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Projekt Populärphilosophie


Publikationen:

Ist eine populäre Philosophie möglich? Christian Garve als exemplarischer Popularphilosoph. Erscheint in: Christian Garve (1742–1798), Philosoph und Philologie der Aufklärung. Hg. von Gideon Stiening und Udo Roth. Berlin/Boston 2021, S.325–347.

»Für Weltleute hinreichend« – Popularästhetik in Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste. In: Johann Georg Sulzer (1720-177). Aufklärung zwischen Christian Wolff und David Hume. Hg. von Frank Grunert und Gideon Stiening. München 2011, S. 191-208.

»Man doch niemand an seiner statt kan klug seyn lassen«. Die Klugheitslehre in Crusius' Anweisung vernünftig zu leben. Erscheint in: Christian August Crusius: Philosophie im Spannungsfeld zwischen Vernunft und Offenbarung. Hg. von Frank Grunder und Andree Hahmann. 2021.

›Gedanken‹ über Gott und die Welt. Die Erprobung der Anthropologie im Essay bei Meier, Krüger und Nicolai. In: Carsten Zelle (Hg.): »Vernünftige Ärzte«. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Halle 2002, S. 141-155.

»Eben so viel feine Beobachtungsgabe, als philosophischen Scharfsinn« –anthropologische Charakteristik in Platners ›Philosophischen Aphorismen‹. In: Ernst Platner (1744-1819). Konstellationen der Aufklärung zwischen Philosophie, Medizin und Anthropologie. Hg. von Gideon Stiening u. Guido Naschert (= Aufklärung 19, 2007). Hamburg 2007, S. 197-220.

KulturKlassiker: Johann Christoph Adelung (1732-1806): ›Versuch einer Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechts‹ (1782). In: KulturPoetik 5.2 (2005), S. 256-263.

Etymologie als Voraussetzung einer »vernünftigen Metaphysik«. Tetensʼ Frühschriften zur Etymologie. In: Gideon Stiening/Udo Thiel (Hg.): Johann Nicolaus Tetens (1736-1807), Philosophie in der Tradition des europäischen Empirismus. Berlin 2014, S. 365-377.

Die »Wissenschaft der Beurtheilungskunst«. Georg Friedrich Meiers Abbildung eines Kunstrichters. In: Gideon Stiening/Frank Grunert (Hg.): Georg Friedrich Meier (1718-1777). Philosophie als »wahre Weltweisheit«. Berlin/Boston 2015, S. 323-336.

Der »deutsche Edelmann und sein Hauslehrer«. Johann Georg Feders Neuer Emil im Kontext der pädagogischen Debatten der Zeit. In: Johann Georg Heinrich Feder (1740-1821). Empirismus und Popularphilosophie zwischen Wolff und Kant. Hg. von Hans-Peter Nowitzki, Udo Roth und Gideon Stiening. Berlin/Boston 2018, S. 295-316.

Verletzungen der Diät und der Moral. Medizinisch-anthropologischer vs. literarischer Diskurs über die Hypochondrie in M.A. v. Thümmels Reisen in die mittäglichen Provinzen. In: Daniel Fulda/Thomas Prüfer (Hg.), Faktenglaube und fiktionales Wissen. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Kunst in der Moderne. Frankfurt a.M./Bern u.a. 1997, S. 43-68. 

»So mag mich ein tiefforschendes und zugleich aufrichtiges Weib zurechtweisen«. Jakob Mauvillons Mann und Weib nach ihren gegenseitigen Verhältnissen betrachtet in der zeitgenössischen Geschlechterdebatte. Erscheint in: Jakob Mauvillon und die deutsche Radikalaufklärung. Hg. von Dieter Hüning und Arne Klawitter. Berlin 2021.

Eine ‚Kritik der männlichen Vernunft‘, oder: Wie wurde Johanne Charlotte Unzer eine Weltweise? Erscheint in: Femmes des lettres. Wiederentdeckungen und Neulektüren europäischer Autorinnen des 17. und 18. Jahrhundert. Hg. von Martina Ortrud H. Hertrampf. Berlin 2021

Empfindsamkeit als Lebenspraxis, Denkhaltung und Formprinzip. Der ›ganze Gellert‹. In: Vernunft und Gefühl. Christian Fürchtegott Gollert und die Umbruchperiode der deutschen Aufklärung (1740-1763). Hg. von Wolfgang Fink. Halle a.d. Saale 2020, S. 43­62.

