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Literaturwissenschaftliches


Programmatisches

  • Literatur. Eine Innenansicht. 99 Thesen zum Anschlag an die Seminarpforte 

 

Volltexte

  • „Ich habe ehemäßig geschrieben“ – die Darstellung des Ehelebens in der Ratgeber- und in der Erzählliteratur
  • »Aber ich hab’ sie verstanden«. Gesellige und ungesellige Sprachspiele in Büchners Leonce und Lena


 

Veröffentlichungen

Close Readings

Der Weltreisende als Heros der praktischen Urteilskraft: Georg Forsters Cook der Entdecker. In: Georg-Forster-Studien XX (2015), S. 17–32.

Jacobi und die Satire, oder: Swifts Betrachtung über einen Besenstiel und der Strickstrumpf der idealistischen Ich-Philosophie. Erscheint in: Friedrich Heinrich Jacobi. Hg. von Cornelia Ortlieb und Friedrich Vollhardt. Berlin 2021.

Abseits des »kleinen Rennwagens« der Welt. Prinz August von Sachsen-Coburg-Altenburg als Schriftsteller. In: Die Welt der Ernestiner. Ein Lesebuch. Hg. von Siegrid Westphal, Georg Schmidt und Hans-Werner Hahn. Wien/Köln/Weimar 2016, 108-116.

»In die Seele wie in einen Spiegel schauen«. Die Rousseau-Übersetzung von Prinz August von Gotha im Journal von Tiefurt. In: Rousseaus Welten. Hg. von Simon Bunke, Katerina Mihaylova, Antonio Roselli. Würzburg 2014, S. 59-82.

»Aber ich hab’ sie verstanden«. Geselliges und ungeselliges Sprechen in Büchners Leonce und Lena. In: Ungesellige Geselligkeit. Festschrift zum 60. Geburtstag von Klaus Manger. Hg. v. A. Heinz, J. Heinz, N. Immer. Heidelberg 2005, S. 247-258. 

Verspätete Schwärmerkuren? Eduard Mörikes Die geheilte Phantastin. In: Der Erzähler Eduard Mörike. Hg. von Barbara Potthast. Heidelberg 2020.

Günter Grass: Ein weites Feld. »Bilderbögen« und oral history. In: Gegenwartsliteratur 1 (2002), 21-38.

Vom Sieg des Zauberlehrlings in Kalkutta. Günter Grass, Zunge zeigen. In: Freipass. Eine Schriftenreihe der Günter und Ute Grass Stiftung, Bd. 1 (2015), S. 198-210

"Der Traum vom umfassenden, alldurchlässigen Buch" – Existentielles Lesen und Schreiben in Peter Handkes Versuchen. Thorsten Carstensen (Hg.): Die tägliche Schrift. Peter Handke als Leser. Bielefeld 2019, S. 69­86.

Ästhetik und Poetologie

Architektur des Erhabenen. Eine Besichtigung von Immanuel Pyras Tempel der wahren Dichtkunst. In: Theodor Verweyen (Hg.), Dichtungstheorien der Frühaufklärung. Tübingen 1995 (= Hallesche Beiträge zur Aufklärungsforschung 1), S. 73-85.

»Ein Park, der blosse einfache Natur ist« – zu einigen Parallelen von Gartenkunst und Romantheo­rie im 18. Jahrhundert. In: Günter Oesterle/Harald Tausch (Hg.): Der imaginierte Garten. Göttingen 2001, S. 253-270.

»Geographie der dichtenden Seele« – die Entwicklung einer naturalistischen Ästhetik in Herders Volkslied-Projekt. In: Der ganze Mensch – die ganze Menschheit: Völkerkundliche Anthropologie, Literatur und Ästhetik um 1800. Hg. von Stefan Hermes und Sebastian Kaufmann. Berlin/Boston 2014, S. 125-144.

»Neither more allegories nor mere history« - Multi-layered Symbolism in Karl Philipp Moritz’ Andreas Hartknopf. In: Helmut Hühn/James Vigus (Hg.): Symbol and Intuition: Comparative Studies in Kantian and Romantic-Period Aesthetics. Oxford 2013, S. 60-80.

»Unendlicher Bildungstrieb« – Zu Blumenbachs »Bildungstrieb« und seiner Rezeption in Philosophie und Literatur. In: Naturforschung und menschliche Geschichte. Hg. von Thomas Bach u. Mario Marino. Heidelberg 2011, S. 175-204.

Ein Ganzes schaffen - Denkmodelle von künstlerischer Schöpfung am Paradigma des Organismus um 1800. In: Prospero. Rivista di Letterature Straniere, Comparatistica e Studi Culturali", XIX (2014), pp. 83-102.

»Der Dichter ist der einzig wahre Mensch« - Metamorphosen des Schöpferischen. In: Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800. Hg. von Olaf Breidbach, Klaus Manger und Georg Schmidt. Paderborn 2015, S. 159-186.

»Es hatte nun die Zeit ihr Recht verloren« – Zeit und Poesie in Novalis’ Astralis-Gedicht. In: Zeit der Darstellung. Ästhetische Eigenzeiten in Kunst, Literatur und Wissenschaften. Hg. v. Helmut Hühn und Michael Gamper. Hannover 2014, S. 191-208.

Grenzüberschreitung im Gleichnis. Liebe, Wahnsinn und »andere Zustände« in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften. In: Dorothea Lauterbach/Uwe Spörl/Uli Wunderlich (Hg.): Grenzsituationen. Wahrnehmung, Bedeutung und Gestaltung in der neueren Literatur. Göttingen 2002, S. 235-256. 

 


Literatur. Eine Innenansicht 

(oder: 99 Thesen zum Anschlag an die Seminarpforte) 

 

  1. Alle guten literarischen Texte sind mehr oder weniger autobiographisch (das erklärt sie aber nicht vollständig).
  2. Jeder Text hat mindestens einen Autor.
  3. Jeder Text hat mindestens einen Sinn.
  4. Jeder Text hat einen Zweck in sich selbst.
  5. Kein Text ist neu.
  6. Kein Text ist für alle Leser geeignet.
  7. Die Form ist nicht wichtiger als der Inhalt.
  8. Der Inhalt ist nicht wichtiger als die Form.
  9. Bei einem guten literarischen Text bedingen Form und Inhalt einander gegenseitig.
  10. Genie wird überschätzt.
  11. Handwerk wird überschätzt.
  12. Es gibt keine reine Fiktion.
  13. Es gibt keinen reinen Naturalismus.
  14. Jeder Autor will verstanden werden.
    (aber nicht um jeden Preis)
  15. Autoren wollen geliebt werden.
  16. Jeder Autor hat einen beschränkten Satz an Ideen, die er häufig wiederholt.
  17. Es gibt nur eine begrenzte Anzahl Ideen im Ideenvorrat der Menschheit.
  18. Um einen Text zu verstehen, muss man ihn zweimal lesen.
  19. Um einen Text zu verstehen, muss man ihn dreimal lesen.
  20. Um einen Text zu verstehen, muss man ihn in verschiedenen Altersstufen, Lebenslagen, Geisteszuständen lesen.
  21. Um einen Text möglichst vollständig im Sinne des Autors zu verstehen, hilft es, wenn man eine möglichst vollständig korrespondierende Lebenserfahrung hat.
  22. Literaturwissenschaft ist notwendig, geht aber leider oft schief.
  23. Das Studium der Literaturwissenschaft sollte nicht die Freude am Text zerstören (kann aber vorkommen).
  24. Literaturtheorie erklärt nicht Texte, sondern Texte erklären Literaturtheorie.
  25. Alle Literaturwissenschaftler wären lieber Autoren.
  26. Kein Autor wäre lieber Literaturwissenschaftler.
  27. Jeder Literaturwissenschaftler sollte wenigstens einmal im Leben versucht haben, einen literarischen Text selbst zu verfassen.
  28. Literaturkritik ist das Problem, für dessen Lösung sie sich hält.
  29. Alle Literaturkritiker wären lieber Autoren
  30. Kein Autor wäre lieber Literaturkritiker.
  31. Jeder Literaturkritiker sollte zumindest einmal im Leben versucht haben, einen literarischen Text selbst zu verfassen.
  32. Schwerverständlichkeit ist keine Tugend.
  33. Leichtverständlichkeit ist keine Tugend.
  34. Verständlichkeit ist eine Tugend.
  35. Es gibt gute und schlechte Interpretationen.
  36. Schlechte Interpretationen sagen mehr über den Autor der Interpretation als über den interpretierten Text aus.
  37. Schlechte Interpretationen entfernen sich von dem Text, statt sich ihm zu nähern.
  38. Gute Interpretationen sind begründbar.
  39. Gute Interpretationen erschließen neue Sinnebenen des Textes.
  40. Gute Interpretationen argumentieren nicht gegen den Autor.
  41. Die willkürliche Zerstörung von Textsinn ist keine Interpretationsleistung.
  42. Geschichtenerzählen ist ein biologischer Vorgang
    (man kann nicht nicht erzählen).
    Identifikation beim Lesen ist ein biologischer Vorgang
    (man kann nicht nicht Partei ergreifen).
  43. Geschichten schreiben sich selbst, man muss sie nur lassen.
  44. Gattungen sind Anschauungsformen, keine Schreibregeln.
  45. Unterhaltungsliteratur ist ein Segen für die Menschheit.
  46. Trivialliteratur ist ein Kampfbegriff der Hochliteratur.
  47. Satire darf nicht alles (nichts und niemand darf alles).
  48. Es ist nicht automatisch ein Vorzug von Gedichten, dunkel zu sein.
  49. Es ist nicht automatisch ein Vorzug von literarischen Texten, experimentell zu sein.
  50. Es ist nicht automatisch ein Vorzug von literarischen Texten, gegen gewohnte Wahrnehmungsmuster/gesellschaftliche Konventionen zu verstoßen.
  51. Literaturpreise bekommen immer die Falschen.
  52. Man kann Texte nicht bewerten.
  53. Man kann Texte nicht vergleichen.
  54. Der Maßstab für jede Literaturkritik liegt im besprochenen Text selbst.
  55. Superlative in Literaturkritiken sollten verboten werden.
  56. Frauen schreiben anders als Männer
    (mehr oder weniger).
    Ältere Autoren schreiben anders als jüngere Autoren
    (mehr oder weniger).
  57. Autoren aus verschiedenen kulturellen Kontexten schreiben anders (mehr oder weniger).
  58. Autoren aus verschiedenen historischen Epochen schreiben anders (mehr oder weniger).
  59. Es gibt keine strenge Grenze zwischen literarischen und nicht-literarischen Texten.
  60. Literatur kann Erkenntnis vermitteln.
  61. Literatur kann auf eine singuläre Art und Weise Erkenntnis vermitteln.
  62. Literatur kann aufklären.
  63. Literatur kann manipulieren.
  64. Literatur kann nützlich sein.
  65. Literatur kann gefährlich sein.
  66. Literatur kann eine grundlegend falsche Vorstellung von der Wirklichkeit vermitteln.
  67. Literatur kann falsche Erwartungen ans Leben suggerieren.
  68. Literatur kann bei falschem Gebrauch süchtig machen.
  69. Literatur besteht aus reflektiert verwendeter und ästhetisch geformter Sprache.
  70. Man kann sich über Sätze freuen.
  71. Man sollte sich über jedes neue Wort freuen, dass man beim Lesen lernt.
  72. Schreiben kann therapeutisch sein.
  73. Schreiben kann Wunscherfüllung sein.
  74. Schreiben ist kein Ersatz für Leben.
  75. Schreiben ist anstrengend.
  76. Schreiben ist lernbar (aber nicht jeder kann Goethe werden).
  77. Um es zur Meisterschaft zu bringen, muss man üben, üben, üben.
  78. Um es zur Meisterschaft zu bringen, muss man korrigieren, korrigieren, korrigieren.
  79. Inspiration wird überschätzt.
  80. Gute Ideen werden unterschätzt.
  81. Die Einnahme von Rauschmitteln (in Maßen) kann zu guten Ideen führen.
  82. Sie hilft aber nicht beim Schreiben.
  83. Und schon gar nicht beim Korrigieren.
  84. Gute Ideen haben eine Inkubationszeit im Leben
    (den Ausbruch nennt man Inspiration).
  85. Phantasie ist keine Ausrede für Disziplinlosigkeit.
  86. Lesen macht klüger.
  87. Lesen macht schöner (weil es entspannt).
  88. Lesen ist ein schöpferischer Vorgang.
  89. Lesen schult die Konzentrationsfähigkeit.
  90. Lesen schult im Umgang mit Komplexität.
  91. Lesen schult die Ausdrucksfähigkeit.
  92. Lesen ist durch nichts anderes zu ersetzen.
  93. Verstehen macht glücklich (kritisieren macht selbstgerecht).
  94. Humor macht jeden Text besser
    (sogar Kafka hat über seine Geschichten gelacht).
  95. Lesen ist kein Ersatz für Leben.
  96. Es gibt Wichtigeres als Literatur.
  97. Das Ende ist meistens unbefriedigend.


heinz_ehe.pdf (201.5KB)
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„Ich habe ehemäßig geschrieben“ –

 

die Darstellung des Ehelebens
in der Ratgeber- und in der Erzählliteratur
des späten 18. Jahrhunderts
 

 

Die Ehe steht in der Literatur in keinem guten Ruf. Üblicherweise wird nur ihre Vorgeschichte erzählt; die Heirat gilt dabei zwar als punktuelles happy end, doch allein in Märchen heißt es über die darauf folgende Zeitspanne: „Sie lebten glücklich bis an ihre seliges Ende“. Selbst diejenigen Eheromane der Moderne, die protoypisch im Bildungsbewußtsein verankert sind –Goethes Wahlverwandtschaften, Flauberts Madame Bovary oder Fontanes Effi Briest – demonstrieren nur das mehr oder weniger desaströse Scheitern von Ehen. Sucht man nach einem positiven Vorbild, einer Darstellung gelungenen Ehelebens, muß man weit zurückgreifen: In der Volksdichtung des Humanismus blühte wohl letztmals eine gelegentlich satirische, gelegentlich traktathafte ‚Ehestandsliteratur’.
Was jedoch ist mit dem nicht allzu kleinen Zeitraum zwischen Fischarts

Philosophischem Ehezuchtbüchlein und Fontanes Effi Briest, speziell dem 18. Jahrhundert, das gemeinhin als eine wesentliche Formierungsphase bürgerlichen Selbstbewußtseins gilt? Man sollte vermuten, die Literatur über und von der genuin bürgerlichen Ehe – als einem der wesentlichen Bausteine dieses neuen Selbstverständnisses – sollte unter diesen Bedingungen blühen und wachsen. Weit gefehlt jedoch. Im Jahr 1774 schreibt der Königsberger Bürgermeister, Kant-Tischgenosse und Verfasser eigenwilliger Romane Theodor Gottlieb von Hippel (im Übrigen ein überzeugter Junggeselle) die bissigen Sätze: 

 

Das Leben eines Ehemannes ist, bis auf den Punkt zu sterben, schon zu Ende. Man sollte sich ein Ehebett und ein Erbbegräbnis an einem Tag bestellen. [...] Alle Romane, alle Komödien hören mit der Heirat auf, weil das ewige Einerlei des Ehestandes keine Dinge abwirft, die einer Beschreibung wert wären.

