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Pädagogische Provinz




Allegorien, Parabeln, Fabeln


Herakleia am Scheideweg
Eine weibliche Allegorie



Es ist einer der Ur-Erziehungsgeschichten schlechthin. Sie spielt im antiken Griechenland und erzählt, wie der junge Herakles, in der Blüte seiner Helden-Adoleszenz und in Erwartung großer Dinge, über sein weiteres Leben nachdenkt und dabei an einen Scheideweg gerät, einen innerlichen wie einen äußerlichen, gefasst von dem Sophisten Prodikos in eine nur allzu-fassliche Allegorie. Es erscheinen dem jungen Heros nämlich zwei schon äußerlich sehr unterschiedliche Frauengestalten. Die eine ist aufgebrezelt wie Kim Kardashian und will ihn verführen; sie verspricht ihm ein Leben voller Genüsse und ohne jede Arbeit und Last und Zwang. Die andere, im schlichten Gewand und ungeputzt (nein, kein Beispiel fällt bei), will ihn überzeugen; sie preist ihm ein Leben im Dienste der Tugend voller Arbeit, aber auch voller Ehre an. Nun gut, der Erzähler hat einen ziemlichen bias in der Präsentation und rhetorischen Ausschmückung dieser Wahl, aber das war es gar nicht, was mich am meisten bei dieser Geschichte beschäftigte. Vielmehr versuchte ich mir vorzustellen, wie die Allegorie denn funktionieren würde, wenn Herakles – Herakleia wäre; also eine junge Frau, die versucht, eine Entscheidung über ihren Lebensweg zu treffen. Das ist nun eine berechtigte Frage, nicht nur am Internationalen Frauentag, und ich ging deshalb etwas in die innere Einsamkeit meiner Schreibstube und imaginierte mir zur Feier des Tages –

Herakleia, sie steht an einer Lichtung im Wald, und zwei Wege liegen vor ihr. Herakleia ist jung, hübsch, und es ist ihre Lieblingsstelle: ein Platz voller guter Gedanken (Plätze guter Gedanken erkennt man daran, dass man dort gern Yoga machen würde. Oder umgekehrt). Aber heute hat Herakleia zweifelnde Gedanken; sie knabbert an ihrer Lippe und denkt an ihre Zukunft. Da treten ihr zwei – nein, es sind gar nicht Männer-, sondern Frauengestalten entgegen! Natürlich ist es nett, sich den jungen Brad Pitt vorzustellen, in der Blüte seiner augenzwinkernden Verführungskraft; und der andere wäre vielleicht – nee, nicht Peter Sloterdijk, das würde so nicht funktionieren. Denn eigentlich, eigentlich, so dämmert es mir an dieser Stelle – müssen es wohl zwei Frauen sein. Sie ist schließlich nicht Helena, sondern Herakleia; und sie will sich nicht verlieben, sondern sich entscheiden!

Es nähern sich Herakleia also zwei weibliche Gestalten (nicht divers, das wäre noch eine andere Geschichte. Eindeutig weiblich) aus zwei verschiedenen Richtungen. Die erste läuft etwas unnatürlich, so also würde sie auf einem unsichtbaren Cat Walk entlang stolzieren; dazu passen auch die High Heels einer bekannten Designer-Marke, deren roten Sohlen grell im grünen Gras leuchten. Sie ist in ein enges Kostüm gepresst, man ahnt mehr als dass man es sieht, dass solche Körperformen außerhalb der virtuellen Welt nur durch Einsatz streng einschnürender Mittel geformt werden können. Ihre samtig-langen Haare hat sie Undinen-artig über die eine Schulter gelegt, reflexartig streicht sie immer wieder darüber, dann sieht man ihre Finger mit den langen künstlichen Nägeln schimmern. Überhaupt schimmert alles etwas an ihr, von der Haut über das Handy bis hin dem schmalen Pad, das sie aus einer schimmernden Designer-Tasche zieht; offensichtlich hat sie eine Powerpoint-Projektion vorbereitet. Sie schaut sich etwas unsicher nach einer Steckdose um –

Nein, so geht das nicht, ruft Herakleia energisch dazwischen. Sie rauft sich die Haare dabei. (Welche Farbe haben ihre Haare eigentlich?)

Wie bitte? (das hatte ich auch nicht vorhergesehen. Aber wenn Geschichten sich selbständig machen, soll man sie laufen lassen).

Das geht so nicht, wiederholt Herakleia, jetzt etwas sanfter. Total das Klischee, du hast zu viel amerikanische Serien gesehen! (Ja, könnte sein)

Ja nun, wende ich ein, das ist nun einmal das Wesen von Allegorien. Sie spitzen zu, sie übertreiben, sie machen Dinge über-sichtbar, und damit landet man nun einmal bei Klischees. Es ist ja nicht so, dass Klischees nicht wahr sein können!

