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Nett, brav und ordentlich?
Rettet die Sekundärtugenden!

 



Inhalt

Vom Wert der Tugenden * Wer nicht kommt zur rechten Zeit! – Pünktlichkeit und Respekt * Was ist faul an der Faulheit? – Fleiß und Tätigkeit * Das Genie beherrscht das Chaos – Ordnung und Schönheit * Frisch gewagt ist halb fertig – Zuverlässigkeit und Charakter * Darf es auch ein bisschen weniger sein? – Bescheidenheit und Demut * Auf der Überholspur – Geduld und Nachhaltigkeit * Das Zauberwort – Höflichkeit und Menschenfreundlichkeit * Durchgemogelt – Treue und Wahrheit * Nein danke! – Dankbarkeit und Grazie * Bloß nicht normal! – Von der Mäßigkeit zur work-live-balance 

Leseproben 


Vom Wert der Tugenden

 Moral, Ethik, Tugenden: Warum man so ungern vom guten Handeln spricht 

Von Moral spricht man entweder nicht gern oder viel zu viel, und noch unange­nehmer ist es, wenn man zuhören muss, wie andere davon sprechen (in beiden Fällen). Aber noch schlimmer ist es, von „Se­kundärtugenden“ zu sprechen. Sie sind zu trauriger Berühmtheit gelangt, als Oskar Lafontaine 1982 in der Debatte um den NATO-Doppelbeschluss Helmut Schmidt entgegen warf, mit dem von diesen beschwore­nen Sekundärtugenden wie Pflichtbewusstsein oder Standhaftigkeit könne man auch ein Konzentrationsla­ger leiten. Der Vergleich ist nicht grundsätzlich falsch, dient jedoch rhetorisch dazu, eine Debatte abzu­würgen, bevor sie begonnen hat – denn wie soll etwas zu recht­fertigen sein, dass man in einem Atemzug mit den schlimmsten Monstrositäten der deutschen Vergan­gen­heit nennen kann? Der Trick wird leider vielfach miss­braucht, und man kann ihm nur dadurch entkommen, dass man Rechenschaft darüber fordert, was genau in Bezug auf was miteinander verglichen wird, und ob der Vergleich fair ist, oder ob er hinkt. Außerdem entgeht einem dabei, dass die so diffamierten Sekundärtugenden vielleicht sogar notwendig sein könnten für die hohen, unangezweifelten „Primärtugen­den?

Charaktere: Sekundärtugenden bei der Arbeit  

 

Charaktere sind ein altehrwürdiges literarisches Genre, das als erster Theophrastos von Ephesos im 4. Jahrhundert vor Christus entwickelt hat: Kleine Erzählungen, die eine bestimmte menschliche Eigenschaft gezielt isolieren, aufspießen und dann die Lebensgeschichte einer Figur erzählen, die diese menschliche Eigenschaft besonders eindrucksvoll aus­gebildet hat. Meist handeltes sich dabei um schlechte Eigenschaften – der Schmeichler, der Prahler, der Flegel, der Feigling, der Geizige. Sie alle werden in ihrem tägli­chen Leben gezeigt: wie sie mit anderen Menschen um­gehen, wie sie moralische Entscheidungen treffen, wie sie leben und sterben. Charaktere zeigen die Tugenden sozusagen bei der moralischen Kleinarbeit, im Alltag; sie spitzen dabei natürlich zu, sie übertreiben zum Klischee, zur Karikatur, zum Typus – im Dienst der Deutlichkeit, der Anschaulichkeit, durchaus auch der abschreckenden Wirkung. Nun sind wir Modernen darauf gedrillt, Kli­schees und Stereotypen für nahe Verwandte von Vor­urteilen und mindestens genauso schädlich zu halten – aber leider sind die meisten von ihnen eben nicht aus der hohlen Luft gezogen oder böswillig erfunden, son­dern haben eine sehr reale Basis. Und wir verwenden sie, ob wir wollen oder nicht, ständig, da wir weder ge­nug Zeit noch genug Lebenserfahrung haben, um in jeder einzelnen Situation, angesichts jedes neuen Men­schen zu einem umfassenden, gründlichen, alle Aspekte gleichmäßig einbeziehenden gerechten Urteil zu kom­men. Charaktere sind ein bewährtes Mittel zur Reduzie­rung von Komplexität im Alltag – und wenn man sie im Bewusstsein dessen liest, dass es sich um willentliche Zuspitzungen und nicht um böswillige Denunziationen handelt, sollte das genug Distanz schaffen, um einen eigenständigen Vergleich zwischen Abziehbild und Realität anstellen zu können.

