Vom Wert der Tugenden * Wer nicht kommt zur rechten Zeit! – Pünktlichkeit und Respekt * Was ist faul an der Faulheit? – Fleiß und Tätigkeit * Das Genie beherrscht das Chaos – Ordnung und Schönheit * Frisch gewagt ist halb fertig – Zuverlässigkeit und Charakter * Darf es auch ein bisschen weniger sein? – Bescheidenheit und Demut * Auf der Überholspur – Geduld und Nachhaltigkeit * Das Zauberwort – Höflichkeit und Menschenfreundlichkeit * Durchgemogelt – Treue und Wahrheit * Nein danke! – Dankbarkeit und Grazie * Bloß nicht normal! – Von der Mäßigkeit zur work-live-balance
Von Moral spricht man nicht gern, und noch unangenehmer ist es, wenn man zuhören muss, wie andere davon sprechen. Aber noch schlimmer ist es, von „Sekundärtugenden“ zusprechen. Sie sind zu trauriger Berühmtheit gelangt, als Oskar Lafontaine 1982 in der Debatte um den NATO-Doppelbeschluss Helmut Schmidt entgegen warf, mit dem von diesen beschworenen Sekundärtugenden wie Pflichtbewusstsein oder Standhaftigkeit könne man auch ein Konzentrationslager leiten. Der Vergleich ist nicht grundsätzlich falsch, dient jedoch rhetorisch dazu, eine Debatte abzuwürgen, bevor sie begonnen hat – denn wie soll etwas zu rechtfertigen sein, dass man in einem Atemzug mit den schlimmsten Monstrositäten der deutschen Vergangenheit nennen kann? Der Trick wird leider vielfach missbraucht, und man kann ihm nur dadurch entkommen, dass man Rechenschaft darüber fordert, was genau in Bezug auf was miteinander verglichen wird, und ob der Vergleich fair ist, oder ob er hinkt.
Dieses Buch will jedoch nicht von der Kanzel herab den großen Moralhammer schwingen. Es redet über Moral, weil es einer tun muss. Es redet über Moral, weil moderne Gesellschaften nicht auf eine Diskussion über Werte verzichten können, egal ob man sie nun „Moral“, „Ethik“ oder „Tugend“ nennt – und was man riskiert, wenn man solche Fragen entweder für überholt erklärt oder nur noch für Experten zulässt. Es redet über Moral, weil es eine Grundfrage unserer Erziehung sein sollte, zu welchen Werten man Kinder erzieht – und was man riskiert, wenn man darauf verzichtet. Es redet über Moral, weil wir alle jeden Tag moralische Entscheidungen treffen, egal ob wir sie als solche wahrnehmen oder nicht – und was man riskiert, wenn man die dafür nötige moralische Urteilskraft nicht anerkennt und nicht entwickelt. Und es redet speziell über„Sekundärtugenden“, weil sie am meisten in Verruf gekommen sind und weil sie am leichtesten zu praktizieren sind – und weil sie, aber das wird zu erweisen sein, vielleicht sogar notwendig für die hohen, unangezweifelten „Primärtugenden“ sind. Und es versucht, das nicht nur mit ein wenig historischer Tiefenschärfe zu tun, sondern auch mit ein wenig Humor, um das notwendig etwas Moralinsaure wenigstens ein bisschen zu versüßen.