Tatsächlich finden sich auch in der Romanliteratur der Zeit wenig Darstellungen des Ehelebens überhaupt, und schon gar keine von „guten“ Ehen. Es gibt jedoch eine zumindestens der schönen Literatur nahestehende Gattung, die sich im 18. Jahrhundert mit der Ehe beschäftigt und vor allem in der zweiten Jahrhunderthälfte durchaus eine gewisse Blüte erreicht: Die popularphilosophische Ratgeber- und Lebenshilfeliteratur tritt die Nachfolge der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Ehestandstraktate an. In Texten wie Hippels mehrfach überarbeiteter und neu aufgelegter Schrift Über die Ehe, Leonhard Meisters ebenfalls in zwei Auflagen erschienenen Sittenlehre der Liebe und Ehe, den entsprechenden Passagen in dem Bestseller Über den Umgang mit Menschen des Freiherren Adolph von Knigge oder Joachim Heinrich Campes populärem Väterlichen Rath für meine Tochter lassen sich eine Vielzahl von Gründen dafür finden, dass Ehen im 18. Jahrhundert scheitern; und sie thematisieren auch immer wieder das Verhältnis von Ehe und schöner Literatur.

Die Literatur über und von der Ehe bietet insofern ein gutes Exempel, um anhand eines begrenzten Textkorpus literarische und nicht-literarische Verarbeitungen des Themas einander gegenüber zu stellen. Dabei unterläuft die Ehe selbst gegen Ende des 18. Jahrhunderts –veranlasst vor allem durch neue gesetzliche Regelungen wie die Scheidungsgesetzgebung, aber auch durch neue Impulse wie das Konzept der „romantischen“ Liebe als Voraussetzung für eine Ehe – selbst wesentliche Veränderungen, die zur Verunsicherung älterer Konzepte und Normen beitragen.  Dagegen bietet die Ratgeberliteratur eine Reihe von Rezepten an, die ich im Folgenden im Rahmen einer Mini-Diskursanalyse analysieren werde.  Danach werde ich untersuchen, wie sich das „Erzählen vom Eheleben“ im 18. Jahrhundert im Verhältnis zu diesem Diskurs entwickelt und welche erzählerischen Lösungen gefunden werden, um das „ewige Einerlei des Ehestandes“ vielleicht doch noch ein bißchen literaturfähiger zu machen.

I. Ehereflexion im Ratgeberdiskurs: Ehezwecke

Die Darstellung der Ehe in der Sachprosa der Zeit läßt sich recht übersichtlich an der Leitlinie der Diskussion um die verschiedenen Ehezwecke systematisieren. Seit der Antike werden der Ehe verschiedene Funktionen zugeschrieben, die gleichzeitig dazu dienen, sie gegen Angriffe von verschiedener Seite und andere Lebens- und Beziehungsmodelle (wie beispielsweise das kirchliche Zölibat oder die antike Knabenliebe) zu rechtfertigen. Ich reihe die einzelnen Zwecke zunächst einfach auf und akzentuiere die spezifische Ausformung, die sie im 18. Jahrhundert gegenüber der Tradition erfahren haben.

(1) Die Ehe ist zunächst eine Erwerbsgemeinschaft, also eine ökonomische Institution, die auf der Bildung eines gemeinsamen Haushalts beruht. Während dem Mann dabei im 18. Jahrhundert noch ziemlich unangefochten die Entscheidungsmacht des Haushaltsvorstandes zukommt, ist die Frau für die Organisation und Kontrolle des Hauswesens und der Dienstboten im Einzelnen verantwortlich. Sie muß deshalb eine gute Haushälterin sein – was in den Eheratgebern meist als Ansammlung bürgerlich-ökonomischer Tugenden der Mäßigkeit dargestellt wird; ein Beispiel aus Leonhard Meisters Sittenlehre:

Reichthum ohne Verschwendung, Sparsamkeit ohne Geiz, Leichtigkeit und Lebensart ohne Nachläßigkeit, Genauigkeit ohne ängstliches Wesen und Steifigkeit herrschen in ihrem ganzen Betragen.

„Gute Hauswirtschaft“ ist, so auch Knigge, „eines der notwendigsten Stücke zur ehelichen Glückseligkeit“ ; legt sie doch die materielle Basis, auf der sich das Zusammenleben in seinen höheren seelischen und geistigen Komponenten erst entfalten kann. Dabei wird die bürgerliche Mäßigkeit in ökonomischen Dingen im 18. Jahrhundert (wie wohl auch heute) von zwei Seiten bedroht. Die Ehe ist wegen der nicht zu kalkulierenden Kinderzahl, aber auch wegen der allgemeinen wirtschaftlichen Unsicherheit bürgerlicher Arbeit ein Armutsrisiko. Sind hingegen pekuniäre Mittel im Überfluß vorhanden, droht Verschwendung für die oberflächliche gesellschaftliche Repräsentation nach dem Vorbild des Adels; das wird in der allgegenwärtigen Luxuskritik der Zeit immer wieder thematisiert.

(2) Die Ehe ist, zum zweiten, ein Vertragswerk. Die juristisch formulierte Verbindlichkeit tritt dabei immer deutlicher das Erbe der religiösen Definition der Ehe als unauflösbares Sakrament an; in einer zeittypischen Formulierung aus dem Bestseller Elisa, oder das Weib wie es sein sollte:

Die Ehe ist ein förmlicher Vertrag, beyde Theile verpflichten sich einander glücklich zu machen, und jeder Theil muß das seinige thun.

Aus dem Vertragscharakter folgt eine explizite Lehre von Ehepflichten und Eherechten, die jedoch meist unterschiedlich gewichtet auf beide Vertragspartner verteilt werden. So ist es zwar „unrecht“ (und gibt den Dienstboten und den Kindern zudem ein schlechtes Vorbild), wenn der Mann fremdgeht, aber letztlich kein Scheidungsgrund. Die Frau hingegen, die ihren Mann betrügt, ist „unnatürlich und gottlos“.  Begründet werden diese und andere Ungleichheiten meist durch eine komplementäre Bestimmung der jeweiligen Geschlechtscharaktere; exemplarisch sei Knigge zitiert:

Schwächerer Körperbau; eingepflanzte Neigung zu weniger dauerhaften Freuden; Launen aller Art, die den Verstand oft in den entscheidensten Augenblicken fesseln; Erziehung und endlich bürgerliche Verfassung, welche die Verantwortung des Hausregiments allein auf den Mann wälzt; das alles bestimmt laut die Gattin, Schutz zu suchen, und legt dem Gatten die Pflicht auf zu schützen.

Insgesamt werden den Männern meist neben größerer körperlicher Stärke die besseren analytischen Fähigkeiten und eine größere Konstanz und Durchsetzungskraft zugeschrieben; die Frauen hingegen haben feinere Sinne, eine beweglichere Einbildungskraft und eine empfindlichere Moral – was sie immerhin auf bestimmten Gebieten, wie denjenigen der guten Sitten oder der Ästhetik, als kompetenter erscheinen läßt. Die ‚Gleichheit’ der beiden Vertragspartner kann deshalb nur als eine Art abstrakte Chancengleichheit auf Glück (nach dem Muster des pursuit of happiness) bestimmt werden, wie es beispielsweise Meister versucht:

Niemals, meine Freundin, wird irgend ein Band, das ehliche und häusliche eben so wenig als das bürgerliche, ganz zu beglücken im Stand sein, so lang nicht jedes Glied der verbundnen Gesellschaft, vermittelst gegenseitigen Vertrages, gleich beglückt ist.

(3) Zu den wichtigsten ehelichen Pflichten gehören auch im 18. Jahrhundert diejenigen, auf die die Formulierung im allgemeinen Sprachgebrauch inzwischen eingeschränkt wurde: Die Ehe ist nicht zuletzt eine Art Bedürfnisanstalt. Am weitesten hat dieses Argument bekanntlich Kant getrieben, der den Ehe-Vertrag ausschließlich auf die „Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften“  gründete. Die Domestizierung der sexuellen Bedürfnisse ist ein altehrwürdiges Argument für die Ehe und spielt auch im popularphilosophischen Schrifttum des 18. Jahrhunderts eine wichtige Rolle. So beklagt Leonhard Meister beispielsweise die mangelhafte Aufklärung junger Frauen über die „Physik des ehlichen Leben“ , die einer der wichtigsten Gründe für das Scheitern einer Ehe werden könne, und fordert im Eheleben eine „gewisse Coketterie unter Ehgenossen“, um die „Flamme der Liebe zu erhalten“.  Dabei gilt auch hier ein Mäßigungsideal: Erstrebenswert ist ein schmaler Pfad zwischen natürlicher Schamhaftigkeit auf der einen Seite und „unnatürlichen Ausschweifungen“ auf der anderen. Denn das völlige Erlöschen der sexuellen Attraktivität, sei es aufgrund von Alter oder Gewohnheit, wird immer wieder als Problem diagnostiziert; ja, mehrere Autoren raten den Frauen sogar zu periodischer Verweigerung der ehelichen Pflichten – beispielsweise unter Berufung auf die quasi „natürlichen“ Keuschheitsphasen von Monatsblutung oder Schwangerschaft, aber auch als gezielter Einsatz im „Stratagem der Liebe“; so Meister:

Und so schwer ihm auch die Arbeit des Tages, so abschreckend für ihn dieses oder jenes, entweder öffentliche oder Privatgeschäft seyn wird, wie sollt er sich denselben nicht unterziehn, wenn er zum voraus versichert seyn kann, daß vor Vollendung desselben für ihn keine Schäferstunde der Liebe erscheint?

(4) Die Domestizierung der Sexualtriebe dient auch einem weiteren Hauptzweck der Ehe, nämlich ihrer Vorbildfunktion als Staatsmodell. Die Familie wird dabei in einer verbreiteten Analogie als „kleiner Staat“  verstanden; das Familienleben übt diejenigen Sozialtugenden ein, die der Staat für sein Funktionieren benötigt; so Campe:

Wie das häusliche Leben der Menschen, so ihr öffentliches; wie das häusliche Familienglück, so das öffentliche Staatswohlergehn.

Den Ehefrauen kommt dabei nicht nur die Funktion zu, den im bürgerlichen Erwerbsleben eingespannten, gestreßten Ehemann im Haushalt zu entlasten und ihm wenigstens sein Privatleben zu versüßen. Vielmehr ist sie vor allem wegen ihrer besonderen Kompetenzen im Bereich des Geschmacks, des sozialen Umgangs und der guten Sitten – für das allgemeine Kultivierungsniveau einer Gesellschaft verantwortlich: Das männliche Bemühen, den Frauen zu gefallen, ist die „erste mächtige Triebfeder, welche alles in Bewegung setzt“ ; nur im Umgang der Geschlechter miteinander konnte sich die menschliche Kultur entwickeln. Schließlich ist die Frau auch für die Aufzucht der Kinder, vor allem jedoch der Töchter, zumindestens mitverantwortlich: Sie erzieht die künftigen Staatsbürger zu den bürgerlichen Tugenden der Mäßigung.

