Verantwortung ist immer konkret; ohne Handeln gibt es keine Verantwortung. Verantwortung zu übernehmen, das erfordert eine Entscheidung, und entscheiden tut immer weh. Wer aber Verantwortung im Handeln übernimmt, begibt sich auf ein weites Feld: Folgelasten sind zu bedenken, unvorhersehbare Komplikationen, intrikate Fragen von Schuld und Sühne. Denn wer Verantwortung übernimmt, ist hinterher schuld, egal, ob er schuld ist oder war oder nicht. Doch seit dem Sündenfall muss immer einer – oder: eine - schuld sein, das scheint ein urmenschlicher Impuls zu sein; etwas muss geschehen, was einem eine Last abnimmt und sie auf eine andere Schulter platziert!
Deshalb hat sich die Literatur, das Medium der Erforschung von Handlungsfolgen, seit jeher mit Fragen von Schuld und Verantwortung beschäftigt; seitdem Antigone die Verantwortung übernimmt für die Bestattung des Bruders, steht das Thema im Mittelpunkt von unzähligen, teilweise klassisch gewordenen Werken. Ein relativ modernes Beispiel dafür ist Fontanes Effi Briest, einer der wenigen Romane des späten 19. Jahrhunderts, der bis heute vielfach verfilmt, gelesen und in Schulklassen wie Seminaren heftig diskutiert wird. Vordergründig ist Effi Briest ein Eheroman über eine alltägliche Liebes- und Eifersuchtsgeschichte mit tödlichen Folgen, modelliert nach einem realen Fall; aber schon Fontane sah das „versteckt und gefährlich Politische“, das solche Liebes- und Skandalgeschichten haben können. Er schrieb den Roman im gesetzten Alter von 72 Jahren, und zwar nach eigener Aussage beinahe automatisch, er habe „wie mit dem Psychographen geschrieben“. Erst danach gab er den Figuren diejenige Rundung, die sie heute als immer noch gültige Archetypen erscheinen lassen.
Da ist zunächst, titelgebend, Effi Briest, die „Tochter der Lüfte“, die so gern schaukelt: jung, lebenslustig, fantasievoll, ein wenig leichtfertig und, tragischerweise, viel zu früh verheiratet an einen ehemaligen, damals abgewiesenen Bewerber der Mutter. Das ist Baron von Innstetten: ein preußischer Karrierebeamter, adlig (und damit: dem Ehrenkodex des Adels verpflichtet!), intelligent, pflichtbewusst, geradlinig und zweifellos in Effi verliebt; aber ein wenig zu akademisch, zu trocken und vor allem: viel zu sehr mit seinem Beruf beschäftigt, als dass er all den romantischen Ideen seiner jungen Frau gerecht werden könnte. Deshalb kommt Crampas gerade recht: ein militärischer Casanova mit einer kranken Ehefrau, „ein kluger Mann, welterfahren, humoristisch, frei, frei auch im Guten“ (so Effis Charakteristik). Crampas ist jemand, der mitschaukeln würde und keine Vorträge über die Gefahren des allzu hohen und leichtsinnigen Schaukelns halten würde. Der aus dieser Dreierkonstellation geradezu notwendig resultierende „Schritt vom Wege“ (so der leitmotivisch-vieldeutige Titel eines Theaterstückes, das die Amateurgruppe aufführt) passiert am Strand, in gestohlenen Gelegenheiten, wenn der vielbeschäftigte Ehemann mal wieder unterwegs ist. Die Schlüsselszene wird, wie so häufig bei Fontane, nicht erzählt, sondern gezielt ausgespart. Stattdessen bekommen wir Geplauder, Geschichten, Anekdoten; wir bekommen einen mysteriösen Chinesen, Apotheker namens Alonso Gieshübler und den getreuen Rollo, der Effi bis zu ihrem Ende begleitet.
Als der betrogene Ehemann Jahre später – man ist inzwischen nach Berlin verzogen, und Effi trauert der Affäre nicht eine Träne nach – zufällig die damals gewechselten Liebesbriefe findet, zögert er nicht, sondern übernimmt die Verantwortung, die ihm die gesellschaftliche Norm als Ehrenmann auferlegt: Er fordert den ehemaligen Liebhaber zum Duell und erschießt ihn. Natürlich muss er sich dann auch von seiner Ehefrau trennen und ihr die gemeinsame Tochter entziehen; gerade einmal, dass sie den Hund behalten darf. Effi leidet, sie leidet sehr; und als ihr endlich wenigstens die eigenen Eltern so weit verzeihen können, dass sie sie wieder in ihrem Elternhaus aufnehmen – die Schaukel steht noch im Garten –, da blüht Effi noch einmal ein wenig auf. Und dann stirbt sie, im Einklang mit sich und der Welt und sogar mit ihrem ehemaligen Ehemann. Am Ende sitzen ihre alten Eltern immer noch da, der alte Rollo liegt zu ihren Füßen, und die Mutter stellt die finale Schuldfrage. Und der alte Briest, eine von Fontanes liebevoll gezeichneten, unaufdringlich lebensklugen Identifikationsfiguren sagt den vielzitierten, aber wenig angemessen verstandenen Satz: „Ach, Luise, laß… das ist ein zu weites Feld“.
„Das ist ein weites Feld“ – dieser Satz fällt häufiger im Roman, er ist eine Art Markenzeichen des alten Briest. Aber hier fällt er mit der Ergänzung: ein zu weites Feld, und Fontane kursiviert so etwas nicht gedankenlos. Warum ist ausgerechnet dieses Feld zu weit? Warum lässt sich der alte Briest nicht ein auf die Diskussion der Schuldfrage, auf die brennende Frage danach, wer die Verantwortung trägt für die sinnlosen Tode einer zu jungen Frau und ihres leichtsinnigen Liebhabers? Generationen von Interpreten und Lesern waren schnell mit dem Urteil bei der Hand: Natürlich ist Innstetten schuld, der verständnislose, steife, herzlose Ehemann; warum konnte er nicht einfach – verzeihen und vergessen? Und hinter ihm steht der große Erz-Schuldige überhaupt, das schlechthin Böse der Moderne: die „Gesellschaft“ mit ihren Normen, Konventionen, überholten Werten; das „tyrannisierende Gesellschafts-Etwas“, so nennt es Innstetten selbst. Aber Innstetten besteht darauf, dass er persönlich eine Verantwortung hat, und er übernimmt sie, mit allen daraus resultierenden Folgen. Ein zu weites Feld? – ist das nicht alles im Gegenteil ganz einfach?
Es hilft nichts, man muss dieses Feld, wie alle weiten Felder, selbst begehen, den eigenen Weg finden. Wir durchschreiten es am Leitfaden der Schuld- und Verantwortungsfrage. Springen wir gleich in die Mitte: Innstetten findet, rein zufällig, die zwischen Effi und Crampas damals gewechselten Briefe; der „Schritt vom Wege“ liegt in jedem Sinne lange zurück, aber im Nähkästchen haben die verräterischen Briefe überdauert. Und einige Zitate daraus bekommen wir, sorgfältig natürlich ausgewählt vom Erzähler, präsentiert. Crampas schrieb nämlich: „Wir haben auch ein Recht. … Das Leben wäre nicht des Lebens wert, wenn das alles gelten sollte, was zufällig gilt. Alles Beste liegt jenseits davon“. Und in einem anderen Brief rechtfertigt er gegenüber Effi, warum er seine kranke Frau nicht im Stich lassen kann, dafür übernimmt er nämlich durchaus Verantwortung. Und er beschwört Effi: „Leichtsinn ist das Beste, was wir haben. Alles ist Schicksal“.
Das muss man sehr genau lesen, so schwerverständlich und bruchstückhaft es daherkommt. Welches „Recht“ meint Crampas, was hingegen ist dasjenige, was nur „zufällig“ gilt? Was spricht für den „Leichtsinn“, und warum um Himmelswillen ist eigentlich alles „Schicksal“? Nun, das ist durchaus philosophischer Interpretation fähig: Denn „Schicksal“ ist das Notwendig-Vorherbestimmte, im Gegensatz zum nur Zufällig-Konventionellen des jeweils geltenden Rechtssystems oder immer vergänglicher gesellschaftlicher Normen. Und wer glaubt, dass alles schicksalhaft vorherbestimmt ist und dass daraus eine Art Naturrecht resultiert, da man ja sowieso nie eine Wahl hatte, kann leichten Sinnes auch den gesellschaftlichen Normen zuwiderhandeln: Es war ja vorherbestimmt, dass Effi und Crampas sich treffen sollten, und der „Schritt vom Wege“ war die notwendige Konsequenz aus genau dieser Situation und diesen Charakteren. Wer hingegen immer nur in den vorgezeichneten Linien des Gesetzes und der Gesellschaft bleibt, wird schwermütig und verpasst das Beste im Leben – wie der trockene Innstetten eben.
Das lässt sich durchaus hören und ist nicht nur so dahingesagt. Aber nun hören wir der Fairness halber Innstetten zu, wie er in einem Gespräch mit seinem alten Freund und ausgewählten Sekundanten Wüllersdorf seine Duellforderung an Crampas rechtfertigt. Es ist ein sehr ruhiges und sehr differenziertes Gespräch; zwei gereifte Männer sprechen sachlich miteinander, und am Ende wird die Entscheidung akzeptiert, die der eine von ihnen in einer komplizierten Situation, allein auf weitem Feld, getroffen hat. Zunächst fragt Wüllersdorf, ob die Forderung denn wirklich nötig sei; das ganze liege immerhin sechseinhalb Jahre zurück, und es gäbe doch so etwas wie Verjährung (es schwingt mit: auch in moralischem, nicht nur in juristischem Sinne). Und er warnt eindringlich: „Innstetten, Ihre Lage ist furchtbar, und Ihr Lebensglück ist hin. Aber wenn Sie den Liebhaber totschießen, ist Ihr Lebensglück sozusagen doppelt hin, und zu dem Schmerz über empfangenes Leid kommt noch der Schmerz über getanes Leid. Alles dreht sich um die Frage, müssen Sie’s durchaus tun?“
Ein kluger Einwand, und keinerlei Schönreden. An dieser Stelle denkt Innstetten nach, obwohl wir ihn in dieser Szene das erste Mal aufgeregt und nervös, geradezu zappelig, sehen; dann antwortet er bedächtig und genauso geradlinig: „Es steht so, daß ich unendlich unglücklich bin: ich bin gekränkt, schändlich hintergangen, aber trotzdem, ich bin ohne jedes Gefühl von Haß oder gar vor Durst nach Rache. Und wenn ich mich frage, warum nicht?, so kann ich zunächst nichts anderes finden als die Jahre. Man spricht immer von unsühnbarer Schuld; vor Gott ist es gewiß falsch, aber vor den Menschen auch. Ich hätte nie geglaubt, daß die Zeit, rein als Zeit, so wirken könne. Und dann als zweites: Ich liebe meine Frau, ja, seltsam zu sagen, so furchtbar ich alles finde, was geschehen, ich bin so sehr im Bann ihrer Liebenswürdigkeit, eines ihr eignen heiteren Charmes, daß ich mich, mir selbst zum Trotz, in meinem letzten Herzenswinkeln zum Verzeihen geneigt fühle“.
Innstetten, halten wir das zuerst fest, liebt Effi. Er liebt genau das an ihr, was auch die Leser lieben: ihre Natürlichkeit, ihre heitere Persönlichkeit, ihre Liebe zum Schaukeln und zur freien Luft; und er würde ihr persönlich alles verzeihen. Denn tatsächlich ist die Tat verjährt; sie ist im Gefühl verjährt, und vor Gott, der ein verzeihender und erbarmungsvoller Gott ist, sowieso – das halten wir ebenfalls fest, denn Gott ist in dieser Zeit durchaus noch eine wichtige Instanz in Schuldfragen und nicht ein antiquierter Begriff für eine Unterdrückungsmaschine; und Verzeihen wäre insofern eine ja auch moralisch vertretbare Alternative. Warum also das Duell?
Hier wird es nun wirklich interessant. Denn Innstetten begründet seinen Begriff von Verantwortung wie folgt: „Ich hab mir’s hin und her überlegt. Man ist nicht bloß ein einzelner Mensch, man gehört einem Ganzen an, auf das Ganze haben wir beständig Rücksicht zu nehmen, wir sind durchaus abhängig von ihm. Ging‘ es, in Einsamkeit zu leben, so könnte ich es gehen lassen; ich ertrüge dann die mir aufgepackte Last, das rechte Glück wäre hin, aber es müssen so viele leben ohne dies ‚rechte Glück‘, und ich würde es auch müssen und – auch können. Man braucht nicht glücklich zu sein, am allerwenigsten hat meinen Anspruch darauf“.
Man hat keinen Anspruch auf Glück – dieser Satz scheint unserem derzeitigen Selbstverständnis so fremd, dass man ihn doppelt hervorheben, kursivieren und fettdrucken müsste. In der Einsamkeit würden andere Gesetze, eine andere Moral gelten, Verzeihen wäre eine Alternative – aber in Gemeinschaften, zu denen sich Menschen zusammenschließen, von denen sie in vielerlei Hinsicht profitieren, ohne die auch Effi nicht leben könnte, sind Gesetze zu akzeptieren, so zufällig sie sind. Kant könnte es nicht deutlicher sagen; es ist ein Paradefall des kategorischen Imperativs als Prüfstein von Verallgemeinerungsfähigkeit. Innstetten hat, wenn er innerhalb des Systems, des „uns tyrannisierenden Gesellschafts-Etwas“ bleiben will, keine Wahl; er muss sich dem Gesetz unterwerfen, sowohl der gesellschaftlichen Norm als auch seiner persönlichen Integrität wegen. Und individuelles Glück – ist überbewertet.