Ja klar, kapiert, literarisches Mittel, sagt Herakleia, etwas gelangweilt. (Woher weiß sie das?) Bin ja nicht blöd. Bin sogar gebildet (wtf???), bin ja nicht Herkules, das Ding mit der Keule fand ich schon immer ziemlich daneben. Ich habe aber auch die eine oder andere Spielzeugschlange getötet in meinem Babystuhl. Und nun gut, wir können dein kleines Allegorie-Spiel ja weiterspielen; aber darf ich das Gegen-Klischee machen? (das Bild der Dame mit den High Heels ist derweil stillgestellt; sie ist in einem ungünstigen Moment erwischt, ihr Gesicht zeigt eine Spur von Schwäche, von Unsicherheit, von -)

Dann mach mal, sage ich.

Also, holt Herakleia aus (sie hat braune Haare übrigens; oder hatte sie eben nicht noch blonde?): Ich sehe eine Frau, mittleren Alters, sie läuft etwas watschelig auf Birkenstock-Sandaletten daher, sie sind nicht mehr ganz neu. Ihre Kleidung ist – dem Wetter und der Gegend angemessen, zweckbestimmt, praktisch, sie hat auch viele Taschen. Ihren Händen sieht man an, dass sie viel arbeitet, sie sind etwas rauh und ein Fingernagel ist eingerissen. Ihrer Figur merkt man an, dass sie Kinder gehabt hat, mehrere wahrscheinlich; danach ist sie nie wieder so richtig in Form gekommen. Sie versprüht einen Duft nach -warte, gleich habe ich es! -, ja nach Essig-Reiniger und Milchpulver, mit einer Kopfnote von Kamillentee. Mache ich es gut bisher?

Dafür, sage ich, dass das Klischee ja gar nicht so sehr in Serien verbreitet ist, machst du es sehr gut. Immerhin hast du ihr keine Kinder an den Rockzipfel gedichtet –

Ja, sagt Herakleia versonnen, hatte ich überlegt. Aber man soll nicht übertreiben, wenn man übertreibt! (Jetzt spuckt sie auch noch altkluge Aphorismen aus!)

Gut, lassen wir es dabei, sage ich. Jetzt kommt der zweite Teil der Allegorie, die beiden großen Ansprachen. Ich mach dann mal weiter, wenn ich darf?

Aber bitte doch! (Herakleia hat sich wieder verändert. Ihre Hautfarbe ist dunkler geworden, das Haar – wird, noch während ich schaue, schwarz und kraus? Heilige Diversität, wo soll das noch hinführen?)

Also, übernehme ich mit aller Erzähler-Souveränität, die ich noch meistern kann (meistern, dafür hätte ich auch gern mal ein weibliches Wort!): Frau Nr. 1, nennen wir sie, um im Klischee zu bleiben: die Powerfrau, zückt ein dickes, gleichwohl elegantes Marken-Portemonnaie, es ist bis zum Rand gefüllt mit Kreditkarten aller Farben und Banken. Du wirst reich sein, sagt sie, nein, nicht nur reich, sondern superreich! Du wirst leben von der Arbeit anderer, die du niemals zu Gesicht bekommst, denk nicht an sie. Du wirst Erfolg haben, nein: du wirst die Super-Karriere machen, du wirst in Aufsichtsräten sitzen und Regierungen beraten, die Presse wird sich reißen um dich, und du hast so viel Assistenten und Assistentinnen wie du brauchst, damit du dich um rein gar nichts kümmern musst. Männer wie Frauen werden dir zu Füßen liegen

Herakleia kann sich nicht mehr zusammenreißen, es hatte die ganze Zeit in ihr gegluckert, jetzt bricht sie in Gelächter aus: zu Füßen liegen, ehrlich? Auch noch koloniale Metaphern, oder was? Werden sie auch meine Füße küssen? Ich bin kitzelig an den Füßen!

Wenn du willst, knurre ich (das Gör! Nein, ich schaue jetzt nicht mehr hin, welche Farbe ihre Haare haben, wahrscheinlich sind es pinkfarbige Dreadlocks). Der Punkt ist: Du kannst Sex haben ohne Ende, mit wem auch immer, wann immer, wo immer, mit welchen Hilfsmitteln auch immer. Du wirst liebreizende, wohlerzogene, bildhübsche Vorzeigekinder haben, soviel und mit wem und auf welche Weise du willst; aber deine Geburten werden nicht schmerzen, und die Kinder werden dich nie belästigen. Du wirst durch die Welt in deinem Privat-Jet fliegen, in den hipsten Gourmet-Restaurants essen und die Sonne wird nie untergehen für dich!

Ach ja, sagt Herakleia verträumt, das habe ich mir schon immer gewünscht, direkt nachdem ich Indien fertig erobert habe, oder war es doch China? Und wahrscheinlich passiert auch all das noch klimaneutral und wer-weiß-wie-Öko-gelabelt? Bitte bitte! (sie schaut einen Moment wie Greta Thunberg, das war zu erwarten) Und Polarlichter, bekomme ich Polarlichter, zum Frühstück am besten?

Äh, sage ich, das war nicht im Rundum-Sorglos-Paket für die Erfolgsfrau. Kostet wahrscheinlich extra.
Finde ich schwach
, sagt Herakleia. Soll ich den zweiten Teil wieder machen?