(5) Damit komme ich endlich zu dem ältesten Argument für die Ehe schlechthin, nämlich dem Gebot zur Fortpflanzung: Eheleute sollen fruchtbar sein und sich mehren und damit biologisch für den Fortbestand der Gattung – oder, politisch gewendet, des Staates – sorgen. Dass dieser Punkt erst jetzt zur Sprache kommt, hat einen guten Grund: Das seit der Antike dominante Argument für das Eingehen einer Ehe tritt nämlich im 18. Jahrhundert auffällig zurück. Es häufen sich Schriften, die die Grenz- und Ausnahmefälle thematisieren: Was ist mit Ehen, die aus natürlichen Ursachen kinderlos bleiben? Was ist mit Kastraten?  Was ist mit Ehen vor oder nach der biologischen Zeugungsfähigkeit? Was ist mit Sex in der Schwangerschaft? – all dieses wird ernsthaft und ausgiebig diskutiert. Die Ehedebatte emanzipiert sich auf diese Weise still und heimlich von der religiösen Verbindlichkeit des Sakraments, um sie auf verschiedenen Ebenen durch andere Verbindlichkeiten zu ersetzen. Das Thema Kinder ist damit nicht obsolet geworden, erhält aber neue Funktionen in der Ehezweckdebatte.
Die erste ist eine kompensatorische: So entschädigt das „göttliche Vergnügen, deine Kinder wachsen zu sehen“  bei Hippel zumindest partiell für die offensichtlichen Nachteile des Ehe- als Sklavenstandes; und für Leonhard Meister sind Kinder geradezu ein Gegenmittel gegen den „Wurm des Hypochonders“  als Zeitkrankheit. Zum zweiten werden nun vordringlich Fragen der Kindererziehung behandelt. Im Vordergrund steht dabei die allgemein vernachlässigte Bildung der Mädchen, da diese beinahe einstimmig als Hauptgrund für das Scheitern so vieler Ehen verantwortlich gemacht wird. So kontrastiert Joachim Heinrich Campe mit nicht wenig Pathos Real- und Idealzustand der Mädchenerziehung:

Ihr seid wahrlich nicht dazu bestimmt, nur große Kinder, tändelnde Puppen, Närrinnen oder gar Furien zu sein; ihr seid vielmehr geschaffen – o vernimm deinen ehrwürdigen Beruf mit dankbarer Freude über die große Würde desselben! – um beglückende Gattinnen, bildende Mütter und weise Vorsteherinnen des innern Hauswesens zu werden.

(6) Die hier zitierte traditionelle dreifache Bestimmung der Frau als Gattin, Mutter und Haushälterin ist für das 18. Jahrhundert damit immer noch verbindlich. Die Funktion der Gattin rückt jedoch gegenüber der der Mutter immer stärker in den Vordergrund. Doch um eine „beglückende Gattin“ sein zu können, muß die Ausbildung junger Frauen entschieden verbessert werden; nur so können sie auch den letzten Ehezweck, den Ausbau der Ehe zur Lebensgemeinschaft, wirklich mitgestalten. So definiert Hippel beispielsweise die Ehe – unter expliziter Ablehnung des Fortpflanzungszwecks – als „vollkommenste Lebensvereinigung“ und befindet:

Der Begriff ist so voller Toleranz, daß jeder dabei seine freie Eheübung exerzieren kann.

Das hört sich modern an, hat aber nicht viel mit romantischer Liebe zu tun, sondern sehr viel mit sorgfältiger Partnerwahl, ständiger Beziehungsarbeit und vielfacher Hilfeleistung im Alltag und im Alter. Die meisten der Ehebücher stimmen darin mit Hippel überein, dass die Liebe „durch die Natur gestiftet“ wird, die „Ehe aber durch die Vernunft“.  In der Ehe soll ein ursprünglich natürlicher Affekt – der aber nicht unbedingt für das Zustandekommen der Ehe vonnöten ist und schon gar nicht ihr Gelingen garantiert – zu vernunftgemäßem Verhalten in einem bewußten Prozeß nach und nach umgeformt werden. Das Ziel ist dabei nicht eine utopische vollkommene Glückseligkeit, die es „am allerwenigsten im ehlichen Leben“  geben kann, sondern gemeinsame Bewältigung und gegenseitige Verschönerung des Alltags. Knigge faßt zusammen:

Wichtig ist die Sorgfalt, welche Eheleute anwenden müssen, wenn sie sich so täglich sehen und sehn müssen und also Muße und Gelegenheit genug haben, einer mit des andern Fehlern und Launen bekannt zu werden [...]; wichtig ist es, Mittel zu erfinden, sich dann nicht gegenseitig lästig, langweilig, nicht kalt, gleichgültig gegeneinander zu werden oder gar Ekel und Abneigung zu empfinden.

Dazu gibt es in der Ratgeberliteratur explizite Umgangs- und Verhaltensregeln von der Empfehlung penibler Reinheit sowohl des Körpers wie des Haushalts bis hin zu Anweisungen für den Umgang mit ein- oder beiderseitigen Freunden. Am wichtigsten ist jedoch, dass das eheliche Gespräch nicht verstummt – die Langeweile ist von Anfang an eine der größten Bedrohungen des bürgerlichen, zur Unterhaltung stärker auf die Privatsphäre angewiesenen Alltagslebens. Deshalb enthalten die meisten Texte beispielsweise Lektüreempfehlungen aus dem Bereich der schönen wie auch der Sachliteratur für die bildungshungrige Ehefrau, um ihr eine anspruchsvolle Unterhaltung mit dem Ehegatten zu ermöglichen.

II. Übergangsformen zwischen Literatur und Leben: Bürgers „Schwabenmädel“

Dabei wenden sich die zitierten Eheratgeber vor allem an die Frauen als Lesepublikum; denn diese sind es schließlich, die über ihre Pflichten nicht hinreichend aufgeklärt sind und die durch ihre mangelhafte Erziehung letztendlich dem Eheglück am meisten im Weg stehen. Das führt dazu, dass sich die Autoren gern literarischer Einkleidungsmittel bedienen; schließlich seien die Frauenzimmer vom Lesen der Romane verwöhnt und einem analytischen Gedankengang sowieso nicht zugänglich. Die Romane bilden dabei, und das ist typisch vor allem für die späte Aufklärung, für die Ratgeberliteratur sowohl eine Negativfolie wie auch ein Vorbild. So wird einerseits immer wieder beklagt, dass die identifikatorische Lektüre von Liebesromanen zu unverantwortlicher Schwärmerei und Realitätsverkennung führe. Andererseits jedoch bieten wenige, als „moralisch hochwertig“ eingestufte Romane auch ein unverzichtbares Repertoire an Menschenkenntnis und moralischer Orientierung. Ein wesentlich komplexeres Verhältnis zwischen Literatur und Leben beschreibt beispielsweise Jacob Mauvillon in seiner Schrift Mann und Weib nach ihren gegenseitigen Verhältnissen geschildert, indem er die kultivierende Kraft der Romane mit derjenigen des Ehestandes in ein Wechselverhältnis setzt:

Weil unser Ehestand, unsere Art die Weiber zu behandeln, uns viel fähiger zu einer erhöhten Moralität in der Liebe macht, so haben sich so viele Menschen unter uns gefunden, die Romane geschrieben haben: allein hinwiederum haben die Romane ganz erstaunlich viel zur Verbreitung und Erweiterung dieser Moralität beygetragen. O wer dieses nicht einsieht, wer nicht sieht, welchen Einfluß auf Ehe- und Familienglück unsre Romane haben, der ist wahrlich sehr kurzsichtig!

Auch Leonhard Meister legt seiner Braut eindringlich immer wieder die Lektüre der Romane von Richardson oder Rousseau ans Herz. Daneben gestaltet er selbst seine eigene Sittenlehre der Liebe und Ehe poetisch so abwechslungsreich wie möglich: Er zitiert Briefe und Anekdoten anderer, legt einen aphoristischen Auszug seines eigenen Tagebuchs bei und endigt gar mit einem langen Gedicht. Die Sachprosa-Texte zur Ehe nähern sich damit in Einzelzügen einer literarischen Ehestandsprosa an. Dabei entstehen zudem Mischformen in der Tradition der „moralischen Erzählung“ der frühen Aufklärung. Meister empfiehlt beispielsweise die Abfassung „historisch-moralischer Familien-Chronicken“ als einer Art realhistorischer Erzählungen vom alltäglichen Leben:

Ohne Zweifel würde es interessant seyn, wenn man historisch-moralische Familien-Chronicken, so wie heraldische und genealogische Stammbäume hätte. Auch in der Geschichte der gemeinsten Menschen-Kinder – welch fruchtbarer Beytrag zu leichterer Auflösung der wichtigsten Fragen aus der Seelenlehre, der Moral, der Politick und der Religion selber?

Interessanterweise existiert tatsächlich ein Beispiel einer solch „historisch-moralischen Familien-Chronik“, das aber leider gar nicht die Vorbildlichkeit der bürgerlichen Ehe demonstriert, sondern anschaulich eine folgenreiche Verwechslung von Literatur und Wirklichkeit dokumentiert. Es handelt sich um die kurze Ehe des bekannten Volksdichters Gottfried August Bürger mit dem „Schwabenmädel“ Elise Hahn; die Dokumentation dieser Ehe anhand von Bürgers Briefen erschien erstmals 1812 anonym. Die Geschichte ist schnell erzählt: Elise Hahn veröffentlichte 1789 anonym in der Wochenschrift Beobachter eine lyrische Liebeserklärung an Bürger nach einer Lesung seiner patriotischen Gedichte. Bürger fühlt sich geschmeichelt und bietet viel Energie auf, um der Verfasserin auf die Spur zu kommen. Dabei betont er in Briefen an seine Umgebung immer wieder den „romanhaften und originellen“  Charakter der ganzen Angelegenheit:

Ein Schwabenmädel, verliebt in meine Poetereyen und durch einen natürlichen Übergang auch in mich, hat in poetischem Scherz um mich angehalten, und ich – heirathe das Mädchen in schlichtem prosaischen Ernste.

Der eigentlichen Werbung schickt Bürger eine ausführliche briefliche Lebensbeichte voran, in der er durchaus redlich sein fortgeschrittenes Alter, seine schwache Gesundheit, seine emotionale Verbitterung durch viele negative Erfahrungen, seine Anhänglichkeit an seine verstorbene Gattin, seine nicht eben üppige wirtschaftliche Situation und sogar seinen moralisch zweifelhaften Ruf als Libertin darlegt. Die Hochzeit kommt, im Wesentlichen wegen der Verspätung der Post, trotz alledem zustande. Es dauert jedoch kaum ein halbes Jahr, da beklagt Bürger in ausführlichen Briefen an seine Schwiegermutter die Unfähigkeit des Schwabenmädels als Ehefrau: Sie versage sowohl als Hausfrau, als Mutter wie auch als Gattin; und Punkt für Punkt wird nun die bekannte dreifache Bestimmung der Frau minutiös abgearbeitet. Das Resümee lautet:

Wenn man einen täglichen Lebenslauf so in einem Romane oder in einer Comödie geschildert fände, so würde man die Schilderung für übertrieben halten. Aber dennoch ist, hier, leider!, das Urbild in der Natur.

Aus der „artigen Anecdote in der Geschichte der deutschen Literatur“  (so Bürger anfangs) ist damit das bekannte Trauerspiel einer allzu prosaischen Ehe geworden. Dabei zeigt das Beispiel sehr genau, wie zunächst in der Werbungsphase – trotz aller expliziten Bemühungen um Reflexion – die literarisch-empfindsamen Deutungsmuster überwiegen. So übersendet Elise ein Porträt von sich, das Bürger zunächst enttäuscht: es ist „Augen und Herzen ganz fremd“.  Erst als er vor dem Bildnis nochmals ihre Briefe liest, spricht es ihn plötzlich an; offensichtlich benötigen seine Gefühle also ein wenig Beflügelung durch die Einbildungskraft, die zum nackten sinnlichen Anblick die schöne Seele dazuphantasiert. Im Ehealltag behaupten die pragmatischen Deutungsmuster der Ehe-Ratgeberliteratur jedoch ihr Recht und verscheuchen alle empfindsamen Phantasien.
Damit bestätigt Bürger zunächst Hippels fatales Diktum über das „ewige Einerlei“ des Ehestandes, das weder lebens- noch erzählenswert ist. Andererseits weist Hippel im gleichen Text darauf hin, dass doch eine Art eigener ‚Ehe-Poetologie’ vorstellbar wäre. Seine sehr bildhaft zugespitzte und polemische Schreibart in Ueber die Ehe rechtfertigt er nämlich in einer Formulierung, die gegen Bürgers Trennung von „poetischem Scherz“ der Werbung und Heirat und „schlichten prosaischen Ernst“ des alltäglichen Lebens deren Verbindung setzt:

Ich habe ehemäßig geschrieben. Scherz und Ernst ist verwebt.

III. Erzählen vom Eheleben in der Romanliteratur

Gibt es ein solches ‚ehemäßiges’ Erzählen, das den Glücks- und Wechselfällen des Ehelebens gerecht wird, tatsächlich in der Literatur der Zeit? Ich werde im Folgenden mehrere Erzähltexte  im Blick auf zwei Grundfragen untersuchen: 1) Welches Ehekonzept wird in dem jeweiligen Text vorgetragen? Und was ist die Basis dieses Beziehungsmodells? 2) Welche formalen Darstellungsmittel und ästhetischen Überlegungen werden in diesem Zusammenhang, speziell aus der Ehe-Thematik heraus, entwickelt? Was bedeutet ‚ehemäßiges Erzählen’ konkret?

(1) ‚Vernünftige Liebe’ in Gellerts 'Schwedischer Gräfin'
Mein Ausgangspunkt ist eines der heroischsten und gleichzeitig weltfremdesten Konzepte der früheren und mittleren Aufklärung, nämlich die Idee der „vernünftigen Liebe“, wie sie sich beispielsweise im Werk von Christian Fürchtegott Gellert finden. In einem der ersten deutschen Romane, dem 1749/50 erschienenen Leben der schwedischen Gräfin von G*** , schließt die namenlose weibliche Hauptfigur aparterweise gleich zwei Ehen: Sie heiratet zunächst einen schwedischen Grafen; als dieser in Kriegs- und Intrigenwirren verschwindet, ehelicht sie den Hausfreund, den Bürgerlichen Herrn R***. Als der erste Ehemann überraschend doch wieder auftaucht, wird die zweite Ehe im allgemeinen Einverständnis aufgelöst, die Gräfin kehrt zum Grafen zurück und R*** verwandelt seine eheliche Liebe „von diesem Augenblicke an in Ehrerbietung“.  Das Bäumchen-wechsel-dich-Spiel wird dadurch ermöglicht, dass alle Protagonisten souverän über ihre Gefühle verfügen können, weil diese zutiefst vernunftgegründet sind. Bereits die erste Werbung des Grafen stellt nicht nur auf die „Gewißheit“ seiner Liebe, sondern auch auf die Gewißheit von den „Verdiensten“ der Umworbenen ab.  Das sich an eine sehr zurückgezogene und stille Hochzeit anschließende Eheleben ist „nichts als Liebe“, das gemeinsame Leben „nichts als Vergnügen“  und muß deshalb nur summarisch beschrieben werden: Man lebt abgeschirmt von den Versuchungen des Hofes auf dem Landgut, hält sich viel im Büchersaal auf, und der Gemahl liest für die Gattin aus Werken, „die teils historisch, teils witzig, teils moralisch waren, die schönsten Stellen vor“ , um ihren Geschmack zu schulen. Von Kindern oder Haushaltspflichten ist ebenso wenig die Rede wie von aufkommender Langeweile; betont wird allerdings die „Klugheit und Behutsamkeit“ , die zur Aufrechterhaltung der Lebens- und Bildungsgemeinschaft unabweislich investiert werden muß: Sie erst

erhalten die Liebe und befördern ihren Fortgang wie das Herz durch seine Bewegung den Umlauf des Geblüts. Es ist wahr, eine beständige und sich stets gleiche Zärtlichkeit ist in der Ehe nicht möglich. Doch wenn nur auf beiden Seiten eine gegründete Liebe vorhanden ist, so kann sie bis in die spätesten Jahre feurig und lebhaft bleiben.