Wüllersdorf ist noch nicht überzeugt: „Ich weiß doch nicht, Innstetten“ – es schwingt mit: Übertreiben Sie nicht etwas, alter Freund? Aber der alte Freund ist inzwischen ganz ruhig. Er hat gerade erkannt, dass es wahrscheinlich ein Fehler war, Wüllersdorf zum Zeugen seines ganz eigenen inneren Konflikts zu machen – vielleicht hätte er ihn auch mit sich selbst austragen können, aber nun hat er einen Mitwisser, wenn auch einen verschwiegenen, wohlwollenden, zuverlässigen. Der „Fleck“ auf seiner „Ehre“ ist damit nicht mehr seine Privatsache, die Mitwisserschaft aber würde alle ihre zukünftigen freundschaftlichen Verhältnisse und Kommunikationen unterwandern; was man einmal gehört hat, kann nicht ungehört gemacht werden. Und Wüllersdorf, so der kluge Innstetten, würde dann immer heimlich über ihn denken und urteilen: „Der gute Innstetten, er hat doch eine wahre Passion, alle Beleidigungen auf ihren Beleidigungsgehalt chemisch zu untersuchen, und das richtige Quantum Stickstoff findet er nie. Er ist noch nie an einer Sache erstickt“.
Ach ja, der gute Innstetten kennt sich selbst, er kennt seine Schwächen, er hat sogar Humor, aber er kann sich nicht verbiegen. Er wäre nicht der, der er ist, wenn er sich verbiegen könnte; und Wüllersdorf akzeptiert schlussendlich die Entscheidung zum Duell: „Das mit dem ‚Gottesgericht‘, wie manche hochtrabend versichern, ist freilich ein Unsinn, nichts davon, umgekehrt, unser Ehrenkultus ist ein Götzendienst, aber wir müssen uns ihm unterwerfen, solange der Götze gilt“. Härter kann man nicht urteilen über den adligen Ehrenkodex und die – in dieser Zeit schon zunehmend fragwürdig gewordene – Verpflichtung auf das standesgemäße Duell als Mittel, die eigene Ehre sozusagen zu restituieren, wenn auch nicht ganz in integrum. Ist es falsch, moralisch oder menschlich, sich einem Götzendienst zu unterwerfen, wenn man seine Unterdrückungsfunktion doch durchschaut hat? Mag sein, und das kann ein jeder für sich selbst entscheiden, aber bitte nicht für andere. Aber wenn man in einer Gesellschaft leben will und ihre vielfältigen Vorteile genießen, dann funktioniert das nur, wenn sich alle an die Spielregeln halten. Keine Ausnahmen, keine Verjährung. Regeln sind Regeln, und Verantwortung übernehmen bedeutet: Sich an die Regeln halten, auch und vor allem dann – wenn das Lebensglück dahin ist. Genauer kann man den Gegenpol zu Crampas‘ Idee von vorgezeichnetem Schicksal und dem individuellen Recht auf Leichtsinn nicht bezeichnen!
Effi jedoch ist fern von all diesen Überlegungen. Über sie und über die gemeinsame Tochter wird verfügt; sie ist fortan eine moralisch ruinierte Person, die in ärmlichen Verhältnissen jenseits der Gesellschaft leben muss, mit einer treuen Haushälterin und einem treuen Hund. Und als sie dann endlich wieder zurück darf zu ihren Eltern, die damit natürlich den eigenen gesellschaftlichen Ruf ruinieren; als sie, schon deutlich gesundheitlich mitgenommen, durch den heimischen Kindheits-Park streift, tut sie das gern in Gesellschaft des alten Dorfpastors Niemeyer. Und einmal hört man den Kuckuck rufen, der die Zahl der noch verbleibenden Lebensjahre verkünden soll, und Effi fragt Niemeyer, ganz ruhig und ernst, danach, was er vom Leben hält. Und Niemeyer antwortet: „Ach, liebe Effi, mit solchen Doktorfragen darfst du mir nicht kommen. Da mußt du dich an einen Philosophen wenden oder ein Ausschreiben an eine Fakultät machen. Was ich vom Leben halte? Viel und wenig. Mitunter ist es recht viel und mitunter ist es recht wenig“.
Das klingt nach einem weiten Feld und einem Ausweichen ins Unverbindliche, aber Effi genügt es: „mehr brauch ich nicht zu wissen“ (und man erprobe Niemeyers Satz gelegentlich als Lebensmaxime; er hält erstaunlich gut, besser als viele teure Lebenshilfe-Ratgeber). Sie springt noch einmal auf die Schaukel, schwingt sich auf, reißt sich ein kleines Seidentuch von Brust und Hals „und schwenkte es wie in Glück und Übermut“. Aber sie ist nicht mehr die „Tochter der Lüfte“; das liegt zurück, uneinholbar. Der sensible Leser weiß in diesem Moment, dass sie bald sterben wird, denn es ist ihr, „als flög ich in den Himmel“. Ob sie in den Himmel kommen wird, das fragt sie den alten Pastor nun, eindringlich und unsicher; und Niemeyer rettet sich auf kein weites Feld, sondern gibt ihr einen priesterlichen Kuss auf die Stirn und sagt: „Ja, Effi, du wirst“. Kein Urteil, keine Höllenstrafen; Vergebung (oder, ihre menschliche Schwester: Verzeihung).
Als Effi dann kurz darauf wirklich dem Sterben ganz nahe ist, führt sie ein Aussöhnungsgespräch mit ihrer Mutter Luise – einer disziplinierten Frau, die sicherlich die perfekte Ehe mit Innstetten geführt hätte, aber das Schicksal (oder doch die Gesellschaft?) hatte es nicht so gewollt. Effi hat keine Angst vor dem Sterben. Sie erzählt stattdessen, wie immer bei Fontane an entscheidenden Stellen, eine Anekdote über einen, der zu früh von einer feierlichen Tafel abberufen wurde, und fügt hinzu: „Sieh, Mama, diese Worte haben sich mir eingeprägt – es hat nicht viel zu bedeuten, wenn man von der Tafel etwas früher abberufen wird“. Denn Effi hat abgeschlossen mit dem Leben, sie hat ihre moralische Bilanz gezogen, und deren Ergebnis ist: Innstetten hatte recht. Er konnte nicht anders handeln, in seiner Person in dieser Situation. Sie habe sich anfangs „ganz ernsthaft in den Gedanken hineingelebt, er sei schuld, weil er nüchtern und berechnend gewesen sei, und zuletzt auch noch grausam“. Aber das sei nicht richtig gewesen, das habe sie nun erkannt. Und sie hat ihm alles verziehen, auch die Entfremdung der gemeinsamen Tochter (denn er hätte das Kind andernfalls der Gesellschaft entfremdet, dem geltenden Götzen, und niemand wäre gedient gewesen), „er hat auch darin recht gehabt“. Und Effi endet mit dem Urteil: „Denn er hatte viel Gutes in seiner Natur und war so edel, wie jemand sein kann, der ohne rechte Liebe ist“.
Jemand, der „ohne rechte Liebe“ ist – in einem Roman, der weise alte Pastoren kennt und in einem Zeitalter spielt, in dem religiöse Grundausbildung noch selbstverständlich war, kann man wohl ziemlich sicher vermuten, dass das als eine freie Paraphrase des ‚Hoheliedes der Liebe‘ aus dem 1. Korintherbrief gemeint ist: „Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke“ – wäre also jemand, der predigen könnte ohne Ende, er wäre unverständlich und unnütz. Die rechte Liebe (was in der Bibel natürlich vor allem meint: diejenige zu Gott und durch Gott und in Gott) ist deshalb auch höher als alle Philosophie oder menschliche Erkenntnis: „Die Liebe hört niemals auf. Prophetisches Reden hat ein Ende, Zungenrede verstummt, Erkenntnis vergeht. Denn Stückwerk ist unser Erkennen, Stückwerk unser prophetisches Reden“. Wer aber hat diese Liebe, und wer hat sie nicht? Und was bedeutet das für die Verantwortungsübernahme und die menschliche Verantwortungsfähigkeit überhaupt?
Effi stirbt im Frieden mit sich selbst und Innstetten und dem Leben, das mal viel und mal wenig ist, und sie hatte beides. Am Ende trauert Rollo bei der Sonnenuhr, und der alte Briest sinniert: „Ja, Luise, die Kreatur. Das ist ja, was ich immer sage. Es ist nicht soviel mit uns, wie wir glauben. Da reden wir immer von Instinkt. Am Ende ist es doch das Beste“. Es ist auch mit dem Menschen, wie mit dem menschlichen Leben, mal viel und mal ziemlich wenig; die Kreatur hingegen, ihr Instinkt – ist das ein Äquivalent der Liebe? Oder ist gar die Liebe selbst: ein menschlicher Instinkt, den Rollo und die alte Haushälterin und Effi haben – nicht aber Innstetten, der Verstandesmensch, oder Luise, die Gesellschaftshörige? Die Mutter fragt sich immerhin selbst: „und zuletzt, womit ich mich selbst anklage, denn ich will nicht schuldlos ausgehen in dieser Sache, ob sie nicht doch vielleicht zu jung war?“ Dem kann man wohl zustimmen, aber es ist ganz sicher nicht die ganze Wahrheit. Deshalb schüttelt der aufwachende Rollo, die Kreatur, den Kopf langsam hin und her, und der alte Briest sagt ruhig: „Ach, Luise, laß …. Das ist ein zu weites Feld“.
Warum absolviert der alte Briest nun seine Ehefrau, obwohl sie doch ziemlich sicher ein gerüttelt Maß Mitschuld trägt? Und was ist seine Begründung dafür, die er verkleidet hat in eine Metapher? Metaphern sind anschaulich, das ist ihr Vorteil. Sie eröffnen ein weites Feld der Deutung, das ist ihr Nachteil. Was ist ein „weites Feld“, wenn wir die Metapher einmal beim Bild nehmen? Ein weites Feld ist eines, das man immer wieder abschreiten kann. Viele Wege führen durch das weite Feld. Auf einem weiten Feld kann vieles wachsen, oder auch wenig; es gedeiht das Unkraut und das Getreide (und wer entscheidet eigentlich, was Unkraut ist und was Getreide, wo doch alles nur von Natur aus sprießt und wächst)? Ein weites Feld kann man beackern, und es kann brachliegen. Und wenn man über ein weites Feld schaut, sieht man den Horizont in der Ferne, die Grenze zwischen Himmel und Erde. Ein zu weites Feld aber – entzieht sich menschlicher Erschließung. Die Wege verkreuzen sich im Endlosen, und Orientierung ist unmöglich.
Nun ist nicht jedes Feld moralischen Handelns automatisch ein zu weites Feld; aber die meisten Verantwortungs- und Schuldfragen tendieren wohl dazu, ins Unabsehbare zu gehen, sowohl in ihrer Vorgeschichte als auch in ihren Folgen. Warum wurde beispielsweise Luise Briest so, wie sie ist? Sie ist doch auch nur ein Opfer ihrer Gene oder des tyrannischen Gesellschafts-Monsters! Warum handelt Innstetten aus einem allzu streng verstandenen Ehrenbegriff und einem überkommenen Moralkodex heraus? Er wurde so erzogen, und es entspricht seiner Persönlichkeit! Warum hat Effi einen heiteren Charme, der sogar die hartgesottensten Leser verführt, aber der arme Innstetten hat der Liebe nicht? All diese Fragen kann man zurückverfolgen, Schritt für Schritt – und am Ende landet man bei Adam und Eva und der Erbsünde. Man kann immer neue Schuldige suchen und immer ältere Schuldige – aber was ist am Ende gewonnen? Dass jemand Schuld ist, weil er Verantwortung übernommen und gehandelt hat dort, wo andere sich in wohlfeile Worte und moralisch blütenweiße Westen gerettet hätten?
Vielleicht kann man, nach der Lektüre, das sehr weite Feld von Schuld und Verantwortung in Effi Briest notdürftig so umschreiben: Eine Grenzlinie bilden der Crampas’sche Leichtsinn und der Glaube an das Schicksal. Eine gegenüberliegende Grenzlinie zieht Innstettens moralischer Imperativ, seine Forderung, sich bedingungslos den konventionellen Gesetzen der Gesellschaft zu unterwerfen, in der man lebt und von der man profitiert. Dazwischen schwingt Effi auf einer Schaukel hin und her, mal zu dem einen, mal zu dem anderen Ende neigend; eigentlich aber nur der Freiheit und der Luft und den Instinkten des Naturkindes verbunden. Dafür hat sie die Liebe, die wahre, die rechte Liebe, die beide Männer nicht haben; der eine, weil er zu vernünftig, der andere, weil er zu sinnlich ist. Die wahre, die rechte Liebe aber – sie urteilt nicht, sie rechtet nicht, sie spricht nicht klug, sie will nicht den eigenen Vorteil. Schuld und Unschuld fliegen an ihr vorbei und berühren sie nicht. Sie kann auf Erden alles verzeihen, so wie Gott im Himmel alles vergibt; weil sonst das Aufrechnen niemals ein Ende hätte, und die Schuld sich wie eine Schlange quälend von einem Menschengeschlecht zum anderen zöge, und immer wieder fordert sie ihre Opfer. Die reche Liebe ist eine Naturgabe, und vielleicht hat sie Effi nur aus einem Glücksfall heraus bewahren können, bevor die Welt sie korrumpierte (Hunde aber können nicht korrumpiert werden).