Empfindsame Wissenschaft. Zur Vermittlerfunktion der »schönen Wissenschaften« bei Gellert. In: Gellert und die empfindsame Aufklärung. Wissens- und Kulturtransfer um 1750. Hg. von Sibylle Schönborn und Vera Viehöver. Berlin 2008, S. 23-37.

Ueber die Mittel Naturgeschichte gemeinnütziger zu machen – Bertuchs Entwurf eines populär­wissenschaftlichen Forschungs- und Verlagsprogramm. In: Gerhard R. Kaiser/Siegfried Seifert (Hg.): Friedrich Justin Bertuch (1747-1822) – Verleger, Schriftsteller und Unternehmer im klassischen Weimar. Tübingen 2000, S. 659-671.

»Der leichte, faßliche, gefällige Philosoph für die Welt« - Popularphilosophie und Ästhetik des Vergnügens im Leipzig der Spätaufklärung. (unpubliziert)

Lesenlernen. Materialität und kognitive Praktiken in Lesebüchern vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. In: Thomas Bremer (Hg.): Materialitätsdiskurse der Aufklärung. Bücher, Bilder, Praxen. Halle-Wittenberg, S. 105-136.

 

Brückenschläge. Zum Verhältnis begrifflicher und bildlicher Erkenntnis in Literatur und Kulturwissenschaft. In: KulturPoetik 6.1 (2006), S. 1-19.


 


Werkprofile

Philosophen und Literaten des 17. und 18. Jahrhunderts

  • Wissenschaftl. Beratung: Wiep van Bunge, Stefanie Buchenau, Knud Haakonssen, Marion Heinz, Martin Mulsow und John Zammito
  • Herausgegeben von: Frank Grunert, Stefan Klingner, Udo Roth und Gideon Stiening


De Gruyter (A) | 2199-4811
eISSN: 2199-482X

Die Reihe Werkprofile versammelt textnahe Interpretationen und kommentierte Editionen von umfassenden Werken einzelner Philosophen, Wissenschaftler und Literaten des 17. und 18. Jahrhunderts. Im Fokus stehen Autoren, die in den Diskussionen ihrer Zeit Innovationen angeregt oder Synthesen geleistet haben, deren Bedeutung die Forschung bislang nicht hinreichend wahrgenommen hat. Bei den in der Reihe publizierten kommentierten Ausgaben und begleitenden Analysebänden geht es deshalb um eine genaue Rekonstruktion der internen Strukturen eines Œuvres und der Diskussion seiner theoretischen Leistungen im Kontext des jeweiligen zeitgenössischen Problemhorizontes. In der doppelten Perspektive eines internen wie externen Blicks werden neue sachliche Probleme aufgedeckt und die Genese wie die Produktivität von Theoriezusammenhängen der Aufklärung und Spätaufklärung erhellt. Die Reihe bildet so eine neue Grundlage für die Erschließung der intellektuellen Kultur des 17. und 18. Jahrhunderts.

Vgl. zu den einzelnen Bänden: 

Werkprofile (degruyter.com)

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Was ist Aufklärung?

Acht Antworten auf eine alte Frage


Was ist Aufklärung? Je nachdem, in welchem Kontext man diese Frage stellt, wird die Antwort wohl unterschiedlich ausfallen: Man wird auf kichernde Kinder und errötende Eltern stoßen, die Dinge über Bienen und Blumen daherstammeln (na gut, heute vielleicht nicht mehr…). Man könnte auf ernsthaft dreinblickende Politiker stoßen, die ‚lückenlose Aufklärung‘ nach einem Skandal fordern. Oder man könnte auch auf Literaturwissenschaftlerinnen stoßen, die einen Vortrag über Wieland, Kant und Lessing halten und über die Aufklärung des 18. Jahrhunderts als geistige und literarische Bewegung, die unser modernes Selbstverständnis als aufgeklärte Menschen bis heute prägt. So weit, so gut, aber noch etwas unscharf. Fragen wir weiter:  