Die Ehe wird hier also sowohl als philosophisch-moralische Anstalt wie auch als fortwährende gegenseitige Erziehungs- und Kultivierungsaufgabe präsentiert. Um die Wirkung auf den Leser zu verstärken, werden im Roman auch Negativ-Beispiele unmoralischer, da nicht auf dem Beziehungsmodell der „gegründeten Liebe“ aufgebauter Beziehungen gezeigt, die der poetischen wie moralischen Logik gemäß tragisch enden. Vor allem jedoch ist der in Form einer autobiographischen Ich-Erzählung vorgetragene und häufig direkt an den Leser adressierte Lebensbericht der schwedischen Gräfin ein Musterbild an kultivierter und trotzdem natürlicher und lebhafter Rede, wie sie Gellert als Formideal in seinem weitverbreiteten Briefsteller Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung vom dem guten Geschmack in Briefen (1751) vorträgt. ‚Ehemäßig erzählen’ bedeutet hier also: Die „gegründete Liebe“ als ideales Beziehungskonzept so darstellen, dass der für die Ehe unabdingbare Kultivierungsprozess beim Lesen selbst gefördert wird.

Offensichtlich handelt es sich bei diesem Roman also um eines der Musterexemplare, die jeder noch so strenge Zensor jeder noch so unschuldigen Braut bedenkenlos in den Brautschatz geben könnte und der im Sinne Mauvillons zur „Erweiterung der Moralität“  beiträgt. Die Ehen der schwedischen Gräfin demonstrieren daneben eindrücklich die beginnende Loslösung des Ehediskurses von den traditionellen ehelichen Pflichten und die neue Verpflichtung auf das Muster der Lebensgemeinschaft, die durch das gemeinsame eheliche Gespräch und die gegenseitige Bildung zusammengehalten wird. Dass Kinder bei Gellert geradezu kategorisch nicht vorkommen, ist in diesem Zusammenhang nur ein weiterer Beweis dafür, dass es nicht um natürliche Bande, sondern die bewußte Wahl vernunftgesteuerter Individuen geht. Da jedoch die Ehe sozusagen das Allervernünftigste ist, was ein Mensch zur Förderung seiner eigenen Glückseligkeit tun kann, muß auch wenig erzählerische Energie in ihre Darstellung verwendet werden: Die Darstellung des Ehelebens erfolgt summarisch, ein für allemal, während die eigentlich krisenhaften Beziehungen als Kontrastfolie den weit größeren Raum einnehmen.

(2) „Sympathetische“ Neigung in La Roches 'Geschichte des Fräuleins von Sternheim'

Gut zwanzig Jahre später erscheint ein ebenfalls erfolgreicher Roman, nun gar verfasst von einer Frau: Sophie von La Roche schildert in ihrer Geschichte des Fräuleins von Sternheim die wechselhaften Schicksale der Sophie von Sternheim von der Jugend bis zu ihrer glücklichen Einfahrt in den Hafen der Ehe am Ende des Romans. Dabei wird das alte Modell der vernünftigen, weil auf Verdienste gegründeten Liebe an einer entscheidenden Stelle noch einmal aufgerufen und – bezeichnenderweise in Form des einzigen im Roman enthaltenen Dialogs – reflektiert. Sophie diskutiert mit einer reichen und schönen Witwe von C***,  die vier Verehrer hat, aber keinen von diesen heiraten will, Sinn und Zweck der Ehe. C*** führt zunächst mehrere prinzipielle Argumente gegen eine neue Ehe an: Sie hat in ihrer ersten Ehe offensichtlich üble Erfahrungen gemacht und will sich deshalb ihre „durch so viele Bitterkeit“   erkaufte Freiheit erhalten. Sophie kontert, sehr philosophisch: Wahrhaft frei ist nur, wer frei handelt und dadurch andere glücklich macht. Frau von C*** hält dagegen, dass das vermeintliche Liebesglück der allgemeinen Erfahrung nach äußerst vergänglich sei; Sophie erwidert, dass sie schließlich nicht wegen vergänglicher äußerer Attribute, sondern wegen ihrer geistigen Schönheit und moralischen Verdienste geliebt werde. Diese Verdienste jedoch, so Frau von C***, würden ja von Männern durchaus unterschiedlich bewertet; Sophie darauf: Aber sie habe doch bereits einen Verehrer, bei dem man sich sicher sein könne, eine wahrhafte und dauerhafte Würdigung zu finden, nämlich einen

liebenswürdigen Gelehrten, dessen schöner und aufgeklärter Geist Ihnen das Vergnügen gewährte, daß nicht die geringste Schattierung Ihrer Verdienste ungefühlt, und ungeliebt blieben, in dessen Umgang der edelste Teil Ihres Wesens unendliche Vorteile genießen könnte, indem er Sie an der Hand der Zärtlichkeit durch das weite Gebiet seiner Wissenschaft führen würde, wo sich Ihr Geist so angenehm unterhalten und stärken könnte.

Zudem, so Sophie weiter auf den Spuren der schwedischen Gräfin Gellerts, biete das „artige Landhaus“ des Herrn von T. eine „wenig schimmernde, aber fest gegründete Zufriedenheit“, in der die Witwe „durch einen edelmütigen Entschluss zugleich drei der heiligsten Pflichten erfüllen könnte“  ; und die allergrößte Pflicht sei es letztlich, zur Glückseligkeit unserer Nächsten ebensosehr beizutragen wie zur eigenen. Gegen soviel geballte moralischen Altruismus und weibliches Pflichtbewußtsein bleibt der Witwe nur noch ein Argument ad hominem: Sie fühle sich einer solchen Herausforderung aufgrund ihrer negativen ersten Erfahrungen mit der Ehe und den daraus resultierenden, unheilbaren inneren Verletzungen letztlich einfach nicht gewachsen.

In Sophie hinterläßt der Dialog, so rational und eloquent sie ihn auch geführt hat, einen unschönen Nachgeschmack; es dünkt ihr, so ergänzt sie die Niederschrift, „dass ich lauter unrechte Ursachen hasche“.  Offensichtlich ist sie selbst schon nicht mehr vom Modell der vernünftigen Liebe überzeugt; es bietet zumindestens keine hinreichende Basis zur Erfüllung der drei ‚heiligsten Pflichten’ der Frau, an denen sie ja durchaus festhält. Tatsächlich hat das Modell nämlich auch in ihrem eigenen Leben nicht funktioniert. Ihr wird ebenfalls eine rational perfekt motivierte Ehebeziehung von Lord Rich angeboten; sie entscheidet sich aber für ihre Jugendliebe, dessen nicht ganz so perfekten Bruder Lord Seymour. Die gegenseitige Neigung von Sophie und Seymour wird von Anfang an nach dem Muster der „sympathetischen Liebe“  beschrieben: Es handelt sich um eine quasi naturgesetzliche Anziehungskraft, die zwar nur in Grenzen rationalisierbar ist, als Naturkraft jedoch Vertrauen verdient. Im wiederum am Schluß summarisch beschriebenen idyllischen Eheleben auf dem Lande verbindet Sophie den ehelichen Pflichten gemäß die tugendhafte Zärtlichkeit einer Gattin und Mutter mit der Vorbildlichkeit der guten Hausfrau. Die Botschaft des Romans ist sehr klar: Nur wer seine in einer frühen Erziehung solide gelegten moralischen Maximen heil durch die Versuchungen des Hoflebens bringt und auch an harten Lebensprüfungen nicht verzweifelt, gewinnt die wahre Freiheit moralischen Handelns und erfährt verdiente Glückseligkeit. Deren Gipfel ist die auf sympathetischer Neigung gegründete Ehe, die selbst die melancholische Anlage des Ehemanns Seymours auf die Dauer zum Verschwinden bringt. In dieser Ehe kommt die Ehefrau selbstverständlich ihren dreifachen ‚heiligsten Pflichten’ nach; ein besonderes Schwergewicht liegt jedoch auf der Gestaltung des sozialen Umfelds durch gezielte altruistische Handlungen, also auf einer in Richtung Staatsmodell erweiterten ehelichen Kultivierungsleistung: So strahlt Sophies soziales Engagement wohltuend auf die gesamte Nachbarschaft aus, und sie selbst widmet sich in ihrer Freizeit vor allem der Erziehung junger Mädchen.

Bis hierher zusammenfassend kann man sagen: Solange ‚gegründete’ Formen der Liebe – wie die vernünftige Liebe bei Gellert oder die sympathetische Neigung bei la Roche – dominieren, die problemlos in eine Ehe überführt werden können, sind keinerlei erzählerischen Experimente zu ihrer ohnehin meist nur summarischen Darstellung nötig. Der Preis ist allerdings eine gewisse Weltfremdheit gegenüber dem wesentlich realistischeren Ehediskurs der Eheratgeber. Das ändert sich erst langsam bei la Roche, wo die Heiratsverweigerung der schönen Witwe immerhin mit dem sokratischen Frauen-Dialog einen Fremdkörper in den empfindsamen Romankosmos einpflanzt. Eine konsequent eigene Form gewinnt der literarische Ehediskurs aber erst in der Spätaufklärung, wo die allgegenwärtige Krisensymptomatik der Aufklärung nun auch auf die Ehekonzepte durchschlägt. Ein Beispiel dafür sind die „Ehestandsgeschichten“ von Johann Karl Wezel.

(3) „Polirte Natur“ in Wezels Ehestandsgeschichten

Johann Karl Wezel veröffentlicht 1776 in Wielands Teutschem Merkur die EhestandsGeschichte des Hrn. Philipp Peter Marks; 1779 folgt als ein zweiter Teil Die wilde Betty.  Die erste Ehestands-Erzählung beschreibt die fünf gescheiterten sowie die sechste gelungene Ehe der Titelfigur Peter Marks; die zweite schildert komplementär dazu die vier Liebhaber und drei Ehemänner der wilden Betty. Beide Erzählungen sind weitgehend parallel aufgebaut: Sie stellen die Erfahrungen aus der einseitigen Position der jeweiligen Titelfigur dar, die als Ich-Erzähler fungiert; und die einzelnen Episoden laufen immer nach dem gleichen Muster ab. Peter Marks heiratet nacheinander eine Empfindsame, eine Streitsüchtige, eine Kokette, eine Geizige und einen Freigeist; die wilde Betty ist verheiratet bzw. hat Affären mit einem Juristen, einem Offizier, einem Playboy, einem Kapitän, einem Landedelmann und einem Brückenbauer. Die gescheiterten Beziehungen enden allesamt mit dem Tod der jeweiligen Ehepartner, der gleichzeitig drastisch poetische Gerechtigkeit vollzieht: Die Kokette verstirbt an einem verschluckten französischen Vers; die Geizige ärgert sich über einen marginalen finanziellen Verlust zu Tode; der Jurist stirbt an seiner pedantischen Rechthaberei; der willenlose Brückenbauer passt sich Bettys Willen so gut an, dass er sogar ihr zu Gefallen stirbt. Insoweit enthalten die Ehestandsgeschichten unübersehbar das von Hippel für das ‚ehemäßige’ Erzählen geforderte Element des „Scherzes“: Die Figuren sind größtenteils Charakter- und Berufs-Stereotypen, die Handlung ist satirisch überzeichnet, der Realismus derb und handgreiflich.

In den detaillierten Schilderungen der Eheverläufe selbst finden sich noch weitere Topoi des popularphilosophischen Ehediskurses. So spielt die Aufzucht von Kindern in beiden Erzählungen keine Rolle, da auch hier der Fortpflanzungszweck deutlich zugunsten des Gemeinschaftsaspekts zurücktritt. Aber eben diesen neuen Ehezweck der „vollkommensten Lebensvereinigung“ können die unterschiedlichen Ehepartner in den meisten Fällen noch nicht ausfüllen. Gleichzeitig gibt es jedoch im Hintergrund der grellen Satire durchaus ernsthafte psychologische Entwicklungen zu verzeichnen, die nach dem spätaufklärerischen Modell pragmatisch-anthropologischen Erzählens dargestellt werden. So wird der anfängliche Geck Peter Marks allmählich ein durchaus mitfühlender und verantwortungsbewusster Ehemann. Das demonstriert vor allem das versöhnliche Schlusstableau der sechsten und erfolgreichen Heirat. Peter Marks will fortan auf seinem Landgut zurückgezogen in philosophischer Einsamkeit leben. Bei einem Spaziergang trifft er unvermutet ein Landmädchen, das ihm spontan als Idealbild einer Ehefrau erscheint:

Sie ist bey einer kleinen Einnahme erzogen worden, und darum hat sie eine starke Tinktur von Sparsamkeit, Wirthschaftlichkeit und dergleichen Tugenden mehr; sie ist ohne Verfeinerung erzogen worden, und darum sind ökonomische Sorgen mit ihren vorhandnen Ideen nicht disharmonisch und zu alltäglich, um sie zu beschäftigen; bey dem allen mangeln ihr die Annehmlichkeiten nicht, die sich die Verfeinerung gern allein anmaßen möchte; sie hat einen naifen natürlichen Witz, einen nicht durchdringenden, aber lebhaften und treffenden Verstand, eine schnelle, starke Empfindung, ungemein viel Zärtliches in Reden, Minen und Handlungen.