Charaktere: Sekundärtugenden bei der Arbeit
Vorangestellt ist allen Artikeln eine kurze Charakterskizze. Solche „Charaktere“ sind ein altehrwürdiges literarisches Genre, das als erster Theophrastos von Ephesos im 4. Jahrhundert vor Christus entwickelt hat: Kleine Erzählungen, die eine bestimmte menschliche Eigenschaft gezielt isolieren, aufspießen und dann die Lebensgeschichte einer Figur erzählen, die diese menschliche Eigenschaft besonders eindrucksvoll ausgebildet hat. Meist handeltes sich dabei um schlechte Eigenschaften – der Schmeichler, der Prahler, der Flegel, der Feigling, der Geizige. Sie alle werden in ihrem täglichen Leben gezeigt: wie sie mit anderen Menschen umgehen, wie sie moralische Entscheidungen treffen, wie sie leben und sterben. Charaktere zeigen die Tugenden sozusagen bei der moralischen Kleinarbeit, im Alltag; sie spitzen dabei natürlich zu, sie übertreiben zum Klischee, zur Karikatur, zum Typus – im Dienst der Deutlichkeit, der Anschaulichkeit, durchaus auch der abschreckenden Wirkung. Nun sind wir Modernen darauf gedrillt, Klischees und Stereotypen für nahe Verwandte von Vorurteilen und mindestens genauso schädlich zu halten – aber leider sind die meisten von ihnen eben nicht aus der hohlen Luft gezogen oder böswillig erfunden, sondern haben eine sehr reale Basis. Und wir verwenden sie, ob wir wollen oder nicht, ständig, da wir weder genug Zeit noch genug Lebenserfahrung haben, um in jeder einzelnen Situation, angesichts jedes neuen Menschen zu einem umfassenden, gründlichen, alle Aspekte gleichmäßig einbeziehenden gerechten Urteil zu kommen. Charaktere sind ein bewährtes Mittel zur Reduzierung von Komplexität im Alltag – und wenn man sie im Bewusstsein dessen liest, dass es sich um willentliche Zuspitzungen und nicht um böswillige Denunziationen handelt, sollte das genug Distanz schaffen, um einen eigenständigen Vergleich zwischen Abziehbild und Realität anstellen zu können.
Die in diesem Buch enthaltenen literarischen Charaktere sind teilweise positiv, häufiger jedoch negativ – schon die traditionellen Charakter-Schreiber, die sich nicht umsonst vor allem in der moralistischen Tradition der Aufklärung finden, wussten, dass eine negative Satire nicht nur einfacher zu schreiben, sondern auch lustiger zu lesen ist als eine positive Würdigung eines Idealbildes, das dem Leser dann doch immer heimlich moralisierend zuflüstert: Schau, es geht doch, warum bist du eigentlich so faul, so leichtsinnig, so unverantwortlich? Nimm dir doch endlich ein Beispiel!
Wer nicht kommt zur rechten Zeit - Pünktlichkeit und Respekt
Nennen wir ihn Pauli. Eigentlich heißt er Paul-Wilhelm, aber das ist so lang und umständlich, und wenn er wieder einmal zu spät kommt, ruft er fröhlich in die Runde: „Nennt mich einfach Pauli!“ Schon bei der Geburt war Pauli zu spät gewesen: drei Wochen über der Zeit, aber seine Mutter hatte es trotzdem erst auf die letzte Minute ins Krankenhaus geschafft, weil sein Vater mal wieder zu spät aus der Kneipe gekommen war. Genetisch sei das, sagt Pauli gern, mein Daddy war schon so, ich kann einfach nicht pünktlich sein! Dafür hatte er dann nach der Geburt umso lauter geschrien, und das tat er auch später gern. Seine Mutter allerdings war ganz anders gewesen. Einer ihrer ewigen Lieblingssprüche war gewesen: „Wer nicht kommt zur rechten Zeit, der muss nehmen (oder häufiger: essen), was übrig bleibt!“ Voll neurotisch, hatte sich Pauli gedacht, und war noch später nach Hause gekommen, auch wenn er wusste, dass seine Mutter auf ihn wartete. Morgens stand er dafür eben später auf, auch wenn es – „wer nicht kommt zur rechten Zeit!