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Projekt Populärphilosophie


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Bären-Philosophie

Es gibt einige wenige philosophische Sätze, die kennt (fast) jede: Gott ist tot! (Nietzsche); Das Sein bestimmt das Bewußtein (Marx); oder Sokrates nie genug hochzuschätzende Feststellung: Ich weiß, dass ich nichts weiß – na gut, jetzt wird es schon ziemlich eng mit dem Angebot. Aber einer der berühmtesten fehlt, und er kommt ganz knapp und unschuldig und einfach daher. Aber das täuscht. Man versteht ihn nämlich gar nicht, auf Anhieb jedenfalls. Deshalb erzählt René Descartes in seinen Meditationen auch die ganze Geschichte dazu, wie er auf diesen Satz gekommen ist: Er hat nämlich damit angefangen, an der Existenz von allem zu zweifeln – dem schauerlich kalten Raum in den Niederlanden, wo er im Exil sitzt, während in Europa der 30jährige Krieg tobt; er zweifelt an dem Ofen, am seinem Nachtrock, an dem Stück Papier, an seinen Händen – einfach an allem, was ihn umgibt. Es könnte ja ein Traum sein, vorgespiegelt von einem tückischen Dämon! Ein paar Gedankensprünge weiter (es kommt hier nicht auf akademische Exaktheit an) bleibt nur eines, was unbezweifelbar ist: Dass es ein Ich gibt, das diese Zweifel denkt; eine denkende Substanz, nicht ausgedehnt im Raum, nicht greifbar und fassbar: ein sozusagen reines Ich, das ist, weil es denkt. Cogito ergo sum, Ich denke, also bin ich! (natürlich schrieb der Universalgelehrte Descartes auf Latein; und es gibt auch viele Streitigkeiten über genaue Formulierung, Übersetzungen etc. etc.) Ich denke, also bin ich. Ach so, ist man geneigt zu sagen. Aber was nützt mir das eigentlich, bei genauerer Betrachtung, und wenn wir unsere philosophische Höhle wieder verlassen und in die Welt der greifbaren Dinge hinausgehen?

Das ist die Frage, die Thomas Wellmanns Comic (es ist aber eher eine Art graphic philosophical novel) mit dem Titel Renés Meditationen. Frei nach René Descartes umtreibt. In ihm begegnen wir Descartes, und zwar als Bären (er erinnert gelegentlich ein wenig an Winnie Pooh, beispielsweise wenn er Honig isst oder philosophische commonplaces von sich gibt). Und er hat einen Gefährten, einen pfiffigen Waschbären (ziemlich viel klüger als Piglet, dem er aber trotzdem in der Gestalt ein wenig ähnelt). Und er braucht ihn auch. Denn René ist zwar, bärengemäß, ein sehr tiefer und gründlicher und geduldiger Denker, aber Marin – so heißt der Waschbär – widerspricht ihm regelmäßig auf die allernetteste, allerfreundlichste – und abgrundskeptischste Art und Weise der Welt. Marin und René; ohne Dialog, ohne allerfreundlichsten und abgrundskeptischen Widerspruch keine Philosophie. Wer aber ist Marin?

Eine google-Recherche später (es war sogar eine leichte) sind wir klüger: Marin Mersenne war ebenfalls ein Universalgelehrter; studierter Theologe, ambitionierter Physiker, Astronom und Mathematiker, in gewissem Sinne: Erfinder des modernen Experiments und bis heute vor allem bekannt durch die nach ihm benannten Mersenne-Primzahlen sowie durch seine Universaltheorie der Musik und der Instrumente. Aber vor allem korrespondierte er. Das Gelehrtennetzwerk seiner Zeit war das Gegenstück zu den heutigen social media (nur eben auf Latein und mit technischen Zeichnungen statt Videos). Marin Mersenne kannte sie alle, die Großen seiner Zeit; und er besuchte sie auch, er machte sozusagen europaweit Werbung für sie, er war ein großer Vermittler, heute würden wir wahrscheinlich pompös sagen: „Wissenschaftskommunikator“.

Marin und René, Waschbär und Braunbär, sind aber auch zwei grundverschiedene Denkertypen. Denn genau wie René sich im Winter mit vollgefressenem Bauch und verstopftem Darm in seiner Höhle vergräbt und sehr, sehr lange nicht wieder herauskommt, so denkt er auch. Mit verstopftem Darm? So stutzt man beim Lesen an dieser Stelle, was soll uns denn dieser fun fact wohl sagen? „Bären verstopfen im Herbst vorsätzlich ihren Darmausgang, um während des Winterschlafs nicht aufs Klo zu müssen“! Ach, er sagt uns alles, er gibt uns den Schlüssel. Auf ihm kann man eine ganze Kritik des Systemdenkens schlechthin aufbauen! Das wissen wir aber erst am Ende, wenn wir René lange und geduldig beim Denken zugeschaut haben, so wie Marin. Wenn wir gesehen haben, wie er ins Brüten verfällt, immer mehr von außen nach innen geht, und es gärt und es brodelt in seinem Kopfe, aber es will noch nicht hinaus, es kann noch nicht hinaus, es soll noch nicht hinaus, sondern gärt weiter und weiter und – man male sich die Metapher selbst aus!

Derweil verbringt Marin seinen Winter in einer schönen dunklen Bibliothek und ernährt sich von Büchern. Und deshalb weiß er auch, welche genaue Oberflächentemperatur die Sonne hat und wie groß ihr Durchmesser ist. Oder er weiß, dass Menschen Wesen voller Mängel sind. Und er kann sich auch eine Körpermaschine ohne Geist vorstellen (er ist nämlich nicht nur Atheist, sondern auch Materialist); und er weiß, dass die großen bösen Wölfe dieser Welt weiter die kleinen flinken Kaninchen jagen werden, weil das eben der Gang der Dinge ist unter einer Sonne, die eine unvorstellbare Oberflächenhitze und einen immensen Durchmesser hat. Er weiß sogar, wozu man trotz alledem noch Philosophie betreiben sollte – nämlich weil ---

Aber das wäre jetzt zu viel gespoilert. Das muss jede schon für sich herausfinden, es macht auch einfach zu viel Spaß und ist gar nicht lang zu lesen! Man schaue aber auch auf die zeichnerischen Details; erfreue sich am wilden Wald und seinen kleinen Tieren oder an Renés interessanten Götterbild (einer Mischung aus Bären und Buddha). Und dann beginne man, dem Denken zuzuschauen, wie es sich zeichnerisch wie sprachlich entwickelt: entweder auf die Braunbärenart (langes Brüten, Verstopfung aller Zugänge zur Außenwelt, explosionsartige Universalerkenntnis am Ende) oder auf Waschbärenart (lesen, schauen, zweifeln; lesen, schauen, zweifeln, lesen …). Am Ende jedenfalls ist man klüger.

Die neunmalkluge Eule aber hat es von Anfang an schon gewusst: „Denkt aber nicht, isst bloss“, der René! Darauf könnte man auch mal eine Philosophie aufbauen.


Thomas Wellmann: Renés Meditationen. Frei nach René Descartes. Rotopolpress Kassel, 2024.


Was ist Aufklärung?

Acht Antworten auf eine alte Frage

Was ist Aufklärung? Je nachdem, in welchem Kontext man diese Frage stellt, wird die Antwort wohl unterschiedlich ausfallen: Man wird auf kichernde Kinder und errötende Eltern stoßen, die Dinge über Bienen und Blumen daherstammeln (na gut, heute vielleicht nicht mehr…). Man könnte auf ernsthaft dreinblickende Politiker stoßen, die ‚lückenlose Aufklärung‘ nach einem Skandal fordern. Oder man könnte auch auf Literaturwissenschaftlerinnen stoßen, die einen Vortrag über Wieland, Kant und Lessing halten und über die Aufklärung des 18. Jahrhunderts als geistige und literarische Bewegung, die unser modernes Selbstverständnis als aufgeklärte Menschen bis heute prägt. So weit, so gut, aber noch etwas unscharf. Fragen wir weiter:  

1. Was ist Aufklärung? Eine Metapher  

Was also ist Aufklärung, verstanden nun als geistesgeschichtlicher Prozess oder als historische Epoche, die sich ungefähr über das gesamte 18. Jahrhundert erstreckt und dabei verschiedene Phasen durchläuft? Sagen wir zunächst das Offensichtliche: Es ist eine Metapher, also ein sprachliches Bild. Etwas klärt sich auf, wenn die Dunkelheit heller wird, der Nebel verschwindet, die Sonne immer stärker wird und alles in ihr helles Licht taucht. Eben dieses tut das ‚Licht der Vernunft‘ in der schon von den Zeitgenossen selbst ‚Aufklärung‘ genannten Epoche der menschlichen Geschichte: Es leuchtet dorthin, wo dunkle Gesellen wie der Aberglaube und das Vorurteil ihr Unwesen treiben; es bringt dabei ans Licht, was für alle Menschen nützlich, ja unentbehrlich zu wissen ist, um sich in der Welt orientieren zu können. Doch kann es nicht auch zu hell werden? Setzen wir nicht Sonnenbrillen auf, wenn die Sonne allzu grell vom Himmel scheint, und suchen den sanften, versöhnlichen Schatten? Das ist das Gute wie das Schlechte an Metaphern: Sie machen etwas anschaulich, sie lassen uns einen Gedanken sinnlich erfahren; aber sie zeigen gleichzeitig dort Grenzen auf, wo der Begriff sie normalerweise nonchalant überspielen würde.        

Kann es zu viel Aufklärung geben? Georg Christoph Lichtenberg, ein skeptischer Aufklärer und großer Liebhaber von Metaphern samt ihrer Übersetzung ins Begriffliche, sinniert beispielsweise:

„Was man von dem Vorteile und Schaden der Aufklärung sagt, ließe sich gewiß gut in einer Fabel vom Feuer darstellen. Es ist die Seele der unorganischen Natur, sein mäßiger Gebrauch macht uns das Leben angenehm, es erwärmt unsere Winter und erleuchtet unsere Nächte. Aber das müssen Lichter und Fackeln sein, die Straßenerleuchtung durch angezündete Häuser ist eine sehr böse Erleuchtung. Auch muß man Kinder damit nicht spielen lassen“.  

Es ist denkbar, dass diese Passage nach der Französischen Revolution geschrieben wurde, die sich eine einigermaßen radikale Aufklärung auf ihre Fahnen geschrieben hatte und sie mit angesteckten Häusern illustrierte. Es ist aber auch denkbar, dass Lichtenberg überhaupt ein wenig skeptisch war, ob sich alle Dinge wirklich immer und in jeder Hinsicht durch bessere Beleuchtung aufklären lassen!

2. Was ist Aufklärung? Lexikondefinitionen

Was also, fragen wir erneut, ist Aufklärung, und wo vielleicht sind ihre Grenzen und Gefahren? Wie bei den meisten Begriffen, die man auch gern zu ideologischen Zwecken benutzt, ist ihr Inhalt nicht gerade in Stein gemeißelt; jeder benutzt solche Begriffe zwar gern, aber jeder denkt sich etwas anderes dabei (und manchmal auch gar nichts; je allgemeiner der Begriff, desto größer die Gefahr, dass er zur leeren Formel wird). Je mehr man meint, einen solchen Allgemein- und Kampfbegriff auf Anhieb verstehen zu können, desto stärker zeigt der zweite Hieb, dass der Begriff selbst eher schwammartigen Charakter zu haben scheint und in seiner Geschichte auch sehr fragwürdige Dinge aufgesogen hat.    

Fragen wir also Leute, deren Job es ist, Begriffe möglichst präzise zu definieren; fragen wir Lexikonmacher, Wörterbuchautoren. Beginnen wir damit im 18. Jahrhundert selbst, also der Zeitspanne, die den Begriff sozusagen „erfunden hat“ (der Sachverhalt selbst ist natürlich viel älter, schon die Antike hatte ihre Aufklärung), und befragen als ersten Kronzeugen Johann Christoph Adelung, Sprachforscher, Philologe und eben Lexikonmacher. In seinem ‚Grammatisch-Kritischen Wörterbuch der deutschen Sprache‘, einem damaligen Standardwerk, definiert er, kurz und bündig: Aufklärung sei

„1) Die Handlung des Aufklärens, besonders im figürlichen Verstande [also: eine Metapher]. 2) Der Zustand, da man mehr klare und deutliche, als dunkle Begriffe und Vorurtheile hat“.

Aufklärung ist also nicht nur abstraktes Denken, sondern auch konkretes Tun, Handlung, schon vom grammatischen Sinn des Wortes her. Ist die Handlung aber einmal in Gang gesetzt, ist die Aufklärung in Schwung gekommen, dann etabliert sie einen Zustand, in dem Vorurteile und unklaren Begriffe immer stärker durch „klare und deutliche“ Begriffe ersetzt worden sind; Begriffsklärung selbst ist also ein ur-aufklärerischer Zweck! Ob dieser Prozess dabei jemals an sein Ende kommt, lässt Adelung klugerweise offen: Er spricht nur von „mehr“ klaren und deutlichen Begriffen, und man muss wohl kein Skeptiker sein, um hier im Blick auf unsere eigene Zeit zu sehen, dass ein Endstadium dieser Entwicklung wohl noch nicht in greifbare Nähe gerückt worden ist, eher: im Gegenteil.  