Die in diesem Buch ent­haltenen literarischen Charaktere sind teilweise positiv, häufiger je­doch negativ – schon die traditionellen Cha­rakter-Schreiber, die sich nicht umsonst vor allem in der mora­listischen Tradition der Aufklärung finden, wuss­ten, dass eine negative Satire nicht nur einfacher zu schrei­ben, sondern auch lustiger zu lesen ist als eine positive Würdi­gung eines Idealbildes, das dem Leser dann doch immer heimlich moralisierend zuflüstert: Schau, es geht doch, warum bist du eigentlich so faul, so leichtsinnig, so un­verantwortlich? Nimm dir doch end­lich ein Beispiel!  

Wozu das Ganze?

Wenn man sich jedoch auf diese Diskussion einlässt, auf dieses lästige Moral-Thema, auf die damit unumgänglich verbundenen wertenden Urteile, auf die Fragwürdigkeiten, auf die man dabei stoßen wird, und auch auf die Kritik an einigen liebgewonnenen heiligen Kühen der Moderne – was kann man dabei gewinnen außer einem permanenten schlechten Gewissen? Zur Motivation und zum Leseansporn ein kleiner Ausblick auf mögliche Lektüregewinne:

 

Sekundärtugenden bieten Handlungsrichtlinien von mittlerer Tragweite; das ist gleichzeitig ihre Grenze wie ihre Leistung. Einfacher gesprochen: Sekundärtugenden machen nicht weise (jedenfalls nicht allein), aber lebensklug und lebenstüchtig. Viele von ihnen können auf eine lange religiöse und kulturelle Tradition zurückblicken, deren Inhalte man jedoch nicht automatisch mit ihnen übernehmen muss. Aber ihre traditionelle Funktion, nämlich in immer unübersichtlicher werdenden Zeiten stabilisierend zu wirken, das Bleibende gegenüber der Veränderung zu betonen (die deshalb ja trotzdem stattfinden kann und soll und muss, aber geht das meiste nicht ein bisschen zu schnell für uns?), modern gesprochen: zur Reduktion von Komplexität beizutragen, ohne zu simplifizieren, könnte auch heute von Nutzen sein.

Sekundärtugenden wirken zivilisierend; sie machen dadurch das Leben nicht nur einfacher und beherrschbarer, sondern sogar schöner. Sie haben, historisch betrachtet, unsere moderne Zivilisation entscheidend mit hervorgebracht, indem sie Regeln für ein gedeihliches Zusammenleben aufstellten. Erst Sekundärtugenden wie Zuverlässigkeit und Treue haben Wissenschaft und Handel eine feste Basis verschafft; erst Sekundärtugenden wie Höflichkeit oder Dankbarkeit haben unserem menschlichen Zusammenleben schöne Formen gegeben; erst eine Sekundärtugend wie Ordnung ermöglichen überhaupt menschliche Erkenntnis, die im Chaos Regeln ausmacht, Kontinuitäten feststellt, Kausalzusammenhänge reproduziert. Das schränkte natürlich die freie Willkür des Einzelnen ein. Aber ob eine vollständig uneingeschränkte Entfaltung aller Subjekte in jede beliebige Richtung überhaupt in irgendeiner Form gesellschaftlicher Organisation möglich ist, kann man mit guten Gründen bezweifeln: Regeln sind nötig, ob man will oder nicht, und besser, man macht sich das rechtzeitig bewusst.