1. Was ist Aufklärung? Eine Metapher  

Was also ist Aufklärung, verstanden nun als geistesgeschichtlicher Prozess oder als historische Epoche, die sich ungefähr über das gesamte 18. Jahrhundert erstreckt und dabei verschiedene Phasen durchläuft? Sagen wir zunächst das Offensichtliche: Es ist eine Metapher, also ein sprachliches Bild. Etwas klärt sich auf, wenn die Dunkelheit heller wird, der Nebel verschwindet, die Sonne immer stärker wird und alles in ihr helles Licht taucht. Eben dieses tut das ‚Licht der Vernunft‘ in der schon von den Zeitgenossen selbst ‚Aufklärung‘ genannten Epoche der menschlichen Geschichte: Es leuchtet dorthin, wo dunkle Gesellen wie der Aberglaube und das Vorurteil ihr Unwesen treiben; es bringt dabei ans Licht, was für alle Menschen nützlich, ja unentbehrlich zu wissen ist, um sich in der Welt orientieren zu können. Doch kann es nicht auch zu hell werden? Setzen wir nicht Sonnenbrillen auf, wenn die Sonne allzu grell vom Himmel scheint, und suchen den sanften, versöhnlichen Schatten? Das ist das Gute wie das Schlechte an Metaphern: Sie machen etwas anschaulich, sie lassen uns einen Gedanken sinnlich erfahren; aber sie zeigen gleichzeitig dort Grenzen auf, wo der Begriff sie normalerweise nonchalant überspielen würde.        

Kann es zu viel Aufklärung geben? Georg Christoph Lichtenberg, ein skeptischer Aufklärer und großer Liebhaber von Metaphern samt ihrer Übersetzung ins Begriffliche, sinniert beispielsweise:

„Was man von dem Vorteile und Schaden der Aufklärung sagt, ließe sich gewiß gut in einer Fabel vom Feuer darstellen. Es ist die Seele der unorganischen Natur, sein mäßiger Gebrauch macht uns das Leben angenehm, es erwärmt unsere Winter und erleuchtet unsere Nächte. Aber das müssen Lichter und Fackeln sein, die Straßenerleuchtung durch angezündete Häuser ist eine sehr böse Erleuchtung. Auch muß man Kinder damit nicht spielen lassen“.  

Es ist denkbar, dass diese Passage nach der Französischen Revolution geschrieben wurde, die sich eine einigermaßen radikale Aufklärung auf ihre Fahnen geschrieben hatte und sie mit angesteckten Häusern illustrierte. Es ist aber auch denkbar, dass Lichtenberg überhaupt ein wenig skeptisch war, ob sich alle Dinge wirklich immer und in jeder Hinsicht durch bessere Beleuchtung aufklären lassen!

2. Was ist Aufklärung? Lexikondefinitionen

Was also, fragen wir erneut, ist Aufklärung, und wo vielleicht sind ihre Grenzen und Gefahren? Wie bei den meisten Begriffen, die man auch gern zu ideologischen Zwecken benutzt, ist ihr Inhalt nicht gerade in Stein gemeißelt; jeder benutzt solche Begriffe zwar gern, aber jeder denkt sich etwas anderes dabei (und manchmal auch gar nichts; je allgemeiner der Begriff, desto größer die Gefahr, dass er zur leeren Formel wird). Je mehr man meint, einen solchen Allgemein- und Kampfbegriff auf Anhieb verstehen zu können, desto stärker zeigt der zweite Hieb, dass der Begriff selbst eher schwammartigen Charakter zu haben scheint und in seiner Geschichte auch sehr fragwürdige Dinge aufgesogen hat.    

Fragen wir also Leute, deren Job es ist, Begriffe möglichst präzise zu definieren; fragen wir Lexikonmacher, Wörterbuchautoren. Beginnen wir damit im 18. Jahrhundert selbst, also der Zeitspanne, die den Begriff sozusagen „erfunden hat“ (der Sachverhalt selbst ist natürlich viel älter, schon die Antike hatte ihre Aufklärung), und befragen als ersten Kronzeugen Johann Christoph Adelung, Sprachforscher, Philologe und eben Lexikonmacher. In seinem ‚Grammatisch-Kritischen Wörterbuch der deutschen Sprache‘, einem damaligen Standardwerk, definiert er, kurz und bündig: Aufklärung sei

„1) Die Handlung des Aufklärens, besonders im figürlichen Verstande [also: eine Metapher]. 2) Der Zustand, da man mehr klare und deutliche, als dunkle Begriffe und Vorurtheile hat“.