Im Gegensatz zu den satirisch-boshaften Beschreibungen der Vorgängerinnen ist die der letzten Ehefrau mit deutlicher Zuneigung und einem gewissen psychologischem Tiefgang verfasst. Zugesprochen werden ihr vor allem Tugenden der Mäßigung: sparsam, aber nicht zu sehr; intelligent, aber nicht übertrieben; witzig, aber mit Herz; empfindsam, aber nicht gekünstelt; kurz, wie der Erzähler selbst zusammenfasst: „Meine Frau muß ganz Natur bleiben, aber wohl verstanden! – polirte Natur“ (S. 123). Zwar scheint auch hier das von Gellert bekannte Ideal der kultivierten Ehefrau auf, ebenso ist von der grundlegenden Bedeutung der Mädchenerziehung die Rede. Im Unterschied zu Gellert werden aber auch die Grenzen dieses Konzepts benannt: Die Kultivierung darf die natürlichen – und spezifisch weiblichen – Anlagen zur Empfindsamkeit nur mäßigend überformen. Ähnliches gilt umgekehrt auch für die „wilde Betty“, die schon als Kind am liebsten durch Pfützen springt. Diese natürliche Wildheit kann sie nie ganz ablegen, aber immerhin an der Realität und ihren diversen Ehen und Liebhabern abschleifen. Am Schluss erfüllt sie damit doch die anfängliche Prophezeiung ihres Vaters, „die Liebe und der Ehestand“ würden sie „in eine vernünftige Kreatur verwandeln“.

‚Ehemäßiges Erzählen’ bei Wezel bedeutet also: Das Beziehungsmodell ‚Ehe’ wird auf der Basis von naturalen und gesellschaftlichen Geschlechterrollen nun aus zwei verschiedenen Perspektiven beleuchtet; der Ehediskurs ist gegenüber dem beinahe geschlechtsneutralen Monolog bei Gellert zweistimmig geworden. Dabei tritt wiederum der kultivierende Aspekt von ehelichen Beziehungen in den Vordergrund, diesmal jedoch mit einem anthropologischen statt eines moralischen Begleitdiskurses: Die Kultivierung kann und soll die ursprüngliche Natur (vor allem der Frau) nicht verdrängen, sondern nur „polieren“. Dabei „verweben“ sich die beiden von Hippel geforderten Elemente „Scherz“ und „Ernst“ im Nebeneinander der Erzählformen von vordergründiger Satire und hintergründiger realistisch-psychologischer Motivierung.

(4) „Eheliche Hälften“ in Jean Pauls 'Siebenkäs'

Mein nächstes Beispiel weist in mehreren Punkten deutliche strukturelle Ähnlichkeiten mit Wezels Ehestandsgeschichten auf, die Grundintention ist jedoch gerade entgegengesetzt: Wo Wezel die Ehe als Geschlechterverhältnis naturalisiert, arbeitet Jean Paul an der Idealisierung der Ehe, die als ein besonders anschauliches Paradigma für die existentielle Erfahrung menschlicher Zerrissenheit verstanden wird.  In seinem 1796 veröffentlichten, frühen Roman Blumen-, Frucht und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des armen Advokaten F.St. Siebenkäs wird dieser Zusammenhang explizit hergestellt: Der Mensch habe nämlich

einen unbeschreiblichen Hang zur Hälfte – vielleicht weil er ein auf zwei Welten mit ausgespreizten Beinen stehender Kolossus und Halbgott ist –, namentlich zu Halbromanen – zum Halbfranko des Eigennutzes – zu halben Beweisen – zu Halbgelehrten – zu halben Feiertagen – zu Halbkugeln und folglich zu ehelichen Hälften.

Die Ehe ist also eine besonders charakteristische Form des Dualismus zwischen innerer und äußerer Welt, Phantasie und Wirklichkeit, Enthusiasmus und Realismus, der sich quer durch Jean Pauls Romanen-Welt zieht. Das verdeutlicht Jean Paul vor allem anhand der Jahreszeitenmetaphorik: Während die „eheliche Liebe“ zwischen dem materiell armen Advokaten und Satiriker Siebenkäs und seiner eher geistig armen Lenette ein „prosaischer Sommertag mit Ernst und Schwüle“ ist, ist Siebenkäsens Liebe zur schönen Seele Natalie eine „poetische Lenznacht mit Blüten und Sternen“.  Dieser „prosaische Sommertag“ der Ehe wird in den „Dornenstücken“ des Romans geradezu minutiös geschildert, vor allem seine Entwicklung hin von den „Lindenblütenhonigmonaten“ der Flitterwochen hin zum täglich eskalierenden Ehekrieg. Der auktoriale Erzähler, der sich dabei mit Bewertungen der Kampfpartner nicht zurückhält, rechtfertigt diese besondere Ausführlichkeit eigens: Andere Romane würden

so weit von dieser Lebensbeschreibung oder von der Natur abweichen und die Trennungen und Vereinigungen der Menschen in so kurzen Zeiten möglich und wirklich machen, daß man mit einer Terzienuhr dabeistehen und es nachzählen kann. Aber ein Mensch reißet nicht auf einmal von einem teuren Menschen ab, sondern die Risse wechseln mit kleinen Bast- und Blumenankettungen, bis sich der lange Tausch zwischen Suchen und Fliehen mit gänzlicher Entfernung schließet, und erst so werden wir arme Menschen – am ärmsten.

In diesem Zitat zeigt sich ebenfalls das metapherngenerierende Potential der Ehethematik: Von den anfänglichen Schilderungen der Eheringe als „Handschellen und Kettenringe der Ehe“  führt ein ganzes Bildfeld über die verschiedensten Verkettungsmodelle hin zu den oben genannten spielerischen „Bast- und Blumenankettungen“. Dabei bleibt das Verhältnis von Poesie und Wirklichkeit bzw. von Liebe und Ehe durchaus ambivalent. Abhängig ist es nämlich auch von den real existierenden sozialen Verhältnissen: So erwachsen die ersten Ehekriege unter anderem aus der großen materiellen Not des Paares, die jegliche Idealisierungs- wie auch Kultivierungsversuche von Siebenkäs an Lenette untergräbt. Der Erzähler verteidigt Lenette deshalb:

Ich weiß es gewiß, sie hätte ihren Siebenkäs, den sie vor der Ehe so kalt liebte wie eine Gattin, in ihr so lieb gewonnen wie eine Braut, hätt’ er etwas – zu brocken und zu beißen gehabt. Hundertmal bildet eine Braut sich ein, sie haben ihren Verlobten lieb, da doch erst in der Ehe aus diesem Scherze – aus guten metallischen und physiologischen Gründen – Ernst wird.

Womit wir wieder bei „Scherz“ und „Ernst“ wären; diesmal ist die Verkettungsstruktur jedoch eine paradoxe: Vor der Ehe ist die Liebe Lenettes kalt (wie die einer Gattin); nach der Ehe hätte sie Siebenkäs unter Umständen heiß lieben können (wie eine Braut) – wenn die Umstände denn danach gewesen wäre. Insofern ist ihre latente Aggression gegen die kulturell wie materiell ungleich bemitteltere Konkurrentin Natalie durchaus nachvollziehbar. Doch auch mit Natalie kommt Firmian Siebenkäs erst in einer paradoxen Situation zusammen: nämlich nach seinem Scheintod, mit dem sein eigentliches – geistiges Leben beginnt.

‚Ehemäßig erzählen’ hieße also bei Jean Paul: Dargestellt wird eine Variante der grundlegenden existentiellen Zerrissenheit des Menschen in zwei Hälften. Auch in der Ehe steht der Mensch vor dem Problem, seine Fähigkeit zum Enthusiasmus (in der Liebe und in der Poesie und im Tod) und seine Abhängigkeit von der Wirklichkeit (in der Ehe und in der Prosa und im Leben) zu vereinen. Die Pole sind zwar jeweils völlig unvereinbar, können jedoch ineinander umschlagen: Aus dem Tod kann das wahre Leben werden, und aus einer im Scherz des Brautstandes begonnenen Ehe eine wahrhafte eheliche Liebe. Die mit der Ehe verbundene Kultivierung jedoch, so der Erzähler, ist vor allem eine Frage des Geldes und des sozialen Standes:

Daher ist in den höhern Ständen, wo man statt der Arbeitsstuben nur Arbeitkörbchen hat, [...] und wo in der Ehe die Liebe noch fortdauert – oft sogar gegen den Mann –, der Ehering nicht so oft wie in den niedern Ständen ein Gygesring, welcher Bücher, Ton-, Dicht-, Zeichen- und Tanz-Künste unsichtbar macht.

In ästhetischer Hinsicht ist bei Jean Paul vor allem das Bildpotential des Ehebundes von Bedeutung, das eigene und neue Bildfelder schafft. In der Ehe-Jahreszeiten-Parallele werden beispielsweise die zwei Welten Natur und Gesellschaft metaphorisch verknüpft. Insofern ist also auch dem Erzählen vom „Burgverlies der Ehe“ ein kreatives und phantasieanregendes Potential nicht einfach abzusprechen, sondern auch hier ein paradoxer Umschlag von satirischer Ehe-Prosa in enthusiastische Ehe-Poesie mittels des Jean Paulschen Humor durchaus vorstellbar – hätte Lenette die Texte ihres Mannes denn nur gelesen ...

(5) Die Ehe als „Anfang und Gipfel aller Kultur“ in Goethes 'Wahlverwandtschaften'

Damit komme ich abschließend zum wohl bekanntesten Eheroman der Zeit, nämlich Goethes Wahlverwandtschaften, die mit ihrem Erscheinungsdatum von 1809 – und nicht nur damit – bereits ins 19. Jahrhundert vorausweisen. Die Handlung ist allgemein bekannt, vor allem natürlich die vielgedeutete Schlüsselszene mit der Diskussion der beiden Paare über das chemische Phänomen der „Wahlverwandtschaft“.  Dem oberflächlich eingängigen Vergleich zwischen der natürlichen Anziehungskraft chemischer Substanzen aufeinander auf der einen Seite und menschlichen Neigungen zwischen verschiedenen Individuen auf der anderen widerspricht Charlotte jedoch energisch:

Diese Gleichnisreden sind artig und unterhaltend, und wer spielt nicht gern mit Ähnlichkeiten! Aber der Mensch ist doch um so manche Stufe über jene Elemente erhöht.

Sie macht demgegenüber die Möglichkeit einer freien Entscheidung des Menschen geltend, die ihn über die „Naturnotwendigkeit“  erhebt. Eine ähnliche Position vertritt auch Mittler, der die Ehe nun wieder gänzlich auf der Moral gründen will und ihren bekannten Kultivierungsaspekt noch verstärkt:

„Wer mir den Ehstand angreift [...] wer mir durch Wort, ja durch Tat diesen Grund aller sittlichen Gesellschaft untergräbt, der hat es mit mir zu tun. [...] Die Ehe ist der Anfang und der Gipfel aller Kultur. Sie macht den Rohen mild, und der Gebildetste hat keine bessere Gelegenheit, seine Milde zu beweisen.

Damit wären wir sozusagen wieder bei dem Ausgangsmodell bei Gellert angelangt, das um eine soziale Komponente angereichert wird: Die Ehe erfüllt eine wichtige soziale und moralische Funktion – sie erst ermöglicht das gesellschaftliche Zusammenleben, sie ist die Basis für Moralität, in ihr äußert sich der freie Wille des Menschen, seine Beherrschung der Leidenschaften; sie ist der Königsweg zur Kultur schlechthin. Das jedoch ist nur eines der vielen und durchaus widersprüchlichen Beziehungsmodelle, die den Roman auf vielen Ebenen durchziehen.

Symbolisch lassen sich diese Beziehungsmodelle beispielsweise an den unterschiedlichen Tätigkeiten der Figuren im Zusammenhang mit der Gestaltung von Landschaft, Park und Garten sowie ihrem gemeinsamen Musizieren entwickeln – wobei es wohl kein Zufall ist, dass es bei diesen Tätigkeiten um grundlegende Formen der Kultivierung geht. Charlotte legt Spazierwege und Aussichtspunkte an, die eine besondere Art maßvoller ästhetischer Erfahrung stimulieren, wie den Blick aus der Mooshütte auf die durch das Fenster gerahmte Landschaft. Der Hauptmann unterstützt sie durch technische und organisatorische Dienstleistungen, die einen großen Überblick und einen energischen technischen Gestaltungswillen verraten. Beide sind imstande, auch ihre Beziehung im Blick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft überdenken, sie in größere Zusammenhänge – den sittlichen Grund der Gesellschaft – einzuordnen und trotzdem auch unter diesen eingeschränkten Bedingungen noch genussvolle Momente zu schaffen; gemeinsam spielen sie auch die schwersten Musikstücke. Charlotte und der Hauptmann sind Beziehungsprofis; sie versuchen ihre Beziehung ästhetisch und sozial zu modellieren, auch und gerade wenn dies Entsagung erfordert.