Aber sehr gerne doch! (ich sehe, wie sie nach und nach kahl wird. Es ist nicht gar nicht schlimm, weil sie einen schöngeformten Kopf hat. Ihre Stimme wird dunkel)

Ich kenne dich Herakleia, und ich werde dir das Leben wahrheitsgemäß schildern. Vergiss niemals: Nichts Gutes geschieht ohne Mühe und Arbeit; und jedes Glück hat seinen Preis! Es kann sein, dass du Erfolg haben wirst in deinem Beruf; aber du musst deine Talente finden, sie ausbilden, und dann brauchst du immer noch eine Menge Glück. Du kannst Karriere machen, wenn du willst; aber glaube ihnen niemals, dass du alles haben kannst! Wenn du Karriere machst, ist es möglich, dass du die Freude an deiner Arbeit verlierst. Du wirst viele Dinge tun müssen, von denen du nicht überzeugt sein wirst; du wirst Kompromisse schließen müssen; du wirst Fehlentscheidungen anderer ertragen müssen. An der Spitze wirst du allein sein. Ein Netzwerk ist keine Familie. Eine Familie hingegen ist ein Projekt, und es ist eines der schwersten, weil es lebenslang ist und Opfer erfordert. Du kannst Kinder haben, Kinder sind ein Segen, und sie werden dir Schmerzen, Arbeit und Mühe machen; sie werden dir Enttäuschungen bereiten, aber auch unvergleichbares Glück. Es ist gut, wenn du dafür einen Partner hast. Du solltest deinen Partner sorgfältig auswählen. Es hilft, wenn man verliebt ist, aber es hält nicht ewig. Nach der Verliebtheit beginnt die Arbeit. Du wirst nicht immer so jung und schön sein, wie du heute bist. Du wirst alt werden, und du wirst krank werden. Gesundheit wird nicht geschenkt; sie ist etwas, wofür man arbeiten muss, und es geht nicht immer gerecht dabei zu. Sogar der Genuss muss erarbeitet werden, wenn man ihn beherrschen will und nicht von ihm beherrscht werden will. Doch je mehr Sinne du ausbildest, desto mehr Freuden wirst du haben können. Du musst sie aber auch verlieren lernen, denn du weißt nicht, was die Zukunft bringt, und es könnte gut sein, dass es schlimmer wird. Wenn du etwas zum Guten bewegen willst auf dieser Welt, geht das nur durch Arbeit und Mühe. Eine Gemeinschaft funktioniert nur, wenn viele gemeinsam für sie arbeiten, ganz konkret und Tag für Tag. Es gibt nichts Gutes, außer man tut es, hörst du! Und rede nicht zu viel davon. Sei sparsam mit Worten und sei sorgfältig mit Worten; aber schenke jedem, der es verdient hat, ein gutes Wort und ein Lächeln. Und vergiss niemals, niemals: Nichts Gutes geschieht ohne Mühe und Arbeit, und jedes Glück hat seinen Preis!

Ich bin sprachlos. Es war die Stimme der Vernunft gewesen, die gesprochen hatte, so klar und rein, wie man sie selten hört. Etwas Melancholisches hatte Herakleia beim Sprechen umschwebt, wie der kleine Dämon auf Dürers Kupferstich; einen Moment versuchte ich auch, sie als Athene zu sehen, mit dem Medusenhelm und einer Eule auf der Schulter, aber das funktionierte nicht, die Eule wollte nicht stillsitzen, und Medusa grinste. Und als ich wieder hinsah, war sie einfach nur – Herakleia, eine junge Frau, an einem Scheideweg in ihrem Leben und unsicher und voller Zukunft, die an ihrer Lippe knabberte.

Kulturelle Klischees, sagt sie (sie schaut in meinen Kopf. Auch das noch!). Du musst aber auch immer deine Lieblings-Heldinnen recyclen, oder? Wie wäre es denn mal mit einem zeitgemäßeren Rollenmuster?

Das war jetzt gegen die Spielregeln, sage ich. Du solltest ein Gegen-Klischee zur Powerfrau entwerfen, eine brave Hausfrau oder so, oder wegen mir auch eine grün-aktivistisch-bewegte Vorstadt-Mami, oder – ach, irgendwas konservativ- oder progressiv-biederes! Aber das war ja

War mir zu langweilig, unterbricht mich Herakleia. Und überhaupt, wer hat sich eigentlich diese dämlichen Spielregeln ausgedacht? Ein alter weißer Mann, gell? (sie lächelt dabei, wir lächeln gemeinsam, und dann lächeln wir gemeinsam nicht mehr) Alte weiße Männer hatten einige ziemlich gute Ideen, sagte ich. Klar, sagt sie, und einige ziemlich schlechte Ideen. Aber vielleicht kommt es ja eher darauf an, sagte ich, überhaupt Ideen zu haben, vorher weiß man sowieso von den meisten nicht, ob sie gute oder schlechte sind? Macht aber Mühe und Arbeit, sagt Herakleia. Kann ich nicht lieber den Ruhm von den Ideen anderer Leute abernten? Machen wir doch gerade, sage ich. Das Scheideweg-Spiel ist ja die Idee von jemand anderem, die wir uns, wie soll ich sagen: angeeignet haben? Aneignung, sagte Herakleia, ist ok, aber nur wenn sie  – „Mühe und Arbeit macht“ sagten wir im Chor.