“ – nur noch kalten Kaffee gab. Und wenn er zu spät zur Schule kam, machte er umso mehr Lärm, wenn er sich zu seinem Platz in der letzten Reihe durchdrängelte; mal wieder nichts verpasst, sagte er dann in der Pause, oder? Es hatte ja auch gereicht fürs Abi (mit Verspätung, klar). An der Universität gab es das berühmte „akademische Viertel“, und wenn man sowieso schon eine Viertelstunde später kommen sollte, konnte man eigentlich auch gleich eine halbe daraus machen. Wer damals zu einer Party pünktlich gekommen wäre, hätte auch gleich wieder gehen können – zwar wurden die Partys nicht direkt besser davon, dass die meisten Leute erst nach Mitternacht auftauchten, wenn das Essen kalt war und die Getränke warm, aber es war auf jeden Fall irre cool. Seine Freundinnen allerdings schätzten es weniger, wenn er zu wirklich jeder Verabredung entweder zu spät oder gar nicht erschien, so dass die durch mühsames Anstehen (der Freundinnen natürlich) ergatterten Konzertkarten verfielen oder im Kino mal wieder nur die erste Reihe und ein steifer Nacken blieben; von so manchem Abendessen mit einem liebevoll bereiteten Soufflé, das nach Paulis Ankunft eher ein Fladen war, oder Braten, die die Konsistenz von Schuhleder angenommen hatten, ganz zu schweigen. Es kam deshalb am Ende so, wie es seine Mutter immer gesagt hatte: Pauli musste die Freundin nehmen, die übrig blieb. Sie war selbst nicht besonders pünktlich, und nun ärgerte sich Pauli, wenn er allein vor dem Kino stand oder seine Spaghetti Bolognese – zu mehr reichten seine Kochkünste sowieso nicht – zu Matsch gekocht waren. Am meisten ärgerte er sich aber über das verpasste Bewerbungsgespräch. Eine läppische Stunde war er zu spät gewesen, und der Personalchef hatte ihn nicht einmal mehr empfangen, obwohl er sein bestes Hemd trug und die Schuhe geputzt hatte – deshalb hatte er sich natürlich auch verspätet, weil das Hemd erst noch gebügelt und die Schuhe geputzt werden mussten. Die Sekretärin hatte gegrinst, ganz ähnlich wie seine Mutter, und irgendetwas gemurmelt wie: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!“ Blöde Kuh, als ob das Leben aus Pünktlichkeit bestünde, hatte Pauli gedacht, wahrscheinlich verspätet sich sogar der Tod, wenn er mich abholen will. Das hatte sich als falsch herausgestellt. Als Pauli wenige Tage später auf die viel befahrene Straße vor seiner Wohnung trat, obwohl das Grün der Ampel schon sehr dunkelrot geworden war – er war natürlich wieder einmal zu spät unterwegs und hatte an ganz etwas anderes gedacht, es war aber nicht wichtig gewesen –, war der Bremsweg des LKW zu kurz, und der Fahrer musste pünktlich zum Ablieferungstermin kommen.„Pauli“, steht jetzt auf dem Grabstein, und: „Er kam zu spät und ist zu früh von uns gegangen“.
***
Was ist falsch an Pünktlichkeit? Früher war Pünktlichkeit etwas ganz Anderes. In noch nicht auf Millisekunden getakteten, auf immer kleinere „Zeitfenster“ optimierenden, Zeit in Geld messenden Epochen sprach man allgemein von Pünktlichkeit, wenn etwas exakt, vorschrifts- und schulmäßig war: „pünktlich sein, die sorgfalt und genauigkeit“,so ist es im Wörterbuch der Gebrüder Grimm festgehalten, und erst nach einer ganzen Reihe von Beispielen über die „strengsten Regeln der Pünktlichkeit“ und die „größte logische Pünktlichkeit“ (Kant) hinweg kommt die zeitliche Bedeutung, au fdie wir das Wort heute größtenteils eingeschränkt haben. Eben dadurch aber ist es zu einer besonders kleinbürgerlichen Sekundärtugend verkommen, mit denen uhrenverliebte Pedanten ihren temporal liberaler gesinnten Zeitgenossen auf die Nerven gehen. Wäre es bis heute ein Synonym für Präzision geblieben, dafür, etwas auf den Punkt zu bringen, könnte es gar nicht zeitgemäßer sein. Im zeitlich eingeschränkten Sinne schätzen wir Pünktlichkeit heute aber nur noch bei Zügen – wo ihr Fehlen oft umso lauter von denjenigen beklagt wird, die in ihrem eigenen Alltag Pünktlichkeit naserümpfend als kleingeistig abtun. Insofern haben wir Pünktlichkeit offensichtlich an die Maschinen delegiert, die unser Leben erleichtern, uns aber auch immer mehr von ihnen abhängig werden lassen – von ihrer Pünktlichkeit ebenso wie ihrer Genauigkeit und Präzision.