Eduard und Ottilie hingegen konzentrieren sich auf die Gartenanlagen mit ihren Baumschulen und Blumenbeeten. Sie ziehen die Pflanzen zum unmittelbaren sinnlichen Genuß heran, Blumen und Früchte für das Haus und die Tafel. Diese sind jedoch stärker den Jahreszeiten unterworfen; während der Park auch im Winter noch charakteristische Ausblicke bietet, ist die frucht- und blütenlose Zeit für Eduard und Ottilie letztlich verlorene Zeit; sind die verwelkenden Blumen ein deutliches Zeichen der Vergänglichkeit aller menschlichen Bemühungen. Eduard und Ottilie sind damit näher an der sinnlich-konkreten Natur: Ihre Liebe ist in ihrem Frühling und Sommer eine von der Vernunft unbeherrschbare Leidenschaft, in ihrem Herbst und Winter aber auch ein Rückzug der Natur bis zur völligen Entleiblichung Ottilies kurz vor ihrem Tod und noch darüber hinaus. Das gleiche gilt für ihr gemeinsames Musizieren: Zwar beherrschen sie nicht die Virtuosenstücke, erreichen aber dafür in ihrer dilettantischen Präsentation eine besondere innere Einigkeit, die zu einem lebendigeren Eindruck des Ganzen führt – auch wenn der Preis formale Mängel sind. Dilettantisch gehen beide letztlich auch mit ihrer Beziehung um – was wiederum die Gefühlsintensität zwar steigert, eine sozialverträgliche Gestaltungsleistung jedoch verhindert.
Überlagert werden diese Beziehungsverhältnisse durch den expliziten Geschlechterdiskurs, der immer wieder in den Figurenreflexionen aufscheint. Frauen wird dabei mehrfach das größere Mäßigungs- und damit Kultivierungsvermögen zugesprochen; sie haben auch das bessere Gespür für „das, was im Leben zusammenhängt“.  Männer hingegen seien generell auf den Augenblick und das einzelne Phänomen fixiert sowie von Natur aus stärker ihren Leidenschaften unterworfen. 

Diese natürliche Geschlechterpolarität wird in den beiden Paaren jedoch auffällig verkreuzt: So gleichen sich der Hauptmann und Charlotte in der eher weiblichen Anlage zu Mäßigkeit, Affektbeherrschung und Selbstvertrauen, während Eduard und Ottilie sozusagen ‚männlich’ leidenschaftlich, maßlos und unsicher sind. Gerade die komplementäre Anziehungskraft des Unterschiedlichen jedoch führt nach Goethes Modell von Polarität und Steigerung zu „wahrhaft bedeutenden Freundschaften“; gerade „entgegengesetzte Eigenschaften machen eine innigere Verbindung möglich“, so Charlotte im Wahlverwandtschaften-Gespräch.  So können sich Eduard und Ottilie zunächst gerade wegen ihrer Ähnlichkeit nur ins immer Maßlosere steigern; die Beziehung des Hauptmanns und Charlottes hingegen erstarrt zeitweise in der sich noch potenzierenden Mäßigkeitsbemühung. Erst als Ottilie ihre Leidenschaftlichkeit entschieden vergeistigt, gelingt ihr die wahrhaft frappierende Steigerung zur Heiligen. Und erst als Charlotte im nächtlichen Gespräch mit dem Major nach dem Tod des Kindes anerkennt, dass zum Vereinen auch das Scheiden gehört, übernimmt sie die volle Verantwortung für ihr Handeln.

‚Ehemäßiges Erzählen’ bedeutet also in den Wahlverwandtschaften: Die Ehe basiert auf der Anziehung der Geschlechter als einer Form der grundlegenden Polaritäten, die die Natur auf allen Ebenen durchziehen. Diese Polaritäten sind nicht als unversöhnliche Dualismen wie bei Jean Paul oder natürliche Geschlechtscharaktere wie bei Wezel zu verstehen, sondern als komplementäre Entsprechungen. Durch sie werden unendliche Variationen der Anziehung und Abneigung in Gang gesetzt – das demonstrieren auch die weiteren Ehegeschichten im Roman. Gleiches gilt für die erzählerische Darstellung: Mit dem Wechsel von reflektierenden und handelnden Passagen, von Monologen und Dialogen, von sachlicher Beschreibung und empfindsamen Aufschwüngen, von symbolischen Andeutungen und zeichenhaften Verrätselungen, von ironischen Spiegelungen und sachlich-experimenteller Konstruktion führt sie grundlegende erzählerische Polaritäten virtuos vor. Tatsächlich sind gerade die Wahlverwandtschaften so ungemein kultiviert und professionell erzählt, dass es ihrer Rezeption eher geschadet hat.

IV. Zusammenfassung: Gemäßigte Normativität vs. erzählerische Vielfalt

Wie stellt sich also abschließend betrachtet das Erzählen vom Eheleben in den literarischen Texten gegenüber den Rezepten der Sachprosa-Diskurs dar? Besonders interessant erscheint mir die in beiden Diskursen nachweisbare enge Verbindung zwischen Ehe und Kultivierung, die zwar kein ganz neuer Topos im Ehediskurs ist, nun aber sehr stark in den Vordergrund tritt (während beispielsweise der traditionelle Ehezweck der Fortpflanzung sehr auffällig in den Hintergrund gerät). Diese Verbindung hängt mit demjenigen grundlegenden Merkmal zusammen, das die Ehe dann doch noch auch poetologisch interessant macht: Sowohl ihr lebensweltlicher Vollzug als auch ihre literarische Darstellung erfordert so etwas wie einen angemessenen Umgang mit der Erfahrung von Dualität – sei es in Form von Gegensätzen, Widersprüchen, Polaritäten, komplementären Hälften –, und zwar im Alltag und auf Dauer.

Die Eheratgeber-Literatur reagiert auf dieses Problem durch ein zunehmend erweitertes Spektrum von Ehezwecken und differenziertere Rollenmodellen, die gleichwohl an den grundlegenden aufklärerisch-bürgerlichen Normen und Werten orientiert bleiben. Die Ehe als bürgerliche Lebensform konstituiert sich im 18. Jahrhundert aus der Abgrenzung gegen adlige Konvenienzehen nach oben und wahllose Sexualkontakte nach unten, aus der Etablierung des Ideals ‚häuslicher Glückseligkeit’ gegen das ältere Repräsentationsmodell und aus der Verabschiedung religiöser und biologischer Begründungsmuster. Das modellhafte aufklärerische Ehekonzept propagiert demgegenüber Mäßigung (sowohl in ökonomischer wie auch in emotionaler und sexueller Hinsicht) sowie Tugenden des geselligen und freundschaftlichen Umgangs; es bewährt sich in Erziehung und Kultivierung der Familienmitglieder durch- und miteinander. Dabei werden die alten Rollenbilder nicht völlig außer Kraft gesetzt, sondern nur moderat modifiziert: Ebenso wenig, wie der Bürger im Staat letztlich ein gleichberechtigtes Mitspracherecht hat, gilt das für die Frau in der Ehe. Mann und Frau haben von Natur aus eine unterschiedliche ‚Bestimmung’ und einen an diese angepassten ‚Beruf’; die Frau ist zunächst Ehefrau, Mutter und Haushälterin, der Mann zunächst Bürger, dann Erziehungsbevollmächtigter und Haushaltsvorstand. ‚Gleich’ ist hier vor allem der Anspruch auf wechselseitige Unterstützung – nach Maßgabe der Fähigkeiten und Möglichkeiten – sowie der Anspruch auf Gleichverteilung der Glückschancen.

Die Verbindungen des Ehediskurses in der Ratgeber- und in der Erzählliteratur sind in dieser Zeit relativ eng: Beide durchlaufen im 18. Jahrhundert wichtige Veränderungsprozesse, und beide reagieren auf realgeschichtliche Veränderungsprozesse in Ehe und Familie mit eher gemäßigten Reformvorstellungen.  Dabei überwiegen in der Ratgeberliteratur jedoch eindeutig die normativen Tendenzen – was logischerweise mit dem Genre einher geht –, während in der Literatur der Zeit verschiedene Beziehungsmodelle erprobt werden können. Das treibt schließlich auch die Entwicklung neuer Erzählformen voran: Die „gegründeten Liebe“ und ihr Erziehungsideal werden verbunden mit einem natürlich-didaktischen Erzählideal bei Gellert; die sympathetische Neigung und das soziale Engagement bei La Roche mit dialogischen Formen. Bei Wezel dient ein zweigleisig satirisch-psychologisches Erzählkonzept der Darstellung von Geschlechterkampf auf der einen Seite und dem Ideal polierter Natur auf der anderen; Jean Paul setzt die „Halbheit“ des Menschen und die soziale Determiniertheit von Kultur in einen  humoristisch-paradoxen und metaphernreichen Erzählstil um. Goethe schließlich demonstriert die Polarität der Geschlechter und die gegenseitige Steigerung als Kulturleistung mit einem komplementären Erzählmodell. Die Verschiedenheit der Geschlechter. ihre mögliche Verbindung in der Ehe und schließlich ihr kultivierender Einfluss auf die Protagonisten ebenso wie auch die Gesellschaft werden dabei für den Leser auf eine Weise erlebbar, die die Ratgeberliteratur letztendlich nur in Ansätzen simulieren kann.


»Aber ich hab’ sie verstanden«. 

Gesellige und ungesellige Sprachspiele in
Büchners
Leonce und Lena

Daß Georg Büchner ein überzeugter, ja sogar aggressiver Gegner jeglicher idea­listischer Philosophie wie auch der »sogenannten Idealdichter«[1] war, ist allge­mein bekannt.[2] Im »Kunstgespräch« in der Erzählung Lenz stellt er dem Idealis­mus ener­gisch die eigene Konzeption einer lebendig-organischen Kunst gegen­über:

Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist’s gut; [...] das Ge­fühl, daß Was geschaffen sei, Leben habe, stehe über diesen Beiden, und sei das ein­zige Kriterium in Kunstsachen. [...] Dieser Idealismus ist die schmählichste Ver­ach­tung der menschlichen Natur.[3]

Auch Büchners allgemeine Teleologie-Kritik im Rahmen seiner medizinischen Studien ist inzwischen ausführlich dargestellt worden[4]; ebenso seine Verzweif­lung ange­sichts des »gräßlichen Fatalismus« der Geschichte.[5] Wenig beachtet wurde in diesem Zusammenhang jedoch sein Lustspiel Leonce und Lena.[6] Dort fliehen zwei Königskinder vor ihrer bevorstehenden Zwangsverheiratung aus dynasti­schen Gründen vermeintlich hinaus in die große, weite Welt, in Wirk­lichkeit jedoch aufeinander zu und sich gegenseitig in die Arme. Dabei verkehrt Büchner ein altehrwürdiges Motiv: Leonce und Lena werden nicht etwa aus dem Para­dies vertrieben, sondern fliehen zurück »in das Paradies«[7] (S. 188); und dieses Paradies trägt auffäl­lige Züge eines in Italien situierten klassischen Arka­diens.[8] Sie entscheiden sich damit bewußt zu einer Regression anstelle ihre politi­sche Verantwortung zu übernehmen und für den Fortschritt des Menschen­geschlechts zu sorgen. Und sie verkehren darüber hinaus im Lauf ihrer Geschichte auch eine Vielzahl weiterer Gedanken und Motive, die die idealisti­sche Geschichtsphilosophie im Ausgangs von Kants Idee zu ei­ner all­gemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Hinsicht entwickelt hatte.

Ich will im folgenden in einer Art Gedankenexperiment versuchen, Büchners Leonce und Lena vor dem Hintergrund von Kants Idee zu einer allgemeinen Ge­schichte in weltbürgerlicher Hinsicht von lesen, und zwar Satz für Satz, und, sozusagen, Gegen-Satz für Gegen-Satz.[9] Dabei wird Kants Theorem von der »unge­selligen Geselligkeit« des Menschen den Zielpunkt dieser kontrastiven Lektüre abgeben. Kant beginnt seinen Text bekanntlich damit, daß er auf der Suche nach einer Gesetzlichkeit und Regelmäßigkeit in der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit einen »Plane der Natur«[10] anstelle des – ihm eigent­lich wesentlich lieberen, aber leider nicht nachweisbaren – »Leitfadens der Ver­nunft«[11] findet. Dieser »Plan der Natur«, so der erste Satz, beruht darauf, daß alle Geschöpfe in der Natur teleologisch darauf angelegt sind, sich irgendwann einmal »vollstän­dig und zweckmäßig auszuwickeln«[12] – was also nicht nur für den Schachtel­halm oder den Elefanten, sondern auch für den Menschen gelten muß.

Vollkommene Entwicklung der Anlagen gibt es auch bei Büchner. Valerio preist dem königlichen Hofstaat zwei – Automaten an:

Diese Personen sind so vollkommen gearbeitet, daß man sie von andern Menschen gar nicht unterscheiden könnte, wenn man nicht wüßte, daß sie bloße Pappdeckel sind, man könnte sie eigentlich zu Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft machen. Sie sind sehr edel, denn sie sprechen hochdeutsch. Sie sind sehr moralisch, denn sie stehen auf den Glockenschlag auf, essen auf den Glockenschlag zu Mittag, und gehen auf den Glockenschlag zu Bett, auch haben sie [eine] gute Verdauung, was beweist, daß sie ein gutes Gewissen haben. [...] Sie sind sehr gebildet, denn die Dame singt alle neue Opern und der Herr trägt Manschetten (S. 186).