Halten wir jedoch vorläufig fest: Aufklärung wird von Adelung mit der Handlung des Aufklärens und einem Zustand der Aufgeklärtheit in Bezug auf den Sprachgebrauch und das Erkenntnisvermögen verbunden. Der Begriff selbst wird dabei in keinerlei Weise inhaltlich gefüllt, es geht weder um Menschenrechte, Toleranz oder sonstige inhaltlich definierbare Ziele. Das ist noch mehr oder weniger genauso im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm, dem lexikalischen Mammutprogramm des 19. Jahrhunderts. Dort wird lakonisch Kant zitiert: „Aufklärung ist die Maxime, jederzeit selbst zu denken“. Eine Maxime ist Aufklärung also, ein Leitsatz, an dem man sich im täglichen Handeln orientieren kann; kein ehernes Gesetz, sondern ein etwas erweiterter ins Prinzipielle ausgeweiteter guter Vorsatz. Und auch hier finden wir nur eine rein formale Bestimmung: Man möge bitteschön – und zwar jederzeit, darauf kommt es an! – selbst denken. Von Ergebnissen des Selbstdenkens ist nicht die Rede.

Das ändert sich mit zunehmender historischer Distanz. Ein aktueller Duden bestimmt Aufklärung als „von Rationalismus und Fortschrittsglauben bestimmte europäische geistige Strömung des 17. und besonders des 18. Jahrhunderts, die sich gegen Aberglauben, Vorurteile und Autoritätsdenken wendet“. Wir haben nun erstmals zwei inhaltliche Bestimmungen: Aufklärung wird verbunden mit (1) Rationalismus (also, im weitesten Sinne: Orientierung an der menschlichen Vernunft, nicht mehr beispielsweise an Gottes Offenbarung, wie bisher üblich) und (2) Fortschrittsglauben (die Menschheit entwickelt sich, und zwar zu ihrem Besseren). Dazu bekommen wir eine örtliche Situierung in Europa (diskutierbar; schon die Aufklärung selbst hielt das China des Konfuzius teilweise für aufgeklärter als die eigene Welt) und wir bekommen die Hauptgegner (Aberglauben, Vorurteile, Autoritätsdenken).    

Ähnlich formuliert auch Wikipedia: „Der Begriff Aufklärung […] bezeichnet die um das Jahr 1700 einsetzende Entwicklung, durch rationales Denken alle den Fortschritt behindernden Strukturen zu überwinden. Es galt Akzeptanz für neu erlangtes Wissen zu schaffen“. Dazu gehörten beispielsweise „die Hinwendung zu den Naturwissenschaften, das Plädoyer für religiöse Toleranz und die Orientierung am Naturrecht. Gesellschaftspolitisch zielte die Aufklärung auf mehr persönliche Handlungsfreiheit, Bildung, Bürgerrechte, allgemeine Menschenrechte und das Gemeinwohl als Staatspflicht“. Das sind nun schon eine ganze Reihe inhaltlicher Bestimmungen, und man könnte die Liste zweifellos auch weiterführen; denn wie alle Listen ist sie ein wenig beliebig, und die Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts hätten wahrscheinlich schon beim dem Wort „Naturwissenschaften“ zweifelnd die Stirn in Falten gelegt, es gab das Wort nämlich noch gar nicht (und die Sache erst in Ansätzen). Zudem sagt ein Begriff wie „Naturrecht“ auch den heutigen Gebildeten kaum noch etwas, so sehr ist uns die Überzeugung, dass alle Menschen von Natur aus gleiche Rechte haben, in Fleisch und Blut übergegangen. Hingegen ist die formale Bestimmung hier sehr weit zurückgetreten: Vom „Selbstdenken“ ist beinahe überhaupt nicht mehr die Rede. Ist es inzwischen auch selbstverständlich geworden – oder nur in den Hintergrund gerückt? Sind, polemisch gefragt, die Menschenrechte und die Toleranzforderung wichtiger als das Selbstdenken?  

3. Was ist Aufklärung? Die berühmte Frage in der ‚Berliner Monatsschrift‘  

Fragen wir also noch einmal, fragen wir die Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts nun selbst: Was ist Aufklärung? Gehen wir dabei zurück an den Anfangspunkt; gehen wir ins Jahr 1783, als eine damals sehr berühmte Zeitschrift, die Berlinische Monatsschrift (sie galt sozusagen als Kampfblatt der aggressiven Berliner Aufklärung), in ihrer Dezember-Ausgabe eine Frage an das gebildete Publikum stellt (auch das war damals durchaus üblich, manchmal gab es sogar Preise für die beste Antwort). Der Anlass war ein eher anti-aufklärerischer Beitrag eines Berliner Pastors zur Zivilehe, und in einer Fußnote, ausgerechnet, hatte er ein wenig polemisch gefragt: „Was ist Aufklärung? Diese Frage, die beinahe so wichtig ist, als: Was ist Wahrheit? Sollte doch wohl beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfinge. Und doch habe ich sie nirgends beantwortet gefunden!“ Das konnten die Herausgeber nicht auf sich sitzen lassen, galten sie doch als Speerspitze der Aufklärung schlechthin! Und so baten sie ihre Leser um Klärung, und gleich zwei der berühmtesten Philosophen der Zeit fühlten sich angesprochen: Moses Mendelssohn (auf dessen Antwort ich hier nicht eingehe, weil sie sich eher auf die Begriffe Kultur und Bildung konzentriert) und kein Geringerer als der Königsberger Philosoph Immanuel Kant, der seit seiner Kritik der reinen Vernunft (erschienen 1781) zum unbestrittenen  philosophischen Leitwolf der Zeit aufgestiegen war.

4. Immanuel Kant: Aufklärung braucht Mut!

Und so erschien genau ein Jahr später, unter den Christbaum sozusagen, Immanuel Kants Antwort in der Berlinischen Monatsschrift, und sie hat sich bis heute als die haltbarste Formel zur Bestimmung des schwammigen Begriffs Aufklärung erwiesen. Programmatisch bestimmt Kant (und gibt dabei gleichzeitig ein Beispiel dafür, wie eine ordentliche aufklärerische Begriffsdefinition aussehen sollte):

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung!“

Das ist ziemlich nahe an dem, was wir von Adelung gehört hatten; Aufklärung ist die Handlung des Aufklärens durch die Tätigkeit des eigenen Verstandes. Auch Kant gibt dabei keine einzige inhaltliche Bestimmung; er fordert einfach nur von jedem sich seines ihm von der Natur oder von Gott gegebenen Verstandes auch zu bedienen, und zwar selbständig, ganz allein, ohne Anleitung und ohne Netz und doppelten Boden. Tue er dies jedoch nicht, bleibe er nicht nur ewig unmündig, sondern er sei auch noch selbst schuld: Denken, so Kant, erfordert vor allem eines: Nicht Ausbildung, nicht Anleitung, nicht Brillanz, sondern – Mut! Angeborene Dummheit ist verzeihlich, nicht aber Furcht. sapere aude, so zitiert Kant Horaz und damit einen der zentralen Denker der antiken Aufklärung (die noch nicht so hieß natürlich); die vollständige Formulierung lautet: „Einmal begonnen ist halb schon getan. Entschließ dich zur Einsicht! Fange nur an!“ Schiller übersetzt: „Erkühne dich, weise zu sein!“ Auf den Anfang des Erkennens kommt es an; nicht auf das Ende.

Denn wir Menschen, so Kant im nächsten Passus ziemlich realistisch, sind gar nicht so ungern unmündig: „Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beureilt usw. so brauche mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nöthig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann“. Das sind klare und harte Worte, daran ist wenig misszuverstehen. Kant nimmt jeden Einzelnen in die Pflicht und in die Verantwortung; und er verschweigt nicht, dass der Prozess der Aufklärung lebenslange Mühe und Arbeit ist. Denn die Freiheit des Denkens, sie ist so ungewohnt; niemand hat uns dazu erzogen, und sie ist ein Risiko, wer selbst denkt, irrt selbst, auf eigene Rechnung; er kann sich hinterher nicht damit herausreden, jemand anderes hätte ihn böswillig in die Irre geführt. Denn selbst wenn man so weit gekommen sei, sich durch einen Akt des mutigen Entschlusses aus der Unmündigkeit zu verabschieden, in der man es sich so wohnlich eingerichtet hatte, kann man nach Kant nicht sofortige Erfolge erwarten: Der des Selbstdenkens noch Ungewohnte würde „dennoch auch über den schmalsten Graben einen nur unsicheren Sprung thun, weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt ist“. Fragen wir uns das, jede und jeder einzeln für sich: Sind wir zu „dergleichen freier Bewegung“ wirklich gewöhnt? Glauben und vertrauen wir nicht immer noch allzu gern selbst ernannten Sachverständigen, Experten, Vormündern und Vordenkern, Leitartiklern und Think tanks? Lehren wir unsere Kinder in Schulen wirklich das Selbstdenken, eine rein formale Fähigkeit, die trainiert und geübt werden will, ganz unabhängig von ihren Ergebnissen – oder lehren wir sie nicht doch eher das, was sie zu denken haben, wenn sie als aufgeklärt gelten sollen?

Kants Antwort ist damit aber noch nicht beendet. Er diskutiert noch eine Reihe von wichtigen Fragen – über das Verhältnis öffentlicher und privater Aufklärung, über die Grenzen der Aufklärung im Autoritätsstaat Preußen, sogar über die Notwendigkeit, gelegentlich die Aufklärung gezielt zurückzustellen (zum Beispiel im Militär, wo es wenig Sinn macht, Soldaten in Kampfsituationen zu ihrer Meinung zu befragen, und mag sie noch so selbstgedacht sein). Völlig überzeugt davon ist er jedoch, dass die Aufklärung als historischer Prozess der Emanzipation des Menschengeschlechts von seinen Vormündern zwar nicht aufzuhalten sei; aber keinesfalls über Nacht geschehe. Und der Text endet in  einem beinahe poetischen Bild des Königsberger Meisterdenkers:

„Wenn denn die Natur unter dieser harten Hülle den Keim, für den sich am zärtlichsten sorgt, nämlich den Hang und Beruf zum freien Denken, ausgewickelt hat; so wirkt dieser allmählich auf die Sinnesart des Volkes […] und endlich sogar auch auf die Grundsätze der Regierung, die es ihr selbst zuträglich findet, den Menschen, der nun mehr als eine Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln“.

Sogar die Regierung! Das muss man sich ein wenig auf der Zunge zergehen lassen. Aber immerhin bietet Kant damit auch endlich einen inhaltlichen Begriff zur Bestimmung der Aufklärung an: Es ist die Menschenwürde; sie jedoch ergibt sich logisch erst daraus, dass der Mensch über das Maschinenstudium herausgekommen ist, indem er damit begonnen hat, selbständig zu denken! Menschenwürde ist das Ergebnis von Aufklärung, nicht ihre Voraussetzung.

5. Christoph Martin Wieland: Aufklärung ist eine Selbstverständlichkeit

Kant ist insgesamt jedoch, im Wesentlichen, optimistisch: Die Aufklärung des Publikums lässt sich nicht endlos aufhalten, und irgendwann wird auch ein Zustand erreicht sein, der dieser Aufgeklärtheit einen politischen Rahmen gibt. Aber vielleicht nicht schon übermorgen; übermorgen hingegen wird die Französische Revolution stattfinden und nicht nur für Kant seinen grundlegenden Optimismus über den Fortschritt der Menschheit massiv in Frage stellen, da sie zwar heroische Ziele verkündete, sie aber durch einen bisher ungesehenen Terror durchzusetzen versuchte (wir erinnern uns an Lichtenberg: Aufklärung geschieht nicht durch angezündete Häuser!). Wieland hingegen – nun, er gilt mindestens ebenso als Musteraufklärer wie Kant, und das durchaus zu Recht. Aber auch er ist sich bewusst, dass es mit der Sache einige Schwierigkeiten hat. Seine eigene Antwort zur Berliner Frage „Was ist Aufklärung?“ findet sich sechs Jahre später in seiner eigenen Zeitschrift, dem Teutschen Merkur; also genau im Revolutionsjahr 1789. Und sie kommt ein wenig verwickelt und verschroben daher: Es ist ein Beitrag mit dem merkwürdigen Titel „Ein paar Goldkörner aus – Maculatur oder Sechs Antworten auf sechs Fragen“; geschrieben hat ihn, angeblich, ein gewisser Timalethes (ein offensichtliches Pseudonym, das als „Weisheitslehrer“ aus dem Griechischen übersetzen kann). Da sich Wieland jedoch mehrere Jahre später persönlich als Timalethes geoutet hat, können wir ihn als eine ironisch verklausulierte Äußerung Wielands lesen. Aber können wir wirklich?