Zudem variiert Pünktlichkeit kulturell bekanntlich sehr stark; Wissenschaftler sprechen in diesem Zusammenhang vom Unterschied zwischen „monochronen“ und „polychronen“ Zeitkulturen. In monochronen Kulturen, die zumeist hochindustrialisiert und auf Effizienz getrimmt sind, gibt es nur eine Normalzeit; absolute Pünktlichkeit wird im Arbeitsleben, relative auch privat erwartet, und ihr Fehlen wird sanktioniert. Polychrone Zeitkulturen hingegen, bezeichnenderweise meist in südlicheren, gemeinhin als lebensfroher bekannten Ländern angesiedelt, gehen großzügig mit der Zeit um, verabreden sich nicht auf die Minute und halten Fahrpläne oder Ladenöffnungszeiten eher für Vorschläge als für Vorschriften. Inzwischen hat diese suggestive Verbindung von Lebensfreude, Unbeschwertheit und Unpünktlichkeit aber zumindest mental auch auf die eher nördlichen Monochronien abgefärbt, wo es im privaten Bereich vielerorts geradezu als Fauxpas aufgenommen würde, zur rechten Zeit zu erscheinen – eine Tendenz, die durch die jederzeitige Erreichbarkeit noch gesteigert wird und dazu führt, dass Verabredungen häufig nur noch spontan, sozusagen von Telefonat zu Telefonat oder von SMS zu SMS geplant bzw. hin und her verschoben werden können: „Wir telefonieren dann noch mal!“ (und das im Drei-Minuten-Abstand wiederholt, bis man einander dann gegenübersteht, jeder das Handy am Ohr, im Anderen ein seltsames Spiegelbild seiner selbst erkennend).
Was ist sekundär an Pünktlichkeit? Durch ihren Geruch von Pedanterei, verbunden mit dem geringen geistigen Aufwand, den Pünktlichkeit eigentlich verursacht, ist sie die kleinbürgerliche Tugend schlechthin: Wer gar nichts kann, kann immer noch pünktlich sein und damit den Anderen auf den Nerven gehen, die schließlich wichtigeres zu tun haben, als einfach nur einfallslos und völlig unkreativ und unter allen Umständen überpünktlich zu sein. Sie ist darüber hinaus auch besonders moralisch indifferent: Pünktlich kann man zur eigenen Hinrichtung wie auch als Henker sein; pünktlich kann man zum Gottesdienst kommen, aber auch zu einem Bankraub. Was soll also verdienstvoll sein an einer Handlung, die nur eine Uhr – heutzutage auch gern: ein Smartphone –, zwei Augen im Kopf sowie die Kenntnis der jeweils kulturell vorherrschenden Stundenzählung erfordert,also rein technische Fähigkeiten und Werkzeuge?
Was ist zu retten an Pünktlichkeit? Aber vielleicht hat es doch mehr auf sich mit der Pünktlichkeit; hat sie doch zu tun mit einem unserer grundlegenden Erfahrungsmuster als Menschen schlechthin, mit dem, was für Immanuel Kant eine der „reinen Formen der Anschauung“ schlechthin ist, nämlich mit der Zeit. In der Natur haben alle Dinge ihre eigene Zeit; es gehört zu den frühesten Kulturleistungen der meisten Völker, durch Sternbeobachtung eine wiederkehrende Zeitstruktur zu entwickeln, mit dessen Hilfe die besten Zeitpunkte für Aussaat und Ernte bestimmt oder natürliche Gefahren wie wiederkehrende Fluten besser beherrscht werden konnten. Dafür brauchte man natürlich keine Pünktlichkeit im strengen Sinne, aber doch so etwas wie eine messbare Zeit, einen Kalender, der eine erste Einschränkung der persönlichen Willkür des Einzelnen darstellte. Pünktlichkeit ist dadurch, wie es Gottfried Keller einmal bemerkte, ganz natürlich mit der Ordnung verbunden: „Die Stellung der Sterne gehörte auch zu den wenigen Dingen, die ich während meines Müßigganges gemerkt, und da ich darin eine große Ordnung und Pünktlichkeit gefunden, so hatte sie mir immer wohlgefallen, und zwar umso mehr, als diese glänzenden Geschöpfe solche Pünktlichkeit nicht um Tagelohn und um eine Portion Kartoffelsuppe zu üben schienen, sondern damit nur taten, was sie nicht lassen konnten, wie zu ihrem Vergnügen, und dabei wohl bestanden“. Auch wenn die Orientierung an der Natur in intellektuellen Kreisen zumindest in den letzten zweihundert Jahren sehr stark aus der Mode gekommen ist – und es lohnt sich,einen Moment innezuhalten und darüber nachzudenken, warum eigentlich: Hat es nicht eine gewisse Logik der Macht, dass gerade Intellektuelle daran interessiert sind, ihre eigene Spezialkompetenz (den „Geist“) über alles andere zu stellen und damit die so unerfreulich ungeistige und für alle verfügbare Natur zu diffamieren? –, hat sie doch etwas Beruhigendes und Stabilisierendes. Und wer jemals versucht hat, sein eigenes natürliches Zeitgefühl nur etwas zu kultivieren, wird auch bald merken, dass er eigentlich gar keine technischen Hilfsmittel benötigt, um zu wissen, was die Stunde geschlagen hat: Pünktlich können wir ganz von allein und als Naturwesen sein, und wie die Sterne sogar ganz zu unserem Vergnügen und ohne Aussicht auf Kartoffelsuppe!