Für alle anderen aber, die weder zu den Extremen konvertieren wollen, noch sich die Liebe bewahren konnten und die das Verzeihen nicht gelernt haben – gibt es, mit einer Formulierung von Wüllersdorf: „Hilfskonstruktionen“ (man könnte auch sagen: Schleichwege durch das weite Feld): „Der das sagte, war ein Baumeister und mußte es also wissen. Und er hatte recht mit seinem Satz. Es vergeht kein Tag, der mich nicht an die ‚Hilfskonstruktionen‘ gemahnte“. Verantwortung, Schuld, Sühne; Verjährung, Ehrenkodex, Duelle; Lebensglück, Lebenssinn, die Idee der einen richtigen Lösung – das sind philosophische Hilfskonstruktionen, gesellschaftliche Hilfskonstruktionen, psychologische Hilfskonstruktionen, Krücken aus Begriffen; man kommt ein Stück weit mit ihnen, aber irgendwann muss man sie fortwerfen und – fliegen?
Wenn man Glück hat, kann Krankheit, zwischendurch wenigstens, ein kleines Leseparadies sein. Man sucht sich Reisebegleiter. Und man will ja auch eigentlich eher nichts von Krankheiten lesen, aber irgendwann fällt einem auf: In der Literatur spielen Krankheiten eine bemerkenswert untergeordnete Rolle. Nur selten hat jemand einen Schnupfen im Roman. Kein Held klagt über Bauchweh (höchstens gelegentlich leichtes Gewissensjucken). Kein Gedicht besingt das Zahnweh (das bleibt den Zuhörern überlassen). Natürlich, es wird viel gelitten; Liebeskummer, gebrochene Herzen scheinen überhaupt eine Massendiagnose zu sein, sie sind jedenfalls häufiger als Herzinfarkte. Es wird, vor allem in früheren Literaturen, entsetzlich viel gekämpft, verletzt und gestorben und auch vergewaltigt (Homer! Männerliteratur!), aber Krieg ist höchstens ein Massenwahn (als solcher kann er aber epidemisch sein), und männliche Brutalität mag zwar nicht wenig hormoninduziert, aber gehört nun mal dazu. Modernen Helden hingegen setzt eher die Melancholie zu, die bekanntlich auch eine „Krankheit zum Tode“ (Werther! Das Werther-Fieber!) sein kann. Aber genauso wenig, wie in der Literatur auf offener Bühne geboren wird, wird dramatisch geniest oder erzählerisch geschnäuzt. Seelenschäden werden gern ausgestellt; Körperschäden hingegen – vertuscht, vergessen, verschwiegen? (Ausnahmen bestätigen die Regel, wir werden dazu kommen). Ist die Literatur das letzte Paradies einer gesunden Menschheit, der wiedergefundene Garten Eden?
I. Ätiologie in der Antike: Hephaistos hinkte
Natürlich können, um am Anfang anzufangen, die Götter nicht anders als vollkommen sein. Und das heißt: Nicht nur vollkommen gesund, sondern geradezu Musterexemplare von Stärke, Schönheit, blühendem Leben! Wer unsterblich ist, muss sich ja sowieso nicht besonders um eine gesunde Lebensweise kümmern. Aber halt, hinkt da nicht jemand im Hintergrund durchs Bild, eine massive, etwas verkrümmte, ziemlich bitter dreinschauende Gestalt mit einem Hammer in der Hand? Ach so, es ist nur Hephaistos. Der Schmiedegott, ein grober Kerl, und auf dem Olymp eher geduldet; und macht er nicht wirklich eine lächerliche Gestalt mit seinem Hinkebein? Hermes macht ihn gern nach und zieht die Flügelschuhe wie gelähmt hinter sich her, und dann gibt es mal wieder ein homerisches, nichtendenwollendes Göttergelächter. Aber man braucht ihn, den hinkenden Hephaistos; er ist nämlich geschickt, mit den Händen, er strotzt vor Kraft, und hat er nicht allen seinen hämischen Verwandten ganz wunderbare Dinge gebastelt? Aus seiner Werkstatt stammen der Zepter und der Donnerkeil seines Vaters Zeus, die Throninsignien sozusagen (man munkelt aber, er sei gar nicht der Vater gewesen, Hera habe Hephaistos vielmehr selbst gezeugt, Parthogenese, selbst ist die Frau, und dann das missratene Balg, das aus ihrem Schenkel kroch, zornentbrannt vom Olymp herabgeschleudert)? Der jungfräulichen Jägerin Artemis hat er den Bogen geschmiedet und Ares die prächtige Rüstung, für Poseidon den Dreizack geschärft und für Helios den Wagen entworfen, mit dem der Sonnengott nun stolz täglich seine Bahn zieht. Natürlich, das mit dem Netz, in dem er seinen Nebenbuhler Ares bei der schönen Aphrodite im Bett gefangen hatte, seiner Gattin, seinem ganz persönlichen Trostpreis für all die erlittene Schmach der ungerechten Göttereltern – das war schon ziemlich frech gewesen! Aber die olympischen Götter hatten dann doch beschlossen, darüber nichtendenwollend zu lachen. Hephaistos, ach, der arme Hephaistos! Was täte man nur ohne ihn?
Und so humpelt der Schmiedegott durch die helle, perfekte, geradezu übergesunde griechische Götterwelt; eine ewige Lachnummer und eine Übergangsgestalt. Denn es gibt durchaus noch dunklere, noch verborgenere Götter: Geschöpfe der Nacht (Nox) und des Chaos, die nicht nur den Schlaf und die Träume, sondern auch das Verderben, den schlimmen, gewaltsamen Tod (Ker; im Gegensatz zu Thanatos, dem guten alten sanften Alterstod) gezeugt haben; dazu das Verhängnis, Nemesis, und die Rachegöttinnen und die uralten Schicksalsgöttinnen der Moiren, die mit ihrer Schere den Lebensfaden kappen. Dunkle Gestalten, einige von ihnen monströs, die meisten hässlich, einige sogar uralt und insgesamt: wenig besungen; kein homerisches Gelächter weit und breit. Aber auch nicht direkt – krank. Denn Hässlichkeit, Alter und Schwäche sind zwar, auch in vielen Sprachen, sehr eng verwandt mit der Krankheit, aber eben keine Krankheiten im engeren Sinn. Schließlich kann man kerngesund alt werden und wie ein gefällter Baum von einem Moment auf den anderen sterben. Und wie es drin aussieht, geht keinen was an…..
Allerdings bringen die Götter gern Krankheiten. Besonders Apollo, der helle Lichtgott, bringt Seuchen oder Heilung, wie es ihm halt gerade in den bildschönen Götterkopf kommt. Er ist ja auch der Vater von Asklepios, dem Gott der Heilkunst. Asklepios ist auch ein verstoßenes Kind im Übrigen, aber er hat Glück und kommt zum weisen Zentauren Chiron, der ihn in der Heilkunst unterweist, und wird der berühmteste Art der griechischen Antike; sogar Homer macht Werbung für ihn. Statt ins Krankenhaus geht man jedoch zu ihm in seinen Tempel und versinkt dort in eine Art Heilschlaf; und wenn man Glück hat, wird erscheint einen im Traum der Doktor, erstellt die richtige Diagnose und erteilt das heilende Rezept (nützliches Wissen von Wikipedia: kline hießen die Liegen im Tempel, und daher kommt noch unsere Klinik; nur leider kommt das Wissen heute kaum noch im Schlafe, sondern eher aus dem Labor). Aber das sind Leute, Leute werden krank. Helden werden nicht krank, sondern sterben einen Heldentod. Noch nicht einmal die Achillesferse ist eine Erkrankung, sondern eher das Gegenteil davon: Denn die göttliche Mutter des großen Achilles wollte für ihren halbmenschlichen Sohn nur das Beste – also: die göttliche Unsterblichkeit – und tunkte ihn deswegen in den Styx, den Fluss der Unterwelt, was bekanntlich unverwundbar macht. Allerdings musste sie das Kind dabei ja festhalten, sie hielt es an der Ferse, die Ferse wurde nicht benetzt, und so – blieb die Ferse die Schwachstelle des Supermanns Achilles, die dann auch prompt von einem vergifteten Pfeil getroffen wurde. Keine Krankheit, schneller Tod, wie es sich für Helden gehört. Menschen hingegen haben bis heute eine Achillessehne, es ist sogar die stärkste Sehne am menschlichen Körper; aber bei großer Belastung reißt sie auch recht gern, sie kann überlastet werden und sich entzünden. Dann ist man krank. Wenn man kein Held ist, jedenfalls.
Aber nicht nur der leuchtende Apollo bringt Unheil und Verderben über die Menschen. Gerade der Göttervater Zeus ist besonders phantasievoll darin, sich Körperstrafen auszudenken: Denn war es nicht von ausgesuchter Bosheit, Prometheus – der es gewagt hatte, das göttliche Feuer zu stehlen und zu seinen Schützlingen, den Menschen zu bringen! – nicht nur mit Ketten an den Kaukasus zu schmieden (natürlich handgeschmiedet von Hephaistos, dem Hinkenden, und damit auch unzerstörbar), sondern jeden Tag einen Adler vorbeizuschicken, der dem Verschmachtenden an der Leber pickte – ausgerechnet an der Leber, dem Sitz der Gefühle und der Seele und damit des Lebens überhaupt; demjenigen Organ, aus dem die Priester die Zukunft lesen konnten? Am schlimmsten war aber, dass die Leber über Nacht wieder verheilte (was man gesehen hatte, Naturforscher hatten es berichtet, von Tieren zwar, aber war Prometheus nicht, in gewisser Weise, mit seiner Vorliebe für diese Menschlein, eine Art Tier?). Die Leber konnte sich regenerieren; so dass die Qual am nächsten Tag von vorn beginnen konnte; es war eine Krankheit, die nicht geheilt werden sollte, sondern immer und immer wieder von neuem ausbrach, eine Wunde, die sich niemals ganz schloss! Ach, nicht die Christen mussten die Erbsünde erfinden; schon die griechische Mythologie wusste, dass nicht der gnädige, gute Tod, sondern die Krankheit, die schwärende Wunde, die bleibende körperliche Schwäche die eigentliche Strafe für die übermütig gewordenen Menschlein waren. Unsterblichkeit mochte ihre Nachteile haben, und ewige Gesundheit war auch nicht viel mehr als ein Spielzeug. Und wenn ein wahrer Held im nun einmal unvermeidlichen Krieg dahingerafft wurde, konnte man ihn immer noch zum Halbgott erheben. Oder eine Nymphe, die ihre Unschuld allzu sehr verteidigt hatte, in einen Baum verwandeln, oder eine entzückende Blume. Aber Krankheit, nein: Das war für die Menschlein! Nichts Halbes und nichts Ganzes, ein Ärgernis und eine Plage, und ein ständiger Beweis dafür, dass sie eben doch noch gar nichts verstanden hatten (ihren Körper zum Beispiel; was aber auch kein Wunder war, da sie sich so viel auf ihren Geist einbildeten und den armen Körper mehr oder weniger als eine Art Lasttier durchs Leben quälten).
2. Epische Blindheit, romantischer Wahnsinn und bürgerliche Zahnschmerzen
Oder für Dichter. In allen Geschichten und Legenden, die sich um ihn ranken, ist Homer blind; man weiß zwar nicht, ob und wann es ihn gab und warum aus ihm auf einmal das reinste epische Gold quoll, aber dass er nicht sehen konnte – glasklar. Man munkelte, auch hier, von einer Art Kompensationsgeschäft: Die Musen hätten ihn mit einer so wunderbaren Gabe zum Gesang beschenkt, dass sie ihm dafür etwas hätten nehmen müssen; etwas Wichtiges, das der Größe der Gabe entsprach. Warum nicht das Augenlicht? Denn wozu musste ein Rhapsode die Außenwelt sehen, wo doch die reichste aller Innenwelten in seinem Kopf lebte? War es denn wichtig, ob er Ithaka oder Troja selbst gesehen hatte? Ob er die Schönheit Iphigenies vor dem Opfer oder der Königstochter Kassandra vor der Schändung oder die alles überblendende Superfrau Helena vor der Entführung in Augenschein nehmen konnte? Nein, ein ordentlicher Dichter hatte fortan blind zu sein! Notfalls reichte es auch, irgendwie metaphorisch blind zu sein, realitätsblind zum Beispiel, da Dichter ja sowieso notorische Lügner sind. Dass der bessere Dichter überhaupt der kranke Dichter ist, wurde allerdings erst mit der deutschen Romantik so richtig in; besser noch, der wahnsinnige Dichter (na gut, am besten: der tote Dichter; da sind sich die meisten Nachwelten einig, zumal lebende Dichter einem ziemlich auf die Nerven gehen können, es sind nicht unbedingt die nettesten Mitmenschen erfahrungsgemäß)! Nun wird sich zwar im Nachhinein nie mehr feststellen lassen, wie „wahnsinnig“ Hölderlin wirklich war, zumal psychische Erkrankungen zu den historisch veränderlichsten Diagnosen schlechthin gehören; er war außerdem schon als gesunder junger Mann ziemlich schwerverständlich und einigermaßen überenthusiastisch. Aber er hat viele Nachfolger gefunden, und wenn es zu einem ordentlichen Wahnsinn, zu einer handfesten Neurose oder wenigstens zu einer schweren Melancholie (ja, wir werden auch darauf noch zu sprechen kommen) nicht reichte, konnte man ja immer noch mit Drogen und einer sehr, sehr gesundheitsschädlichen Lebensweise nachhelfen.
Aber es gab auch richtig kranke Autoren. Schiller zum Beispiel, er war wirklich den größten Teil seines Lebens krank, nicht irgendwie psychisch labil oder mental überstrapaziert (da war er eher bemerkenswert stabil), sondern einfach: körperlich mehr oder weniger chronisch krank. Es war wohl eine Tuberkulose, die er in seiner Jugend erwarb; die sich lange unerkannt hinzog und dabei viele Organe in Mitleidenschaft zog, und als die Ärzte ihn nach seinem dann doch eher plötzlichen Tod autopsierten, wunderten sie sich, wie er in diesem Zustand überhaupt so lange überlebt (und produziert!) hatte. Aber seine Figuren: topgesund! Lauter junge Draufgänger und Revolutionäre am Anfang, später gestandene Manns- und Weibsbilder: Wilhelm Tell hustete nicht vor dem Apfelschuss, Wallenstein schaute zwar zu viel in die Sterne, stand aber sonst mit beiden Beinen ziemlich fest im Kriegsgeschehen, aber noch nicht einmal die Jungfrau von Orleans zitterte vor dem Scheiterhaufen!