Außerdem muss ich ja vielleicht nicht gleich ganz so vernünftig werden, sagt sie mit einem Augenzwinkern und einer Stimme, die wieder ganz jung ist und ein wenig ab und ab hüpft beim Sprechen, oder? Ich kann ja erstmal ganz was anderes ausprobieren, irgendetwas dazwischen, mit High Heels und Arbeit und Mühe, oder mit Birkenstocks und dem MacBook? Die Schuhe hätte ich nämlich wirklich gern, egal welchen Weg ich dann damit gehe! Weißt du, und dabei dreht sie sich schon um, die ganze Allegorie ist halt eine ideelle Fehlkonstruktion. Es sollte kein Scheideweg sein, sondern eine Kreuzung. Mit ganz vielen Straßen, und man kann in ganz viele Richtungen gehen. Und man kann auch wieder umdrehen, wenn man erkannt hat, dass die Richtung falsch ist. Dieses ganze Entweder-Oder-Schwarz-Weiß-Szenario ist so – unproduktiv! Kann es auch ein Kreisel sein, rufe ich ihr hinterher, ihre Gestalt ist schon fast im Nebel ihrer Zukunft aufgelöst; und ich will eigentlich nur noch ein wenig mit der Metapher spielen und noch einen Moment selbst wieder so jung sein und so voller Möglichkeitssinn. Das ganze Leben ist ein Kreisel, singt es zurück; es singt vielstimmig und ein wenig dissonant. Das ganze Leben -


 

VOR-GARTEN

Man kannte keinen Namen.
Wollte ihn nicht wissen.
Man wusste nur:
Dies ist ein Gelb, so strahlend wie die Sonne
selbst. Und seine Strahlen
konnte man zählen: einzeln,
und nicht wissen wollen
wie viele genau. Und Weiche ohnegleichen,
in schlanken Gliedern, viele
(ungezählt) im Kreis geordnet, der
die Sonne war: mit Sonnenflecken,
Sommersprossen, leuchtend ganz von innen,
vor einem Grün, das weder tief war
noch bedeutete: nur Hintergrund allein
für dieses Gelb, und rauer Stengel
seinem runden Strahlen.
Hinter dem Haus aber
begann der große Garten:
Gemüse (mit Namen). Früchte,
die man nicht essen durfte,
nur heimlich, lange
vor der Reife,
im Übergang von hellem Grün zu hellem Rot,
mit Arbeit jeden Tag aufs Neue.
Vor-Garten aber: kleines Reich
jenseits des Wissens und des Wollens
aller Großen,
gut versteckt im Offenen,
geordnet in sehr kleinen Kreisen und Quadraten,
umhegt von weißen Latten hin zur grauen Straße,
die hinaus führte (wohin? Ins später).
Nie wieder wird der Flieder riechen
wie damals: als man ihn nicht kannte.

 


Die Parabel vom Gärtner

Viele Menschen fragen sich, warum es heute eigentlich keine natürlichen Gärten mehr gibt. Nur einige wenige erinnern sich noch, dass die Gärten früher ganz anders aussahen. Ein alter Gärtner erzählt:


Früher gab es viele Gärten, vor allem auf dem Land, aber auch in der Stadt, und sie waren alle ganz unterschiedlich. In einigen wurde Gemüse gezogen, und wenn sich leuchtend rote Tomaten zwischen dem bunten Mangold emporreckten, der frische grüne Kopfsalat vom dichten Möhrengrün beschattet wurde und Kräuter aller Arten quer durchs Beet wucherten, war das ein Bild, bei dem Herz, Auge und Magen lachten. In anderen Gärten wuchsen mehr Stauden und Blumen, von den ersten Krokussen im Vorfrühling über den duftenden Flieder und die prächtigen Rosen im Sommer bis hin zu den Chrysanthemen im Herbst blühte immer etwas, und Scharen von Schmetterlingen und Bienen drängten sich um die wogenden Lavendelbüsche. Es gab Bauerngärten und Vorgärten, Balkongärten und Schrebergärten, Ziergärten und Nutzgärten – sie alle passten in ihre Umgebung, sie spiegelten das Wetter und die Bodenverhältnisse, die Geschichten und Traditionen der Landschaft und gaben Zeugnis vom Charakter ihrer Gärtner und Gärtnerinnen. Natürlich machte jeder Garten viel Arbeit: Der Rasen musste regelmäßig gemäht werden, das Schneider der Hecken und Sträucher und das Unkrautjäten waren anstrengend, das Erntegut wollte verarbeitet werden und die Werkzeuge instandgehalten. Nicht alles gelang, was ein eifriger Gärtner sich vornahm; man-ches Jahr meinte man in Erdbeeren und Äpfeln zu ersticken, aber schon im nächsten nahm ein früher Frost die Blüten, und es wuch-sen nur einzelne, kümmerliche Früchtchen. Aber die Leute murr-ten nicht übermäßig, auch wenn die Sonne beim Unkrautjäten im Nacken brannte oder der Regen die Schnecken schneller als die Radieschen wachsen ließ. Ein Garten war eben wie das Leben, Müh und Arbeit und dazwischen ein kleines Glück – aus allem konnte man lernen und sich vornehmen, es das nächste Mal ein wenig besser zu machen. Abends traf man sich dann, oder vielleicht schon zu einem Kaffee am Nachmittag in der Laube, und während die Blicke über den Garten schweiften, erzählte man von diesem und jenem; war es wirklich schon wieder Zeit für die Beerenernte? Wuchsen die Stangenbohnen dieses Jahr nicht besonders prächtig? Hatten die Kartoffelkäfer wieder alles aufgefressen? Schon die Kinder mussten mit anpacken und bekamen kleine Beete oder Töpfe, in die sorgsam Samenkörner gepflanzt wurden, da-mit sie sehen konnten, wie alles wächst und sich entwickelt und wieder vergeht – oder auch einmal misslingt, denn nicht jeder Same geht auf, und manche Blume knickt der Sturm schon vor der Blüte. Natürlich gab es auch Gärten, die vernachlässigt wurden und verwilderten, sagte der Gärtner, das gehörte zum Lauf der Natur, und das zeugte ebenso vom Charakter des Gärtners. Aber wer in einem blühenden Garten groß wurde, vergaß es nie und sorgte dafür, dass seine eigenen Kinder wieder ein kleines Beet bekamen.