Der Text beginnt zunächst mit einer Art Rahmenhandlung, in der seine Entstehung mit einer etwas bizarren Geschichte verbunden wird: Der Autor habe, wie es ja durchaus üblich sei, mal wieder einen Bogen Makulaturbögen (also schadhafte oder veraltete Druckbögen) zu seinem üblichen Zweck nutzen wollen (der Leser darf assoziieren: an einem gewissen Örtlein). Da sei ihm irgendwie aufgefallen, dass gerade dieser Bogen sechs Fragen zum Wesen von Aufklärung enthalte (es war also ein Bogen aus der Berlinischen Monatschrift, sogar die korrekte Seitenzahl wird genannt). Und da man schließlich von den Weisheitslehrern alter Zeiten wisse, dass man auch „aus einer gewissen unnennbaren Materie den Stein der Weisen“ ziehen – also Gold machen könne -, habe er, Timalethes/Wieland, doch auch einmal den Versuch unternommen, aus diesen Bögen Makulatur das Gold (der Weisheit nämlich) zu ziehen. Darauf folgen sechs Antworten auf sechs Fragen; sie sind kurz, knapp und auf den Punkt und illustrieren des Verfassers Hauptthese, nämlich: dass diese Fragen „schon seit einigen tausend Jahren für alle verständige Menschen keine Fragen mehr“ seien! Darüber aber sowie den Goldgehalt der aus dieser Makulatur gewonnenen Weisheiten möge doch gefälligst – der Leser dieser Bögen selbst urteilen!

Das ist eine klare Aufforderung zum Selbstdenken, hören wir uns also an, was uns Timalethes/Wieland zu sagen haben und urteilen wir dann selbst! Was Aufklärung sei, so werden wir von Timalethes zunächst belehrt, wisse jeder, der Augen habe und hell und dunkel unterscheiden könne und insofern ein natürliches Wissen darüber habe, dass man die Dinge im Hellen besser sehe als im Dunkeln (wir wiederholen: Aufklärung als Metapher). Daraus ergebe sich auch schon die Antwort auf die zweite Frage, nämlich welche Gegenstände Objekt der Aufklärung sei? – alle sichtbaren, natürlich, da man im Dunklen nur – nun gut, der Leser wisse schon was – tun könne und alles andere das Licht nicht scheue; und zwar auch und gerade (jetzt gehen wir zum ersten Mal über die Bildebene der Metapher heraus) das „Licht des Geistes“, das nämlich das Wahre vom Falschen, das Gute vom Bösen scheiden könne und als solche der natürliche Agent der Aufklärung sei. Aber es gebe selbstverständlich Leute, die Grund hätten, dieses Licht des Geistes zu scheuen, und zwar nicht nur Betrüger. Zu ihnen gehörten vielmehr beispielsweise (und bitte jetzt auf die Beispiele achten!) jeder, „der Grillen fängt, Luftschlösser baut, und Reisen ins Schlaraffenland oder in die glücklichen Inseln macht“; haltlose Idealisten also, Phantasten und Schwätzer! Das ist mutig gesagt von jemand, der selbst als Dichter gelegentlich das eine oder andere Luftschloss gebaut hat und gelegentlich auch eine unschuldige Grille fängt! Wir als Leser beginnen derweil nachdenklich zu werden; spricht hier nicht doch ein gewisser ironischer Unterton mit?

Demgegenüber gibt es auf die dritte Frage – „wo sind die Grenzen der Aufklärung?“, also eine durchaus berechtigte und auch von Kant thematisierte Frage – nur zwei, drei lakonische Sätze: dort, wo man eben nichts sehen könnte, egal bei welchem Licht (was unschuldig klingt, aber ein wenig zum Denken herausfordert: Wie ist es beispielsweise mit metaphysischen Fragen? Mit religiösen? Ist hier eine absichtliche Leerstelle?). Etwas ausführlicher wendet sich unser Timalethes hingegen der vierten Frage zu, durch welche „sicheren Mittel“ Aufklärung befördert werde: Man mache eben Licht! Himmel nein, möchte man an dieser Stelle sagen, da waren wir auch schon selbst drauf gekommen. Timalethes jedoch wird an dieser Stelle sogar ungewöhnlich ausführlich: Er nimmt eine systematische Unterscheidung zwischen Gegenständen sinnlicher Erkenntnis und Vorstellungen als Objekten einer geistigen Erkenntnis vor. Letztere würden aufgeklärt, in dem man „das Wahre vom Falschen daran absondert, das Zusammengesetze in seine einfachen Bestandtheile auflöst, das Einfache bis zu seinem Ursprung verfolgt, und überhaupt, keiner Vorstellung oder Behauptung, die jemals von Menschen für Wahrheit ausgegeben worden ist, ein Freybrief gegen die uneingeschränkeste Untersuchung gestattet wird“. Dann aber doch, könnte vielleicht der an dieser Stelle schon etwas gewitzigte Leser einwenden, gilt das doch auch für die als so einleuchtend und unmittelbar präsentierten Weisheiten des – Timalethes? Man wird sehen.

Denn unter dem fünften Punkt wird die Sache, bei allem immer strahlendem Licht des Autors, nicht eben deutlicher. Wer berechtigt sei, die Menschheit aufzuklären? Jeder natürlich, lässt Timalethes den dummen Frager wissen, denn welches oberaufgeklärte Obertribunal solle denn sonst bitte entscheiden, wer aufklären darf oder wer nicht? Nein, es werde wohl dabei bleiben müssen, „daß jedermann – von Sokrates oder Kant bis zum obscursten aller übernatürlich erleuchteten Schneider und Schuster, ohne Ausnahme berechtigt ist, die Menschheit aufzuklären“. Natürlich leuchtet das ein in Falle von Sokrates oder Kant, beide sind Kronzeugen der Aufklärung in der Philosophie. Aber etwas verwirrender ist der Punkt mit dem Schneider und dem Schuster. Denn worum es hier, zumindest halboffen geht, ist nicht die Rehabilitierung von Unterschichten in ihrem natürlichen Urteilsvermögen; nein, jeder aufgeklärte Zeitgenosse Wielands denkt natürlich sofort an den wesentlichen philosophischen Schuster der Philosophiegeschichte, nämlich den mystischen Esoteriker Jakob Böhme, und bei seinem Kollegen, dem Schneider, an den Wiedertäufer Jan von Leiden, also den Anführer einer fanatischen Glaubensbewegung des Mittelalters – beide geradezu Antipoden einer Aufklärung, in jeder Hinsicht! Was will uns Timalethes damit sagen? Dass die Anti-Aufklärer die besseren Aufklärer sind? Dass man den Trank der Aufklärung bis zur bitteren Neige leeren muss, und wer einmal ein Prinzip geheiligt habe – lückenlose, unbegrenzte Aufklärung – auch mit den Konsequenzen wird leben müssen, nämlich: Aufklärung durch Anti-Aufklärer? Timalethes lehnt sich jedoch zurück und schreibt noch ein wenig darüber, dass zu erwartende Schäden durch unfähige Aufklärer leichter zu verkraften seien als nun ein Aufklärungstribunal, dass öffentlich zugelassene Aufklärer zertifiziert. Zudem habe man ja die Buchdruckerpresse, und jeder Unsinn, der veröffentlicht werde, erhalte schon die nötige Antwort. Man könnte meinen, er habe das Internet vorausgesehen!

Damit aber schnell zum sechsten und letzten Punkt: Woran erkennt man nun den jeweiligen Stand der Aufklärung? Natürlich, sagen wir in Chor, daran, dass es heller geworden ist; aber Timalethes geht wenigstens noch ein bisschen mehr ins Detail. Man erkenne es natürlich daran, dass die „Masse der Vorurtheile und Wahnbegriffe zusehends immer kleiner wird“ (Wahnbegriffe, schönes Wort, was meint er wohl damit?); aber auch wenn „die Schaam vor Unwissenheit und Unvernunft, die Begierde nach nützlichen und edeln Kenntnissen, und besonders wenn der Respect vor der menschlichen Natur und ihren Rechten unter allen Ständen unvermerkt zunimmt“. Aufgeklärt ist, so könnte man sagen, wenn man aufgeklärt werden will; und schon sind wir unversehens bei Kant, der in der Aufklärung vor allem eine Frage des Mutes und des Entschlusses sah. Timalethes ergänzt: Es ist eine Frage des Respekts. Selbstdenken + Respekt, das wäre wohl die Formel, auf die das zu bringen wäre.

An dieser Stelle und mit einer kleinen Schluss-Sottise gegen die Anti-Aufklärer und ihre Pamphlete endet die Goldmacherei aus Makulatur; und dazu als Bonus sozusagen einem kleinen provozierenden Vers des Timalethes: „Sagt, hab ich recht? Was dünkt euch von der Sache / Herr Nachbar mit dem langen Ohr?“ Der Weise macht sich also lustig, über sein Gegenteil, den Narren mit den langen Ohren; aber wer ist nun genau der Weise und der Narr? Denn der phasenweise so übereindeutige und dann wieder so verzwickt-ironische Text lässt jeden nur halbwegs aufgeklärten Leser mit einem Unbehagen zurück. Goldkörner? Nun ja. Das eine oder andere Katzengold vielleicht. Aber was erwartet man auch von Makulatur? Alle Bücher, auch die klügsten und besten und weisesten, werden irgendwann zu Makulatur; alle Fragen, auch die aufgeklärtesten, landen samt ihren Antworten auf dem Müllhaufen der Geschichte, egal ob sie Kant oder Sokrates oder Jakob Böhme geschrieben haben, egal ob sie die Aufklärung gefeiert oder sie verdammt haben. Das Leben nämlich, so Timalethes, sei die „Capelle“, in der das geschürfte Gold geprüft wird, und nicht der Buchdruck. (Hier haben wir, beiläufig gesagt, ein letztes Beispiel für die tiefe Ironie und Doppeldeutigkeit, die dem Artikel zugrunde liegt. Denn die „Capelle“ lässt uns natürlich an eine kleine Kirche denken; der zweite Wortsinn jedoch, den Adelung (unser Lexikograph aus dem 18. Jahrhundert) noch kennt, ist: Capellen sind „in der Chymie und Schmelzkunst, flache Tiegel von Asche und gebrannten Knochen, Silber und Gold darauf abzutreiben“). Denn nur Narren glauben, endgültige Weisheiten aus Druckerzeugnissen gewinnen zu können; nur einfältige Weisheitslehrer bedienen ihr Bedürfnis nach einfachen Antworten.

Ich bin mir inzwischen fast sicher, dass Wieland mit diesem Text (vor allem, aber vielleicht nicht nur) – ärgern wollte, provozieren wollte, in gewissem Sinne auch eine unnötige Debatte beenden wollte: Wenn ihr nach all dieser Zeit und alle diesen Schriften immer noch nicht verstanden habt, was Aufklärung ist – nämlich eine zu jeder Zeit mögliche Selbstaufklärung durch Nachdenken, Unterscheiden, Respekt – und wenn ihr darauf besteht, einfache Antworten auf einfache Fragen zu bekommen – bitte schön, da habt ihr sie! Erwartet aber keine goldenen Weisheiten. Erwartet, bestenfalls, Katzengold! Und dann geht hinaus und praktiziert Aufklärung! (Wieland hat den Text selbst übrigens, als einige Jahre später und damit nach der Französischen Revolution, dieser aufklärerischen Zeitwende, ein Streit darüber ausbrach, als „Diatribe“ bezeichnet: also als eine Form moralphilosophischer Lehre in einfacher Sprache, die sich an ein breites Publikum richtet; gelegentlich aber auch eine gelehrte Schmährede. Beides macht Sinn. Der Leser, die Leserin, entscheide selbst; so geht Selbstdenken!).

6. Gotthold Ephraim Lessing: Aufklärung ist, lieber weiter zu irren als aufhören zu suchen

Für mich hat, um zum abschließenden Teil und zur letzten Antwort auf die Frage „Was ist Aufklärung?“ zu kommen, immer Gotthold Ephraim Lessing die beste Antwort gegeben. Das vor allem, weil er sich niemals auf die Frage eingelassen hat, sie war aber auch vor seiner Zeit (Lessing starb 1781, das war vor der Frage in der Berlinischen Monatsschrift). Er hat jedoch einen kleinen Text geschrieben, unter dem Titel „Über die Wahrheit“, und schon aus der Frage in der Berlinischen Monatsschrift wissen wir, dass beide Fragen, die nach der Wahrheit und die nach der Aufklärung, eng zusammenhängen (man könnte vermuten: Vielleicht ist Wahrheit und nicht Menschenwürde der eigentliche Inhalt von Aufklärung?). Lessing schrieb also, es war im Rahmen der endlosen gelehrten und publizistischen Streitereien, die er so gern und so souverän führte, eine Art kleines Glaubensbekenntnis. Es beginnt nicht mit einer Frage, sondern mit einer Feststellung, einer These, die ohne jede Einschränkung im Format des ultimativen Rechtshabens, ja sogar versehen mit einer Reihe von Superlativen daherkommt:

„Ein Mann, der Unwahrheit unter entgegengesetzter Überzeugung in guter Absicht ebenso scharfsinnig als bescheiden durchzusetzen versucht, ist unendlich mehr wert, als ein Mann, der die beste, edelste Wahrheit aus Vorurteil, mit Verschreiung seiner Gegner, auf alltägliche Weise verteidigt.“

Lessing begründet das im Weiteren noch, aber wir bleiben erstmals bei diesem wie gemeißelten Satz; es kommt auf jedes Wort an. Lessing skizziert also einen Mann, der von einer Unwahrheit persönlich überzeugt ist und sie deshalb für eine Wahrheit hält (es darf auch gern eine Frau sein; wenn Sie den Test im Ernst machen wollen, stellen Sie sich einfach einen AfD-Wähler vor…), die als Wahrheit auch verdient, dass man sie verteidigt und verbreitet. Unser Mann hat dabei, da er ja ehrlich von ihrer Geltung überzeugt ist, keine bösen Motive; er versucht vielmehr, mit all seinen Kräften ihr ebenso „scharfsinnig“ (er ist kein Dummer, Dumpfer) wie „bescheiden“ (also auch kein Superman der Erkenntnis) zur Geltung zu verhelfen.