Sein Lebensfreund Goethe immerhin, der viel Verständnis für Schiller hatte und selbst ein bemerkenswert langes zwischen Kuraufenthalten und langwierigen Krankheiten pendelndes Leben führte, der fettes Essen liebte und einen guten Wein, aber auch Diät halten konnte und Brunnenwasser trinken, bis es ihm zu den Ohren hinauskam, der zudem viel und lange zu Pferd und zu Fuß die Natur durchstreifte, zu allen Tag- und Nacht- und Jahreszeiten; Goethe also interessierte sich vor allem für praktische Medizin. Sein Wilhelm Meister wird Wundarzt, kein Akademiker, sondern ein Praktiker; deshalb kann er am Ende auch den eigenen Sohn vor dem Ertrinken retten. Und Goethe führt tatsächlich, ganz unauffällig, dann und wann kranke Leute in seine Texte ein. Von Werthers „Krankheit zum Tode“ hatte er sich noch selbst durch das Schreiben eines Romans kuriert. In den Wahlverwandtschaften sind Krankheiten gleichzeitig irgendwie gesellschaftlich bedingt und schwer symbolisch aufgeladen. Ottilie und Eduard, das unmögliche Liebespaar, leiden an einer Art spiegelbildlich-sympathetischer Migräne; kein gutes Zeichen für ihre Beziehung, auch wenn es zwischendurch so aussieht, es ist die Vorform einer romantischen Krankheit zum Tode. Während Eduard ihn im Krieg sucht (und nicht findet), bekommt Ottilie stattdessen gegen Ende des Romans eine schwere Essstörung: Sie hungert sich zu Tode, indem sie sich das Essen einfach abgewöhnt, wie das Leben überhaupt. Mignon in den Lehrjahren stirbt, wörtlich und metaphorisch, jung an gebrochenem Herzen, eigentlich aber an ihrer Sehnsucht nach Italien, ihrer enttäuschten Liebe zu Wilhelm und ihrer generellen Lebensuntüchtigkeit. Aber sie ist auch ein Kind aus einer inzestuösen Beziehung, das von einer Zirkustruppe geraubt und misshandelt wurde – viel schwerer kann ein Trauma wohl nicht sein, von den möglichen genetischen Folgeschäden eines so nahen Familieninzests ganz zu schweigen!
Faust allerdings – ist nur alt, am Anfang zumindest. „Zwei Seelen“ in einer Brust, das ist kein Krankheitssymptom, sondern nur die conditio humana: Der Mensch als solcher und der Mann insbesondere weiß einfach nicht, was er will (deshalb will er sicherheitshalber alles). Dann wird er hexenartig verjüngt. Dann wird er traumatisiert (das von ihm verführte Gretchen verweigert im Kerker die Flucht mit ihm und will lieber mit ihrem toten Kind begraben sein). Nichts jedoch, was durch einen ordentlichen asklepischen Heilschlaf nicht behoben werden könnte! Neugeboren erwacht Faust zu Beginn des zweiten Teils und schlägt sich tapfer bis zu seiner Erblindung als Hundertjähriger. Derweil geht sein Sohn von Helena mit Unfall ab (jugendlicher Leichtsinn) und das künstliche Geschöpf seines Gehilfen Wagners, der Homunculus, das Menschlein in der Flasche, begeht eine Art Werther’schen Selbstmord aus Liebeskummer (wer hätte gedacht, dass Maschinen dazu in der Lage sind?) Mephisto hingegen hat noch nicht einmal einen ordentlichen Hinkefuß abbekommen. Wird der Teufel etwa gerade so wenig krank wie die Götter?
Vergleichbar viele kranke Romanfiguren gibt es eigentlich erst wieder bei Goethes großem späteren Geistesverwandten, der insofern ein wenig romantisch angekränkelt ist, als dass er den Verdacht einfach nicht los wird, um ein wahrer, tiefer, ja: deutscher Künstler zu sein, müsse man ein wenig – romantisch krank sein eben, und nicht goethisch gesund. Krankheit und Gesundheit, Tod und Leben, Bürger und Künstler – das sind die großen Lebensthemen von Thomas Mann, und dementsprechend überbevölkern Kranke seine Romane und Erzählungen. Natürlich im grandiosen Zauberberg, der die Tuberkulose als Zeitkrankheit eines schwindsüchtigen Jahrhunderts erzählt; prominent im Dr. Faustus, der sich dem Teufel verschreibt und sich als Gegenleistung für seine schöpferische Genialität mit Syphilis infizieren lassen muss (wir werden darauf zurückkommen). Nicht nur seiner eigenen Familie, sondern jeder fühlenden Leserin hat Thomas Mann das Herz gebrochen, indem er den niedlichen kleinen Echo (gestaltet nach dem Vorbild seines eigenen Enkelsohnes Frido), den einzigen, der Dr. Faustus zu lieben vermochte, an einer Gehirnhautentzündung medizinisch beraten und grauenhaft realistisch dahinsterben ließ. Und ist es nicht geradezu wunderbar, dass in den Buddenbrooks, während die Nachfolgegenerationen immer hysterischer und nervenschwacher werden (der kleine Hanno stirbt an diversen Kinderkrankheiten fast dahin und stottert), der letzte noch halbwegs akzeptable Vertreter der alten, soliden, gesunden Kaufmannstradition der Familie, der Senator Thomas Buddenbrook nämlich, nach einer misslungenen Zahnextraktion stirbt? Thomas Mann selbst, im Übrigen, war trotz seines lebenslangen Kettenrauchens relativ gesund und überlebte sogar den Lungenkrebs, den man ihm verschwieg; er starb 80jährig nicht in Venedig, sondern in einem Schweizerischen Krankenhaus sehr bürgerlich und relativ schnell an einem Aortenaneurysma.
3. Die drei „großen Krankheiten“, oder: die conditio humana als Krankengeschichte
Pest kann man nicht erzählen. Man kann nur die Flucht vor der Pest erzählen, wie es Boccaccio tut. Alle großen Epidemien zerstören den einzelnen Menschen so schnell und so vollständig und so völlig erbarmungslos, dass nicht einmal Zeit für eine kleine Erzählung bleibt. Menschheitsseuchen sind allerhöchstens der Stoff, aus dem Mythen und Religionen gemacht sind; aber sogar Götter lassen die Menschheit lieber durch Sintfluten wegfluten oder durch andere großräumige Naturplagen abräumen (das Erdbeben von Lissabon hat Voltaire immerhin satirisch erzählt: als Theodizee-Satire, oder auch: Gottesbeweis durch Vernichtung).
Allerdings kann man Krankheit ziemlich gut als Lachnummer erzählen, wie schon Hephaistos zeigt. In der Komödie und im Schelmenroman, dort sind die Kranken seit alters her zuhause; vor allem die eingebildeten Kranken natürlich (aber muss eine eingebildete Krankheit weniger schmerzen?) mit den ihnen seltsam verwandten aufgeblasenen Ärzten und deren ebenso eingebildet-scheinhaften medizinischen Allerweltswissen. Niedere Helden dürfen jegliches Gebrechen haben, Hauptsache, man kann sich darüber hinreichend lustig machen, Es darf aber nicht allzu schwer sein, um kein Mitleid aufkommen zu lassen, deshalb erfreut sich die Gicht, genannt auch das Podagra oder das Zipperlein, so großer Beliebtheit: Verkrümmte Gliedmaßen, ein zippelnder Gang, aber nichts wirklich lebensbedrohliches, nur einfach sehr, sehr schmerzhaft, zudem eine Art Lifestyle-Krankheit und somit auch eine Strafe für den verfehlten Lebenswandel! Auch Stottern wird gern gesehen, es führt zu den schönsten Sprachspielereien. Bei Frauen natürlich Hysterie, ständig wird dekorativ in Ohnmacht gefallen und mit diversen Riechsalzen in engem zwischengeschlechtlichem Körperkontakt wiederbelebt. Und Geschlechtskrankheiten, aber dazu kommen wir später noch. Und schließlich kann man Alter erzählen, schon immer; es ist ein beliebtes Thema auch und gerade in religiösen Texten, und die Demenz ist gerade dabei, in der modernen Literatur ziemliches Terrain zu gewinnen – was aber nur in einer erzählerischen Experimenten gegenüber aufgeschlossenen Epoche funktioniert, die das realistische Erzählen sowieso schon längst als allzu gesund und philisterhaft abgetan hat.
Es gibt aber drei „echte“, ernstzunehmende, in gewisser Weise sogar existentieller Erkrankungen, die es dann doch zu einer halbmäßig repräsentativen Darstellung in der Literatur geschafft haben. Sie alle haben, wenig erstaunlich, nicht nur eine relativ starke Verbreitung in allen Zeiten und Regionen, generieren vielfältige Symptome und bewirken großes Leid und schwere Einschränkungen über die Lebenszeit hinweg; sie alle sind dazu noch unschwer symbolisch aufladbar und damit „literaturfähiger“ als der Schnupfen, der Magen-Darm-Infekt oder eine ordentlich philisterhaftt-bürgerlich erworbene Diabetes. Die drei „großen Krankheiten“ sind eher Variationen der conditio humana schlechthin, ererbte wie erworbene Ursünden, Wunden, die sich niemals schließen.
Die erste von ihnen ist eine Krankheit der Reflexion: Nennen wir sie den „melancholischen Formenkreis“, der alle Erscheinungsweisen psychischer Störungen umfasst, die sich auf der Schwelle zwischen handfestem „Wahnsinn“ (sagen wir: schweren Psychosen, Epilepsien, ausgeprägten Zwangsstörungen) und milder Depression oder bipolarer Störung bewegen. Seit dem Verstoß aus dem Paradies ist die fatale Neigung zum Wissenwollen, zum Denken, zum Selbst-Entscheiden die Achillesferse der Menschheit. Reflexion, ausgeprägt in Form des Selbstbewusstseins, führt zu einer fatalen Spaltung zwischen dem unmittelbarem, gelebten Leben und seiner immer ein wenig degenerativen Reflexionsform im Kopf; sie führt zum Ungenügen an einer Wirklichkeit, die allzu handfest ist, um den noch halb erinnerten Paradiesträumen zu genügen; und schließlich zu einer nagenden Unzufriedenheit, einem wörtlich zu nehmenden Unfrieden mit sich selbst und der Welt. Für all das gibt es auch neurophysiologische Ursachen, Störungen in komplexen Regelkreisen im Gehirn und im Körper; aber welche Henne hier zuerst welches Ei gelegt hat, ist wie so häufig die falsche Frage. Melancholie aber wird erzählt, solange es Literatur gibt. Sogar antike Helden werden gelegentlich schon von Grübelanfällen heimgesucht, und seit Don Quijote durchseuchen männlich-jugendliche Schwärmer mit ihrer Realitätsblindheit und ihrem Verfall ans niemals zu erlangende Ideal die Literatur flächendeckend. Erst spät haben sich in der Schilderung schwerer, klinischer Depressionen schreibende Frauen hervorgetan: Virginia Woolf, Sylvia Plath, Ingeborg Bachmann – sie alle waren selbst davon betroffen, und sie alle beendeten ihr Leben (mehr oder weniger) von eigener Hand).
Die zweite ist eine Krankheit der Lebensbedingungen, vielleicht die älteste Zivilisationskrankheit schlechthin, auf jeden Fall die am durchgängigsten und häufigsten auftretende in der gesamten Menschheitsgeschichte (vor Corona, aber Corona ist ihr in vielerlei Hinsicht seltsam verwandt): die Tuberkulose, auch genannt: Auszehrung, Schwindsucht – und damit schon etymologisch die menschliche Schwachheit, das Dahinscheiden an sich aussagend. Das Tuberkulose-Bazillus befällt die Atemwege; es überträgt sich über die Luft, vor allem dort, wo die Menschen in Armut und beengt aufeinander leben, unter schlechten Lebens- und Ernährungsbedingungen, in schlecht belüfteten Häusern und verpesteten Städten. Und es führte (solange man seine Ursache noch nicht erkannt hatte) zu einem schleichenden, in den ‚besseren Kreisen‘ sogar: relativ dekorativen Dahinsterben (wiederum: vor allem bei todesblassen, zierlichen Frauen, wo sogar das Bluthusten ins Taschentuch verklärt werden kann). Man stirbt nicht schnell und spektakulär, sondern eher langwierig und dahinsiechend; man hat noch viel Zeit zum Nachdenken und Reden und dafür, sich in hoher, klarer Gebirgsluft im Duell zu Tode zu schießen. Der Realismus und der Naturalismus lieben die Auszehrung. Stärker können sich Armut und Unterprivilegierung nicht ausdrücken als im rachitischen Husten eines unterernährten Arbeiter-Kleinkindes.
Die dritte schließlich ist eine Krankheit der Moral. Sie hieß früher Syphilis (und wird in einem eher befremdlichen antiken Mythos etymologisch auf einen Schweine liebenden Schafshirten zurückgeführt); man bezeichnete sie auch als „venerische Krankheit“ (von der Liebesgöttin Venus), oder, je nachdem, wen man gerade besonders diffamieren wollte, entweder „französische“ oder „italienische“ (nicht jedoch: „chinesische“) Krankheit, auch der Volksmund hatte einige lustige Namen dafür („weicher Schanker“). Natürlich hat alles, was mit Sexualität zu tun hat, hohes Erzählpotential; die Strafe für verwerfliches moralisches Handeln folgt hier nicht auf dem Fuße, sondern auf dem betroffenen Organ direkt. Die daraus resultierenden Spätschäden greifen auf den gesamten Körper über und korrumpieren letztendlich auch den Verstand; in der letzten Phase kommt es zu Demenzerscheinungen und völliger körperlicher Lähmung – womit bewiesen wäre: Moralische Korruption ist die Korruption schlechthin; sie geht vom corpus delicti aus und erfasst schleichend auch alles andere am Menschen. Das hätte sich selbst Zeus nicht grausamer ausdenken können!
