg ich dann damit gehe! Weißt du, und dabei dreht sie sich schon um, die ganze Allegorie ist halt eine ideelle Fehlkonstruktion. Es sollte kein Scheideweg sein, sondern eine Kreuzung. Mit ganz vielen Straßen, und man kann in ganz viele Richtungen gehen. Und man kann auch wieder umdrehen, wenn man erkannt hat, dass die Richtung falsch ist. Dieses ganze Entweder-Oder-Schwarz-Weiß-Szenario ist so – unproduktiv! Kann es auch ein Kreisel sein, rufe ich ihr hinterher, ihre Gestalt ist schon fast im Nebel ihrer Zukunft aufgelöst; und ich will eigentlich nur noch ein wenig mit der Metapher spielen und noch einen Moment selbst wieder so jung sein und so voller Möglichkeitssinn. Das ganze Leben ist ein Kreisel, singt es zurück; es singt vielstimmig und ein wenig dissonant. Das ganze Leben -


 

VOR-GARTEN

Man kannte keinen Namen.
Wollte ihn nicht wissen.
Man wusste nur:
Dies ist ein Gelb, so strahlend wie die Sonne
selbst. Und seine Strahlen
konnte man zählen: einzeln,
und nicht wissen wollen
wie viele genau. Und Weiche ohnegleichen,
in schlanken Gliedern, viele
(ungezählt) im Kreis geordnet, der
die Sonne war: mit Sonnenflecken,
Sommersprossen, leuchtend ganz von innen,
vor einem Grün, das weder tief war
noch bedeutete: nur Hintergrund allein
für dieses Gelb, und rauer Stengel
seinem runden Strahlen.
Hinter dem Haus aber
begann der große Garten:
Gemüse (mit Namen). Früchte,
die man nicht essen durfte,
nur heimlich, lange
vor der Reife,
im Übergang von hellem Grün zu hellem Rot,
mit Arbeit jeden Tag aufs Neue.
Vor-Garten aber: kleines Reich
jenseits des Wissens und des Wollens
aller Großen,
gut versteckt im Offenen,
geordnet in sehr kleinen Kreisen und Quadraten,
umhegt von weißen Latten hin zur grauen Straße,
die hinaus führte (wohin? Ins später).
Nie wieder wird der Flieder riechen
wie damals: als man ihn nicht kannte.