Ihm gegenüber stellt Lessing einen zweiten Mann (es darf auch gern eine Frau sein), der zwar die Wahrheit sagt, sogar die „beste, edelste“. Er sagt sie aber nur aus Vorurteil, also ohne sich persönlich durch Selbstdenken von ihrer Wahrheit überzeugt zu haben, bedient sich also einer gängigen, allgemein akzeptierten und im mainstream unproblematischen Formel. Zudem benutzt er als wesentliches Argument die Denunzierung der Gegner (meist als Dumme, Dumpfe); er selbst bringt es aber nicht über ein „alltägliches“, triviales, abgelutschtes Argument hinaus (woher auch, er hat ja nicht darüber nachgedacht). Und Lessing nun sagt, und das muss man sich wirklich in aller Konsequenz vorstellen: Ersterer ist ihm lieber. Lieber eine persönlich erzeugte, eigenständig und bescheiden vorgetragene Unwahrheit als eine allgemein akzeptierte Globalwahrheit auf der Basis der Denunziation der Gegner und ohne jegliche Originalität im Ausdruck.

Lessing hat aber auch eine Begründung parat, eine komplizierte und eine einfache (das ist durchaus ein wenig wie bei Wieland, sie können den Text sozusagen wörtlich und symbolisch lesen). Ich bleibe aus Zeitgründen und auch, weil sie mir einleuchtet, bei der einfachen Begründung (den Rest können Sie selbst nachlesen, es steht überall im großen weiten Internet unter dem Titel „Über die Wahrheit“). Lessing sagt nämlich, dass der Wert eines Menschen (der moralische, können wir ergänzen, oder auch: seine Aufgeklärtheit) nicht im Besitz von Wahrheiten bestehe. Er bestehe vielmehr in der Mühe, die sich jemand gegeben habe, um die Wahrheit zu finden. Unversehens sind wir also wieder bei Kant angekommen und auch ein wenig bei Wieland: Auf Selbstdenken kommt es an, nicht aufs Finden und Haben von vermeintlich endgültigen Wahrheiten! Denn, so Lessing ganz konkret und unmetaphysisch: Niemand wachse dadurch, dass er einen Besitz angenommen habe; Besitz mache, so wörtlich „ruhig, träge, stolz“ (und stimmt das nicht, wird das nicht von der einfachsten Erfahrung bestätigt? Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen, hat Goethe gesagt, und in meiner Jugend habe ich das nicht verstanden. Man muss den Satz eben erst erwerben). Bemühung aber, persönliche Anstrengung, die man auf sich nehme, um eine kleine Wahrheit zu finden und dann vielleicht noch eine (es müssen durchaus nicht immer die größten Wahrheiten sein), daran wachse man, daran schule man seine Kräfte, dadurch werde man, so Lessing im aufklärerischen Sprachgebrauch: „vollkommener“. It’s a process, würde man heute sagen.

Deshalb aber, in diesen Satz mündet Lessings kleiner Text, deshalb gibt es eine Art Lackmus-Test für die eigene Aufgeklärtheit oder vielleicht besser: Aufklärbarkeit. Er geht so:    

„Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater gib! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein“.

Einiges mag sich in uns gegen diese Szenario sträuben, zum Beispiel gegen die ja durchaus konventionelle Auffassung eines allmächtigen und allweisen Gottes, der im alleinigen Besitz der ganzen Wahrheit ist; ist das nicht eben die von Wikipedia beispielsweise festgemachte „Autoritätsgläubigkeit“, gegen die sich der wahrhaft Aufgeklärte wenden soll? Aber vielleicht könnte es einen zum Nachdenken bringen, dass Kant, Wieland und Lessing, die ich durchaus für die wichtigsten Kronzeugen der historischen Aufklärung in Deutschland halte, gläubige Menschen waren. Sie waren darin nicht nur Kinder ihrer Zeit, oh nein; sie hatten auch darüber gründlich nachgedacht, weil sie aufgeklärt genug waren, um über alles gründlich nachzudenken. Und dann hatten sie sich für den persönlichen Glauben entschieden, ob an einen christlichen Gott, ist dabei eher nachgeordnet. Es war ein Ausdruck ihrer Bescheidenheit als Erkennende, ihrer Anerkennung ihrer Schwäche als Mensch. Sie glaubten an die Vervollkommnungsfähigkeit, an die Perfektibilität des Menschen, das war ihr aufklärerisches Credo (was man übrigens auch mit Grund bestreiten kann, es gibt jede Menge gute Argumente dagegen, dass die Menschheit sich jemals vollständig perfektionieren wird!). Aber sie glaubten nicht daran, dass Menschen, einzelne Menschen oder das Gattungssubjekt Menschheit, jemals vollkommen sein würden. Vollkommenheit jedoch – nun, wenn es sie geben muss, dann nennen wir sie eben Gott. Eine regulative Idee, hätte Kant gesagt. Ein schöner Gedanke, hätte Wieland gesagt, schöner jedenfalls als sein Gegenteil. Ein Aufruf zur Demut, hat Lessing gesagt, und wer meint, das nicht nötig zu haben, hat schon demonstriert, wie dringend er es braucht.

7. Lessing, zum Zweiten: Aufklärung ist nicht besser denken, sondern besser handeln

Wer es lieber ein wenig anschaulicher mag, nicht mit so großen Worten, für den hat Lessing die Ringparabel in seinem dramatischen Gedicht Nathan der Weise geschrieben. Sie wird vielgelesen, noch heute, gern in den Schulen, und gedeutet und hochgelobt als energischer Aufruf zur religiösen Toleranz, und das ist sie zweifellos – auch. Sie ist aber mehr, und das wird seltener gesehen.

Ich rekonstruiere ganz kurz zur Erinnerung die Handlung. Das dramatische Gedicht Nathan der Weise spielt zur Zeit der religiösen Kreuzzüge im Mittelalter, also einer Zeit großer religiöser Konflikte. In seinem Zentrum steht die Ringparabel: Der weise Jude Nathan wird zum Sultan Saladin gerufen, und um ihn auf die Probe zu stellen, stellt Saladin die Frage, welche der monotheistischen Religionen er aufgrund seiner Weisheit und persönlichen Prüfung für die beste halte, die jüdische, die christliche oder die muslimische? Nathan ist klug genug, die Falle zu wittern, und rettet sich deshalb in eine Geschichte, die sog. Ringparabel (eine Erzählung, die er sich nicht ausgedacht hat, sie geisterte schon lange vorher durch die Literatur). In der Parabel geht es um einen Mann vor Urzeiten im Osten, der einen Ring von unschätzbarem Wert „von lieber Hand“ besaß, der die Fähigkeit besaß, seinen Träger „vor Gott und den Menschen angenehm zu machen“ (jeder darf auch gern an Tolkiens Herrn der Ringe denken, die Moral dort ist durchaus ähnlich: der eine Ring ist immer verderblich und korrumpiert denjenigen, der ihn trägt). Der Vater vererbte diesen Ring jeweils an den Sohn, der ihm der liebste war – bis der Ring auf einen Vater kam, der drei Söhne hatte, alle gleich lieb, alle gleich wert, und der Vater kommt auf die – seien wir ehrlich, weder besonders kluge noch besonders moralische Idee, drei Fälschungen anfertigen zu lassen und jedem der Söhne in dem Glauben zu lassen, er habe den einen Ring bekommen. Der Betrug fliegt natürlich auf nach dem Tod des Vaters, und die Söhne gehen vor Gericht (das Szenario mutet hier geradezu modern an!).

Der Richter lässt die Ringe untersuchen, man stellt aber aufgrund von Sachverständigengutachten fest, dass die Echtheit bei keinem feststellbar ist; worauf der weise Richter den Schluss zieht, dass das Original wahrscheinlich schon lange verloren gegangen war. Zudem, und hier erst erweist er sich als wahrhaft weiser Richter, führt er an, dass man den echten Ring an seinen Wirkungen ja zweifellos erkennen müsste; sein Besitzer müsste ja am meisten geliebt werden, und so müssten schon zwei von den drei Brüdern einen am meisten lieben! Tun sie aber nicht, und der Richter zieht den einzig möglichen Schluss: „Die Ringe wirken nur zurück? Und nicht / nach außen? Jeder liebt sich selber nur / am meisten? – O so seid ihr alle drei Betrogene Betrüger!“ Und die Empfehlung, die er den drei Söhnen mitgibt, lautet: Dann werdet ihr wohl jeder so handeln müssen, als hättet ihr den einen Ring! „Es eifre jeder seiner freien / unbestochnen Liebe nach“, ist die Maxime. Denn, seien wir ehrlich, was für eine moralische Leistung wäre es, aufgrund des ererbten Besitzes eines magischen Ringes aufgeklärt und menschenfreundlich zu sein? Schon das Geschenk selbst ist vergiftet, Produkt einer früheren Entwicklungsstufe der Menschheit und ihrer früheren Götter, die Günstlinge hatten, magische Geschenke willkürlich verteilten und durch Wunder wirkten.

8. Was ist Aufklärung? Aufklärung ist, wenn man trotzdem denkt   

Was also ist Aufklärung? Aufklärung ist, für Wirkungen des eigenen Handelns selbst verantwortlich zu sein – im Bewusstsein der eigenen Fehlbarkeit und der Möglichkeit des Irrtums selbst bei allerbesten Bemühungen; das könnten wir mit Lessings Ringparabel sagen. Und sie zeigt sich nicht nur im Selbstdenken, sondern vor allem im Handeln. Denn was Aufklärung ist, allgemein und als Definition von Goldwert – ich kann es Ihnen nicht sagen. Kant kann es Ihnen nicht sagen. Wieland kann es nicht, noch nicht einmal Lessing kann es. Das einzige, was man mit einem gewissen Allgemeinheitsanspruch sagen kann ist: Aufklären beginnt mit Selbstdenken. Mut haben. Liebgewordene Überzeugungen überprüfen, immer wieder, das Vorurteil wohnt oft da, wo man es gerade nicht vermutet. Jedem das Recht zum Irrtum zugestehen, sich selbst und anderen. Keine Wunder erwarten, keine Erleuchtungen, keine Patentrezepte. Und am wichtigsten: Endlich anfangen mit Denken und niemals damit aufhören. Aufklärung hat kein Ende, weder ein gutes noch ein schlechtes. 



„Der leichte, faßliche, gefällige Philosoph für die Welt“ –
Popular-Ästhetik in Leipzig 


1. Massenhaft und flach –Die Leipziger Unterhaltungsliteratur
bekommt einen schlechten Ruf

Zweifellos gehört Leipzig zu den wichtigsten kulturellen und geistigen Zentren der Früh- wie der Hoch-Aufklärung in Deutschland, sei es als Buchhandels- und Messezentrum oder als universitäre „Gelehrtenrepublik von  einzigartiger Konsistenz“1, als Metropole von urbanem Zuschnitt wie auch als Plattform für junge Autoren2. Dafür stehen Namen wie Johann Christoph Gottsched, Christian Fürchtegott Gellert und Christian Felix Weise sowie bezeichnende Wortprägungen wie die vom "galanten Leipzig", vom „Klein-Paris“ oder vom „Pleiße-Athen“.3 Ebenso topologisch verfestigt ist jedoch die Diagnose des Niedergangs Leipzigs gegen Ende des Jahrhunderts, wie sie sich in der bekannten Xenie Pleiße konzentriert äußert:

Flach ist mein Ufer und seicht mein Bächlein, es schöpften zu durstig
Meine Poeten mich, meine Prosaiker aus
.4

Etwas ausführlicher, aber ähnlich vernichtend formuliert Georg Witkowski in seiner Geschichte des literarischen Lebens in Leipzig zu Beginn des 20. Jahrhunderts:

Es wäre ein Irrtum, wollte man annehmen, daß dieses große Staubecken der Literatur 
das umgebende Erdreich in besonderem Maße ertragfähig gemacht hätte. Seit der Zeit,
wo die Schriftstellerei zum Broterwerb dienen konnte […], haben wohl viele kleine
Literaten in Leipzig gehaust, um bei den Verlegern im persönlichen Verkehr Arbeit zu
suchen. Aber es fehlt, wenige kurze Zeiträume ausgenommen, an führenden Gestalten,
an innerer Energie und an Wirkung nach außen. Auch das literarische Interesse und
Verständnis der Bevölkerung hat nie einen gewissen Durchschnittsgrad überstiegen.
Leipzig verhielt sich neuen geistigen Bewegungen gegenüber stets ängstlich
zurückhaltend oder gar feindselig.5

Und noch 1995 kann man in Das literarische Leipzig. Kulturhistorisches Mosaik einer Buchstadt über die Zeit um 1800 lesen:

Leipzig hatte seine Vorreiterrolle auf dem Gebiete der Literatur endgültig verspielt. Zu
orthodox-konservativ verhielten sich Stadt und Universität. Die dummdreiste bis
penetrante Arroganz der Leipziger Eliten bildete kein Klima für originäres,
anspruchsvolles Kunstschaffen.6