4. Lebt ein gesunder Geist in einem gesunden Körper? Hephaistos hinkt immer noch
Niemand will von Krankheiten lesen. Es ist schlimm genug, dass man selbst daliegt und man kann weder ordentlich schlafen noch ordentlich denken (auch das Schreiben ist schon einmal gesunder abgeflossen). Aber wir leben nicht auf dem Olymp, sondern in der Welt, wo die Geier der Reflexion jeden Tag an unseren Nieren hacken, die Schwaden von Abgasen und Birkenpollen das Atmen schwermachen und der Körper zu viel, der Geist aber zu wenig zur Ruhe kommt. Mens sana in corpore sano: Obwohl das inzwischen über jeder gehypten Wellness-Anlage steht, aus der die Wohlstandskranken wanken; obwohl wir schon lange ein Gefühl dafür verloren haben, was ganzheitliche Gesundheit überhaupt sein könnten; obwohl wir meinen, die moderne Medizin könne nicht nur alles heilen, sondern müsse das sogar; obwohl unser künstlich verlängertes Altern die Krankheiten geradezu fett füttert: Wollen wir das trotzdem glauben. Irgendwo gibt es einen gesunden Geist in einem gesunden Körper, wir haben ihn nur irgendwie verloren, er hat sich versteckt, aber es gibt ihn noch. Wenn nur die Krankheit nicht wäre!
Im Hintergrund humpelt Hephaistos vorbei, er hat wieder einen Auftrag, diesmal soll er zwei mechanische Dienerinnen zusammenbauen, wofür soll das nun wieder gut sein? Demnächst werden sie noch Krücken von ihm haben wollen. Oder Brillen, für all die blinden Dichter. Auf der Erde, bei den Menschlein, hat er gehört, gibt es eine neue Krankheit. Hatte Pandora etwa wieder einmal ihre Büchse geöffnet? Natürlich war auch sie sein Werk gewesen; aus Lehm hatte er sie geschaffen, weil Zeus der Meinung war, Prometheus sei immer noch nicht genug gestraft für den Raub des göttlichen Feuers. Und wie über alle Maßen schön war sie ihm geraten, ihm, dem hässlichen Hinkefuß! Noch stolzer allerdings war er auf die Büchse, Pandoras Geheimwaffe. Alle Übel der Welt solle sie enthalten, so hatte Zeus, sein Rabenvater, es ihm eingeschärft; und dazu noch die Hoffnung – denn nur so würden all die Übel erst zur vollen Entfaltung kommen! Es sei wie mit der Leber des Prometheus, immer wenn man gerade meine, dass die Wunde sich schließe, wenn man in der Ferne einen kleinen Hoffnungsschimmer erahne, sich gerade aufzurichten beginne, um die Sonne wieder zu sehen, das allerfreuliche Licht – stelle sich heraus, dass es wieder einmal eine falsche Hoffnung war. Hephaistos hätte man das nicht sagen müssen. Denn hätten die allmächtigen Götter, seine lieben Verwandten, nicht genauso gut sein hinkendes Bein heilen können wie es zerstören? Aber dann hätten sie ja zugeben müssen, dass sie einen Kranken unter sich geduldet hatten. Manchmal hatte er das Gefühl, er sei der Einzige, der einen gesunden Verstand hatte in dem ganzen Haufen, vor allem, wenn sie mal wieder in ihr berühmtes nichtendenwollendes Göttergelächter ausbrachen. Ein gesunder Verstand in einem kranken Körper, das war er, Hephaistos, das Monster! Aber dann dachte er lieber wieder über die zwei mechanischen Dienerinnen nach, die er bauen wollte. Sie würden wie zwei kleine Menschlein sein, ununterscheidbar. Vielleicht würde er ihnen sogar ein Gehirn geben.
"Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen". Der Satz steht, vielzitiert und wenig verstanden, aber auf jeden Fall monumental am Ende des Tractatus logico-philosophus des Philosophen Ludwig Wittgenstein; und eigentlich müsste man jedesmal, wenn man ihn zitiert, zumindest eine kleine Schweigeminute einlegen. Denn das Schweigen wird nicht nur unterschätzt, es wird, in einer immer lauter und zielloser plappernden Welt, sozusagen, zu Tode geschwiegen: Auf das Reden kommt es an, darauf, seine Meinung zu sagen, jederzeit, real und virtuell; und so manches Gespräch endet bezeichnenderweise mit einer klassischen Leerformel: "Schön, dass wir darüber geredet haben!" Nie sagt jemand: "Schön, dass wir darüber geschwiegen haben". Undenkbar. Beinahe unsagbar. Allenfalls die Philosophen, siehe Wittgenstein, reden dann und wann vom Schweigen. Oder Spinoza, der schon vor knapp vierhundert Jahren erkannte (und dem ist bis heute wenig hinzuzufügen): "Die Erfahrung lehrt uns genug und übergenug, daß die Menschen nichts weniger in der Gewalt haben als ihre Zunge". Martin Heidegger erfand gar eine ganze Schweigelehre, Sigetik genannt, und verordnete seiner Zunft: "Das Sagen des Denkens ist ein Erschweigen". In unserer aller Alltag jedoch wird allenfalls noch bei öffentlichen Schweigeminuten geschwiegen (aber nicht länger als eine Minute, und das Handy schaltet man dafür nicht aus); oder beim Rauchen; oder, gelegentlich, in der Kirche, beim stillen Gebet – und damit sind wir schon mitten im Thema angekommen, nämlich Heinrich Bölls früher und selbst von Böll-Gegnern hochgeschätzten Satire Dr. Murkes gesammeltes Schweigen aus dem Jahr 1954, zehn Jahre später verfilmt von dem bekannten Regisseur Rolf Hädrich.
Bleiben wir aber noch einem Moment beim Schweigen. Schweigen zu sammeln – ist das nicht eine bizarre Idee? Wir kennen "Gesammelte Schriften", und in Bölls Satire werden wir die gesammelten Schriften Bur-Malottkes kennenlernen. Bur-Malottke, so nennt Böll eine (natürlich fiktive, aber vielleicht ja nicht ganz ausgedachte) Größe im geistig-kulturellen Leben der Nachkriegszeit, berühmt für seine Bücher "essayistisch-philosophisch-religiös-kulturgeschichtlichen Inhalts" – eine Charakterisierung, die einem sprachlich sensiblen jungen Intellektuellen wie Dr. Murke schon einmal den Schweiß auf die Stirn treiben kann ob ihres wortreichen Nichtssagens. Und damit haben wir auch schon unsere beiden Kontrahenten beisammen, die sich in Bölls gar nicht allzu langer, aber sehr pointierter Satire in einer Art geistigen Duells gegenüberstehen: Im intellektuellen "Zoo" einer deutschen Rundfunkanstalt ist Bur-Malottke sozusagen der Alphawolf, für Murke aber sieht er eher aus wie ein "dicker sehr schöner Fisch" (immerhin, ein schöner Fisch! aber, leider, hat Bur-Malottke so gar nichts vom Schweigen der Fische). Murke, hingegen, nein: Dr. Murke!, ist zwar höchstens der Omega-Wolf ganz unten im Rudel; aber er hat Psychologie mit Auszeichnung studiert, er ist jung, intelligent, liebenswürdig und insgeheim – so wird er im Text immer wieder bezeichnet – eine "intellektuelle Bestie". Oberflächlich könnten Murke und Bur-Malottke also gar nicht unterschiedlicher sein – der eine alt mit einer belasteten Vergangenheit, der andere jung mit einer möglicherweise großen Zukunft; der eine mit einem pompösen Werk voller sich wohlig rundender Floskeln, der andere mit einer kleinen Zigarettenschachtel voll abgehackter Bandfetzen mit Schweigen; der eine an der Spitze der strengen sozialen Hierarchie des Funkhauses, der andere an ihrem allgemein belächelten Ende, nämlich der Kulturabteilung, die immer wieder ihre sowieso knappe Sendezeit an die Unterhaltung, den Sport, die Politik abgeben muss, die großen Quotenbringer bis heute. Aber klingt nicht, andererseits, in Murke leise Bur-Malottke mit – wenn man nämlich das "Malott" abzieht und immerhin ein "Burke" erhält?
Aber worum kämpfen die beiden Wölfe eigentlich?. Nun, um nichts weniger als zwei ganz große Worte: Es geht um Gott, und es geht um die Kunst . Gott hat Bur-Malottke nämlich gerade wieder verloren, nachdem er ihn pünktlich zum Ende des Dritten Reiches gefunden hatte. Nun aber hat ihm die "religiöse Überladung des Rundfunks" eine schlaflose Nacht gemacht, und er möchte dieser – nennen wir sie: geistig-moralischen Wende – dadurch Ausdruck verleihen, dass er das Wort "Gott" in einem soeben verfassten und bereits aufgenommenen Vortrag über das Wesen Kunst durch die Formel "jenes höhere Wesen, das wir verehren" ersetzen lässt. (In Klammer gesprochen: Es handelt sich dabei übrigens um eine Wortbildung der Aufklärung und der Menschenrechte des 18. Jahrhunderts handelt, vom "supreme being" oder "etre supreme" ist dort die Rede; und es hatte nicht nur einen eigenen Kult, sondern in seinem Namen wurde bei der französischen Revolution auch die Guillotine in Gang gesetzt). Murke wird nun ganz von oben beauftragt, aus dem aufgenommenen Vortrag jedes vorkommende "Gott" herauszuschneiden und es durch die Formel "jenes höhere Wesen – Sie wissen schon!" zu ersetzen, das also an den betreffenden Stellen einfach hineingeschnitten wird. Bur-Malottke hat jedoch nicht daran gedacht, dass "Gott" nicht dekliniert wird (wo kämen wir denn hin, wenn Gott dekliniert werden könnte!), "jenes höhere Wesen" aber schon; und deshalb muss er jetzt nicht nur insgesamt 27mal "Gott" ins Mikrophon sprechen, sondern das "höhere Wesen" im Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ und sogar im Vokativ ("Oh Gott!). Das nun nützt Murke genüsslich aus, um den verhassten Schwätzer bei der Aufnahme dieser isolierten Gottesfetzen wahrhaft und wörtlich zu foltern, man kann es nicht anders sagen. Und während der große Alpha-Wolf Bur-Malottke im Aufnahmeraum hinter dem Gals immer mehr ins Schwitzen gerät (das wird mehrfach wiederholt, darauf legt der Text großen Wert, das werden Sie auch im Film sehen), wird der kleine Omega-Wolf Burke am Schaltpult immer "kaltblütiger" (auch das ist eine wiederholte Formulierung im Text). Am Ende hassen beide einander, hassen sich dafür, dass sie zum Objekt der Folter und zum Folterer werden! Beißender und genauer kann man die fatale Dialektik von Machtstrukturen nicht analysieren. Denn auch Murke verliert in dieser Szene seinen moralischen Kredit, den wir ihm, dem kleinen Omega-Wolf, dem klassischen underdog so gerne zuschreiben wollen, weil wir es so gewohnt sind. Eigentlich aber sollten wir alle in dieser Folter-Szene in Gewissensschweiß ausbrechen!
Aber zurück zum eigentlichen Opfer, zu Gott. Böll selbst hatte in einem anderen Zusammenhang vorgeschlagen, man möge das Wort "Gott" – nicht den Sachverhalt! – für eine Weile aus dem Verkehr ziehen und in eine Art Quarantäne nehmen. Gott ist alles und nichts geworden, er ist ebenso jenes höhere Wesen, das wir verehren, wie jedes "Um Gotteswillen" oder "Gottseidank" oder "Oh Gott" im Munde jedes stoßseufzenden geplagten Alltagsmenschen. Gott geht nicht mehr; das demonstriert Murke Bur-Malottke erbarmungslos; er ist zu Tode geredet worden, und wir sollten besser von ihm schweigen. Aber was ist mit der Kunst, dem zweiten großen Unwort, das durch die Böllsche Satire geistert? Von Kunst spricht nicht nur Bur-Malottke, und zwar genau 134mal in seinem Vortrag; Kunst sind die das Gebäude zierenden preisgekrönten "Schrörschnauzaschenbecher" (man beachte die Wortschöpfung!), die so schön und so teuer sind, dass sie niemand benutzen mag und die Kippen (die Schweigeminuten des Rauchers, sozusagen) sich um sie herum sammeln. Von Kunst sprechen auch die freien Mitarbeiter in der Kantine, und jedes Mal, wenn das Wort aus dem unspezifischen Kantinengebrabbel hervorsticht, zuckt Murke zusammen, "wie der Frosch, an dem Galvani die Elektrizität entdeckt". Jetzt, in der Kantine, wird die "intellektuelle Bestie" Murke gefoltert, genauso, wie er zuvor den dicken schönen Fisch Bur-Malottke bei der Aufnahme gefoltert hat. Als einer der freien Mitarbeiter durch den Saal brüllt: "Kunst – Kunst – das allein ist es, worauf es ankommt", duckt sich Murke wie ein Soldat unter einem drohenden Granatenhagel (so heißt es im Text). Die Kunst ist wie Gott zur leeren Wortblase in Bur-Malottkes Kunstpathos verkommen und zur mörderischen Kampfvokabel im Jargon der Kulturschaffenden instrumentalisiert. Gerade diejenigen, die die Kunst doch schützen sollten, die Dichter und Intellektuellen, arbeiten im Rundfunk jeden Tag an ihrem Niedergang. Und wenn Wanderburn, ein "großer melancholisch aussehender Dichter", in der Kantine ausruft: "Ich warne Sie vor dem Funk, vor diesem Scheißkasten – vor diesem geleckten, geschniegelten, aalglatten Scheißkasten"; wenn er vor dem Verlust der dichterischen Substanz durch das "Kleben" und "Schneiden" der Techniker warnt – dann spricht er einen der wenigen Sätze in der Satire, die nicht vom satirischen Salz durchtränkt ist; er spricht die reine Wahrheit. Leider jedoch lässt er sich von eben diesem "Scheißkasten" bezahlen, und das nicht schlecht, und zwar gerade soeben, ausgerechnet, für eine "leichte Bearbeitung des Buches Hiob" (das Buch Hiob! leicht bearbeitet! das erfordert eigentlich eine längere Schweigeminute). Und die Kunst ist schließlich ebenso verkommen in den Unterhaltungssendungen des Rundfunks, wo junge schöne Frauen singen: "Nimm meine Lippen, so wie sie sind, und sie sind schön" und anschließend den Redakteur als "schwules Kamel" titulieren. Offensichtlich hat sich das Wort "Kunst" ebenso wie das Wort "Gott" eine Auszeit verdient.