Sekundärtugenden wirken gemeinschaftsstiftend; sie etablieren eine grundlegende Form von Respekt im menschlichen Zusammenleben. Pünktlichkeit beispielsweise ist nur der Anfang davon, moralische und soziale Verpflichtungen ernst zu nehmen. Geduld ist gerade für den Umgang mit den schwächeren Gliedern der Gesellschaft unentbehrlich; Dankbarkeit schafft schafft Verbindlichkeit auch jenseits des reinen Nutzens. Und ohne zumindest den guten Willen zu Treue und Zuverlässigkeit sind wechselseitige menschliche Beziehungen eigentlich nicht zu denken. Als geteilte Werte bilden sie zudem eine Form sozialer und gesellschaftlicher Identifikation und Identität, die auch und vielleicht gerade in multikulturellen Gesellschaften nötig ist – nicht um die Anderen auszuschließen, sondern um den Anderen überhaupt als Anderen erkennen und anerkennen zu können.

Sekundärtugenden wirken reflexionsfördernd und distanzierend. Sie sind disziplinierend in einem massiv verlorengegangen positiven Sinn: Sie zwingen uns, einen Moment von unseren allzu natürlichen materiellen und psychischen Bedürfnissen und Interessen zurückzutreten und sowohl diejenigen anderer Menschen als auch die der Gesellschaft als Ganzes ins Auge zu fassen. Sie zwingen uns darüber nachzudenken, was wir von uns selbst und von anderen erwarten – und vor allem dazu, nicht von anderen etwas zu erwarten, zu dem wir selbst nicht bereit sind. Sie ermöglichen dadurch auch Nachhaltigkeit, die aufs engste mit Tugenden wie bei¬pielsweise Geduld und Bescheidenheit verbunden ist und nicht umsonst einen steilen Aufstieg als genuin moderne Tugend in einer immer schneller werdenden Welt erlebt hat.

Sekundärtugenden wirken erzieherisch und selbstverstärkend. Zwar beruhen sie zum Teil auf leicht erlernbaren äußeren Regeln und Routinen, aber das kann ein Vorteil sein: Denn auch zu Beginn rein äußerliche Verhaltensformen werden irgendwann verinnerlicht; zwischen äußerer Form und innerer Charakterbildung besteht eine kontinuierliche Wechselwirkung. Wer lange genug mechanisch aufgeräumt hat, wird die Schönheit der Ordnung entdecken (und nicht nur in seinem Arbeitszimmer, sondern in der Welt); wer nur gewohnheitsmäßig pünktlich war, dem wird ein produktives Zeitmanagement zur zweiten Natur werden und ihm ermöglichen, sein Leben bewusster und reicher zu gestalten. Und wer lange genug höflich war, wird irgendwann die äußere Voraussetzung der Höflichkeit – die Anerkennung des Anderen als gleichberechtigte Person – auch verinnerlicht haben und damit einen entscheidenden Schritt hin zu einer umfassend verstandenen – primärwertigen – Humanität gemacht haben.

Sekundärtugenden müssen maßvoll angewandt werden; sie sind eine Form moralischer Urteilskraft, die immer situationsbezogen ist. Das unterscheidet sie zu Recht von Primärtugenden, die ohne Unterschied immer gut sind (aber in ihrer Anwendung natürlich auch eine gewisse Urteilskraft voraussetzen). Es ist deshalb gefährlich, und davon warnt der schon mehrfach erwähnte KZ-Vergleich zu Recht, Sekundärtugenden zu verabsolutieren; sie sind keinesfalls um jeden Preis zu verfolgen. Aber gerade in der notwendigen Abwägung – wann und wo, gegenüber wem, in welchem Maße, und wann vielleicht auch nicht oder etwas weniger – bieten sie eine unentbehrliche moralische Grundausbildung, auf der dann die höheren Tugenden aufbauen können. Pünktlichkeit ohne Peinlichkeit; bedingte Zuverlässigkeit; individuelle Ordnung; freiwillig geschenkte Dankbarkeit unter Gleichen; vor allem jedoch die allgegenwärtige Mäßigung – sie alle geben Beispiele dafür, wie man reflektiert und bewusst Sekundärtugenden praktizieren könnte, ohne zu ihrem Sklaven oder zu griesgrämigen Pedanten zu werden. Dafür muss man weder seinen freien Willen verkaufen noch seinen Anspruch auf Selbstverwirklichung oder materiellen Lebensgenuss. Aber wenn es schon den meisten von uns nicht gelingt, weise zu werden, wäre es doch vielleicht auch ganz schön, wenigstens das zweitbeste – das sekundäre, im besten Sinne – zu erreichen, und damit das zu werden, was die Tugend eigentlich meinte, bevor sie zur „Moral“ verkam: gesteigert lebenstauglich.