Es ist vor allem die Kultivierung der so menschenähnlichen Wunderwerke der Mechanik, die hier ad absurdum geführt – ihr Sprachgebrauch, ihre Moralität, ihre Bildung – und zwar dadurch, daß diese auf eher niedere Körperfunktionen (die Verdauung), eher sekundäre Tugenden (die Pünktlich­keit) und eher äußerli­che Kulturleistungen (die Modephänomene Oper und die Manschetten) bezogen werden. Die Szene gipfelt darin, daß die beiden Auto­maten in effigie für die verschwundenen Königskinder Leonce und Lena getraut werden. Und Valerio schließt die Prozedur mit einem bezeichnenden Bild ab, das wiederum auf das Paradies-Motiv rekurriert: »so wäre denn das Männlein und das Fräulein er­schaffen und alle Tiere des Paradieses stehen um sie« (S. 187). Auf der letzten Stufe der weltbürgerlichen Gemeinschaft im Staate Popo stehen zwei Androi­den; und die Menschen, ihre verwandten Brüder, wer­den zu »Tieren« her­ab­gestuft.

Was unterscheidet aber nun den Menschen vom Automaten? Kant postuliert in seinem zweiten Satz, daß die differentia specifica des Menschen in seiner Vernunft bestehe. Diese müsse also möglichst vollständig im Verlauf der Ge­schichte ausgebildet werden, was aber letztlich wegen der Kürze des individu­ellen Lebens nur innerhalb der Gattung möglich sei.[13] Leonce hingegen wünscht sich sehnlichst, alle seine hochvernünftigen Ideale zum Teufel schicken zu kön­nen und endlich ein »wahrhaftiger Narr« werden zu können (S. 168); ja, Valerio ruft sogar mit Shakespeare aus: »Ein Narr! Ein Narr! Wer will mir seine Narr­heit gegen meine Vernunft verhandeln!« (S. 163). Hingegen hat König Peter es sehr auf philosophische Weisheit abgesehen: »Der Mensch muß denken« (S. 164) fordert er kategorisch. Beim Denken selbst gerät ihm jedoch immer wieder sein Körper in den Weg:

Wo ist mein Hemd, meine Hose? – Halt, pfui!, der freie Wille steht davorn ganz offen. Wo ist die Moral, wo sind die Manschetten? Die Kategorien sind in der schändlichsten Verwirrung, es sind zwei Knöpfe zuviel zugeknöpft, die Dose steckt in der rechten Ta­sche. Mein ganzes System ist ruiniert (ebd).

Wiederum – und es liegt nicht nur an der schönen M-Alliteration – wird die Mo­ral mit den Manschetten in intime Verbindung gebracht, ebenso wie der Wille mit den Beinkleidern. König Peter gerät durch seine Fixierung auf die abstrakte begriffliche Sprache der Philosophie und ihren Systemcharakter nicht etwa zum Philosophenkönig, sondern zum philosophischen Narren.[14] Sein Sohn Leonce hingegen, der es auf die Narrheit abgesehen hat, ist natürlich ein wahrer Philo­soph, gerade weil er ständig von Beinkleidern statt von Begriffen redet. Narrheit und Weisheit stehen bei Büchner in einem dialektischen Umschlagsverhältnis zueinander, und nicht in einem kausalen Entwicklungsverhältnis; und philoso­phische Be­griffe haben nur dann einen Inhalt, wenn sie auf eine konkrete – und das heißt bei Büchner immer: auch leibliche – Erfahrung bezogen werden kön­nen. Dafür stehen in Leonce und Lena nicht nur die allgegenwärtigen Hosen[15], sondern auch beispielsweise die häufigen Anspielungen auf die unterschiedli­chen Tätigkeiten der in den Hosen steckenden Beine: Der Hofmeister macht eine »Parenthese« (S. 161) beim Gehen; Rosettas Schritte werden als »zierlicher Hiatus« (S. 166) bezeichnet; Valerio hingegen hat die »Passion zu sitzen« (S. 171); und die bra­ven Staatsbür­ger sind schon ganz »abgestanden« (S. 183) vom langen Warten und Vi-Vat-Ru­fen. Ihre Art der körperlichen Bewegung charakterisiert die Figu­ren letztendlich mehr als ihre Art des Denkens.

Auf die unterschiedlichen Anlagen des Menschen bezieht sich auch der dritte Satz der Idee. Kant postuliert in ihm, daß der Mensch alle seine Naturanlagen völlig aus sich selbst heraus entwickeln muß; nur so könne er sich seiner spezifi­schen Fertigkeiten, seiner Lebensumstände und seiner Kultur als würdig erwei­sen.[16] Leonce hingegen sieht sich weder in der Lage, einen sinnvollen Beitrag zur kulturellen Entwicklung der Menschheit zu leisten, noch überhaupt dazu, irgend etwas Neues aus sich selbst heraus hervorzubringen. Sein Kardinalpro­blem ist die Langeweile[17]:

Es krassiert ein entsetzlicher Müßiggang. – Müßiggang ist aller Laster Anfang. Was die Leute nicht Alles aus Langeweile treiben! Sie studieren aus Langeweile, sie beten aus Langeweile, sie verlieben, verheiraten und vermehren sich aus Langeweile und sterben endlich aus Langeweile (S. 162).

Diese Langeweile hat mehrere Ursachen, von denen einige anthropo-logisch, an­dere zeittypisch sind. Unabänderlich ist, daß Leonce seine Individualität nicht ablegen kann; sein Wunsch »O wer einmal jemand Anderes sein könnte« (S. 162), ist naturgemäß nicht erfüllbar. Zeittypisch ist hingegen, daß es keine neuen Ideale und Ideen mehr zu geben scheint; alles ist bereits einmal gesagt und getan worden, sowohl in der Wissenschaft wie in der Liebe wie in der Poe­sie; und Valerios Idee, »nützliche Mitglieder der menschlichen Gesellschaft« zu werden (S. 172) kann Leonce in nachaufklärerischen Zeiten nur noch dazu trei­ben, seine »Demission als Mensch« (ebd.) abzugeben.

Eben deshalb ist es ihm auch unmöglich, eine sinnvolle Unterhaltung mit Valerio oder irgendeinem anderen Mitglied des Hofstaats zu führen: Die Spra­che ist ihm ein einziges Wortspiel geworden, in dem die Wörter unter ihren an­gesammelten Bedeutun­gen zu ersticken drohen und unmittelbare Kommunika­tion nicht mehr möglich ist. Valerio kann nicht einmal mehr den hochwürdigen Präsidenten dazu auffor­dern, mit ihm zu kommen, ohne in eine Art pathologi­sche Sprachwut zu verfal­len:

Es ist eine traurige Sache um das Wort kommen, will man ein Einkommen, so muß man stehlen, an ein Aufkommen ist nicht zu denken, als wenn man sich hängen läßt, ein Unterkommen findet man erst, wenn man begraben wird, und ein Auskommen hat man jeden Augenblick mit seinem Witz, wenn man nichts mehr zu sagen weiß, wie ich zum Beispiel eben, und Sie, ehe Sie noch etwas gesagt haben. Ihr Abkommen haben Sie gefunden und Ihr Fortkommen werden Sie jetzt zu suchen ersucht (S. 171)

Bemerkenswerterweise läßt sich auch in dieser oberflächlich sinnlosen Variation über das Lexem »kommen« noch ein tieferer Sinn auffinden: Das Aufhängen – der Tod – erst bewirkt ein »Aufkommen« (das doch eigentlich dem Leben zu­käme); das Grab erst gibt ein »Unterkommen« (wenn der Mensch im Leben keine bleibende Heimat bekommen kann). Auch die Sprache selbst changiert also auf dialektische Weise zwischen Narrheit und Vernunft, oberflächlichem Sprachspiel und tiefer Wahrheit, wenn auch mit deutlichem Schwergewicht auf ersterem – es handelt sich immerhin um ein Lustspiel. Deshalb sprechen die Fi­guren die meiste Zeit in Paradoxen und grotesken Katachresen: Valerio ist ein »schlechtes Wortspiel« (S. 171), das die fünf Vokale miteinander erzeugt haben; der Prinz ein »Buch ohne Buchstaben, mit nichts als Gedankenstrichen« darin (ebd.).

Weil Originalität auch und gerade in der Sprache nicht mehr möglich ist, ist das gesamte Stück zudem eine einzige Plünderung der Zitatenkiste der Weltlite­ratur.[18] Als Valerio Leonce davon ab­bringt, Selbstmord aus Liebeskummer zu begehen, schimpft dieser:

Mensch, du hast mich um den schönsten Selbstmord gebracht. Ich werde in meinem Leben keinen so vorzüglichen Augenblick mehr dazu finden und das Wetter ist so vortrefflich. Der Kerl hat mir mit seiner gelben Weste und seinen himmelblauen Hosen Alles verdorben (S. 181).

Der gescheiterte Werther ist zugleich für die literaturbesessene Gou­vernante ein »Don Carlos« (S. 173) und ein »irrender Königssohn« (S. 176); ihre Schutzbe­fohlene Lena ist die »heilige Odilia« (ebd.) auf der Flucht und ein archetypi­sches »Opferlamm« (S. 173); und Leonce imaginiert das unge­liebte Eheleben nach dem Muster des Vater Shandy, der allsamstäglich auf den Schlag der Pen­deluhr sei­nen ehelichen Pflichten nachkommt (S. 171). Wo es jedoch keine Möglichkeit mehr gibt, authentisch zu leben, gibt es auch keine Möglichkeit mehr, lebendig zu kommunizieren ‑ geschweige denn literarisch originell zu ge­stalten.

Damit komme ich endlich zum eigentlichen Thema, der ungeselligen Gesel­ligkeit, und damit dem vierten Satz bei Kant. Die wesentliche Triebfeder zur kulturellen Entwicklung ist für Kant eine widersprüchliche Anlage im Men­schen, die ihn gleichzeitig dazu antreibt, sich mit anderen Menschen zu verge­sellschaften und für sich allein zu bleiben.[19] Erst die Notwendigkeit, mit anderen auszukommen, setzt den natürlichen Drang des Menschen zur Faulheit zuminde­stens temporär außer Kraft; allein gelassen, würde er ansonsten in Ewigkeit ein »arkadisches Schäferleben«[20] führen. Das genau ist es, was Valerio erstrebt, der allerdings auch mit einem besonderen Talent zum Müßiggang ausgestattet ist. Der idealistische Leonce hingegen hat, trotz aller Schwermut und Desillusio­niertheit, »noch eine gewisse Dosis Enthusiasmus zu verbrauchen« (S. 177). Diese will er jedoch weder dazu einsetzen, König zu werden, noch Wissen­schaftler, Held oder Genie – oder gar ein »nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft« (S. 172)! Vielmehr treibt es auch ihn, »nach Italien« zu gehen und dort unter dem »tiefblauen glühenden Äther« ein »Lazzaroni« zu werden (ebd.). Dazu braucht er nur die Gesellschaft des »großen Pan« und einiger »Marmor-Säulen und Leiber« (ebd.), um dann im Schatten vor sich hin zu träumen. Zwar zehrt diese Italien-Utopie als kulturelles Stereotyp von alten Kulturleistungen, selbst bringt sie aber nichts Neues hervor; sie ist eskapistisch und zutiefst un­produktiv.

Während Leonce sich so aus der geselligen Hofgesellschaft aufmacht, um seine ungesellige Traumwelt in Italien zu suchen, verläßt Lena angesichts der drohenden Heirat mit einem unbekannten Mann in entgegengesetzter Richtung ihren ebenso ungeselligen wie idyllischen Garten, wo sie zwischen »Myrthen und Oleandern« (S. 176) mit Büchern geträumt hatte und begibt sich in die ge­fährliche Welt der Gesellschaft. »O Gott, ich könnte lieben, warum nicht?«, hatte sie ihrer Gouvernante zuvor anvertraut: »Man geht ja so einsam und tastet nach einer Hand, die einen hielte, bis die Lei­chenfrau die Hände auseinander­nähme und sie Jedem über der Brust faltete« (S. 173). Lena spürt also offenbar einen ganz urtümlichen Hang zur Vergesell­schaftung im Sinne Kants, wenn sie ihn auch auf eine etwas ungewohnte Weise sowohl auf das Leben wie auf das Sterben des Menschen bezieht. Für Lena je­doch sind Liebe, Leben und Tod in einer kaum genau unterscheidbaren Weise eines. Sie lebt ganz in der Natur, ohne Zeitgefühl, ohne Reflexion ihrer selbst; wo dem hochkultivierten Leonce die Welt uralt und beklemmend wie ein »enges Spiegelzim­mer« (S. 174) ist, findet das unver­bildete Naturkind sie »unendlich weit« (S. 176) und mißt sie mit den Maßen des natürlichen Zeitrhythmus von Tag und Nacht, Frühling und Winter. Und auch ihre gesamte Sprache ist eine reine Sprache der Natur und damit das genaue Gegenteil des ungeselli­gen Sprachspiel des Witzes; sie hört die »Harmonien des Abends«, sie sieht wie sich die Pflanzen schla­fen legen und imaginiert sich den Mond als schlafendes, sterbendes Kind (S. 179).

Es ist ausgerechnet diese Natur-Sprache, die Leonce plötzlich und unerwartet versteht. Die Königskinder treffen sich zum ersten Mal, beide inkognito, auf ih­rer Flucht vor der ungeliebten Heirat. Lena beschwert sich bei ihrer Gouvernante mit dem ziemlich trivial anmutenden Satz: »Meine Liebe, ist denn der Weg so lang?« Und der verborgen lauschende Leonce respondiert in seiner träumeri­schen Art: »O, jeder Weg ist lang« – worauf sich ein sehr kurzer Wortwechsel anschließt, den Leonce enthu­siastisch resümiert: »aber ich hab’ sie verstanden« (S. 178). »Aber ich hab’ sie verstanden« ‑ das ist, so trivial es klingt, in Leonce und Lena ein singuläres Ereignis und deshalb ein echter Höhepunkt: Denn es wird unglaublich viel geredet im geselligen Reiche Popo, aber gleichzeitig un­glaublich wenig ge­sagt und noch viel weniger verstanden. Auch der sich an­schließende Dialog von Leonce und Lena in einem unwirklich-nächtlichen Gar­ten ist nicht eigentlich eine Unterhaltung, sondern eine Art Traum-Rezitativ verwandter Seelen:

Lena: Der Mond ist wie ein schlafendes Kind, die goldnen Locken sind ihm im Schlaf über das liebe Gesicht heruntergefallen. – O sein Schlaf ist Tod. [...] Armes Kind, kom­men die schwarzen Männer dich bald holen? Wo ist Deine Mutter? Will sie Dich nicht noch einmal küssen? Ach es ist traurig, tot und so allein.