Zudem ist die Pünktlichkeit, wenn auch auf einem kleinen Umweg, mit dem verbunden, was die alten Griechen den kairos nannten: den rechten Moment, die besondere Gelegenheit, die man nicht verpassen darf, weil sie sich vielleicht nie wieder bietet. Verbildlicht wurde sie im gleichnamigen Gott, dem Kairos – keiner Großgottheit,wie der alte Chronos als Hauptgott der Zeit, sondern eher einer der minderen Götter, sicherlich, aber doch verschwägert und eng verbunden mit Tyche, dem Zufall, und Nemesis, die den menschlichen Über- und Hochmut bestraft, also zwei sehr gefährlichen Göttinnen. Kairos war leicht zu erkennen an seiner eigenwilligen Haartracht: Auf der Stirn trug er eine Locke, die man ergreifen musste, wenn man ihn festhalten wollte, den Glücksmoment; am Hinterkopf aber war er kahl,und wenn man zu spät kam, konnte man die Gelegenheit – daher stammt auch unser Sprichwort – eben nicht mehr beim Schopf packen, sondern hatte sie verpasst. Natürlich bietet es andererseits auch keine Garantie auf Glück, wenn man Kairos und seiner Tolle mit der Uhr in der Hand ständig auflauert. Aber ein wenig auf der Hut sollte man schon sein, und wer zu spät kommt, den bestraft bekanntlich – auch wenn das Zitat falsch überliefert ist, aber seine Verbreitung hat es umso mehr bewahrheitet – nicht nur Kairos, sondern auch das Leben.
Wer aber nicht an die Natur glauben mag, kann immerhin auf Pünktlichkeit als Voraussetzung von Zivilisierung setzen. Durch ihre alte Verbindung mit den Tugenden von Genauigkeit und Buchstabengetreue und zusammen mit ihrer engen Beziehung zur allgemeinen Verlässlichkeit bildet sie die Grundlage für Handel und Industrie, die bei aller Kritik am niederen Erwerbssinn gemeinhin als Motor des Fortschritts gesehen werden; und wer in Forschung und Wissenschaft, zumindest ihren „härteren“ Varianten, nicht pünktlich und verlässlich verfährt, braucht eigentlich gar nicht mehr aufzustehen und ins Labor zukommen. Warum aber soll eine Eigenschaft, die ihren Nutzen in so wichtigen Bereichen des Lebens und der Kultur bewiesen hat, ausgerechnet im Privaten auf einmal überflüssig, altmodisch und irgendwie anrüchig sein? Lästig ist sie, dann und wann, natürlich; und wer meint, dass er die unvermeidlichen Einschränkungen der persönlichen Freiheiten im „Prozeß der Zivilisation“ (Norbert Elias) – wie beispielsweise die Einschränkung von öffentlich vollzogenem Sexualverkehr oder das Essen mithilfe von dazu gedachten Werkzeugen und nicht mit bakterienverseuchten Händen – dadurch kompensieren muss, dass er sich wenigstens nicht dem Pünktlichkeitsterror der Pedanten unterwirft, mag versuchen, unpünktlich und glücklich zu sein; die Wahrscheinlichkeit und die heimliche Verschwörung der Sekundärtugenden untereinander (samt ihrer Verwandtschaft zu den primären) sprechen allerdings dagegen.