Aufklärung ist also nicht nur abstraktes Denken, sondern auch konkretes Tun, Handlung, schon vom grammatischen Sinn des Wortes her. Ist die Handlung aber einmal in Gang gesetzt, ist die Aufklärung in Schwung gekommen, dann etabliert sie einen Zustand, in dem Vorurteile und unklaren Begriffe immer stärker durch „klare und deutliche“ Begriffe ersetzt worden sind; Begriffsklärung selbst ist also ein ur-aufklärerischer Zweck! Ob dieser Prozess dabei jemals an sein Ende kommt, lässt Adelung klugerweise offen: Er spricht nur von „mehr“ klaren und deutlichen Begriffen, und man muss wohl kein Skeptiker sein, um hier im Blick auf unsere eigene Zeit zu sehen, dass ein Endstadium dieser Entwicklung wohl noch nicht in greifbare Nähe gerückt worden ist, eher: im Gegenteil.  

Halten wir jedoch vorläufig fest: Aufklärung wird von Adelung mit der Handlung des Aufklärens und einem Zustand der Aufgeklärtheit in Bezug auf den Sprachgebrauch und das Erkenntnisvermögen verbunden. Der Begriff selbst wird dabei in keinerlei Weise inhaltlich gefüllt, es geht weder um Menschenrechte, Toleranz oder sonstige inhaltlich definierbare Ziele. Das ist noch mehr oder weniger genauso im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm, dem lexikalischen Mammutprogramm des 19. Jahrhunderts. Dort wird lakonisch Kant zitiert: „Aufklärung ist die Maxime, jederzeit selbst zu denken“. Eine Maxime ist Aufklärung also, ein Leitsatz, an dem man sich im täglichen Handeln orientieren kann; kein ehernes Gesetz, sondern ein etwas erweiterter ins Prinzipielle ausgeweiteter guter Vorsatz. Und auch hier finden wir nur eine rein formale Bestimmung: Man möge bitteschön – und zwar jederzeit, darauf kommt es an! – selbst denken. Von Ergebnissen des Selbstdenkens ist nicht die Rede.

Das ändert sich mit zunehmender historischer Distanz. Ein aktueller Duden bestimmt Aufklärung als „von Rationalismus und Fortschrittsglauben bestimmte europäische geistige Strömung des 17. und besonders des 18. Jahrhunderts, die sich gegen Aberglauben, Vorurteile und Autoritätsdenken wendet“. Wir haben nun erstmals zwei inhaltliche Bestimmungen: Aufklärung wird verbunden mit (1) Rationalismus (also, im weitesten Sinne: Orientierung an der menschlichen Vernunft, nicht mehr beispielsweise an Gottes Offenbarung, wie bisher üblich) und (2) Fortschrittsglauben (die Menschheit entwickelt sich, und zwar zu ihrem Besseren). Dazu bekommen wir eine örtliche Situierung in Europa (diskutierbar; schon die Aufklärung selbst hielt das China des Konfuzius teilweise für aufgeklärter als die eigene Welt) und wir bekommen die Hauptgegner (Aberglauben, Vorurteile, Autoritätsdenken).    

Ähnlich formuliert auch Wikipedia: „Der Begriff Aufklärung […] bezeichnet die um das Jahr 1700 einsetzende Entwicklung, durch rationales Denken alle den Fortschritt behindernden Strukturen zu überwinden. Es galt Akzeptanz für neu erlangtes Wissen zu schaffen“. Dazu gehörten beispielsweise „die Hinwendung zu den Naturwissenschaften, das Plädoyer für religiöse Toleranz und die Orientierung am Naturrecht. Gesellschaftspolitisch zielte die Aufklärung auf mehr persönliche Handlungsfreiheit, Bildung, Bürgerrechte, allgemeine Menschenrechte und das Gemeinwohl als Staatspflicht“. Das sind nun schon eine ganze Reihe inhaltlicher Bestimmungen, und man könnte die Liste zweifellos auch weiterführen; denn wie alle Listen ist sie ein wenig beliebig, und die Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts hätten wahrscheinlich schon beim dem Wort „Naturwissenschaften“ zweifelnd die Stirn in Falten gelegt, es gab das Wort nämlich noch gar nicht (und die Sache erst in Ansätzen). Zudem sagt ein Begriff wie „Naturrecht“ auch den heutigen Gebildeten kaum noch etwas, so sehr ist uns die Überzeugung, dass alle Menschen von Natur aus gleiche Rechte haben, in Fleisch und Blut übergegangen. Hingegen ist die formale Bestimmung hier sehr weit zurückgetreten: Vom „Selbstdenken“ ist beinahe überhaupt nicht mehr die Rede. Ist es inzwischen auch selbstverständlich geworden – oder nur in den Hintergrund gerückt? Sind, polemisch gefragt, die Menschenrechte und die Toleranzforderung wichtiger als das Selbstdenken?  