Leonce: Steh auf in Deinem weißen Kleide und wandle hinter der Leiche durch die Nacht und singe ihr das Totenlied.

Lena: Wer spricht da?

Leonce: Ein Traum

Lena: Träume sind selig.

Leonce: So träume Dich selig und laß mich Dein seliger Traum sein.

Lena: Der Tod ist der seligste Traum

Leonce: So laß mich Dein Todesengel sein. (S. 179f.)

Hier findet kein belangloses Sprachspiel statt, sondern es wird auf eine geradezu bedrohlich wirkende Art existentiellen Grunderfahrungen Ausdruck verliehen. Dabei wird die normale, alltägliche Sprachlogik zugunsten einer nächtlichen Traum- und Bildlogik außer Kraft gesetzt. In dieser dialogischen Imagination der Einheit von Tod und Traum erwacht die Beziehung von Leonce und Lena zum Leben; allerdings nur für einen verschwindenden Augenblick. Völ­lig be­rauscht von dieser Epiphanie einer gelingenden Kommuni­kation – »ich hab’ sie verstanden« – ruft Leonce aus:

Zu viel! Zu viel! Mein ganzes Sein ist in dem einen Augenblick. Jetzt stirb. Mehr ist unmöglich. Wie frischatmend, schönheitglänzend ringt die Schöpfung sich aus dem Chaos [mir] entgegen (S. 180).

Man ist zunächst geneigt, diese Zeilen nun doch wieder als ironische Faust-Para­phrase, zumindestens jedoch als den pathetisch-übersteigerten Ausruf eines vor Liebe Schwärmenden zu überlesen. Nimmt man sie jedoch ernst‑ was das Le­bens- und Schöpfungspathos nahelegt, das sich sonst an keiner Stelle des Textes findet ‑, geraten hier Tod und Leben in eine Verbindung, die enger nicht gedacht werden kann: In der Vorstellung des gemeinsam-einsamen Sterbens mit der Ge­liebten fühlt sich Le­once lebendiger als je zuvor in seinem von der Langeweile geknechteten, nur äußerlich gesel­ligen Leben am Hofe. Und in dem Moment, wo er sich anschickt, tatsächlich zu sterben, versteht er zum ersten Mal die ge­samte »Schöpfung« als wahrhafte Ur­schöpfung von Schönheit aus Chaos. Das führt uns wieder zur dialektischen Fi­gur des Umschlags zurück: Ebenso wenig, wie Vernunft ohne Narrheit gedacht werden kann, kann das Leben ohne den Tod gedacht werden. Ebenso, wie die Sprache unter hergebrachten Bedeutungen und Konventionen ersticken kann, kann sie durch Aktivierung ihres ursprünglichen, assoziativen und a-logischen Bildgehalts wieder reanimiert werden.

Dieser Umschlag umfaßt jedoch nur einen Moment, der – naturgemäß – eben nicht verweilt. Leonce und Lena kehren als Automaten – also ihrer soeben erst gefundenen Lebendigkeit wieder beraubt – in die gesellige Welt des Hofes zu­rück, wo ihre Hochzeit zunächst in effigie vollzogen wird. Als die Masken fallen und die beiden erkennen, daß sie unbeabsichtigt doch denjenigen geheiratet ha­ben, vor dem sie zunächst geflohen waren, resümiert Leonce: »Ei Lena, ich glaube das war die Flucht in das Paradies« (S. 188). Was jedoch tun die beiden nun im Paradies? Zunächst schicken sie die gesellig-ungesellige Hofgesellschaft nach Hause, die sich seit dem frühen Morgen die Beine in den Bauch gestanden und Vivat-Rufen geübt hat; sie laden sie aber für den nächsten Tag ein, um nun die Hochzeitsfeier nicht mehr in effigie, sondern realiter noch einmal von vorn zu wiederholen. Der Schein der Geselligkeit bleibt damit gewahrt; aber es ist offensichtlich eine Theaterrealität, die beliebige Wie­derholungen eines einmal inszenierten Stückes, der immer wieder gern gesehe­nen Hochzeit der Königs­kinder, erlaubt. Für die Königskinder selbst plant Le­once etwas anderes. Das Stück endet mit einer bezeichnenderweise wieder rückwärtsgewandten, also: umgekehrten, Utopie:[21]

Leonce: Aber ich weiß besser was Du willst, wir lassen alle Uhren zerschlagen, alle Kalender verbieten und zählen Stunden und Monden nur nach der Blumenuhr, nur nach Blüte und Frucht. Und dann umstellen wir das Ländchen mit Brennspiegeln, daß es keinen Winter mehr gibt [...] und wir das ganze Jahr zwischen Rosen und Veilchen, zwischen Orangen und Lorbeern stecken. (S. 189)

Leonces Plan ist damit nichts geringeres als die Abschaffung der Zeit zugunsten der von Kant befürchteten »Ewigkeit« des arkadischen Schäferleben. Mit der ersten Vertreibung aus dem Pa­radies begann die Zeitrechnung der Kultivierung des ursprünglichen Naturmen­schen, wurde der »Plan der Natur« zur Vervoll­kommnung der Menschengattung initiiert; und mit der Ablehnung der Verge­sellschaftung und Vervollkommnung und der Rückkehr der beiden Liebenden in das zeitlose Paradies endet sie wieder, wird das Programm außer Kraft gesetzt. Leonce und Lena erteilen dem großen Plan eine Absage in Namen des lebendi­gen Individuums, das sich dem abstrakten Fortschritt der Menschen­gattung nicht fügen will, indem sie den Preis deutlich machen, der dafür vom Einzelnen be­zahlt werden muß. Leonce und Lena tut dies als literarisches Werk vor allem im Medium der Sprache – einem lebendigen, geschichtlichen Orga­nismus, der wie der Mensch von Verarmung, Verzweckung, Vergewaltigung in jeglicher Hin­sicht bedroht ist. Gleichzeitig ist die Sprache ein besonders geeig­neter Gradmes­ser von Geselligkeit und Ungeselligkeit in der menschlichen Ge­sellschaft: Er­laubt sie noch wahrhafte Kommunikation, oder ist sie schon zum philosophi­schen Monolog oder zum automatenhaften Sprachspiel geworden? Leonce und Lena schreibt damit schließlich eine andere, leiblichere, individu­ellere, todesnä­here »Philosophie der Geschichte« als der Königsberger Philo­soph, der immer­hin selbst im neunten Satz zum Abschluß seiner Ideen befunden hatte: »Es scheint, in einer solchen Absicht könne nur ein Roman zu Stande kommen« (S. 48) ‑ oder aber ein trauriges Lustspiel der ungesel­ligen Geselligkeit im när­risch-philosophischem Reiche Popo.


[1]   Georg Büchner: Werke und Briefe. Münchner Ausgabe, hg von Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub, Hans-Joachim Simm und Edda Ziegler, München 1988; hier: Brief an die Familie vom 28. Juni 1835, S. 306.

[2]   Vgl. z. B. den Brief an Wilhelm Büchner vom 2. September 1836: »Ich werde [...] in Kur­zem nach Zürich gehen, um in meiner Eigenschaft als überflüssiges Mitglied der Gesell­schaft meinen Mitmenschen Vorlesungen über etwas ebenfalls höchst Überflüssiges, näm­lich über die philosophischen Systeme der Deutschen seit Cartesius und Spinoza, zu hal­ten« (ebd., S. 321). Büchner trug sich zu diesem Zeitpunkt mit dem Gedanken, die ve­nia legendi für Medizin zu erlangen; die Manuskripte zu Descartes und Spinoza sind er­halten.

[3]   Georg Büchner: Lenz, in: Ders.: Werke und Briefe (Anm. 1), S. 144.

[4]   Vgl. Udo Roth: Georg Büchners naturwissenschaftliche Schriften. Ein Beitrag zur Ge­schichte der Wissenschaften vom Lebendigen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Tübingen 2004

[5]   Das bekannte Zitat aus dem Brief an seine Braut vom März 1834 lautet vollständig: »Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem verliehen. Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe in bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerli­ches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich« (in: Werke und Briefe, Anm. 1, S. 288).

[6]   Zur Umsetzung der Idealismus-Kritik im Lenz vgl. Andreas Pilger: Die »idealistische Peri­ode« in ihren Konsequenzen. Georg Büchners kritische Darstellung des Idealismus in der Erzählung Lenz, in: Georg Büchner Jahrbuch 8 (1990-94), S. 69-103; zur Bedeutung für den Woyzeck: Günter Oesterle: Das Komischwerden der Philosophie in der Poesie. Literatur-, philosophie- und gesellschaftsgeschichtliche Konsequenzen der »voie physio­logique« in Büchners Woyzeck, in: Georg Büchner Jahrbuch 3 (1983), S. 200.239.

[7]   Zitate aus Leonce und Lena werden im folgenden direkt im Text nach der folgenden Aus­gabe zitiert: Büchner: Werke und Briefe (Anm. 1).

[8]   Vgl. dazu E. Theodor Voss: Arkadien in Büchners Leonce und Lena, in: Georg Büchner: Kritische Studienausgabe, hg. von Burghard Dedner, Frankfurt a. M. 1987, S. 275-436.

[9]   Die Idee hat bei Kant neun Sätze; ich werde aber nicht auf alle gleichermaßen eingehen können. 

[10]  Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Ders.: Werke in zehn Bänden, Bd. 9: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1983, hier: S. 34.

[11]  Ebd., S. 35.

[12]  Ebd.

[13]  »Am Menschen (als einzigen vernünftigen Geschöpf auf Erden) sollten sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln« (ebd.).

[14]  Zu Büchners Kritik der Kunstsprache der Philosophie vgl. den Brief an August Stoeber vom 9. Dezember 1833: »Ich werfe mich mit aller Gewalt in die Philosophie, die Kunst­sprache ist abscheulich, ich meine für menschliche Dinge müsse man auch menschliche Ausdrücke finden; doch das stört mich nicht, ich lache über meine Narrheit und meine es gäbe im Grund genommen doch nichts als taube Nüsse zu knacken« (Büchner: Werke und Briefe, Anm. 1, S. 284). König Peter kann im übrigen im Rahmen des hier vorgenomme­nen Gedankenexperiments auch als Karikatur des von Kant im fünften Satz der Idee ge­forderten vollkommenen Herrschers betrachtet werden, der in sich »richtige Begriffe von der Natur einer möglichen Verfassung, große durch viele Weltläufte geübte Erfahrung und [...] guten Willen« (Kant: Idee, Anm. 10, S. 41) haben muß.

[15]  Auch in einem Brief von Büchner als Gutzkow aus Straßburg im Jahr 1835 taucht diese bezeichnenden Zusammenstellung auf: »Ich werde ganz dumm in dem Studium der Philo­sophie; ich lerne die Armseligkeit des menschlichen Geistes wieder von einer neuen Seite kennen. Meinetwegen! Wenn man sich nur einbilden könnte, die Löcher in unsern Hosen seien Palastfenster, so könnte man schon wie ein König leben, so aber friert man erbärm­lich« (Büchner: Werke und Briefe, Anm. 1, S. 311f.).

[16]  »Die Natur hat gewollt: daß der Mensch alles was über die mechanische Anordnung sei­nes tierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringe, und keiner anderen Glückseligkeit, oder Vollkommenheit, teilhaftig werde, als die er sich selbst, frei von In­stinkt, durch eigene Vernunft verschafft hat« (Kant: Idee, Anm. 10, S. 36).

[17]  Vgl. zur Langeweile als grundlegendem Lebensgefühl Büchners auch vielfache briefliche Äußerungen, z. B. im Brief an Gutzkow, Anfang Juni 1836: »Das ganze Leben desselben [der »abgelebten menschlichen Gesellschaft«] besteht nur in Versuchen, sich die entsetz­lichste Langeweile zu vertreiben. Sie mag aussterben, das ist das einzig Neue, was sie noch erleben kann« (Büchner: Werke und Briefe, Anm. 1, S. 320). Ähnlich heißt es im Lenz: »Alles aus Müßiggang. Denn die Meisten beten aus Langeweile; die Andern verlie­ben sich aus Langeweile, die Dritten sind tugendhaft, die Vierten lasterhaft und ich gar nichts, gar nichts, ich mag mich nicht einmal umbringen: es ist zu langweilig« (ebd., S. 153). Schließlich erschafft in Leonce und Lena sogar Gott die Welt aus Lange­weile (S. 187).

[18]  Vgl. dazu beispielsweise den ausführlichen Kommentar in Walter Hinderer: Büchner-Kom­mentar zum dichterischen Werk, München 1977, S. 129-158.

[19]  Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwickelung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen, ist der Antagonism derselben in der Gesellschaft, so fern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung derselben wird. Ich verstehe hier unter dem Antagonism die ungesellige Geselligkeit der Menschen; d. i. den Hang derselben, in Ge­sellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Ge­sellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist. Hiezu liegt die Anlage offenbar in der menschlichen Natur« (Kant: Idee, Anm. 10, S. 37).

[20]  Ebd., S. 38.

[21]  Vgl. zu den verschiedenen Interpretationen des Schlusses in der Büchner-Forschung Voss: Arkadien (Anm. 8), S. 282-285.

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