Als es den Leuten jedoch nach und nach immer besser ging und sie alles schon im Überfluss hatten, wollte auf einmal auch jeder einen eigenen Garten haben. Es sei ein menschliches Grund-recht, so sagten die Leute nun, nicht ein Privileg von einigen Besserverdienenden und Glückspilzen, die zufällig von den Eltern einen Garten geerbt hatten oder auf dem Lande lebten, wo es ein moderner Mensch sowieso nicht aushalten könne. Jeder solle sich an einem eigenen Stück Natur erfreuen können, das gehöre zur individuellen Selbstverwirklichung und zur gesellschaftlichen Partizipation, auf die alle einen Anspruch hätten. Deshalb wurden Gesetze erlassen, die jedem ein Stück Garten zumaßen. Natürlich war dafür nicht genug Platz in den Städten. Man musste Gärten überall anlegen: auf den Dächern, in kleinen Erkern, ja sogar in künstlich erleuchteten tageslichthellen Kellern; auf schmalen Streifen zwischen den Mietshäusern oder auf den Inseln in der Mitte großer Kreuzungen. Allerdings waren die Wachstumsbedingun-gen an diesen Orten nicht besonders gut. Es gab wenig Schatten, und die Sonne brannte in den Zeiten der beginnenden Klimakatastrophe immer länger und stärker vom Himmel; das Wasser muss-te über lange Strecken und komplizierte Leitungssysteme herbeige-schafft werden. Aber die Industrie stellte sich bald auf die neue Situation ein und produzierte gentechnisch veränderte Pflanzen, die praktisch überall wachsen und gegen alle bekannten Schädlinge und Krankheiten immun sein sollten. Eine Fülle von Spezial-düngern und Zusatzstoffen begann den Markt zu überwuchern, Ratgeber und Fachzeitschriften wurden zu Tausenden veröffentlicht, und im Internet konnte man zu jedem Problem in Sekundenschnelle eine Antwort finden; meist waren es aber eher hundert Antworten, sagte der Gärtner, und das half einem auch nicht weiter.

All die begeisterten neuen Gärtnerinnen und Gärtner merkten trotzdem schnell, dass so ein Garten Arbeit machte, selbst wenn er ganz klein war und auch bei der allerbesten Planung und technischen Unterstützung. Die Natur ließ sich den Gärten einfach nicht recht austreiben, und gegen das Unkraut, das sich gegen die gewieftesten gentechnischen Attacken immer wieder durchsetzte, war immer noch kein Kraut gewachsen. Deshalb verlangten die Leute nun mehr Zeit für ihre Gärten; sie wollten nicht mehr so viel arbeiten, sie wollten sich ganz der Pflege ihres kleinen Stückes Natur widmen, das ganz auf sie angewiesen war und in dem sie sich nun endlich völlig verwirklichen wollten. Schließlich leisteten sie, so argumentierten sie, damit doch eine wertvolle Arbeit für die ganze Gesellschaft; sie sorgten für Wachstum, für Vermehrung, für den Erhalt von vom Aussterben bedrohten Pflanzen- und Tiergattungen, für bessere Luft und eine schönere Umgebung, ja letztendlich für das Überleben der Menschheit! Dafür müssten sie aber auch entschädigt werden, weil sie nun nicht mehr so schnell Karriere machen könnten und weniger Geld verdienten und deshalb ungerechterweise weniger kaufen und konsumieren konnten; man würde ja sonst gerade und ausgerechnet die Gartenbesitzer von der vollen gesellschaftlichen Partizipation ausschließen!