Wer nicht kommt zur rechten Zeit - Pünktlichkeit und Respekt 

Nennen wir ihn Pauli. Eigentlich heißt er Paul-Wilhelm, aber das ist so lang und umständlich, und wenn er wieder einmal zu spät kommt, ruft er fröhlich in die Runde: „Nennt mich einfach Pauli!“ Schon bei der Geburt war Pauli zu spät gewesen: drei Wochen über der Zeit, aber seine Mutter hatte es trotzdem erst auf die letzte Minute ins Krankenhaus ge­schafft, weil sein Vater mal wieder zu spät aus der Kneipe gekommen war. Genetisch sei das, sagt Pauli gern, mein Daddy war schon so, ich kann einfach nicht pünktlich sein! Dafür hatte er dann nach der Geburt umso lauter geschrien, und das tat er auch später gern. Seine Mutter allerdings war ganz anders gewesen. Einer ihrer ewigen Lieblingssprüche war gewesen: „Wer nicht kommt zur rechten Zeit, der muss nehmen (oder häufiger: essen), was übrig bleibt!“ Voll neuro­tisch, hatte sich Pauli gedacht, und war noch später nach Hause gekommen, auch wenn er wusste, dass seine Mutter auf ihn wartete. Morgens stand er dafür eben später auf, auch wenn es – „wer nicht kommt zur rechten Zeit!“ – nur noch kalten Kaffee gab. Und wenn er zu spät zur Schule kam, machte er umso mehr Lärm, wenn er sich zu seinem Platz in der letzten Reihe durchdrängelte; mal wieder nichts verpasst, sagte er dann in der Pause, oder? Es hatte ja auch gereicht fürs Abi (mit Verspätung, klar). An der Universität gab es das berühmte „akademische Viertel“, und wenn man sowieso schon eine Viertelstunde später kommen sollte, konnte man eigentlich auch gleich eine halbe daraus machen. Wer damals zu einer Party pünktlich gekommen wäre, hätte auch gleich wieder gehen können – zwar wurden die Partys nicht direkt besser davon, dass die meisten Leute erst nach Mitternacht auftauchten, wenn das Essen kalt war und die Getränke warm, aber es war auf jeden Fall irre cool. Seine Freundinnen allerdings schätzten es weniger, wenn er zu wirklich jeder Verabredung entweder zu spät oder gar nicht erschien, so dass die durch mühsames Anstehen (der Freundinnen natürlich) ergatterten Konzertkarten verfielen oder im Kino mal wieder nur die erste Reihe und ein steifer Nacken blieben; von so manchem Abendessen mit einem liebevoll bereiteten Soufflé, das nach Paulis Ankunft eher ein Fladen war, oder Braten, die die Konsistenz von Schuhleder angenommen hatten, ganz zu schweigen. Es kam deshalb am Ende so, wie es seine Mutter immer gesagt hatte: Pauli musste die Freundin nehmen, die übrig blieb. Sie war selbst nicht besonders pünktlich, und nun ärgerte sich Pauli, wenn er allein vor dem Kino stand oder seine Spaghetti Bolognese – zu mehr reichten seine Koch­künste sowieso nicht – zu Matsch gekocht waren. Am meisten ärgerte er sich aber über das verpasste Bewerbungsgespräch. Eine läppische Stunde war er zu spät gewesen, und der Perso­nalchef hatte ihn nicht einmal mehr empfangen, obwohl er sein bestes Hemd trug und die Schuhe geputzt hatte – deshalb hatte er sich natürlich auch verspätet, weil das Hemd erst noch gebügelt und die Schuhe geputzt werden mussten. Die Sekretärin hatte gegrinst, ganz ähnlich wie seine Mutter, und irgendetwas gemurmelt wie: „Wer zu spät kommt, den be­straft das Leben!“ Blöde Kuh, als ob das Leben aus Pünktlich­keit bestünde, hatte Pauli gedacht, wahrscheinlich verspätet sich sogar der Tod, wenn er mich abholen will. Das hatte sich als falsch herausgestellt. Als Pauli wenige Tage später auf die viel befahrene Straße vor seiner Wohnung trat, obwohl das Grün der Ampel schon sehr dunkelrot geworden war – er war natürlich wieder einmal zu spät unterwegs und hatte an ganz etwas anderes gedacht, es war aber nicht wichtig gewesen –, war der Bremsweg des LKW zu kurz, und der Fahrer musste pünktlich zum Ablieferungstermin kommen. „Pauli“, steht jetzt auf dem Grabstein, und: „Er kam zu spät und ist zu früh von uns gegangen“. 