Wo jedoch könnte, jenseits der Satire, der Ort sein für die beiden Patienten, für die Kunst und für Gott, die Böll ja beide nicht in ihrer Substanz in Frage stellen will, das ganz sicher nicht, wohl aber vor ihrem Missbrauch und ihrer völligen Entwertung schützen? Ganz sicher nicht im Rundfunk. Er steht in der Satire für eine Institution, die mit ihren autoritären Hierarchien und ihren ungeschriebenen, aber gleichwohl erbarmungslosen Gehorsamsregeln genauso funktioniert wie der faschistische Machtapparat und in der alles, Gott oder Kunst, den eigenen Systeminteressen unterworfen wird. Interessanterweise bleibt allein ein Bereich von dieser umfassenden Systemkritik ausgespart, nämlich der der von Bur-Malottke höhnisch so benannten "technischen Intelligenz". Sie wird durch den namenlosen Schneidetechniker repräsentiert, der für Murke Schweigen sammelt, sein einziger Freund ist und am Ende gar zu einem "Engel" wird, weil er die Gott-Schnipsel Bur-Malottkes in einem Feature zum Atheismus unterbringen kann (bezeichnenderweise, so heißt es im Text: "in einem akustikfreien Raum" – also einem Raum ohne Resonanz, einem Raum der Stille, in dem man das eigene Blut rauschen hört). Aber warum ist Murke eigentlich der Freund des Technikers geworden? Nun, sie haben zusammen geschwiegen, beim langen Abhören der Bänder Bur-Malottke, beim Ausschneiden von "Gott" und beim Einkleben des "höheren Wesens", beim gemeinsamen Rauchen natürlich. Schweigen schafft in dieser Satire Freundschaft. (Und Technik ist, das nur nebenbei, hier nicht das große Böse und der Feind der Kunst, sondern auch nur ein Instrument, das missbraucht werden kann; immerhin jedoch schützt es in dieser Satire seine Vertreter vor falscher Pomposität und den Gefahren des endlosen Geschwätzes).
Allerdings schafft nicht jedes Schweigen Freundschaft, so einfach macht es Böll uns auch wieder nicht. Denn am Ende verlässt die Satire die korrumpierende Institution Rundfunk, um Murke im privaten Raum mit Rina zu zeigen, einem bildschönen Mädchen, deren Schweigen Murke auf Band aufnimmt. Rina jedoch beschwert sich; es sei nicht nur "unsittlich", schweigend vor einem Band zu sitzen, eigentlich sei es sogar "unmenschlich"; und Murke seufzt: "Mein Gott". Die Situation kann nur dadurch gerettet werden, dass Rina beim "Beschweigen" des Bandes eine Zigarette rauchen darf; das macht ein verdoppeltes Schweigen, wie Murke erleichtert registriert, nämlich ein freundschaftliches Schweigen beim gemeinsamen Rauchen und ein wiederholtes Schweigen auf Band ganz für ihn allein in seinem persönlichen, akustikfreien Raum.
Diese Szene haben viele Interpreten Murke bzw. seinem Schöpfer übelgenommen. Dort zeige sich eben die Unmenschlichkeit der "intellektuellen Bestie", die im Übrigen ja auch gegenüber dem Repressionscharakter der Rundfunkanstalt gnadenlos versage, da man ja sicherlich eigentlich beredten Widerstand leisten müsste, ja geradezu lauthals protestieren angesichts des quasi-faschistischen Charakters der Anstalt! Ab und zu, so fürchte ich, muss man Böll vor seinen Interpreten in Schutz nehmen, die ihn erst durch ihre moralisierenden Vereinfachungen zu einem moralisierenden Vereinfacher zurichten. Böll, immerhin, hatte persönlich zum Ausdruck gebracht, dass sich seine Satire gegen eine immer lauter schreiende und schwätzende Welt richte; demgegenüber sei es Murkes Aufgabe, dem Schweigen, und ich zitiere wörtlich, "einen Altar zu bauen". Nun heißt das sicherlich nicht, dass Murke eben doch eine billige Identifikationsfigur ist, die eine Art stummen, aber heroischen Widerstandes gegen das System leistet. Das ist nur die eine Hälfte dieser Satire, die als einfache Medien-, System- oder Gesellschaftskritik zwar funktioniert, aber darin nicht ganz aufgeht. Ihre andere Hälfte zeigt, dass es keine Gegenwelt gibt, in die sich Gott und Kunst gemeinsam oder einzeln flüchten könnten; sie hat nicht nur eine systemkritische, sondern eine existentielle Dimension, und erst das macht sie zu einer guten und bleibend aktuellen Satire. Denn auch die eher positiv gezeichneten Frauengestalten, Rina, die Kellnerin Wulla, die Welt des sozusagen "rein Menschlichen", hat keinen wirklichen Raum für Gott und die Kunst. Die Satire endet zwar damit, dass Murkes kitschiges Heiligenbildchen mit dem Aufdruck "Ich betete für Dich in Sankt Jacobi", dass er mehr intuitiv als kleinen sprachlosen Akt des Widerstandes gegen die überhandnehmende Ästhetisierung an die Tür eines Hilfsregisseurs geheftet hatte (eines Hilfs-Regisseurs! man sieht geradezu den Laienbruder oder Ministranten vor sich!) – das also dieses Heiligenbildchen (ausgerechnet) vom Techniker gefunden und verlesen wird. Und sicherlich wird ein mitfühlender Leser bei dem Gedanken, dass es Murkes Mutter war, die ihm dieses Bildchen geschickt hat, ihm, der intellektuellen Bestie, und die also auch persönlich für ihn gebetet hat, in Sankt Jakobi, beim Schutzpatron aller Pilger, die für ihn also geschwiegen und dabei an ihn gedacht hat – ein mitfühlender Leser wird an dieser Stelle ein wenig stille Rührung verspüren. Aber es ist eben ein Kitschbildchen, das sagt der Text deutlich; in ihm sind Kunst und Religion ebenso eine unglückliche Verbindung eingegangen wie in Bur-Malottkes "höherem Wesen" als Grund und Patron der Kunst.
Wo also siedeln wir Gott und die Kunst wieder an, diese armen Vertriebenen? Wahrscheinlich kann eine Satire darauf keine Antwort geben; es liegt in ihrem eher negativen Wesen, ihrem verneinenden und kritisierenden Charakter, der wenig Raum lässt für positive Entwürfe; und vielleicht muss auch Böll selbst sich diesen Raum erst schaffen, in seinem noch zu schreibenden Werk jenseits der Satire, die ja ganz am Anfang seines literarischen Schaffens steht. Er selbst hat das Genre der Satire übrigens als eine "planbare Art von Literatur" bezeichnet, und Dr. Murkes gesammeltes Schweigen ist geradezu minutiös durchgeplant, bis in die kleinsten Motive; da ist nichts zu viel, und noch die Aschenbecher sprechen und die gekochten Eier in der Kantine. Vielleicht aber ist der Raum der Kunst (von Gott mögen die Theologen oder die Gläubigen reden) auch nur – oder immerhin? – ein "Zwischenraum"? So wird es Böll später in seiner Nobelpreis-Rede von der "Vernunft der Poesie" sagen; und er wird diesen Zwischenraum zwischen den falschen Alternativen einer reinen Kunst und einer engagierten Kunst ansiedeln. Wir können ihn nicht recht benennen, diese Zwischenraum, vielleicht sollten wir es auch gar nicht versuchen. Denn er müsste, soviel kann man nach Dr. Murke sicher sagen, auch einen Raum des Schweigens einschließen; im Sinne Wittgensteins, im Sinne Heideggers und vielleicht auch im Sinne Goethes, der in seinen unendlich klugen Maximen sagt: "Von der besten Gesellschaft sagt man, ihr Gespräch ist unterrichtend, ihr Schweigen bildend".
Im Film jedoch kann man Schweigen nicht zeigen, und das ist ein Problem. Insofern wird die Verfilmung der Satire zwar einem Teil des Textes, seinem eher existentiellen, nicht gerecht. Seinen system- und gesellschaftskritischen Aspekten jedoch wird sie nicht nur gerecht, sondern reichert sie durch neue, spezifisch filmische Perspektiven an. Der Film entstand 1963/64, also knapp zehn Jahre nach der Satire selbst. Der Regisseur Rolf Hädrich, bekannt für seine Literaturverfilmungen, hatte das Drehbuch gemeinsam mit dem jungen Dieter Hildebrandt entwickelt, der zu dieser Zeit bereits die Lach- und Schießgesellschaft gegründet hatte und mit ihr auch für Hörfunk und Fernsehen tätig war. Hädrich erinnert sich:
Bölls Erzählung war bekanntlich eine der ersten Nachkriegssatiren – überhaupt eine der besten, wie ich finde - ; in die Produktion wollte ich jedoch die inzwischen veränderten Verhältnisse einfließen lassen. Ich habe ganz bewußt Dieter Hildebrandt um seine Mitarbeit geben. Er war damals längst ein bekannter Kabarettist, und von ihm erwartete ich, daß er die von mir gewünschte neue Sicht der Satire beitragen konnte. Was bei Böll die Beschreibung eines abstrakten Funkhauses ist – seine Erzählung ist ja mehr eine Satire auf den Sachverhalt an sich -, das wollte ich konkret in unserem eigenen Funkhaus, d.h. im Hessischen Rundfunk in Frankfurt, ansiedeln. Die Umsetzung sollte also, das war der Hochmut, eine Eigensatire auf unseren Sender werden. (…)
Wir waren damals sogar bei Böll in Köln, und er hat an dem Drehbuch selbst mit Hand angelegt. Das Drehbuch entstand also mehr oder minder in Zusammenarbeit von uns dreien. Die Arbeit war allerdings relativ einfach, denn die Vorlage ist ja recht kurz, so daß man da gar nicht viel weglassen konnte. Böll war übrigens einer der wenigen Schriftsteller, die von sich aus bei so etwas mitmachen.
Auch Dieter Hildebrandt hat später in einem Interview von seiner besonderen Verehrung für Heinrich Böll berichtet; er sei sehr nervös gewesen bei der Präsentation des Drehbuchs und habe Böll gefragt, warum er nicht selbst das Drehbuch geschrieben habe. Dieser habe darauf geantwortet, er könne keine Dialoge schreiben – was wir wohl unter understatement verbuchen können. Eine der besonderen zusätzlichen Qualitäten der Verfilmung ist jedoch sicherlich die kabarettistisch zugespitzte Schärfe, die Hildebrandt in einzelne Dialoge gebracht hat (viele sind aber auch wortwörtlich von Böll unternommen, so beispielsweise in der großen Duellszene zwischen Murke und Bur-Malottke beim Aufnehmen). Gedreht wurde für den Hessischen Rundfunk und im Hessischen Rundfunk vor Ort – wobei eine besondere Pointe ist, dass die Anlage ursprünglich für eine zukünftige Bundeshauptstadt Frankfurt gebaut wurde. Als dann die politische Entscheidung für Bonn fiel, wurde der Bau vom Hessischen Rundfunk übernommen, aber die besonders repräsentative Ausstrahlung beispielsweise der sog. goldenen Halle, des prächtigen Foyers, nimmt der Film natürlich dankbar auf, ebenso wie die endlos wirkenden Flure mit ihrer eher bürokratischen Anmutung.
Auf jeden Fall bereichernd ist zudem die musikalische Untermalung, die eine eigene Stimme, eine Art laufenden Kommentar bildet. Und wenn es eine satirische Musik überhaupt geben kann, dann gehört ganz sicherlich die eigenartige Melodie dazu, die die wiederholt auftretende Priesterparade begleitet: Während eine Horde schwarzgewandeter Männer durch die Flure und die Eingangshalle huscht, eifrig wie die kleinen Gänschen ihrem Führer folgend, erklingt eine mit seltsam gepresster Stimme intonierte geradezu hysterische Melodie, die die Qualität eines wirklich nervtötenden Ohrwurms hat. Diese Einlage, die die Szenenabfolge gleichsam rhythmisiert, geht auf eine Idee des Regisseurs Hädrich zurück. Er hatte bei seiner Tätigkeit für den Rundfunk wiederholt erlebt, dass den ganzen Tag Besuchergruppen durch das Gelände wimmelten. Eigentlich wollte er dafür Japaner, aber die Agentur konnte damals nicht genug Japaner zur Verfügung stellen (wir sind im vor-globalisierten Zeitalter), deshalb wurden es Priester – was natürlich im Blick auf Böll eine zusätzliche humoristische Komponente hat. Die akustische Vorstellung einer Kakophonie japanisch-fremdartig klingender Stimmen soll schließlich auch die Inspiration für die der Parade unterlegte Musik (den fatalen Ohrwurm) gewesen sein.