Am wichtigsten und moralisch am stichhaltigsten aber ist wohl, dass Pünktlichkeit eine sehr grundlegende Form von Respekt ist: Respekt nicht nur vor der Zeit als Naturkonstante oder Glücksbringer, sondern vor der Lebenszeit Anderer. Von dem französischen König Ludwig XVIII. ist der Aphorismus überliefert, Pünktlichkeit sei die Höflichkeit der Könige, und das bringt immerhin auf den Punkt, dass man sich wenigstens im Umgang mit der Zeitplanung anderer Personen möglichst demokratisch verhalten möge. Denn Unpünktlichkeit im sozialen Umgang ist, das weiß jeder, der lange genug in seinem Leben auf Andere gewartet hat, nichts anderes als verkappte Respektlosigkeit und gründet in Gedankenlosigkeit und Egozentrik. Die ersten fünf Minuten murmeln noch beruhigend: „Jetzt stell dich doch nicht so an, sind doch nur fünf Minuten“, die nächsten sagen, schon etwas lauter: „Was verpasst du schon?Gedulde dich halt ein bisschen“, bis einen die erste halbe Stunde anschreit: „Jetzt sieh doch endlich ein, dass ich wichtiger bin als du; ich habe offensichtlich Dringenderes zu tun, als auf meine Uhr zu schauen und mich zu beeilen, nur weil du wartest!“ Wenn sogar der Herrscher die Lebenszeit seiner Untertanen respektieren kann, sollte das in unserer aller demokratischem Alltag, trotz permanentem Stress und ewigem Zeitdruck, eigentlich nicht unmöglich sein, und schon gar nicht belanglos.
Schließlich ein letztes Argument für überzeugte Egozentriker, denen an der Achtung Anderer nicht viel liegt, aus welchen Gründen auch immer: Pünktlichkeit ist auch eine Form des Respekts vor der eigenen Lebenszeit. Keiner von uns lebt ewig, auch wenn man sich das nicht recht vorstellen kann; und wenn man eine begrenzte Lebenszeit hat, sollte man sinnvoll mit ihr umgehen, allein aus Selbstachtung. Das kann man modisch Zeitmanagement nennen, und wer mag, kann dafür sogar aus einer breiten Selbsthilfeliteratur wählen, aber die Sache ist eigentlich ganz einfach: Wer sich einmal angewöhnt hat, Dinge auf die lange Bank zu schieben, bei dem wird die Bank erfahrungsgemäß immer länger, bis sie sich schließlich unter der Last all der vielen kleinen, sorglos aufgeschobenen Dinge biegt und bricht. Gerade sehr vielbeschäftigte und deshalb auf pünktliche Nutzung der Zeit bedachte Zeitgenossen (erwerbstätige Mütter beispielsweise) machen oft die Erfahrung, dass sie sehr viel mehr fertig bekommen als diejenigen, die eigentlich alle Zeit der Welt haben und auch mit dieser so umgehen, als hätten sie sie wirklich: Produktivität entsteht häufiger aus der kreativen und konzentrierten Nutzung knapper Ressourcen, und nicht aus der unendlichen Freiheit der persönlichen Beliebigkeit und Willkür und der Philosophie des „Morgen ist auch noch ein Tag“.
Aber wie bei allen vermeintlichen Sekundärtugenden kommt es letztlich auf das rechte Maß an. Immanuel Kant gilt als einer der verrufensten Pedanten der Pünktlichkeit schlechthin – „es kann noch nicht sieben sein, Professor Kant ist noch nicht vorbeigegangen“, war eine fest stehende Redewendung in Königsberg; pünktlich um fünf Uhr stand der Philosoph nämlich auf, pünktlich um sieben Uhr ging er zu seiner Vorlesung an der Universität (über die Pünktlichkeit der Studenten ist hingegen nichts überliefert), pünktlich von neun bis ein Uhr arbeitete er an seinen Büchern, pünktlich um halb vier am Nachmittag ging er spazieren, immer die gleiche Strecke, pünktlich um zehn Uhr abends begab er sich zu Bette, allein, nach allem, was man weiß. Auch im Denken hielt er auf die größte Pünktlichkeit, im altehrwürdigen Sinn von Genauigkeit natürlich – aber in seiner Grundschrift zur Ästhetik, der Kritik der Urteilskraft, heißt es mit feiner Abwägung: „Als Natur aber erscheint ein Produkt der Kunst dadurch, daß zwar alle Pünktlichkeit in der Übereinkunft mit Regeln, nach denen allein das Produkt das werden kann,was es sein soll, angetroffen wird; aber ohne Peinlichkeit, ohne daß die Schulform durchblickt, d.i. ohne eine Spur zu zeigen, daß die Regel dem Künstler vor Augen geschwebt, und seinen Gemütskräften Fesseln angelegt habe“. Pünktlichkeit ohne Peinlichkeit – das wäre wohl eine gute Richtschnur nicht nur für die schöne Kunst, sondern auch für ein schöneres (Zusammen-)Leben.