***

 Was ist falsch an Pünktlichkeit? Früher war Pünktlich­keit etwas ganz Anderes. In noch nicht auf Mil­lisekunden getakteten, auf immer kleinere „Zeitfen­ster“ optimierenden, Zeit in Geld messenden Epochen sprach man allgemein von Pünktlichkeit, wenn etwas exakt, vorschrifts- und schulmäßig war: „pünktlich sein, die sorgfalt und genauigkeit“,so ist es im Wörterbuch der Gebrüder Grimm festgehalten, und erst nach einer gan­zen Reihe von Beispielen über die „strengsten Regeln der Pünktlichkeit“ und die „größte logische Pünktlich­keit“ (Kant) hinweg kommt die zeitliche Bedeutung, au fdie wir das Wort heute größtenteils eingeschränkt ha­ben. Eben dadurch aber ist es zu einer besonders kleinbürgerlichen Sekundärtugend verkommen, mit denen uhrenverliebte Pedanten ihren temporal liberaler gesinnten Zeitgenossen auf die Nerven gehen. Wäre es bis heute ein Synonym für Präzision geblieben, dafür, etwas auf den Punkt zu bringen, könnte es gar nicht zeitgemäßer sein. Im zeitlich eingeschränkten Sinne schätzen wir Pünktlichkeit heute aber nur noch bei Zü­gen – wo ihr Fehlen oft umso lauter von denjenigen beklagt wird, die in ihrem eigenen Alltag Pünktlichkeit naserümpfend als kleingeistig abtun. Insofern haben wir Pünktlichkeit offensichtlich an die Maschinen delegiert, die unser Leben erleichtern, uns aber auch immer mehr von ihnen abhängig werden lassen – von ihrer Pünktlichkeit ebenso wie ihrer Genauigkeit und Präzision.

Zudem variiert Pünktlichkeit kulturell bekanntlich sehr stark; Wissenschaftler sprechen in diesem Zusam­menhang vom Unterschied zwischen „monochronen“ und „polychronen“ Zeitkulturen. In monochronen Kul­turen, die zumeist hochindustrialisiert und auf Effizienz getrimmt sind, gibt es nur eine Normalzeit; absolute Pünktlichkeit wird im Arbeitsleben, relative auch privat erwartet, und ihr Fehlen wird sanktioniert. Polychrone Zeitkulturen hingegen, bezeichnenderweise meist in südlicheren, gemeinhin als lebensfroher bekannten Län­dern angesiedelt, gehen großzügig mit der Zeit um, ver­abreden sich nicht auf die Minute und halten Fahrpläne oder Ladenöffnungszeiten eher für Vorschläge als für Vorschriften. Inzwischen hat diese suggestive Verbin­dung von Lebensfreude, Unbeschwertheit und Un­pünktlichkeit aber zumindest mental auch auf die eher nördlichen Monochronien abgefärbt, wo es im privaten Bereich vielerorts geradezu als Fauxpas aufgenommen würde, zur rechten Zeit zu erscheinen – eine Tendenz, die durch die jederzeitige Erreichbarkeit noch gesteigert wird und dazu führt, dass Verabredungen häufig nur noch spontan, sozusagen von Telefonat zu Telefonat oder von SMS zu SMS geplant bzw. hin und her ver­schoben werden können: „Wir telefonieren dann noch mal!“ (und das im Drei-Minuten-Abstand wiederholt, bis man einander dann gegenübersteht, jeder das Handy am Ohr, im Anderen ein seltsames Spiegelbild seiner selbst er­kennend). 