Bald wurden eigene Parteien gegründet, die diese Position unterstützten und dafür sorgten, dass besonders alleinpflegende Gärtnerinnen (und Gärtner, meistens waren es aber Frauen) staatliche Unterstützung und Steuererleichterungen bekamen. Überall wurden Rabatte und Gutscheine für Garten-Center verteilt, und es gab kostenfreie Fortbildungskurse über alle Themen und Fragen der Gartenanlage und -pflege. Natürlich stritten sich die Spezialisten in den Kursen selbst über die allergrundlegendsten Fragen – aber das war schließlich überall so und regte schon bald keinen mehr auf; man verließ sich halt auf den Experten, der gerade da war und am lautesten schrie, und dachte nicht weiter darüber nach. All das musste jedoch bezahlt werden. Der Staat verschuldete sich halt einfach noch ein bisschen mehr, sagte der Gärtner, und viele Wirtschaftsexperten hielten das sogar für eine gute Idee; komischerweise waren sie sich darüber einig, aber wahrscheinlich fürchteten sie, sie würden sich selbst abschaffen, wenn sie der Natur einfach ihren Lauf ließen.

So kam es, dass die neuen Gärtner alles nur noch aus Büchern und Fernseh-Dokumentationen und dem Internet lernten. Sie wussten nicht mehr, welche Pflanze welchen Boden bevorzugte; man bestellte sowieso ein Spezialpräparat im Internet, und das funktionierte eben oder nicht. Sie hatten kein Gespür für den Ab-lauf der Jahreszeit und die Veränderungen des Klimas – im Keller war es immer tageslichthell, und auf den Dächern über den Städten hatte sich ein wenig wachstumsfreundliches Spezialklima entwickelt. Sie kannten keine Blume mehr beim Namen, nicht einmal die Stiefmütterchen; Rosen gerade noch, denn die kauften sie zu dumping-Preisen aus dem fernen Ausland und fanden sie ‚romantisch‘. Sie hätten eine Erbsenpflanze nicht erkannt, selbst wenn sie ihnen um die Beine gewachsen wäre mit ihren dünnen Ärmchen, sagte der Gärtner; Erbsen kamen für sie aus der Dose oder aus der Tiefkühltruhe, aber eigentlich kochte sowieso kaum noch jemand selbst, und ganz gewiss kein altmodisches Gemüse wie Kohlrabi oder Steckrüben (außer den Gourmet-Restaurants natürlich). Nein, die neuen Gärten waren Phantasieprodukte aus Gartenkatalogen oder Internetforen; sie kamen vorgestanzt, mit Pflanzschablonen und durch Züchtung bizarr veredelten Sorten; und sie wandelten sich nicht mehr mit der Jahreszeit, sondern mit der Mode. Wo eben noch asiatische Steingärten meditative Ruhe ausstrahlten, sprießten bald darauf englische Parks in Miniatur-ausführung, samt Ruine; wo gerade noch ein streng symmetrisches Barock-Parterre seine geometrischen Linien zog, blühte nun ein Bauerngarten im schönsten Durcheinander.

Natürlich wollten alle für ihren Garten nur das Beste; er sollte ganz auf der Höhe der Zeit sein, die neueste Technik haben wie dem neuesten style entsprechen. Deshalb engagierte man, wenn man es sich leisten konnte, hochbezahlte Spezialisten, und wenn man genug Geld hatte, konnte man mit dem tollsten Designer-Garten prahlen, ohne jemals eine Gießkanne in die Hand genommen oder einen Löwenzahn ausgerupft zu haben. Doch auch Gartenbesitzer mit wenig Geld wollten bald Gartensitter mieten. Ein Garten brauchte schließlich Pflege auch bei Geschäftsreisen oder Urlauben oder Krankheiten, sagten sie, und natürlich gab es bald auch dafür eine staatliche Unterstützung. Ganze neue Dienstleis-tungsbranchen gründeten sich, die nur noch mit der Anlage, Pflege und Betreuung der Gärten anderer Leute beschäftigt waren. Das hatte auch den Vorteil, dass sich niemand mehr für all die Fehlplanungen und Misserfolge in seinem eigenen Garten verantwortlich fühlen musste; jeder konnte doch sehen, dass selbst die Spezialisten oft nicht weiterwussten! Es war halt wie immer im Leben: Mit Geld konnte man vieles richten, aber nicht alles, und was war schon ein einzelner Mensch gegen die Tücken der Natur? 