Begründet werden die diversen Verdammungsurteile jeweils mit ähnlichen Argumenten: Gegen die ‚Flachheit‘ und Massenhaftigkeit der Leipziger Literatur-Produktion werden die ‚Tiefe‘ und Singularität der neuen klassischen (Weimarer) Ästhetik gesetzt; gegen deren Bildungsziele die Ansprüche eines vor allem an Unterhaltung interessierten breiten Publikums. Offensichtlich zeichnet sich hier die im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer größer werdende und heute verfestigte Kluft zwischen der sogenannten ‚E‘- und ‚U‘-Literatur (und Kunst insgesamt) ab. Sie beruht auf dem modernen Glaubenssatz, demzufolge künstlerisch wertvoll eigentlich nur
diejenigen Werke der jeweiligen Avantgarde sind, die Bestehendes in Frage stellen, Normen verletzen und ihre Qualität vor allem durch eine Verweigerungshaltung gegenüber dem Massenpublikum mittels gezielt hergestellter Schwerverständlichkeit beweisen. Bereits den Zeitgenossen um 1800 war diese Spaltung bewusst; so
beschreibt Friedrich Schlegel die Situation in seinem Aufsatz Über das Studium der griechischen Poesie (1797):

Ferner der schneidende Kontrast der höhern und niedern Kunst. Ganz dicht
nebeneinander existieren besonders jetzt zwei verschiedene Poesien nebeneinander,
deren jede ihr eignes Publikum hat, und unbekümmert um die andre ihren Gang für sich
geht. Sie nehmen nicht die geringste Notiz voneinander, außer, wenn sie zufällig
aufeinander treffen, durch gegenseitige Verachtung und Spott; oft nicht ohne heimlichen
Neid über die Popularität der einen oder die Vornehmigkeit der andern. Das Publikum,
welches sich mit der gröbern Kost begnügt, ist naiv genug, jede Poesie, welche höhere
Ansprüche macht, als für Gelehrte allein bestimmt, nur außerordentlichen Individuen oder
doch nur seltnen festlichen Augenblicken angemessen, von der Hand zu weisen. Ferner
das totale Übergewicht des Charakteristischen, Individuellen und Interessanten in der
ganzen Masse der modernen Poesie, vorzüglich aber in den spätern Zeitaltern. Endlich
das rastlose unersättliche Streben nach dem Neuen, Piquanten und Frappanten, bei dem
dennoch die Sehnsucht unbefriedigt bleibt.7

Leipzig spielt in diesem literaturgeschichtlichen folgenreichen Ausdifferenzierungsprozess um die Jahrhundertwende eine entscheidende Rolle: Hier formulieren die Autoren der Spätaufklärung ein neues ästhetisches Programm, hier treffen sie auch auf die neuen Vertreter einer 'sächsischen Romantik'.8 

Ich werde zunächst etwas zu popularästhetischen Überlegungen im Leipzig der Spätaufklärung am Beispiel von Texten Christian Garves und Ernst Platners sagen (2). Danach werde ich auf einige beim Publikum besonders beliebte Textsammlungen von Leipziger Autoren der Spätaufklärung eingehen (3) sowie auf das schon romantisch
imprägnierte Gespensterbuch von August Apel und Friedrich Laun schließen (4). Abschließend sollen die verschiedenen Argumentationslinien zusammengeführt werden (5).

2. Popularästhetik: Christian Garve und Ernst Platner erfinden das 'Interessante'

Das wichtigste Element dieses spätaufklärerischen Leipziger ‚Milieus‘ ist wohl die durchgängige Prägung durch das, was je nach ideologischem Standpunkt entweder abschätzig oder anerkennend ‚Popularphilosophie‘ genannt worden ist, und zwar sowohl im Blick auf die eigentliche Philosophie im engeren Sinne als auch auf die Dichtung, die als deren Medium begriffen wird: Auch der Dichter soll, so der ‚spiritus rector‘ der Leipziger Aufklärung, Christian Felix Weise, „der Lehrer des Volks seyn; der leichte, faßliche, gefällige Philosoph für die Welt“.9 Programmatisch steht der Titel über Johann Jakob Engels gleichnamiger Zeitschrift, dem Philosoph für die Welt, die in zwei Bänden 1775 und 1777 in Leipzig erschien, bevor Engel nach Berlin berufen wurde. Bezeichnend für das Verständnis von Popularphilosophie und deren enger Beziehung zur Literatur ist der Beitrag Die Göttinnen, der den ersten Band eröffnet: Minerva, die Göttin der Weisheit, und Venus, die Göttin der Liebe und Schönheit, streiten sich darüber, wer den größten Einfluss auf die Menschen hat. Herrscht jedoch nur jeweils eine von ihnen allein, machen sie ihre Liebhaber zu „Gerippen“ – worauf Jupiter, der Göttervater, salomonisch befindet, indem er sich auf die anthropologische Grundformel der Aufklärung schlechthin, das ‚commercium mentis et corporis‘ beruft:

Denn weder für die Wollüste des Geistes, noch für die Wollüste des Körpers ist der Mensch allein geschaffen; in beiden stürzt Übermaaß ihn ins Elend. So wie der äußere Mensch ohne unsere vereinigten Wohlthaten […] Nicht bestehen kann; so kann auch der innre Mensch ohne eure vereinigten Gaben, ohne deine Weisheit, Minerva, ohne deine Triebe, o Venus, ohne deine Musen, Apoll, zu keiner Vollkommenheit aufblühen; und der ganze Mensch kann ohne uns alle – – O verzweifelt, mein Leser! Indem ich eine der treflichsten philosophischen Deductionen aus dem Archiv des Himmels, wovon Mercur einige Blätter für mich entwandt hat, abschreiben will; so fährt durch meine einsame Sommerlaube ein Zephyr, und führt mir meine Blätter weg in die Luft.10

Besonders das ironische Ende macht deutlich, worauf es dem Popularphilosophen Engel hier ankommt: nicht auf lebensferne „philosophische Deductionen“, sondern auf anschauliche Demonstrationen lebensweltlicher Erfahrungen und daraus abgeleiteter Erkenntnisse – weiterdenken und den Schluss daraus ziehen muss der Leser selbst, der so gleichermaßen unterhalten wie auch im aufklärerischen Sinn zum Selbstdenken motiviert wird.

Dabei entwickelt sich in Leipzig eine Sparte dieser Popularphilosophie, die man vielleicht am besten in analoger Weise eine ‚Popularästhetik‘ nennen könnte.11 Dazu gehört beispielsweise Christian Garves in einem Aufsatz für die Leipziger Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste12 in den 70er Jahren vorgetragenes Konzept des „Interessierenden“ – ein relativ neuer Begriff in der ästhetischen Debatte der Zeit. Immerhin hatte schon Johann Georg Sulzer in seiner enorm einflussreichen Allgemeinen Theorie der schönen Künste dem „Interessanten“ einen eigenen Artikel gewidmet und es dort als „wichtigste Eigenschaft ästhetischer Gegenstände“ bezeichnet.13 Um sich die Bedeutung dieser Einschätzung Sulzers und Garves vor Augen zu führen, muss man das Interessante dem wenig später entwickelten Konkurrenzmodell des  "interesselosen Wohlgefallens“14 gegenüberstellen, das ja bei Kant und Schiller genau darauf abzielt, alle allzu
einseitig-persönlichen Komponenten bei der Kunstproduktion wie -rezeption zugunsten der allgemein-menschlichen Komponenten auszuschalten. Garve stellt jedoch, im Gefolge Sulzers, darauf ab, dass erst das persönliche Interesse einen emotionalen Bezug zum Gegenstand des Kunstwerks ermöglicht: „Wer uns
interessiren will, muß uns viel zu denken geben, oder uns in Affekt bringen“ (GI 168).15 Deshalb muss der Künstler seine Gegenstände aus der „wirklich vor uns liegenden Welt“ (GI 183) anstelle einer „imaginativen“ (GI 187) nehmen, damit der Rezipient diese persönliche Beziehung auch wirklich herstellen kann und nicht im
unverbindlichen Reich der Fiktion verbleibt.16 Themen, die ein solches lebhaftes Interesse wecken, sind nach Garve vor allem „Rachsucht und Liebe“ (GI 241) – was in der Sing- und Schauspiel-Produktion der Zeit wahrlich ausgenutzt wird –, aber ebenso beispielsweise der Wahnsinn17 und damit ein Thema, das dann auch die
sächsischen Romantiker aufgreifen werden und das insgesamt Spätaufklärung und Romantik auf sehr bezeichnende Weise verbindet.18

Im ersten Teil seiner umfangreichen Ausführungen über das Interessierende vertritt Garve dabei noch eine ganz konventionelle aufklärerische Wirkungspoetik. Auch das Interessierende dient in erster Linie der Belehrung der Leser:

Eine Poesie, die diesen Endzweck nicht hat, die keiner wichtigen Lehre, keinem
nüzlichen Begriffe Leben und anschauende Klarheit verschafft, ist nicht nur ein bloßes 
Spiel, und ein sehr kostbares zeitverderbendes Spiel, sondern es ist auch größtentheils ein mattes langweiliges Vergnügen. (GI 212)

Im Anhang zum zweiten Teil der Abhandlung aus dem Jahr 1779 jedoch vollzieht er eine bezeichnende Wende und korrigiert sich explizit selbst:

Ich ändre jetzt diese Meynung. Wenn ich auf die Denkungsart des größten Theils der Menschen sehe, für welche doch die Poesie, und besonders die theatralische, bestimmt ist; wenn ich auf meine eigne in den Zeiten sehe, wo ich mich erholen will, und diese Zeiten soll das Theater eigentlich ausfüllen: so werde ich gewahr, daß die unterhaltene und befriedigte Neugier, das Wohlgefallen an einer wunderbaren und doch natürlichen Begebenheit, die Erwartung, in die wir wegen des Erfolgs gesezt werden, die Grundlage von dem Vergnügen ausmache, das wir während der Anhörung des Stücks genießen, und daß das Vergnügen der Rührung und des Unterrichts nur einzelne Theile der Zeit ausfülle, die wir zu dieser Erlustigung bestimmen. (GI 358f.)

Hier wird das Vergnügen als Selbstzweck deutlich aufgewertet, und zwar auf Kosten der aufklärerischen Belehrungsfunktion – nicht aus theoretischen Erwägungen heraus, sondern im Blick auf die eigene empirische Erfahrung sowie deren Bestätigung durch das ‚breite‘ Publikum, den „größten Theil der Menschen“ und deren sehr konkretes alltägliches Unterhaltungsbedürfnis.

Ein weiterer popularästhetischer Autor, der besonders prägend für die jungen Autoren der späteren 'sächsischen Romantik' wurde, war der einflussreiche ‚philosophische Arzt‘ Ernst Platner.19 Der Initiator der zeitgenössischen Anthropologie mit seiner 1772 erschienenen Anthropologie für Ärzte und Weltweise las seit den 70er Jahren regelmäßig über Ästhetik, eine auch vom Leipziger Bürgertum ihres Unterhaltungswertes wegen gern besuchte Veranstaltung. Veröffentlicht hat er die Vorlesung nie, aber es ist eine Mitschrift seines Schülers Moritz Erdmann Engel überliefert,20 die sich wohl auf eine 1789 oder 1790 gehaltene Vorlesung Platners bezieht und die für den hier dargestellten Argumentationszusammenhang einschlägiger ist als seine erste Ästhetik-Vorlesung aus den 70er Jahren, die noch in vielerlei Hinsicht der Auseinandersetzung mit dem Sturm und Drang verpflichtet ist.21 Platner setzt sich hier zunächst explizit gegenüber den fachphilosophischen Hallenser Ästhetik-Autoritäten Alexander Baumgarten und Georg Friedrich Meier ab – wobei er Baumgarten bezeichnenderweise vor allem mangelnde praktische Erfahrung in ästhetischen Dingen und fehlende Weltkenntnis überhaupt vorwirft.22 Demgegenüber bettet er seine eigene Ästhetik von Anfang an in einen popularphilosophischen Gesamtkontext ein: Der Künstler ist nur eine Variante des „guten Menschen“ schlechthin; im Unterschied zum „Philosoph“, der gern nachdenkt, und zum „nützlichen Mann“, der sich als tätiger Menschenfreund praktisch engagiert, kümmert er sich eben um die Künste.23 Im Unterschied zu ihrem negativen Gegenbild, dem nur theoretischen „Afterphilosophen“ (VAe 9), haben auch die Künstler einen praktischen gesellschaftlichen Auftrag zu erfüllen: Sie sind zuständig für die „Bildung des Empfindungsvermögens“ (VAe 21). Ähnlich findet sich dieser Gedanke wiederum bereits bei Sulzer24, bei Platner wird er jedoch noch handgreiflicher und im Blick speziell auf das Leipziger Zielpublikum formuliert:

Die Künstler aber dachten entweder deutlich, oder fühlten nur dunkel, daß das Beste, was in der Welt ist, das Handeln sey, und zwar das Handeln nicht eben allein in dem sogenannten Geschäftsleben, sondern vielmehr das Handeln im wirklichen Leben, welches einzig und allein auf Empfindung beruht. (VAe 21)
Es fehlt in der Welt an Empfindung, fahren sie fort, bei sich zu denken, es fehlt an Empfindung für die Natur und des [sic!] Interesse der Menschheit, und ohne eben so besondere Veranstaltungen und Einrichtungen zu treffen, wie zum Besten der Bildung des Verstandes geschehen ist, hoffen wir doch diesem Uebel einigermaßen abzuhelfen (VAe 22f.).