Was ist sekundär an Pünktlichkeit? Durch ihren Ge­ruch von Pedanterei, verbunden mit dem geringen geis­tigen Aufwand, den Pünktlichkeit eigentlich verursacht, ist sie die kleinbürgerliche Tugend schlechthin: Wer gar nichts kann, kann immer noch pünktlich sein und damit den Anderen auf den Nerven gehen, die schließlich wichtigeres zu tun haben, als einfach nur einfallslos und völlig unkreativ und unter allen Umständen überpünkt­lich zu sein. Sie ist darüber hinaus auch besonders mo­ralisch indifferent: Pünktlich kann man zur eigenen Hin­richtung wie auch als Henker sein; pünktlich kann man zum Gottesdienst kommen, aber auch zu einem Bank­raub. Was soll also verdienstvoll sein an einer Hand­lung, die nur eine Uhr – heutzutage auch gern: ein Smartphone –, zwei Augen im Kopf sowie die Kenntnis der jeweils kulturell vorherrschenden Stundenzählung erfordert,also rein technische Fähigkeiten und Werk­zeuge? 

Was ist zu retten an Pünktlichkeit? Aber vielleicht hat es doch mehr auf sich mit der Pünktlichkeit; hat sie doch zu tun mit einem unserer grundlegenden Erfahrungs­muster als Menschen schlechthin, mit dem, was für Im­manuel Kant eine der „reinen Formen der Anschau­ung“ schlechthin ist, nämlich mit der Zeit. In der Natur haben alle Dinge ihre eigene Zeit; es gehört zu den frü­hesten Kulturleistungen der meisten Völker, durch Sternbeobachtung eine wiederkehrende Zeitstruktur zu entwickeln, mit dessen Hilfe die besten Zeitpunkte für Aussaat und Ernte bestimmt oder natürliche Gefahren wie wiederkehrende Fluten besser beherrscht werden konnten. Dafür brauchte man natürlich keine Pünktlich­keit im strengen Sinne, aber doch so etwas wie eine messbare Zeit, einen Kalender, der eine erste Einschrän­kung der persönlichen Willkür des Einzelnen darstellte. Pünktlichkeit ist dadurch, wie es Gottfried Keller einmal bemerkte, ganz natürlich mit der Ordnung verbunden: „Die Stellung der Sterne gehörte auch zu den wenigen Din­gen, die ich während meines Müßigganges gemerkt, und da ich darin eine große Ordnung und Pünktlichkeit gefunden, so hatte sie mir immer wohlgefallen, und zwar umso mehr, als diese glänzenden Geschöpfe solche Pünktlichkeit nicht um Tagelohn und um eine Portion Kartoffelsuppe zu üben schie­nen, sondern damit nur taten, was sie nicht lassen konnten, wie zu ihrem Vergnügen, und dabei wohl bestanden“. Auch wenn die Orientierung an der Natur in intellektuellen Kreisen zumindest in den letzten zweihundert Jahren sehr stark aus der Mode gekommen ist – und es lohnt sich,einen Moment innezuhalten und darüber nachzu­denken, warum eigentlich: Hat es nicht eine gewisse Logik der Macht, dass gerade Intellektuelle daran inte­ressiert sind, ihre eigene Spezialkompetenz (den „Geist“) über alles andere zu stellen und damit die so unerfreulich ungeistige und für alle verfügbare Natur zu diffamieren? –, hat sie doch etwas Beruhigendes und Stabilisierendes. Und wer jemals versucht hat, sein eige­nes natürliches Zeitgefühl nur etwas zu kultivieren, wird auch bald merken, dass er eigentlich gar keine technischen Hilfsmittel benötigt, um zu wissen, was die Stunde geschlagen hat: Pünktlich können wir ganz von allein und als Naturwesen sein, und wie die Sterne sogar ganz zu unserem Vergnügen und ohne Aussicht auf Kartoffelsuppe!