3. Was ist Aufklärung? Die berühmte Frage in der ‚Berliner Monatsschrift‘  

Fragen wir also noch einmal, fragen wir die Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts nun selbst: Was ist Aufklärung? Gehen wir dabei zurück an den Anfangspunkt; gehen wir ins Jahr 1783, als eine damals sehr berühmte Zeitschrift, die Berlinische Monatsschrift (sie galt sozusagen als Kampfblatt der aggressiven Berliner Aufklärung), in ihrer Dezember-Ausgabe eine Frage an das gebildete Publikum stellt (auch das war damals durchaus üblich, manchmal gab es sogar Preise für die beste Antwort). Der Anlass war ein eher anti-aufklärerischer Beitrag eines Berliner Pastors zur Zivilehe, und in einer Fußnote, ausgerechnet, hatte er ein wenig polemisch gefragt: „Was ist Aufklärung? Diese Frage, die beinahe so wichtig ist, als: Was ist Wahrheit? Sollte doch wohl beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfinge. Und doch habe ich sie nirgends beantwortet gefunden!“ Das konnten die Herausgeber nicht auf sich sitzen lassen, galten sie doch als Speerspitze der Aufklärung schlechthin! Und so baten sie ihre Leser um Klärung, und gleich zwei der berühmtesten Philosophen der Zeit fühlten sich angesprochen: Moses Mendelssohn (auf dessen Antwort ich hier nicht eingehe, weil sie sich eher auf die Begriffe Kultur und Bildung konzentriert) und kein Geringerer als der Königsberger Philosoph Immanuel Kant, der seit seiner Kritik der reinen Vernunft (erschienen 1781) zum unbestrittenen  philosophischen Leitwolf der Zeit aufgestiegen war.

4. Immanuel Kant: Aufklärung braucht Mut!

Und so erschien genau ein Jahr später, unter den Christbaum sozusagen, Immanuel Kants Antwort in der Berlinischen Monatsschrift, und sie hat sich bis heute als die haltbarste Formel zur Bestimmung des schwammigen Begriffs Aufklärung erwiesen. Programmatisch bestimmt Kant (und gibt dabei gleichzeitig ein Beispiel dafür, wie eine ordentliche aufklärerische Begriffsdefinition aussehen sollte):

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung!“

Das ist ziemlich nahe an dem, was wir von Adelung gehört hatten; Aufklärung ist die Handlung des Aufklärens durch die Tätigkeit des eigenen Verstandes. Auch Kant gibt dabei keine einzige inhaltliche Bestimmung; er fordert einfach nur von jedem sich seines ihm von der Natur oder von Gott gegebenen Verstandes auch zu bedienen, und zwar selbständig, ganz allein, ohne Anleitung und ohne Netz und doppelten Boden. Tue er dies jedoch nicht, bleibe er nicht nur ewig unmündig, sondern er sei auch noch selbst schuld: Denken, so Kant, erfordert vor allem eines: Nicht Ausbildung, nicht Anleitung, nicht Brillanz, sondern – Mut! Angeborene Dummheit ist verzeihlich, nicht aber Furcht. sapere aude, so zitiert Kant Horaz und damit einen der zentralen Denker der antiken Aufklärung (die noch nicht so hieß natürlich); die vollständige Formulierung lautet: „Einmal begonnen ist halb schon getan. Entschließ dich zur Einsicht! Fange nur an!“ Schiller übersetzt: „Erkühne dich, weise zu sein!“ Auf den Anfang des Erkennens kommt es an; nicht auf das Ende.