Damit grenzt sich Platner auch ganz explizit gegen Sulzer ab: Hatte dieser den Hauptzweck der Kunst noch in „Weisheit“ und „Tugend“ gesetzt, so hält Platner ihm entgegen:

Der Künstler hat nämlich gewiß und vor allen Dingen zu seinem vorzüglichsten Zwecke Schönheit und dadurch Vergnügen der Einbildungskraft (VAe 18).

Auch hier taucht der Vergnügensbegriff damit an zentraler Stelle auf: Schönheit wird nicht im Zustand des ‚interesselosen Wohlgefallens‘ wahrgenommen, sondern in spezifisch ästhetischen Empfindungen, die „aus dem Bewußtseyn eines angenehmen Zustandes in Ansehung des Geistes und Körpers zugleich“ (VAe 29) resultieren. Als solche beschreibt Platner nicht nur die Schönheit und die Erhabenheit als sozusagen ‚klassische‘ ästhetische Empfindungen, sondern auch das Edle, das Prächtige, das Große und Starke, das Niedliche, das Naive und Natürliche, das Lächerliche, das Scherzhafte sowie das Unangenehme.25 Insgesamt sind damit die ästhetischen Empfindungen nur eine Untergattung aller angenehmen Empfindungen überhaupt, die gleichermaßen – und nach Platner sogar überwiegend – von „Wahrheit, Zweckmäßigkeit, Schicklichkeit, Sittlichkeit, Nützlichkeit, was, mit Einem Worte, mit dem gesunden Verstande in Verbindung steht“ (VAe 69) erweckt werden können und teilweise „weit reiner und geistiger“ (VAe 71) als die spezifisch ästhetischen Empfindungen seien.26

Die fortschreitende Integration der Ästhetik ins Alltagsleben zeigen auch die Bestimmungen, die Platner bezüglich des künstlerischen Produzenten – unter dem einschlägigen Stichwort „Genie“ – und des Rezipienten – unter dem Äquivalent zum Genie, dem „Geschmack“ – abgibt. Das Genie beruht auf einer exzellenten Fähigkeit des „Geistes“ (wie jede andere hervorragende Begabung des „guten Menschen“ auch) sowie der damit einhergehenden „Reizbarkeit der Seele“ (VAe 77f.). Diese befähigt ihn erst, an der Welt Anteil zu nehmen; hier trifft sich Platner also mit der Garveschen Definition des „Interessanten“. Dazu kommt für den Anthropologen natürlich noch eine besondere physiologische Anlage des Genies (vgl. VAe 88). Ein solches Genie hat die selbstverständliche Pflicht, ein „Philosoph für die Welt“ zu sein, indem es sich als „Lehrer“ in jeglicher Wissenschaft und Kunst „auf das Ganze der wirklichen Welt und die menschliche Glückseligkeit“ bezieht (VAe 85); nur so erwirbt er sich das „Interesse der ganzen Menschheit“. Spiegelbildlich dazu wirkt das rezeptive Vermögen, der „Geschmack“, nicht nur in der Kunst, sondern in allen Bereichen der menschlichen Existenz, bis hinab zur Kleidung und Mode. Denn, so Platner wiederum eminent bürgerlich, die Glückseligkeit des Menschen hänge nicht nur von den klassischen philosophischen Letztzielen Weisheit, Aufklärung und Tugend ab, sondern auch von Gesundheit, Sicherheit des Lebens und Eigentums, Notwendigkeiten und Bequemlichkeiten des Lebens und schließlich dem Vergnügen – für das dann insbesondere die Kunst verantwortlich ist (vgl. VAe 100). Sie kann dabei auch zu erzieherischen und religionspädagogischen Zwecken eingesetzt werden; dazu aber muss sie notwendig populär sein, was Platner abschließend speziell für die Musik empfiehlt27:

Aber leider! Fehlt es uns noch sehr an solcher populärer Musik, besonders für das Land. (VAe 195)

3. Lesefutter – die Leipziger Spätaufklärer bedienen den Markt mit Textsammlungen


Die Bemühung um Popularität, verbunden mit einer Aufwertung der Unterhaltungs- und Vergnügungsfunktion von Kunst, ihrem ‚delectare‘, gegenüber einer Abwertung des traditionellen ‚prodesse‘, ihrer Lehrfunktion, demonstrieren auch eine Reihe von Publikationstypen, die gegen Ende des Jahrhunderts in Leipzig florieren. Es handelt sich dabei um Sammlungen unterschiedlichster Art, wie sie später auch Apel und
seine Freunde vorlegen werden. So ist beispielsweise August Meißner bald nach Abschluss seines Jura-Studiums in Leipzig mit Kriminalgeschichten, den sogenannten Skizzen, an die Öffentlichkeit getreten, in denen er aufsehenerregende Kriminalfälle gleichermaßen als Materialien zur ‚Erfahrungs-Seelenkunde‘ sowie zur Unterhaltung erzählerisch vorträgt. Die Sammlung wurde ständig erweitert und mehrfach wieder neu aufgelegt. In der späteren Vorrede von 1796 reflektiert Meißner noch einmal seine ursprünglichen Absichten,
von einigen Haupt-Grundsätzen der gewöhnlichen Kriminal-Justiz auszugehen; verschiedene angebliche Axiomata in ihr näher zu betrachten; einige psychologische Bemerkungen und Aufsätze damit zu verbinden, und endlich, als Belege von einigen Zweifeln, die Geschichten selbst folgen zu lassen.28

Ähnlich wie Garve bei seiner nachträglichen Rückschau auf sein Konzept des „Interessierenden“ lässt jedoch auch Meißner bezeichnenderweise die theoretischen Ambitionen immer mehr fallen, indem er den „räsonnierenden Theil“ „gänzlich“29 aufgibt. Zwar lehnt er es ab, die Geschichten durch eine stärkere erzählerische Ausgestaltung reißerischer zu machen, obwohl sie durch „eine willkürlichere Behandlung gewiß an Wirksamkeit gewinnen“ könnten. Er habe sie aber trotzdem ganz als „wahre Geschichte, nicht etwa wie man Novellen erzählt“, behandelt. Auch habe er solche Geschichten, die „ungeheure Mordgeschichten und nichts weiter waren“30, ausgespart. Trotzdem zehrt der langjährige Erfolg der Skizzen sicherlich primär von den ‚interessanten‘, nämlich spannungsreichen und vergnüglichen Aspekten der Lektüre von Kriminal- und Schauergeschichten, die sich bis heute bewähren.

Nach dem gleichen Erfolgsmuster ist die von dem bekannten Sprachhistoriker und Lexikographen Johann Christoph Adelung 178531 vorgelegte Geschichte der menschlichen Narrheit oder Lebensbeschreibungen berühmter Schwarzkünstler, Goldmacher, Teufelsbanner, Zeichen- und Liniendeuter, Schwärmer, Wahrsager, und anderer philosophischer Unholden gestrickt. Wiederum bemüht Adelung in seiner Vorrede den philosophischen Rechtfertigungstopos: Es gehe ihm um falsch betriebene Philosophie und also um ein ernsthaftes aufklärerisches Thema. Andererseits jedoch verleugnet auch er nicht den Unterhaltungsanspruch:

Ich habe daher geglaubt, daß eine solche Sammlung in unsern Tagen, wo das Lesen ein so wichtiges Bedürfniß geworden ist, eine nicht ganz unwichtige Abwechselung mit Romanen, Reisebeschreibungen und andern Zeitbüchern dieser Art gewähren würde.32

Adelung bezieht sich damit konkret auf die vielkritisierte ‚Lesesucht‘ der Zeit, die natürlich in der Bücherstadt Leipzig ein besonderes Problem war; und er nennt auch gleichzeitig die Literaturgattungen, die den größten Erfolg beim Lesepublikum hatten, nämlich in erster Linie die Romane, daneben aber auch die Reiseliteratur; beide fasst er unter dem neuen Begriff der "Zeitbücher", also: Werke von großer Aktualität, aber wahrscheinlich eher geringer Lebensdauer.

Eine weitere Spezialität des Leipziger Buchmarkts sind im weitesten Sinne kulturgeschichtliche Publikationen33, die nun den Sachprosa-Markt erobern und ebenfalls neben Belehrung immer stärker auf das Vergnügen des Lesers setzen. Dazu gehören beispielsweise die Publikationen des Altphilologen Karl Gottlob Schelle, der nicht nur ein Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften veröffentlichte, sondern auch eine Geschichte des männlichen Bartes unter allen Völkern der Erde bis auf die neueste Zeit (eine Übersetzung nach dem Französischen, 1797) sowie eine Kulturgeschichte des Spaziergangs (Die Spatziergänge oder die Kunst spatzierenzugehen, 1802) vorlegte. Beide Schriften sind fest im anthropologischen Paradigma der Platnerschen Tradition verwurzelt, indem sie eine enge Verbindung zwischen der physischen und geistigen Natur des Menschen34 herstellen bzw. auf den „ganzen Menschen“35 zielen und dadurch die im Garveschen Sinne ‚interessante‘, wenn auch nicht reinrassig philosophische Thematik rechtfertigen.36 Beide versuchen, wie die Publikationen von Meißner und Adelung, die Vorliebe des Lesers für Sammelwerke anstelle großer geschlossener Gesamtwerke auszunützen; so führt Schelle in der Vorrede zur Bart-Monographie aus:

Sammlungen der Art haben vor dem größten Theil gelehrter und literarischer Produkte, und selbst vor der allgemeinen Geschichte den Vortheil voraus, daß sie allgemein gefallen und allen Arten Lesern nützlich werden können. Sie entwickeln die Gegenstände genauer; sie können, ohne sich zu erniedrigen, bis zu Details herabsteigen, welche die allgemeine Geschichte vorbey zu gehen sich genöthigt sieht. Die Mannigfaltigkeit der gewählten, fast immer interessanten Züge gefällt dem müßigen Leser, der sich nur spielend und durch den Reiz des Vergnügens zu unterhalten sucht; während daß dieselben Thatsachen den denkenden Leser aufklären.37

Schelle stellt wie Schlegel auf eine Zweiteilung des Publikums in ein „denkendes“– den ‚E-Leser‘ sozusagen – und ein „müßiges“ Publikum ab. In den Spatziergängen wird er, nach einem einführenden Lob des Popularphilosophen nach dem Muster von Garve und Engel38, noch deutlicher:

Die Philosophie muß sich vertraulich dem Kreise des Lebens nähern, muß sich anspruchslos zur unterhaltenden Gesellschaft in Stunden der Erholung darbieten, muß sich sogar mit den Vergnügungen der veredelten Menschheit vermählen, um ihren Werth auch der nichtphilosophischen Welt fühlbar zu machen.39

Hier ist die Vermählung zwischen dem Popularphilosophen der aufklärerischen Tradition und dem Unterhaltungsschriftsteller für die Mußestunden weitgehend vollzogen, auch wenn in Formulierungen wie der „veredelten Menschheit“ ein letztes Residuum der alten Erziehungs- und Aufklärungsidee erhalten bleibt.


4. Gespenstergeschichten: Die Romantik hält Einzug

Ein weiteres neues Erfolgsgenre, das in der Romantik zunehmend an Bedeutung gewinnt, ist die Geister- oder Gespenstergeschichte. So veröffentlicht der Jurist und Schriftsteller August Apel, aufgewachsen im spätaufklärerischen Milieus Leipzigs, gemeinsam mit dem Dresdner Unterhaltungsschriftsteller Friedrich August Schulze ein Gespensterbuch, das in fünf Bänden zwischen 1811 und 1815 im Verlag Göschen in Leipzig erschien. Apel selbst hat in seiner Nachrede den Text als anthropologische Mustersammlung bezeichnet und damit auch in die spätaufklärerische Tradition beispielsweise Adelungs gestellt:

Eine Geschichte des Wunderglaubens wäre also für die Naturerkenntniß dasselbe, was eine Geschichte der Religionen für die Theologie.40

So gemahnt beispielsweise Klara Montgomery. Aus den Papieren des Chevaliers St…ge41 in vielerlei Hinsicht an die klassische aufklärerische Wundergeschichte.42 Die Erzählung ist vor einem vergleichbaren zeit- und kulturgeschichtlichen Hintergrund angelegt und wird von einem Ich-Erzähler dargeboten; dabei wechseln Gespräche mit erzählenden Passagen, am Ende gibt es gar eine Reihe beigefügter Briefe, die nach aufklärerischem Muster die Authentizität des Erzählten verbürgen sollen. Das „Wunder“, das im Mittelpunkt der Geschichte von der verschleierten Braut steht, wird immer wieder explizit als solches thematisiert; wie ein echter Aufklärer fordert der Greis in der Geschichte seinen Besucher auf, selbst zu sehen und zu untersuchen (vgl. G 284); er zeige ihm nur „Monumente der Geschichte, deren Echtheit freilich der Kritik zur Untersuchung überlassen bleibt“ (G 288). Wie ein echter Aufklärer rechtfertigt er auch seine instrumentelle Nutzung des in der menschlichen Natur angelegten „Geisterglaubens“ (G 289) zu löblichen Zwecken in der ihm anvertrauten Gemeinde. ‚Romantischer‘ geht es erst in den Briefen zu, bevor am Ende in der wieder aufgenommenen Rahmenhandlung der Reisende und der Greis das Geschehen resümieren. Es sei eben nicht alles einfach mechanisch erklärbar, so wie es die Aufklärung noch geglaubt habe:

Denn was man im gemeinen Leben Erklärung nennt, ist ja gewöhnlich nur Veränderung des Wortes, die uns der eigentlichen Einsicht um keinen Schritt näher bringt. […] Wir müssen ein höheres Denkvermögen kultivieren, um die chemischen Durchdringungen, wieder ein höheres, um das organische Leben zu begreifen (G 325f.).