Dieter Hildebrandt erkannte, das bringt er in dem späteren Interview zum Ausdruck (das der DVD-Version beigefügt ist), beim Verfassen des Drehbuchs durchaus die Schwierigkeit, Schweigen in eine Handlung zu bringen. Zudem erinnerte er sich vielleicht in diesem Zusammenhang nicht ganz zufällig auch an eine spätere persönliche Begegnung mit Böll in Mutlangen: Der berühmte Demonstrant war umgeben von einem wimmelnden Reporterhaufen, doch als er Hildebrandt sah, befreite er sich daraus und kam auf ihn zu mit den Worten: "Ich kann das Gequatsche nicht mehr aushalten!" Der Reiz von Dr. Murkes Schweige-Sammlung war also offensichtlich auch in den 80er-Jahren noch durchaus nachvollziehbar für Böll. Mit dem Schweigen geht in der filmischen Umsetzung noch einiges anderes verloren – was gar nicht kritisch gemeint ist, sondern einfach auf grundlegende Unterschiede, verschiedene Stärken und Schwächen verschiedener Medien hinweist. Die wesentliche Entscheidung bei der Umsetzung der Erzählung in ein Drehbuch war, Murke zum Erzähler seiner eigenen Geschichte zu machen. Damit entfallen jedoch jegliche Möglichkeiten, ihn durch Erzählerkommentare als Figur psychologisch zu vertiefen oder kritisch zu beleuchten. Weder seine Träume noch seine Gefühle werden gezeigt. Vielmehr tritt an ihre Stelle der optische Eindruck eines spezifischen Menschen, seiner Redeweise, seiner Gestik, seines ganzen Auftretens: Murke ist Hildebrandt geworden, und niemand, der Dieter Hildebrandt als Murke gesehen hat, wird ihn sich jemals anders vorstellen können. Dieter Hildebrandt selbst, um ihn noch einmal zu zitieren, sah sich tatsächlich zu Beginn der Dreharbeiten schauspielerisch schier überfordert. Er wurde jedoch unterstützt von lebenden Legenden der deutschen Nachkriegsschauspieler: Dieter Borsche als kalkulierender, machtbewusster und gleichzeitig selbst gegenüber dem großen Bur-Malottke katzbuckelnder Intendant; und Robert Meyn als bis in den Schwung des Schals inszenierter Kulturschwätzer, die verkörperte Pompösität schlechthin. Insgesamt wird Murke im Film deutlicher als eine Art Widerstandsheld (oder besser: Anti-Held) konturiert und weniger als "intellektuelle Bestie". Zwar zeigt er in der Aufnahmeszene mit Bur-Malottke durchaus eine leise, bedrohliche und kalkulierte Bosheit. Aber im Gespräch mit dem Techniker (der den etwas zu sprechenden Namen "Schnabel" erhalten hat und bei der Vorstellung gegenüber Bur-Malottke etwas platt darauf hinweist, dass er in der NS-Zeit eben diesen Schnabel nicht halten konnte); also im Gespräch Murkes und des Technikers bei der Aufnahme spricht man immerhin darüber, ob man nicht Mitleid mit dem schönen, dicken, immer mehr schwitzenden Opfer-Fisch jenseits der Glasscheibe haben sollte. Im Originaltext der Satire jedoch hasst Murke Bur-Malottke an dieser Stelle, er hasst ihn wirklich, kein Fetzen Mitleid, und das Gefühl wird von Herzen erwidert.
Die Verfilmung spitzt dafür andere Aspekte zu. Stärker hervorgehoben werden die Anspielungen auf die NS-Zeit. So singt die hübsche Dame aus der Unterhaltungsabteilung bei der Aufnahme nicht mehr das Lied von den schönen, zu küssenden Lippen, sondern: "Zigeuner, lerne treu zu sein!" So behandelt der verlesene Hörerbrief nicht mehr die mangelnde Berücksichtigung der Hundeseele im Rundfunk wie im Text der Satire, sondern die Frage, ob die neue Bundesrepublik ein Reich zu nennen sei. Auch alle Anspielungen auf den Rundfunk als Medium selbst, die von Hädrich so genannte Eigensatire, werden verstärkt: So verfeaturen die freien Mitarbeitern nicht mehr die Tundra oder die Taiga, sondern sich gegenseitig im Kreis herum (Walser verfeaturet Enzensberger, Enzensberger verfeaturet Walser); so werden die einzelnen Schweige-Fetzen zeitgenössischen Autoren zugeordnet (Karl Jaspers schweigt langatmig).
Auch das Heiligenbildchen sowie die Schlussszene mit Rina und dem Beschweigen des Bandes entfallen vollständig. Am Ende steht im Film vielmehr eine kabarettistische Zuspitzung (ich muss jetzt spoilern, aber ich denke, auf die Spannung kommt es in diesem Film nicht an; wenn doch, dann hören Sie einfach weg!): Murke soll, Anordnung von ganz oben, erneut, mehrfach und gewissenhaft den Vortrag von Bur-Malottke über das Wesen der Kunst und das höhere Wesen, das wir verehren, abhören, um ihn dann um eine Minute zu kürzen. Angesichts dieser wirklichen bedrohlichen Aussicht flieht er auf den Balkon – ein im Funkhaus bisher ungesehener Regelverstoß, man geht doch nicht auf den Balkon, man könnte ja schließlich so aussehen, als würde man nicht arbeiten! Einen Moment schwebt die Möglichkeit im Raum, Murke könnte sich endgültig nicht nur von der Rundfunkanstalt verabschieden, sondern von einem Leben, in dem die Bur-Malottkes dieser Welt niemals mit dem Reden aufhören, keine Flucht, nirgends, überall kommen der Rundfunk hin und das Geschwätz! Aber in der allerletzten Einstellung sehen wir Murke davonradeln, so wie er gekommen war: Auf seinem Fahrrad fährt er vorbei an endlosen Reihen parkender deutscher Nachkriegsautos, auf dem Weg nach Hause; er fährt, wie das Straßenschild zeigt, aus einer Sackgasse heraus. Dass er wenig später für eine Fortsetzung wiederkommen sollte, die von Böll persönlich für die Verfilmung verfassten Dr. Murkes Nachrufe, konnte man da noch nicht ahnen; der etwas länglich geratene Nachklapp fand deutlich weniger Resonanz bei Publikum und Kritik (hat aber durchaus auch seine Qualitäten).
Doch nun ist es endlich Zeit – zu schweigen. Begeben wir uns also in das Kino, wie Murke in der Erzählung mit seiner Freundin Rina, nachdem das Band genug beschwiegen ist; ins Kino, wo nicht nur die Zuschauer schweigen, sondern endlich auch die Rednerin. Nein, noch ein allerletztes Wort: Ich warne Sie, in diesem Film werden Sie unerhörte Dinge sehen: Es wird geraucht, öffentlich und wiederholt! Und Frauen treten nur als Kellnerin und Sekretärinnen auf (insofern hat der Film auch einen gewissen historischen Wert). Ich wünsche uns trotzdem, mit Goethe, ein bildendes Schweigen und im Anschluss daran unterrichtende Gespräche!
Christian Fürchtegott Gellert hatte ein eigenartiges Autorenschicksal: In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts war er der populärste Autor Deutschlands schlechthin, ein Volksschriftsteller; alle, die überhaupt lesen konnten, lasen ihn, und als er starb, trauerten nicht nur Leipzig und das literarische und gelehrte Deutschland, sondern Leser (und vor allem: Leserinnen!) allenthalben. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts jedoch wurde er zum Spott und Gelächter der neuen Autorengeneration; er galt als hoffnungslos verzopft, moralinsauer, weinerlich, und das hat sein weiteres Schicksal bis heute bestimmt. Wenn ich heute, etwas provozierend, von Gellert als Vorreiter der Kolonialsmuskritik spreche, dann will ich nicht nur seine Autorenehre retten; ich will auch zeigen, dass er durchaus modern und aktuell gelesen werden kann, mit ein wenig Großzügigkeit und gutem Willen und Gespür für historische Distanz auf Seiten der Leser jedenfalls (was überhaupt ein empfehlenswerteres Leseverhalten ist als die einseitige Konzentration auf „kritische Lektüre“, die uns allen in Fleisch und Blut übergegangen zu sein scheint). Dazu werde ich zunächst ein paar Worte zur „Kolonialismuskritik“ im Allgemeinen sagen, bevor ich Gellerts Fabel Inkle und Yariko vorstelle und kommentiere.
Kolonialismuskritik: Von der Macht kultureller Stereotype
Kolonialismuskritik gibt es wahrscheinlich, seitdem es Kolonien gibt (also im Wesentlichen seit der Antike); ihre aktuellste und breiteste Theorie-Variante ist jedoch im Rahmen des Postkolonialismus im 20. Jahrhundert entwickelt worden. Grundlegend für den Postkolonialismus ist die Annahme, dass es einen notwendigen Kulturkonflikt zwischen Kolonisatoren und kolonisierten Ethnien gibt, der gewaltsam ausgetragen wird: Die Kolonisatoren definieren ihre eigene Kultur samt ihren jeweiligen Identitätsvorstellungen als überlegen und zwingen diese der jeweils indigenen Kultur auf. Dabei werden mit Vorliebe zugespitzte dualistische Konstrukte benutzt, die einander wertend entgegen gesetzt werden: Okzident vs. Orient beispielsweise; oder, für unser Beispiel einschlägig, zivilisiert vs. primitiv oder wild, Europa vs. Barbarei. Die andere Kultur wird damit abgewertet, die eigene auf Kosten der anderen aufgewertet und dadurch stabilisiert; dieses Phänomen wird, im Blick auf Europa, auch als „Eurozentrismus“ bezeichnet.
„Inkle und Yariko“: Quellen und Überlieferung
Gellert hat im ersten Band seiner Fabeln und Erzählungen (1746) die Geschichte von Inkle und Yariko erzählt. Sie spielt im Umkreis von Barbados, einer Insel der Kleinen Antillen, die bis heute zum Commonwealth of Nations gehört. Barbados hat eine lange Kolonialgeschichte: Die Insel wurde 1536 von dem Portugiesen Pedro Campos entdeckt, der sie nach den herabhängenden Luftwurzeln der Feigenbäume Barbados, „die Bärtigen“, nannte. Die ursprünglichen Einwohner, die Arawak und Kariben, wurden von den Portugiesen versklavt und für Plantagenarbeiten eingesetzt. 1626 übernahmen die Engländer die Insel, die bis 1962 in britischem Besitz bleiben sollte. Sie siedelten dort irische Sklaven an, die vor allem bei der Produktion von Rohrzucker eingesetzt wurden, und Barbados wurde im 17. Jahrhundert zu einem der größten Zuckerproduzenten der Welt. Immerhin erhielten die Einwohner jedoch schon 1639 ein eigenes Parlament und 1652 eine Verfassungsurkunde, was zur Ehrenrettung der Engländer vielleicht gesagt werden sollte.
1657 bereits hatte ein englischer Kaufmann, der auf Barbados in den Zuckerplantagen sein Glück machten wollte, einen der damals sehr populären Reiseberichte aus exotischen Ländern veröffentlicht: A true and exact history of the island of Barbadoes. Die dort in ihren Grundzügen enthaltene Geschichte des englischen Kaufmanns Inkle und der einheimischen „Wilden“ Yariko nahm der englische Schriftsteller Richard Steele in seine auch in Deutschland berühmte moralische Wochenschrift Spectator auf. Sie wird dort erzählt von einer Frau, die beweisen will, dass das Stereotyp der „untreuen Frau“ eine Erfindung misogyner männlicher Autoren ist. Wiederum eine Frau, nämlich Luise Adelgunde Gottsched, übersetzte die Geschichte zuerst ins Deutsche, bevor sie Gellert unter Nennung der Quelle im Spectator in seine Fabeln aufnahm. Noch viele weitere Autoren des 18. Jahrhunderts gestalteten den Stoff, es gab beispielsweise auch eine Version als komische Oper, die 1787 in London uraufgeführt wurde und deren aktualisierte Fassung in diesem Jahr in London auf der Bühne stand.
„Inkle und Yariko“ zehrte dabei schon im 18. Jahrhundert von dem bis heute beliebten Stereotyp der „edlen Wilden“ (wie sie beispielsweise auch Pocahontas verkörpert). Der „edle Wilde“ (er kann durchaus auch männlich sein) ist das Gegenbild zum korrumpierten Zivilisationsmenschen: Er lebt im Einklang mit der Natur; er ist autonom und moralisch absolut integer, kennt also weder Lüge noch Heuchelei und Verstellung; er ist gesund und, tatsächlich, sexuell freizügiger als sein zivilisiertes Gegenbild. Der „edle Wilde“ ist also zweifellos ein kulturelles Stereotyp und erfunden von europäischen alten weißen Männern; er kehrt aber immerhin die gängigen Bewertungen um, indem dem zivilisierten Europäer ein intaktes fiktives Urbild seiner selbst entgegengehalten wird.