Denn wir Menschen, so Kant im nächsten Passus ziemlich realistisch, sind gar nicht so ungern unmündig: „Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beureilt usw. so brauche mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nöthig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann“. Das sind klare und harte Worte, daran ist wenig misszuverstehen. Kant nimmt jeden Einzelnen in die Pflicht und in die Verantwortung; und er verschweigt nicht, dass der Prozess der Aufklärung lebenslange Mühe und Arbeit ist. Denn die Freiheit des Denkens, sie ist so ungewohnt; niemand hat uns dazu erzogen, und sie ist ein Risiko, wer selbst denkt, irrt selbst, auf eigene Rechnung; er kann sich hinterher nicht damit herausreden, jemand anderes hätte ihn böswillig in die Irre geführt. Denn selbst wenn man so weit gekommen sei, sich durch einen Akt des mutigen Entschlusses aus der Unmündigkeit zu verabschieden, in der man es sich so wohnlich eingerichtet hatte, kann man nach Kant nicht sofortige Erfolge erwarten: Der des Selbstdenkens noch Ungewohnte würde „dennoch auch über den schmalsten Graben einen nur unsicheren Sprung thun, weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt ist“. Fragen wir uns das, jede und jeder einzeln für sich: Sind wir zu „dergleichen freier Bewegung“ wirklich gewöhnt? Glauben und vertrauen wir nicht immer noch allzu gern selbst ernannten Sachverständigen, Experten, Vormündern und Vordenkern, Leitartiklern und Think tanks? Lehren wir unsere Kinder in Schulen wirklich das Selbstdenken, eine rein formale Fähigkeit, die trainiert und geübt werden will, ganz unabhängig von ihren Ergebnissen – oder lehren wir sie nicht doch eher das, was sie zu denken haben, wenn sie als aufgeklärt gelten sollen?

Kants Antwort ist damit aber noch nicht beendet. Er diskutiert noch eine Reihe von wichtigen Fragen – über das Verhältnis öffentlicher und privater Aufklärung, über die Grenzen der Aufklärung im Autoritätsstaat Preußen, sogar über die Notwendigkeit, gelegentlich die Aufklärung gezielt zurückzustellen (zum Beispiel im Militär, wo es wenig Sinn macht, Soldaten in Kampfsituationen zu ihrer Meinung zu befragen, und mag sie noch so selbstgedacht sein). Völlig überzeugt davon ist er jedoch, dass die Aufklärung als historischer Prozess der Emanzipation des Menschengeschlechts von seinen Vormündern zwar nicht aufzuhalten sei; aber keinesfalls über Nacht geschehe. Und der Text endet in  einem beinahe poetischen Bild des Königsberger Meisterdenkers:

„Wenn denn die Natur unter dieser harten Hülle den Keim, für den sich am zärtlichsten sorgt, nämlich den Hang und Beruf zum freien Denken, ausgewickelt hat; so wirkt dieser allmählich auf die Sinnesart des Volkes […] und endlich sogar auch auf die Grundsätze der Regierung, die es ihr selbst zuträglich findet, den Menschen, der nun mehr als eine Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln“.

Sogar die Regierung! Das muss man sich ein wenig auf der Zunge zergehen lassen. Aber immerhin bietet Kant damit auch endlich einen inhaltlichen Begriff zur Bestimmung der Aufklärung an: Es ist die Menschenwürde; sie jedoch ergibt sich logisch erst daraus, dass der Mensch über das Maschinenstudium herausgekommen ist, indem er damit begonnen hat, selbständig zu denken! Menschenwürde ist das Ergebnis von Aufklärung, nicht ihre Voraussetzung.