Deutlich zeigt sich hier die romantische Überformung aufklärerischer und anthropologischer Themen und Axiome. Dazu gehören die Aufwertung und Rechtfertigung interessanter und vergnüglicher Literatur, die sich auf die Unterhaltung des Bürgers konzentriert – allerdings wird das Vergnügen bei den Spätaufklärern noch nicht als hedonistischer Selbstzweck gedacht. Ähnliches gilt für die Darstellung psychischer Abweichungsphänomene – hier bestand das zentrale Interesse der Aufklärer darin, diese in ihrer Genese zu analysieren und damit zu erklären, während die Romantiker gerade die Nicht-Erklärbarkeit mit rein rationalen Mitteln thematisieren werden. Schließlich vertreten Spätaufklärer wie Romantiker eine Ganzheitsanthropologie nach dem Platnerschen Muster, auch hier aber mit signifikanten Unterschieden im Einzelnen, was beispielsweise die Bewertung der beiden Bestandteile Leib und Seele oder die herbeizitierten philosophischen bzw. religiösen Rahmenkonzepte betrifft. Diese Überformung ist an vielen Stellen sehr stark und verdeckt dadurch die gemeinsame Vorgeschichte, die auch die 'sächsischen Romantiker' noch länger und stärker, als es ihnen wahrscheinlich bewusst oder lieb war, an ihre popularphilosophischen und -ästhetischen Wurzeln in der Leipziger Spätaufklärung bindet.


5. Lektüre auf mittlerer Ebene

Wie kaum ein anderes deutsches kulturelles Zentrum war die Verlags- und Universitätsstadt Leipzig um die Wende zum 19. Jahrhundert prädestiniert für die durchaus experimentelle Entwicklung neuer Formen von Massen- und Unterhaltungsliteratur. Die rapide Zunahme von lesehungrigen, ja lesesüchtigen Kunden (vor allem jedoch Kundinnen; Frauen machen einen wesentlichen Anteil am neuen Lesepublikum aus), die auf immer neue Nahrung drängten, vereinte sich mit einer großen Anzahl von Autoren, die größtenteils ebenfalls in ihren Nebenstunden produzierten und willig auf die neue Herausforderung reagierten. Die ästhetischen Grundlagen hatten Überlegungen von Popularphilosophen wie Christian Garve und des Leipziger Universitätsprofessors Ernst Platner gelegt, die neue ästhetische Kategorien etablierten und dabei immer stärker auch das primäre und berechtigte Interesse des Lesers an Unterhaltung in Betracht zogen: Aufgewertet wurden nun das Interessante, aber auch das Lächerliche, das Niedliche, das Prächtige, ja sogar das Hässliche. Damit einher gehen neue Themenbereiche, die bis heute ihre Attraktivität nicht verloren haben: Kriminalgeschichten, Geistergeschichten, aber auch Kulturgeschichten erobern nun den literarischen Markt. Dabei wird jedoch ein aufklärerisches Interesse an Belehrung durchaus nicht vollständig obsolet, sondern bleibt vielmehr in der anthropologischen Begründung der Ästhetik lange Zeit erhalten: Unterhaltung und Belehrung schließen sich durchaus nicht aus, und gerade wer nicht nur den Kopf der Leser erreichen will, sondern ihn auch zum moralischen Handeln animieren, muss unter Umständen einen Umweg über die Gefühle und die Einbildungskraft nehmen. Als strategisch besonders gut vermarktbar erweisen sich dabei Textsammlungen: Sie reagieren auf das Bedürfnis nach einer Gelegenheitslektüre ohne großen Anspruch an die geistige Aufmerksamkeit oder eine konzentrierte, lang andauernde Lektüre, die man zwischendurch zur Hand nehmen, aber ebenso schnell wieder weglegen kann. Gleichzeitig versuchen sie jedoch, einen gewissen aufklärerischen Grundstandard nicht zu unterbieten, indem sie auch Angebote für den denkenden Leser machen, jedoch dabei populär und verständlich bleiben. Denn niemand konnte zu dieser Zeit mehr an der Tatsache vorbei sehen, dass die Mehrheit der Deutschen bereits lieber kleine Krimis und Wundergeschichten lasen, als ihre zukünftigen Klassiker noch an ihren großen Werken schrieben. Die schlechtere Alternative wäre jedoch wahrscheinlich gewesen, dass sie gar nicht mehr lesen.


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1 Günter Mühlpfordt: Gelehrtenrepublik Leipzig. Wegweiser- und Mittlerrolle der Leipziger Aufklärung in der Wissenschaft, in: Leipzig. Aufklärung und Bürgerlichkeit, hg. von Wolfgang Martens, Heidelberg 1990, S. 39-102, hier S. 41.
2 Um 1780 gab es in Leipzig 134 Dichter (Dresden: 78, Wittenberg 33) bei ungefähr 30.000 Einwohnern; mehr als 20 % der Bücher in Deutschland wurden in Leipzig produziert. Unter den Schriftstellern gab es ausgesprochen viele Unterhaltungsschriftsteller; oft hatten sie ihr Studium abgebrochen und suchten danach weiter die Nähe von Universität und Buchhandel: „Neben dem Buchgewerbe, wo Druckergehilfen, Korrektoren und Übersetzer gebraucht wurden, konnte man auch als Musiker, Informator, Schreiber, Werber oder gar als Liebhaber älterer Damen Geld verdienen“ (vgl. Das literarische Leipzig. Kulturhistorisches Mosaik einer Buchstadt, hg. von Andreas Herzog, Leipzig 1995, S. 137).
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3 Den soziologischen Hintergrund und die ökonomischen Voraussetzungen für diese Blüte bilden nach allgemeiner Übereinstimmung die günstige Verkehrslage, eine davon profitierende Ökonomie sowie eine daraus resultierende besondere Wichtigkeit des Bürgertums (im Vergleich beispielsweise zum höfischen Milieu in Dresden). Vgl. dazu Wolfgang Martens: Zur Einführung: Das Bild Leipzigs bei den Zeitgenossen, in: Leipzig (Anm. 1), S. 13–22, hier: S. 21: „Das dumpfe Ahnen und die kraftgenialische Gebärde der Stürmer und Dränger waren hier nicht an ihrem Platze. Und klassisch-höfisch, elitär-geistesaristokratisch oder idealistisch wie ein Weimar oder Jena war man in Leipzig ebenfalls nicht, sondern: aufklärerisch-populär, bemüht um ein größeres Publikum und kultiviert-bürgerlich-liberal“.
4 Xenien, MA, Bd. 4.1, S. 788. Vgl. dazu auch die gegenläufige Xenie über die Ilm, den Hausfluss der Weimarer Klassiker: „Meine Ufer sind arm, doch höret die leisere Welle, / Führt der Strom sie vorbei, manches unsterbliche Lied“ (ebd.).
5 Georg Witkowski: Geschichte des literarischen Lebens in Leipzig, Leipzig und Berlin 1909, S. 2.
6 Anm. 2, S. 144.
7 Friedrich Schlegel: Ueber das Studium der griechischen Poesie. Neustrelitz 1797; zitiert nach: KSA I, 1, S. 205-367, hier: S. 227f. Auch hier taucht also der Begriff des „Interessanten“ auf, s.u. Vgl. ausführlich zu dem Schlegel-Aufsatz und dessen Analyse der Gegenwartsliteratur Dorothea Böck: „… von einem Theetisch zum andern“. Die „ästhetische Prügeley“ zwischen Berlin und Leipzig im Lichte der Herausbildung eines neuen Kulturtyps, in: Geselliges Vergnügen. Kulturelle Praktiken von Unterhaltung im langen 19. Jahrhundert, hg. von Anna Ananieva, Dorothea Böck, Hedwig Pompe, Bielefeld 2011, S. 93-120, bes. Kap. II.
8 Vgl. dazu Dorothea Böck: Gellert, August Apel und die sächsische Romantik, in: Gellert und die empfindsame Aufklärung, hg. von Sibylle Schönborn und Vera Viehöver, Berlin 2009, S. 235-256.
9 Christian Felix Weiße: Karl Wilhelm Ramlers Lyrische Gedichte. Berlin bey C.F. Voß, 1772, in: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, Bd. 14.2 (1773), S. 294–308, hier: S. 304.
10 Johann Jakob Engel: Die Göttinnen, in: Der Philosoph für die Welt, Bd. 1 (1775), S. 1–20, hier: S. 23–25.
11 Der Terminus wurde bereits von Ernst Bergmann in seiner umfangreichen Platner-Monographie vorgeschlagen, die sich auf Platners bis heute ungedruckte erste Ästhetik-Vorlesung Anfang der 70er Jahre in Leipzig stützt: Vgl. Ernst Bergmann: Ernst Platner und die Kunstphilosophie des 18. Jahrhunderts. Nach ungedruckten Quellen dargestellt, Leipzig 1913, bes. S. 178: „Gilt neben der Aufklärung das Ideal der Menschheitsbeglückung als das eigentliche Charakteristikum der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts, so könnte man auch Platners Ästhetik in ihrer späteren Entwicklung als Popularästhetik kennzeichnen“. Vgl. dazu auch meinen Aufsatz zu Johann Georg Sulzer: »Für Weltleute hinreichend« – Popularästhetik in ‚Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste‘. Erscheint in: Johann Georg Sulzer. Aufklärung zwischen Christian Wolff und David Hume, hg. von Frank Grunert und Gideon Stiening, München 2011.
12 Der erste Teil der Abhandlung erschien in der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, Bd. 12.1 (1771), S. 1–41; der zweite Teil folgte ein Jahr später: Fortsetzung der Gedanken über das Intereßierende, Bd. 13.1 (1772), S. 5–50; 1779 verfasst Garve noch einen Anhang dazu (im Folgenden wird aus den Artikeln zitiert mit der Sigle GI, und zwar nach dem Neudruck: Christian Garve: Popularphilosophische Schriften über literarische, ästhetische und gesellschaftliche Gegenstände, 2 Bde., hg. von Kurt Wölfel, Stuttgart 1974, Bd. 1, S. 161-347).
13 Vgl. Art. Interessant (schöne Künste), in: Allgemeine Theorie der schönen Künste, hg. von Johann Georg Sulzer, Leipzig 1771, hier: Bd. 1, S. 560f. Diese Wertschätzung kommt ihm nach Sulzer besonders deshalb zu, weil es einen persönlichen Bezug des ästhetischen Gegenstands zum Rezipienten herstellt und dessen Seele deshalb zu besonderer Wirksamkeit und Tätigkeit veranlasst.
14 Vgl. die Kritik der Urteilskraft (1790), § 2. „Das Wohlgefallen, welches das Geschmacksurteil bestimmt, ist ohne alles Interesse“. Auch Schlegel weist bereits auf diese Differenz hin, vgl. Böck (Anm. 6), S. 110, Anm. 65. Nach Schlegel ist das Interesse am Interessanten jedoch nur bezeichnend für eine gewisse Phase der Kunstentwicklung, sie wird im Laufe der Zeit überwunden.
15 Vgl. die trotz der gezeigten Unterscheide gleiche Formulierung später bei Kant in der Kritik der Urteilskraft (1790), § 49: „Nun behaupte ich, dieses Prinzip sei nichts anders, als das Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen; unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt“.
16 Daraus resultiert zwingend ein realistisches (und nicht symbolisches) Literaturkonzept, das in sehr vergleichbarer Weise auch Johann Karl Wezel in seiner Leipziger Zeit vertritt. Vgl. dazu vor allem
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seine Unterscheidung zwischen „Idealisten“ und „Realisten“ in seiner Rezension von Wielands Oberon, die 1781 ebenfalls im Zentralorgan der Leipziger Aufklärung, der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, erschien.
17 Vgl.GI 388f.: „Dichter haben zu allen Zeiten noch besondre Methoden gewählt, die Leidenschaften ihrer Personen interessanter zu machen, indem sie sie entweder mit einem besonders schwärmerischen oder fantasiereichen Charakter verbunden, oder sie zu einem so hohen Grade getrieben haben, daß sie den Gebrauch der Vernunft völlig aufheben. […] Es ist wahr, die Heftigkeit der Leidenschaft fällt nie mehr in die Augen als wenn sie das Gemüth verrücken“.
18 Zu dem Gespensterbuch von Apel/Laun s.u. (3); etwas später erschien ihr ebenfalls gemeinsam herausgegebenes Wunderbuch.
19 Vgl. zu Platner und seinem Einfluss auf die Literatur seiner Zeit Alexander Košenina: Ernst Platners Anthropologie und Philosophie. Der philosophische Arzt und seine Wirkung auf Johann Karl Wezel und Jean Paul, Würzburg 1989; zu Platners Philosophie insgesamt: Ernst Platner (1744-1818): Konstellationen der Aufklärung zwischen Philosophie, Medizin und Anthropologie, hg. von Guido Naschert und Gideon Stiening, Hamburg 2007 (= Aufklärung, Bd. 19).
20 Ernst Platners Vorlesungen über Aesthetik. In treuer Auffassung nach Geist und Wort wiedergegeben von dessen dankbarem Schüler, Zittau und Leipzig 1836 (im Folgenden zitiert mit der Sigle VAe). Vgl. zur Person von Moritz Erdmann Engel Bergmann (Anm. 12), S. 167.
21 Die erste Ästhetikvorlesung ist ebenfalls nur in einer Mitschrift überliefert: „Ernst Platner, uiber die Aesthetick, vom 12. Oktobr. Bis zum April 1778“ (426 Seiten); auf ihr beruht die oben zitierte Monographie von Bergmann (Anm. 10), die zur Einordnung von Platner in die ästhetischen Diskurse der Zeit Grundlegendes geleistet hat. Bergmanns Abwertung der späteren Fassung der Ästhetik-Vorlesung ist jedoch im Wesentlichen seiner eigenen, deutlich genieästhetischen Kunstauffassung geschuldet: „[…] aus der Engelschen Nachschrift ist der echte Platner […] unmöglich zu erkennen. Welch ein breites und schläfriges Gewässer mitunter, ohne alle Quellfrische und Ursprünglichkeit, die unsere im knappen Telegrammstil geführte Nachschrift von 1777 auszeichnet! Welche Magerkeit in der Theorie! […] Die wildgewachsenen Genies haben um 1790 ausgetobt. Mit ihnen schweigt Platners Anklage gegen die klassischen Sprachverderber. Vom Rousseau-Kult ist nicht mehr viel zu spüren, der hitzige Protest gegen die verbildende Kultur des Rokoko nahezu gegenstandslos geworden“ (Anm. 10, S. 169). Da die frühe Vorlesung bis heute nicht gedruckt vorliegt und Bergmann sehr selektiv zitiert, können im Folgenden nur einige punktuelle Vergleiche angestellt werden.
22 Vgl. VAe 3. Demgegenüber verfügte Platner, wie man bei Bergmann ausführlich nachlesen kann, über eine umfangreiche Kenntnis der Künste aus eigener Erfahrung und Anschauung; vgl. Bergmann (Anm. 12), bes. Kap. II: „Platners Persönlichkeit und sein Kunsterleben“.
23 VAe 9. Erst gemeinsam jedoch werden alle drei wirklich wirksam: „Alle sind Brüder, alle werden durch einerlei Triebrad, durch Empfindung, in Bewegung und Thätigkeit gesetzt, und alle arbeiten auf einen einzigen gemeinschaftlichen Zweck, auf Vervollkommnung und Glückseligkeit des Menschengeschlechtes, hin.“ (ebd.)
24 Vgl. die Vorrede in der Allgemeinen Theorie: „Zur Wartung des Verstandes hat man überall große und kostbare Anstalten gemacht; desto mehr aber hat man die wahre Pflege des sittlichen Gefühles versäumet“ (Sulzer, Anm. 14, S. IV). Bezeichnenderweise geht es aber hier vor allem um das sittliche Gefühl. Die Zuordnung der Kunst zu den Empfindungen findet sich ebenfalls bereits in Platners früher Ästhetik-Vorlesung (vgl. Bergmann, Anm. 12, S. 87).
25 Er bedient sich dabei des gleichen narrativ-aufzählenden Duktus, der auch seine Anthropologie prägt; demgegenüber gibt es keinen systematischen Zugriff, der die aufgezählten Empfindungen zueinander ins Verhältnis setzt oder aus einer Grundkraft ableitet, wie in der traditionellen philosophischen Ästhetik. Die Unterscheidung verschiedener ästhetischer Empfindungen findet sich auch bereits in der frühen Ästhetik-Vorlesung (vgl. Bergmann, vor allem Kap. VI: „Der Ausbau des Systems“).
26 Vgl. beispielsweise die anthropologische Rückführung von Schönheit auf den Reiz weiblicher Schönheit, die Platner noch kompromissloser in einem Brief an Luisa Augusta von Augustenburg aus dem Jahr 1796 formuliert: „Ich habe viel über die Naturschönheit nachgedacht, welche in der Antike und in der italienischen Mahlerey eine so große Rolle spielt; aber ich kann nichts anderes darin entdecken als Reize, welche Geschlechtsneigungen […] theils ankündigen, theils zu erregen im Stande sind. Daher habe ich immer geglaubt, unsre Kunstentzückung über die Naturschönheit oder Grazie sey eine Schwärmerey, welche mehr von dem Metier als von dem Geschmack herrührt […]. Weibliche Grazie, wohl analysirt, ist nichts andres als der höchste Inbegriff weiblicher Geschlechtsreize“ (zitiert nach: Bergmann, Anm. 12, S. 337).
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27 Bezeichnenderweise fehlt in der späteren Ästhetik-Vorlesung die Unterscheidung in „niedere“ und „höhere“ Künste, die die erste Ästhetik-Vorlesung prägt (vgl. Bergmann, Anm. 12, S. 88).
28 August Gottlieb Meißner: Skizzen. 3. Auflage Leipzig 1796, S. 5.
29 Meißner (Anm. 29), S. 5.
30 Meißner (Anm. 29), S. 7.
31 Adelung war zu dieser Zeit bereits in Dresden als Bibliothekar tätig, die Sammlungen gehen aber sicherlich auf seine Leipziger Zeit zurück.
32 Johann Christoph Adelung: Geschichte der menschlichen Narrheit oder Lebensbeschreibungen […]. Leipzig 1785, hier: Vorrede, nicht paginiert.
33 Adelung war gleichzeitig mit seinem Versuch einer Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechts (1772) ein Pionier der allgemeinen Kulturgeschichte.
34 Vgl. Geschichte des männlichen Bartes unter allen Völkern der Erde bis auf die neueste Zeit […], Leipzig 1797, S. XIIIf.
35 Die Spatziergänge oder die Kunst spatzierenzugehen, Leipzig 1802, S. 25.
36 „Ein Alter sagte: nichts, was in den Kreis der Menschheit falle, könne für Menschen ohne Interesse seyn; und die neuere Welt hat dieser menschlich gefühlten Wahrheit dadurch die schönste Huldigung verschaft, daß sie allem, was uns mit dem Menschen, seiner physischen und geistigen Natur, seinem Denken und Handeln, seine Trieben, Neigungen und Leidenschaften, seinen Sitten und Gewohnheiten näher bekannt zu machen dient, das lebhafteste Interesse schenkt“ (Geschichte des männlichen Bartes, Anm. 36, S: XIIIf.).
37 Geschichte des männlichen Bartes, Anm. 36, S. IVf.
38 Vgl. Spaziergänge (Anm. 37), S. 9 und 11.
39 Spatziergänge (Anm. 37), S. 15.
40 August Apel: Nachrede zum Gespensterbuch, in: Bd. 1, hg. v. August Apel, Friedrich Laun, Leipzig 1811, S. 285.
41 August Apel/Friedrich Laun: Gespensterbuch. Hg. von Mathias Heydenbluth. Berlin 1991, S. 278–327 (im Folgenden zitiert als: G).
42 Sie weist aber auch Ähnlichkeiten mit Wielands späten Novellen (im Hexameron von Rosenhain) oder Goethes Novellenzyklus Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten) auf.