Inkle und Yariko in Gellerts Fabeln und Erzählungen
Gellert nun macht die Geschichte zur Grundlage einer seiner Fabeln – gibt ihr also eine Form, die ganz klar didaktisch bestimmt ist und dem Leser/Hörer eine Lehre erteilen soll. Er fasst sie dazu in Alexandriner, also einen gleichmäßigen sechshebigen Jambus mit paarigen Endreimen – eine relativ strenge Form, die gleichzeitig indiziert, dass es sich um ein durchaus ernsthaftes Thema handelt. Die genau einhundert Verszeilen sind gegliedert in insgesamt zehn Strophen, die ich nun kommentierend vorstellen will:
Der englische Kaufmann: Kritik der ökonomischen Vernunft
Die erste Strophe präsentiert uns die Hauptperson Inkle, einen englischen Kaufmann, der sich auf den Weg nach Barbados macht, um dort reich zu werden. Er wird als Inbegriff des rechnenden, kalkulierenden, rationalen Kaufmanns präsentiert:
Die Liebe zum Gewinnst, die uns zuerst gelehrt,
Wie man auf leichtem Holz durch wilde Fluten fährt;
Die uns beherzt gemacht, das liebste Gut, das Leben,
Der ungewissen See auf Brettern preiszugeben;
Die Liebe zum Gewinnst, der deutliche Begriff
Von Vorteil und Verlust, trieb Inklen auf ein Schiff.
Er opferte der See die Kräfte seiner Jugend;
Denn Handeln war sein Witz und
Rechnen seine Tugend.
Profit und Bekehrung: Wer das Schwert erhebt
Schon die zweite Strophe führt das Kolonialismus-Thema ein, und durchaus in kritischer Perspektive: Die Kolonisatoren haben ein von Natur aus „reiches Land“ durch „das Schwert bekehrt“; und sie haben ihm gleichzeitig auch das eigene Profitdenken gebracht. Das „Schwert“ taucht in dieser Strophe immerhin dreimal auf; für den kundigen Bibelleser stellt sich dabei vielleicht eine Assoziation an eine bekannte Bibelstelle ein: „denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen“ (Matthäus 26)
Ihn lockt das reiche Land, das wir durchs Schwert bekehrt,
Das wir das Christentum und unsern Geiz gelehrt.
Er sieht Amerika; doch nah' an diesem Lande
Zerreißt der Sturm sein Schiff. Zwar glückt es ihm am Strande
Dem Tode zu entgehn; allein der Wilden Schar
Fiel auf die Briten los; und wer entkommen war,
Den fraß ihr hungrig Schwert. Nur Inkle soll noch leben;
Die Flucht in einen Wald muß ihm Beschirmung geben.
Vom Laufen atemlos, wirft, mit verwirrtem Sinn,
Der Brite sich zuletzt bei einem Baume hin,
Umringt mit naher Furcht und ungewissem Grämen,
Ob Hunger oder Schwert ihm wird das Leben nehmen.
Liebe auf den ersten Blick: Die Locken des Europäers
Inkle hat also Schiffbruch erlitten, all seine Gefährten sind ums Leben gekommen; er selbst kann sich retten bzw. wird gerettet durch ein „wildes Mädchen“, das als Kontrast zu ihm als „Europäer“ eingeführt wird. Und sie zeigt sich gleich als würdige „edle Wilde“ und nicht als „strenge Deutsche“: Sie findet nämlich Gefallen (genauer: „Lust“) an dem jugendlichen Engländer, dessen weiße Haut und Kleider ihr ebenso fremd sind wie seine lockigen Haare.
Ein plötzliches Geräusch erschreckt sein schüchtern Ohr.
Ein wildes Mädchen springt aus dem Gebüsch hervor
Und sieht mit schnellem Blick den Europäer liegen.
Sie stutzt. Was wird sie tun? Bestürzt zurücke fliegen?
O nein! so streng und deutsch sind wilde Schönen nicht.
Sie sieht den Fremdling an; sein rund und weiß Gesicht,
Sein Kleid, sein lockicht Haar, die Anmut seiner Blicke
Gefällt der Schönen wohl, hält sie mit Lust zurücke.
Augen, Mienen, Lächeln: Die Sprache der Natur
Yariko wird nun weiter präsentiert nach dem Muster der „edlen Wilden“: Sie hat eine „wilde Anmut“; sie ist unfähig zur Verstellung und äußert ihre Gefühle unvermittelt und direkt durch nicht-sprachliche Ausdrucksmittel: Blicke, Gesichtsausdrücke, Lächeln. Zwischen beiden entwickelt sich eine erste Form von Verständigung; Yariko ist dabei die eindeutig Führende: Sie winkt, er folgt.
Auch Inklen nimmt dies Kind bei wilder Anmut ein.
Unwissend in der Kunst, durch Zwang verstellt zu sein,
Verrät sie durch den Blick die Regung ihrer Triebe:
Ihr Auge sprach von Gunst und bat um Gegenliebe.
Die Indianerin war liebenswert gebaut.
Durch Mienen red't dies Paar, durch Mienen wird's vertraut.
Sie winkt ihm mit der Hand, er folget ihrem Schritte;
Mit Früchten speist sie ihn in einer kleinen Hütte
Und zeigt ihm einen Quell, vom Durst sich zu befrein.
Durch Lächeln rät sie ihm, getrost und froh zu sein.
Sie sah ihn zehnmal an und spielt an seinen Haaren
Und schien verwundernsvoll, daß sie so lockicht waren.
Die edle Wilde: Wahres Christentum und wahre Hausfrau
Das Paar richtet sich wohnlich ein, und Yariko erweist sich dabei – hier scheint das europäische Muster sehr deutlich durch – als wahre Hausfrau, die das Haus dekoriert und für gefällige und leichte Abendunterhaltung sorgt. Gleichzeitig werden jedoch ihre moralischen Qualifikationen auffällig in den Vordergrund gerückt: Yariko ist zwar wild, aber zärtlich, treu, erbarmungsvoll, edel – sie verkörpert ein christlich-weibliches Tugendmodell, das für Europa bereits verloren scheint:
So oft der Morgen kömmt, so macht Yariko
Durch neuen Unterhalt den lieben Fremdling froh
Und zeigt durch Zärtlichkeit, mit jedem neuen Tage,
Was für ein treues Herz in einer Wilden schlage!
Sie bringt ihm manch Geschenk und schmückt sein kleines Haus
Mit mancher bunten Haut, mit bunten Federn aus;
Und eine neue Tracht von schönen Muschelschalen
Muß, wenn sie ihn besucht, um ihre Schultern prahlen.
Zur Nachtzeit führt sie ihn zu einem Wasserfall;
Und unter dem Geräusch und Philomelens Schall
Schläft unser Fremdling ein. Aus zärtlichem Erbarmen
Bewacht sie jede Nacht den Freund in ihren Armen.
Wird in Europa wohl ein Herz so edel sein?
Die Entstehung falscher Bedürfnisse: Natürliche und künstliche Schönheit
Leider bleibt es jedoch nicht in diesem idyllischen Naturzustand, sondern es tritt, wie zu erwarten, eine Korruption ein. Zwar gelingt dem Paar zunächst noch die Verständigung, und sie entwickeln sogar eine eigene Sprache (was der Postkolonialist als Entwicklung eines eigenständigen „dritten Raums“ jenseits der verabsolutierten Polaritäten würdigen könnte). Aber Inkle ruiniert die Idylle, indem er Inkle mit den künstlichen Schönheiten des europäischen Luxuslebens den Mund wässrig macht und ihre natürlichen Schönheiten (die in der vorigen Strophe erwähnten Naturprodukte) dadurch entwertet:
Die Liebe flößt dem Paar bald eine Mundart ein.
Sie unterreden sich durch selbst erfundne Töne:
Kurz, er versteht sein Kind, und ihn versteht die Schöne
Oft sagt ihr Inkle vor, was seine Vaterstadt
Für süße Lebensart, für Kostbarkeiten hat.
Er wünscht, sie neben sich in London einst zu sehen;
Sie hört's und zürnet schon, daß es noch nicht geschehen.
»Dort«, spricht er, »kleid' ich dich«, und zeiget auf sein Kleid,
»In lauter bunten Zeug, von größrer Kostbarkeit;
In Häusern, halb von Glas, bespannt mit raschen Pferden,
Sollst du in dieser Stadt bequem getragen werden.«
Kindliche Treue
Yariko macht sich nun Inkles Heimweh so zu eigen, dass sie selbst bereit ist, ihr Vaterland um des Liebsten willen zu verlassen; sie geht mit dem „Fremdling“, sie hält ihm ihre kindliche Treue, und nicht ihrer eigenen kulturellen Identität und Herkunft; und sie geht dabei ein hohes Risiko ein:
Vor Freuden weint dies Kind und sieht, indem sie weint,
Schon nach der offnen See, ob noch kein Schiff erscheint.
Es glückt ihr, was sie wünscht, in kurzem zu entdecken;
Sie sieht ein Schiff am Strand, und läuft mit frohem Schrecken,
Sucht ihren Fremdling auf, vergißt ihr Vaterland
Aus Treue gegen ihn und eilt an seiner Hand
So freudig in die See, als ob das Schiff im Meere,
In das sie steigen will, ein Haus in London wäre.
Männliches Kalkül
Inkle hingegen fällt mit der Rückkehr in die „Zivilisation“ wieder in seine eigentliche Natur zurück, den „Geiz“ und den „Hunger nach Gewinn“: Aber das einzige Kapital, über das er nun verfügt, ist – die treue Yariko:
Das Schiff setzt seinen Lauf mit gutem Winde fort
Und fliegt nach Barbados; doch dieses war der Ort,
Wo Inkle ganz bestürzt sein Schicksal überdachte,
Als schnell in seiner Brust der Kaufmannsgeist erwachte.
Er kam mit leerer Hand aus Indien zurück;
Dies war für seinen Geiz ein trauriges Geschick.
»So hab' ich«, fing er an, »um arm zurück zu kommen,
Die fürchterliche See mit Müh' und Angst durchschwommen?«
Er stillt in kurzer Zeit den Hunger nach Gewinn
Und führt Yariko zum Sklavenhändler hin.
Hier wird die Dankbarkeit in Tyrannei verwandelt
Und die, die ihn erhielt, zur Sklaverei verhandelt.
Vom Wert des Lebens
Yariko wird also verkauft, aber nicht nur das. Die Geschichte geht vielmehr mit rasantem Schritt auf ihren Höhepunkt zu:
Sie fällt ihm um den Hals, sie fällt vor ihm aufs Knie,
Sie fleht, sie weint, sie schreit. Nichts! Er verkaufet sie.
»Mich, die ich schwanger bin, mich!« fährt sie fort zu klagen.
Bewegt ihn dies? Ach ja! Sie höher anzuschlagen.
Noch drei Pfund Sterling mehr! »Hier«, spricht der Brite froh,
»Hier, Kaufmann, ist das Weib, sie heißt Yariko!«
Europäische Barbarei: eine Lehre für jeden Weltteil
Diese wahrlich zynische und zutiefst menschenfeindliche Wendung wird für den Leser in der Schlussstrophe zusammengefasst; und dabei kehren sich die kulturellen Stereotype nun sehr deutlich und gründlich um: Inkle ist hier der Barbar, daran besteht kein Zweifel; seiner Bosheit, seinem skrupellosen Gewinnstreben, wird Inkles erwiesenermaßen „bestes Herz“ entgegengesetzt; ihr umfassender „Reiz“ wird im Reim durch seinen „Geiz“ kontrastiert. Diese Lehre jedoch, so Gellert am Ende, ist eine Lehre nicht nur für die Europäer; es ist, und das ist die wahre kritische Wendung, eine „Lehre für jeden Welttteil“, zu jeder Zeit, an jedem Ort. Der Kolonialist ist es, der durch sein eigenes kolonialistisches Handeln – die Ausbeutung, die Sklaverei und eine gewaltsame Mission – sich selbst korrumpiert hat; sein Schwert hat sich gegen ihn selbst gerichtet, wie in der Bibel prophezeit:
O Inkle, du Barbar, dem keiner gleich gewesen;
O möchte deinen Schimpf ein jeder Weltteil lesen!
Die größte Redlichkeit, die allergrößte Treu'
Belohnst du, Bösewicht! noch gar mit Sklaverei?
Ein Mädchen, das für dich ihr eigen Leben wagte,
Das dich dem Tod entriß und ihrem Volk entsagte,
Mit dir das Meer durchstrich und bei der Glieder Reiz
Das beste Herz besaß, verhandelst du aus Geiz?
Sei stolz! Kein Bösewicht bringt dich um deinen Namen;
Nie wird es möglich sein, dein Laster nachzuahmen.
Gellert gelingt damit am Ende immerhin eine bemerkenswerte Umkehrung kultureller Stereotypen, indem der zivilisierte Europäer zum exemplarischen Barbaren wird – auch wenn die Stereotype sonst weitgehen intakt bleiben. Aber es ist durchaus auch erwähnenswert, dass der sonst bemerkenswert prüde Gellert Yariko wegen ihrer gelebten Sexualität nicht verurteilt, und dass beide für einen kurzen Moment einen neuen eigenen Verständigungsraum jenseits der gängigen Dualismen entwickeln.
Was Gellert zu dieser besonderen Wahrnehmung befähigt, ist wohl – und damit komme ich zum Schluss und zum Anfang zurück – die von ihm vorgelebte Variante einer nicht nur literarischen, sondern lebensweltlichen Empfindsamkeit; einer Empfindsamkeit nämlich, die wesentlich auf der Fähigkeit zur Empathie beruht, die den Anderen, jenseits der Differenzen von Kultur und Sprache und Wissen, als eigene Person wahrnimmt und tatsächlich mit ihm fühlt und nicht für ihn denkt. Dass das Wesentliche dabei sowieso nicht gesagt werden kann, ist das lebensweltliche Erfahrungs-Äquivalent zum literarischen Unsagbarkeitstopos. Und dass Geld nicht nur den Charakter verdirbt, sondern ganz konkret die Empfindungen verkümmern kann, indem ein reines Gewinndenken sich auch der allerpersönlichsten Beziehungen bemächtigt, mag zwar banal klingen – die anhaltende Beliebtheit und zeitunabhängige Aktualität von Inkle und Yariko illustriert jedoch die harten Konsequenzen einer solchen ökonomischen Zweckrationalität weit besser und anschaulicher als eine vage Kapitalismuskritik.