Zudem ist die Pünktlichkeit, wenn auch auf einem kleinen Umweg, mit dem verbunden, was die alten Griechen den kairos nannten: den rechten Moment, die besondere Gelegenheit, die man nicht verpassen darf, weil sie sich vielleicht nie wieder bietet. Verbildlicht wurde sie im gleichnamigen Gott, dem Kairos – keiner Großgottheit,wie der alte Chronos als Hauptgott der Zeit, sondern eher einer der minderen Götter, sicherlich, aber doch verschwägert und eng verbunden mit Tyche, dem Zufall, und Nemesis, die den menschlichen Über- und Hochmut bestraft, also zwei sehr gefährlichen Göt­tinnen. Kairos war leicht zu erkennen an seiner eigen­willigen Haartracht: Auf der Stirn trug er eine Locke, die man ergreifen musste, wenn man ihn festhalten wollte, den Glücksmoment; am Hinterkopf aber war er kahl,und wenn man zu spät kam, konnte man die Gelegen­heit – daher stammt auch unser Sprichwort – eben nicht mehr beim Schopf packen, sondern hatte sie verpasst. Natürlich bietet es andererseits auch keine Garantie auf Glück, wenn man Kairos und seiner Tolle mit der Uhr in der Hand ständig auflauert. Aber ein wenig auf der Hut sollte man schon sein, und wer zu spät kommt, den be­straft bekanntlich – auch wenn das Zitat falsch überlie­fert ist, aber seine Verbreitung hat es umso mehr be­wahrheitet – nicht nur Kairos, sondern auch das Leben.

Wer aber nicht an die Natur glauben mag, kann im­merhin auf Pünktlichkeit als Voraussetzung von Zivili­sierung setzen. Durch ihre alte Verbindung mit den Tu­genden von Genauigkeit und Buchstabengetreue und zusammen mit ihrer engen Beziehung zur allgemeinen Verlässlichkeit bildet sie die Grundlage für Handel und Industrie, die bei aller Kritik am niederen Erwerbssinn gemeinhin als Motor des Fortschritts gesehen werden; und wer in Forschung und Wissenschaft, zumindest ihren „härteren“ Varianten, nicht pünktlich und verlässlich verfährt, braucht eigentlich gar nicht mehr aufzu­stehen und ins Labor zukommen. Warum aber soll eine Eigenschaft, die ihren Nutzen in so wichtigen Bereichen des Lebens und der Kultur bewiesen hat, ausgerechnet im Privaten auf einmal überflüssig, altmodisch und ir­gendwie anrüchig sein? Lästig ist sie, dann und wann, natürlich; und wer meint, dass er die unvermeidlichen Einschränkungen der persönlichen Freiheiten im „Prozeß der Zivilisation“ (Norbert Elias) – wie beispielsweise die Einschränkung von öffentlich vollzogenem Sexualver­kehr oder das Essen mithilfe von dazu gedachten Werk­zeugen und nicht mit bakterienverseuchten Händen – dadurch kompensieren muss, dass er sich wenigstens nicht dem Pünktlichkeitsterror der Pedanten unterwirft, mag versuchen, unpünktlich und glücklich zu sein; die Wahrscheinlichkeit und die heimliche Verschwörung der Sekundärtugenden untereinander (samt ihrer Ver­wandtschaft zu den primären) sprechen allerdings da­gegen.

Am wichtigsten und moralisch am stichhaltigsten aber ist wohl, dass Pünktlichkeit eine sehr grundlegende Form von Respekt ist: Respekt nicht nur vor der Zeit als Naturkonstante oder Glücksbringer, sondern vor der Lebenszeit Anderer. Von dem französi­schen König Ludwig XVIII. ist der Aphorismus überlie­fert, Pünkt­lichkeit sei die Höflichkeit der Könige, und das bringt immerhin auf den Punkt, dass man sich we­nigstens im Umgang mit der Zeitplanung anderer Per­sonen mög­lichst demokratisch verhalten möge. Denn Unpünktlich­keit im sozialen Umgang ist, das weiß jeder, der lange genug in seinem Leben auf Andere gewartet hat, nichts anderes als verkappte Respektlosigkeit und gründet in Gedankenlosigkeit und Egozentrik. Die ers­ten fünf Mi­nuten murmeln noch beruhigend: „Jetzt stell dich doch nicht so an, sind doch nur fünf Minuten“, die nächsten sagen, schon etwas lauter: „Was verpasst du schon?Gedulde dich halt ein bisschen“, bis einen die erste halbe Stunde anschreit: „Jetzt sieh doch endlich ein, dass ich wichtiger bin als du; ich habe offensichtlich Dringende­res zu tun, als auf meine Uhr zu schauen und mich zu beeilen, nur weil du wartest!“ Wenn sogar der Herrscher die Lebenszeit seiner Unterta­nen respektieren kann, sollte das in unserer aller demo­krati­schem Alltag, trotz permanentem Stress und ewi­gem Zeitdruck, eigentlich nicht unmöglich sein, und schon gar nicht belanglos.