Auf die Idee, einmal selbst anzupacken und dabei auf die Natur zu hören, kamen sie nie, sagte der alte Gärtner.
So wurde der ersehnte Garten, trotz all der gesellschaftlichen und finanziellen Unterstützung und trotz all des Expertenwissens, für viele immer mehr zu einem chronischen Problem statt dem erhofften Segen. Entgegen der Versprechungen der Gentechnik, man habe bald alle Schädlinge und Krankheiten endgültig besiegt, traten immer neue, resistente Schädlinge und Krankheiten auf; zu ihrer Bekämpfung brauchte man immer stärkere, giftigere chemi-sche Substanzen. Die immer knapper werdenden Böden waren bald überdüngt, das Trinkwasser immer stärker belastet. Zwar kamen jeden Tag neue Züchtungen auf den Markt, aber viele der neuen Gemüse- oder Obstsorten sahen nur noch prächtig aus; die Bienen kannten sie nicht einmal. Viele Leute verloren deshalb ir-gendwann die Lust an ihren Gärten. Sie konnten sie nicht einfach verkaufen, schließlich hatten sie staatliche Unterstützung dafür bezogen und ihren ganzen Lebensinhalt darauf konzentriert. Aber es hatte nicht so funktioniert, wie sie es sich in ihren Träumen ausgemalt hatten und wie es ihnen in den Medien und von den Politikern versprochen worden war; es war eine Arbeit ohne Ende gewesen, vieles war fehlgeschlagen und sogar das, was gelungen war, hatte am Ende ein eigenes Leben gewonnen und stand fremd vor einem. So vernachlässigten sie ihre Gärten, bis sie schließlich wieder ganz verwildert waren – das ging schnell, viel schneller als all die mühsame Kultivierung zuvor, die Natur kam einfach zurück und nahm sich, was ihr gehörte. Und so, wie niemand mehr die alten Leute pflegen wollte, von denen es jetzt so viele gab, seit sich die Lebenserwartung mit Hilfe der Medizintechnik so dras-tisch verlängert hatte, so wollte auch keiner die alten Gärten übernehmen und pflegen. Die jungen Leute waren eine ganz andere Generation und bevorzugten den mobilen Garten, garden-sharing, community gardening oder gleich ganz virtuelle Gärten.

Das führte schließlich dazu, dass die natürlichen Gärten mehr und mehr durch völlig künstliche Gärten ersetzt wurden. Wozu sich noch mit Schädlingen ärgern, wenn ein 3-D-Drucker die schönsten Orchideen und pralle Ananas auf Knopfdruck produziert? Wozu sich die Hände mit Unkrautzupfen schmutzig machen, wenn ein dreidimensionales Hologramm den perfekten Garten vorspiegelt? Wozu sollte man sich überhaupt verpflichten, für etwas zu sorgen, und zwar nicht nur heute und morgen, sondern auf eine unbestimmte Dauer, wo doch die Zukunft der Menschheit sowieso immer fraglicher erschien angesichts der eskalierenden Weltprobleme, der Umweltzerstörung, dem Artensterben und der Schuldengebirge? Natürlich konnte man künstliche Ananas nicht essen, aber Landwirtschaft, Obst- und Gemüseanbau fanden schon längst irgendwo anders auf dem Globus statt, wo die Arbeitskräfte billig waren und niemand gegen chemische Keulen protestierte. Und wenn man Natur sehen wollte, konnte man ja reisen, die Welt war groß. Später würde man den Kindern die Fotos zeigen, Tausende und Abertausende hatte man schon angesam-melt; man würde erzählen von seinen Erlebnissen, von der Freiheit von der Tyrannei der Natur, vom endlich erreichten politischen Anspruch auf Selbstverwirklichung ohne Verzicht. 

Falls man Kinder hätte, jedenfalls. Man hört ja, das sei schwierig, von der Zeugung über die Aufzucht bis hin zur Erziehung; viel Mühe und Arbeit, noch mehr Kosten, und keine garantierte Aussicht auf Erfolg und Vorzeigbarkeit, von Dankbarkeit ganz zu schweigen. Aber wenigstens gibt es Unterstützung vom Staat und von Experten, und man ist für das Ergebnis nicht verantwortlich.


Die Fabel von der goldenen Windel


Niemand wusste, woher sie gekommen war, und viele kannten sie gar nicht. Sie lag irgendwo, an einem stillen Ort, gebettet in ein wiegenähnliches Behältnis: abgelutschte Schnuller umgaben sie, bunte Mobiles mit hellen Glöckchen schwebten über ihr, und es roch nach – nein, niemand konnte den Geruch beschreiben, aber alle waren sich einig, dass er sie auf eine wundersame Weise an etwas erinnerte, das ganz tiefen unten schlief in ihrem Herzen. Sie wurde verwahrt und weitergegeben in einer Gemeinschaft von erfahrenen Müttern; aber man konnte sie nur zufällig finden, es gab nirgends eine Wegbeschreibung, und selbst das große weltweite Netz kannte sie nicht. Wer sie aber fand, Mann oder Frau, jung oder alt, der wurde von ihr unfehlbar in seinem Wesen erkannt. Am schlimmsten traf es die gewohnheitsmäßigen Bullshitter und Schönredner, die versuchten, sich bei ihr einzuschmeicheln: Sie wurden überschüttet mit einem wahrhaften shitstorm, der von äußerst unangenehmem Geruch und einer schleimigen Konsistenz war; er ließ die solcherart Betroffenen für einmal wenigstens klein-laut und wortlos zurück. Für die Angeber und Großtuer, die mit ihren Errungenschaften und Einsichten prahlten, hatte sie eine besonders subtile Strafe: Sie regnete so viel Gold und Geld auf sie herab, dass sie in all ihrem Reichtum so einsam wurden wie der alte König Midas. Die wenigen aber, die in ihrem Herzen Kind geblieben waren und sich wenigstens eine Ahnung von ihrer Kindschaft erhalten hatten: Denen schenkte sie, in einem unbeschreiblichen Strahlen, das machtvoll aus ihrer goldenen Mitte brach, ihre Kindheit wieder. Kindheitserlebnisse in all ihrer Fülle, mitsamt ihren Freuden wie Schmerzen kehrten zurück, und sie waren wie neu, getränkt in das reine Gold des ursprünglichen Erlebens und Noch-Nicht-Wissens. Manche, so sagte man, hüpften danach davon wie neugeboren; alte Menschen vergaßen ihre schmerzgepeinigten Knochen, jüngere legten ihren Zynismus ab, ihre Zweifel, ihre Skepsis, und für einen Moment wenigstens glaubten sie alle wieder daran, dass die Menschheit eine Zukunft habe, und dass es sich lohne, diese Geschichte durch eigene Kinder fortzusetzen.