Wissenschaftliche Publikationen zum Themenkreis "Popularphilosophie"
Ist eine populäre Philosophie möglich? Christian Garve als exemplarischer Popularphilosoph. In: Christian Garve (1742–1798), Philosoph und Philologie der Aufklärung. Hg. von Gideon Stiening und Udo Roth. Berlin/Boston 2021, S.325–347.
»Für Weltleute hinreichend« – Popularästhetik in Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste. In: Johann Georg Sulzer (1720-177). Aufklärung zwischen Christian Wolff und David Hume. Hg. von Frank Grunert und Gideon Stiening. München 2011, S. 191-208.
»Man doch niemand an seiner statt kan klug seyn lassen«. Die Klugheitslehre in Crusius' Anweisung vernünftig zu leben. Erscheint in: Christian August Crusius: Philosophie im Spannungsfeld zwischen Vernunft und Offenbarung. Hg. von Frank Grunder und Andree Hahmann. 2021.
›Gedanken‹ über Gott und die Welt. Die Erprobung der Anthropologie im Essay bei Meier, Krüger und Nicolai. In: Carsten Zelle (Hg.): »Vernünftige Ärzte«. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Halle 2002, S. 141-155.
»Eben so viel feine Beobachtungsgabe, als philosophischen Scharfsinn« –anthropologische Charakteristik in Platners ›Philosophischen Aphorismen‹. In: Ernst Platner (1744-1819). Konstellationen der Aufklärung zwischen Philosophie, Medizin und Anthropologie. Hg. von Gideon Stiening u. Guido Naschert (= Aufklärung 19, 2007). Hamburg 2007, S. 197-220.
KulturKlassiker: Johann Christoph Adelung (1732-1806): ›Versuch einer Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechts‹ (1782). In: KulturPoetik 5.2 (2005), S. 256-263.
Etymologie als Voraussetzung einer »vernünftigen Metaphysik«. Tetensʼ Frühschriften zur Etymologie. In: Gideon Stiening/Udo Thiel (Hg.): Johann Nicolaus Tetens (1736-1807), Philosophie in der Tradition des europäischen Empirismus. Berlin 2014, S. 365-377.
Die »Wissenschaft der Beurtheilungskunst«. Georg Friedrich Meiers Abbildung eines Kunstrichters. In: Gideon Stiening/Frank Grunert (Hg.): Georg Friedrich Meier (1718-1777). Philosophie als »wahre Weltweisheit«. Berlin/Boston 2015, S. 323-336.
Der »deutsche Edelmann und sein Hauslehrer«. Johann Georg Feders Neuer Emil im Kontext der pädagogischen Debatten der Zeit. In: Johann Georg Heinrich Feder (1740-1821). Empirismus und Popularphilosophie zwischen Wolff und Kant. Hg. von Hans-Peter Nowitzki, Udo Roth und Gideon Stiening. Berlin/Boston 2018, S. 295-316.
Verletzungen der Diät und der Moral. Medizinisch-anthropologischer vs. literarischer Diskurs über die Hypochondrie in M.A. v. Thümmels Reisen in die mittäglichen Provinzen. In: Daniel Fulda/Thomas Prüfer (Hg.), Faktenglaube und fiktionales Wissen. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Kunst in der Moderne. Frankfurt a.M./Bern u.a. 1997, S. 43-68.
»So mag mich ein tiefforschendes und zugleich aufrichtiges Weib zurechtweisen«. Jakob Mauvillons Mann und Weib nach ihren gegenseitigen Verhältnissen betrachtet in der zeitgenössischen Geschlechterdebatte. Erscheint in: Jakob Mauvillon und die deutsche Radikalaufklärung. Hg. von Dieter Hüning und Arne Klawitter. Berlin 2021.
Eine ‚Kritik der männlichen Vernunft‘, oder: Wie wurde Johanne Charlotte Unzer eine Weltweise? Erscheint in: Femmes des lettres. Wiederentdeckungen und Neulektüren europäischer Autorinnen des 17. und 18. Jahrhundert. Hg. von Martina Ortrud H. Hertrampf. Berlin 2021
Empfindsamkeit als Lebenspraxis, Denkhaltung und Formprinzip. Der ›ganze Gellert‹. In: Vernunft und Gefühl. Christian Fürchtegott Gollert und die Umbruchperiode der deutschen Aufklärung (1740-1763). Hg. von Wolfgang Fink. Halle a.d. Saale 2020, S. 43­62.
Empfindsame Wissenschaft. Zur Vermittlerfunktion der »schönen Wissenschaften« bei Gellert. In: Gellert und die empfindsame Aufklärung. Wissens- und Kulturtransfer um 1750. Hg. von Sibylle Schönborn und Vera Viehöver. Berlin 2008, S. 23-37.
Ueber die Mittel Naturgeschichte gemeinnütziger zu machen – Bertuchs Entwurf eines populär­wissenschaftlichen Forschungs- und Verlagsprogramm. In: Gerhard R. Kaiser/Siegfried Seifert (Hg.): Friedrich Justin Bertuch (1747-1822) – Verleger, Schriftsteller und Unternehmer im klassischen Weimar. Tübingen 2000, S. 659-671.
»Philosophischpoetische Visionen«. Schiller als philosophischer Dilettant. In: Dilettantismus um 1800. Hg. von Andrea Heinz und Stefan Blechschmidt. Heidelberg 2007, S. 185-204.
»Der leichte, faßliche, gefällige Philosoph für die Welt« - Popularphilosophie und Ästhetik des Vergnügens im Leipzig der Spätaufklärung. (unpubliziert; Text weiter unten!)
Lesenlernen. Materialität und kognitive Praktiken in Lesebüchern vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. In: Thomas Bremer (Hg.): Materialitätsdiskurse der Aufklärung. Bücher, Bilder, Praxen. Halle-Wittenberg, S. 105-136.
Brückenschläge. Zum Verhältnis begrifflicher und bildlicher Erkenntnis in Literatur und Kulturwissenschaft. In: KulturPoetik 6.1 (2006), S. 1-19.