Schließlich ein letztes Argument für überzeugte Ego­zentriker, denen an der Achtung Anderer nicht viel liegt, aus welchen Gründen auch immer: Pünktlichkeit ist auch eine Form des Respekts vor der eigenen Lebens­zeit. Keiner von uns lebt ewig, auch wenn man sich das nicht recht vorstellen kann; und wenn man eine be­grenzte Lebenszeit hat, sollte man sinnvoll mit ihr um­gehen, allein aus Selbstachtung. Das kann man modisch Zeitmanagement nennen, und wer mag, kann dafür sogar aus einer breiten Selbsthilfeliteratur wählen, aber die Sache ist eigentlich ganz einfach: Wer sich einmal angewöhnt hat, Dinge auf die lange Bank zu schieben, bei dem wird die Bank erfahrungsgemäß immer länger, bis sie sich schließlich unter der Last all der vielen klei­nen, sorglos aufgeschobenen Dinge biegt und bricht. Gerade sehr vielbeschäftigte und deshalb auf pünktliche Nutzung der Zeit bedachte Zeitgenossen (erwerbstätige Mütter beispielsweise) machen oft die Erfahrung, dass sie sehr viel mehr fertig bekommen als diejenigen, die eigentlich alle Zeit der Welt haben und auch mit dieser so umgehen, als hätten sie sie wirklich: Produktivität entsteht häufiger aus der kreativen und konzentrierten Nutzung knapper Ressourcen, und nicht aus der un­endlichen Freiheit der persönlichen Beliebigkeit und Willkür und der Philosophie des „Morgen ist auch noch ein Tag“.

Aber wie bei allen vermeintlichen Sekundärtugenden kommt es letztlich auf das rechte Maß an. Immanuel Kant gilt als einer der verrufensten Pedanten der Pünkt­lichkeit schlechthin – „es kann noch nicht sieben sein, Pro­fessor Kant ist noch nicht vorbeigegangen“, war eine fest­ stehende Redewendung in Königsberg; pünktlich um fünf Uhr stand der Philosoph nämlich auf, pünktlich um sieben Uhr ging er zu seiner Vorlesung an der Univer­sität (über die Pünktlichkeit der Studenten ist hingegen nichts überliefert), pünktlich von neun bis ein Uhr ar­beitete er an seinen Büchern, pünktlich um halb vier am Nachmittag ging er spazieren, immer die gleiche Stre­cke, pünktlich um zehn Uhr abends begab er sich zu Bette, allein, nach allem, was man weiß. Auch im Den­ken hielt er auf die größte Pünktlichkeit, im altehrwür­digen Sinn von Genauigkeit natürlich – aber in seiner Grundschrift zur Ästhetik, der Kritik der Urteilskraft, heißt es mit feiner Abwägung: „Als Natur aber erscheint ein Produkt der Kunst dadurch, daß zwar alle Pünktlichkeit in der Übereinkunft mit Regeln, nach denen allein das Produkt das werden kann,was es sein soll, angetroffen wird; aber ohne Peinlichkeit, ohne daß die Schulform durchblickt, d.i. ohne eine Spur zu zeigen, daß die Regel dem Künstler vor Augen geschwebt, und seinen Gemütskräften Fesseln angelegt habe“. Pünktlichkeit ohne Peinlichkeit – das wäre wohl eine gute Richtschnur nicht nur für die schöne Kunst, sondern auch für ein schöneres (Zusammen-)Leben.

 

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