Viele Legenden rankten sich um die Goldene Windel. Viele Leute stellten sich vor, dass sie von einer dickbäuchigen, urtümlichem Matriarchengestalt mit großen hängenden Brüsten im frühen Dunkel schriftloser Zeiten gestiftet worden sei. Aber das war nur die Phantasie-Armut einer Zeit, der die Geschichten ausgegangen waren und die an wenigen groben Bildern klebte, die längst unter ihrer symbolischen Überladung zusammengebrochen waren. Denn die goldene Windel war keine Fruchtbarkeitsgöttin, sie war auch keine Wundermittel für schönere oder klügere Kinder (dafür gab es längst die Wissenschaft), und sie verkörperte auch nicht die Utopie einer idealisierten romantischen Kindheit jenseits aller Pflichten und Nöte des Erwachsenenlebens. Nein, die Gemeinschaft der Mütter pflegte zu sagen: „An ihrem Wickeln sollt ihr sie erkennen“, und sie meinten damit: Nur jemand, der aus den nied-rigsten Exkrementen des Körpers das wahre Gold der Herzen machen konnte; nur jemand, egal ob Frau oder Mann, der sich in dem alltäglichsten Prozess des Behütens, der liebevollen, pflegenden Zuwendung, des innigsten Umgangs miteinander bewährte; nur ein solches Wesen hatte verstanden und erfahren, was Mutter-schaft eigentlich sei und was ihr Zweck sei im großen Rahmen der Dinge.

Aber das war nur der eine Teil, die eine Hälfte. Denn ebenso wichtig wie die Mutterschaft, so sagten die Mütter, sei die Kindschaft: ein Urvertrauen in die Natur, in ihre Fülle und Fruchtbarkeit, und eine unzerstörbare Freude an ihrer Schönheit, all ihrer Monstrosität und ihrer Gefahren zum Trotz. Sie, die Natur, war die Mutter, und die Menschheit war ihr schwierigstes Kind. Aber ebenso war die Menschheit insgesamt, war jeder einzelne Mensch die Mutter, die die Natur wie ihr liebstes Kind pflegen und sie in all ihren Schöpfungen beschützen sollte. (Mit Gott, dem Vater, lebte die Mutter Natur zur Zeit in Scheidung; man versuchte sich noch gütlich zu einigen, wer nun die Sorgerechte haben sollte über den menschlichen Nachwuchs, aber das Verfahren versprach langwie-rig und kostspielig zu werden, zumal es als eine Art Musterpro-zess galt). Mutterschaft und Kindschaft zusammen, das erst brachte die Goldene Windel zum Strahlen. Und so konnte sie auch ausgewählten Kindern ihre mütterliche Zukunft zeigen, so wie sie ausgewählten Müttern ihre kindliche Vergangenheit zurückbrachte. Für sie selbst aber gab es keine Zeit, sondern nur den endlosen Fluss und Wechsel des Wickelns und Gewickelt-Werdens.

Natürlich waren die Mütter im Laufe der Geschichte immer wieder als quasi-religiöse Sekte verunglimpft worden; man hatte versucht, sie als terroristische Vereinigung oder männerfeindliche Verschwörung anzuklagen oder zu verbieten, aber sie hatten all das überstanden, ganz ohne PR-Propaganda oder kleinliche Rechtsstreitereien. Allerdings wurde es nun immer schwerer, die Goldene Windel zu finden. Und eine Vorhersage breitete sich aus, dass an dem Tag, wo die Goldene Windel endgültig aus ihrer Wiege verschwinde, es mit der Menschheit zu Ende gehen werde: Unaufhaltsam und gnadenlos werde sie aussterben, und niemand werde jemals wieder ein Kleinkind vor reiner Daseinsfreude jauchzen, während eine liebende Mutter sorgfältig seinen Po mit weichen Lappen wäscht, mit sanfter Creme einreibt, mit einer sauberen Windel umhüllt und ihm am Ende einen Nasenstüber gibt.

Zuhause