5. Christoph Martin Wieland: Aufklärung ist eine Selbstverständlichkeit

Kant ist insgesamt jedoch, im Wesentlichen, optimistisch: Die Aufklärung des Publikums lässt sich nicht endlos aufhalten, und irgendwann wird auch ein Zustand erreicht sein, der dieser Aufgeklärtheit einen politischen Rahmen gibt. Aber vielleicht nicht schon übermorgen; übermorgen hingegen wird die Französische Revolution stattfinden und nicht nur für Kant seinen grundlegenden Optimismus über den Fortschritt der Menschheit massiv in Frage stellen, da sie zwar heroische Ziele verkündete, sie aber durch einen bisher ungesehenen Terror durchzusetzen versuchte (wir erinnern uns an Lichtenberg: Aufklärung geschieht nicht durch angezündete Häuser!). Wieland hingegen – nun, er gilt mindestens ebenso als Musteraufklärer wie Kant, und das durchaus zu Recht. Aber auch er ist sich bewusst, dass es mit der Sache einige Schwierigkeiten hat. Seine eigene Antwort zur Berliner Frage „Was ist Aufklärung?“ findet sich sechs Jahre später in seiner eigenen Zeitschrift, dem Teutschen Merkur; also genau im Revolutionsjahr 1789. Und sie kommt ein wenig verwickelt und verschroben daher: Es ist ein Beitrag mit dem merkwürdigen Titel „Ein paar Goldkörner aus – Maculatur oder Sechs Antworten auf sechs Fragen“; geschrieben hat ihn, angeblich, ein gewisser Timalethes (ein offensichtliches Pseudonym, das als „Weisheitslehrer“ aus dem Griechischen übersetzen kann). Da sich Wieland jedoch mehrere Jahre später persönlich als Timalethes geoutet hat, können wir ihn als eine ironisch verklausulierte Äußerung Wielands lesen. Aber können wir wirklich?

Der Text beginnt zunächst mit einer Art Rahmenhandlung, in der seine Entstehung mit einer etwas bizarren Geschichte verbunden wird: Der Autor habe, wie es ja durchaus üblich sei, mal wieder einen Bogen Makulaturbögen (also schadhafte oder veraltete Druckbögen) zu seinem üblichen Zweck nutzen wollen (der Leser darf assoziieren: an einem gewissen Örtlein). Da sei ihm irgendwie aufgefallen, dass gerade dieser Bogen sechs Fragen zum Wesen von Aufklärung enthalte (es war also ein Bogen aus der Berlinischen Monatschrift, sogar die korrekte Seitenzahl wird genannt). Und da man schließlich von den Weisheitslehrern alter Zeiten wisse, dass man auch „aus einer gewissen unnennbaren Materie den Stein der Weisen“ ziehen – also Gold machen könne -, habe er, Timalethes/Wieland, doch auch einmal den Versuch unternommen, aus diesen Bögen Makulatur das Gold (der Weisheit nämlich) zu ziehen. Darauf folgen sechs Antworten auf sechs Fragen; sie sind kurz, knapp und auf den Punkt und illustrieren des Verfassers Hauptthese, nämlich: dass diese Fragen „schon seit einigen tausend Jahren für alle verständige Menschen keine Fragen mehr“ seien! Darüber aber sowie den Goldgehalt der aus dieser Makulatur gewonnenen Weisheiten möge doch gefälligst – der Leser dieser Bögen selbst urteilen!

Das ist eine klare Aufforderung zum Selbstdenken, hören wir uns also an, was uns Timalethes/Wieland zu sagen haben und urteilen wir dann selbst! Was Aufklärung sei, so werden wir von Timalethes zunächst belehrt, wisse jeder, der Augen habe und hell und dunkel unterscheiden könne und insofern ein natürliches Wissen darüber habe, dass man die Dinge im Hellen besser sehe als im Dunkeln (wir wiederholen: Aufklärung als Metapher). Daraus ergebe sich auch schon die Antwort auf die zweite Frage, nämlich welche Gegenstände Objekt der Aufklärung sei? – alle sichtbaren, natürlich, da man im Dunklen nur – nun gut, der Leser wisse schon was – tun könne und alles andere das Licht nicht scheue; und zwar auch und gerade (jetzt gehen wir zum ersten Mal über die Bildebene der Metapher heraus) das „Licht des Geistes“, das nämlich das Wahre vom Falschen, das Gute vom Bösen scheiden könne und als solche der natürliche Agent der Aufklärung sei. Aber es gebe selbstverständlich Leute, die Grund hätten, dieses Licht des Geistes zu scheuen, und zwar nicht nur Betrüger. Zu ihnen gehörten vielmehr beispielsweise (und bitte jetzt auf die Beispiele achten!) jeder, „der Grillen fängt, Luftschlösser baut, und Reisen ins Schlaraffenland oder in die glücklichen Inseln macht“; haltlose Idealisten also, Phantasten und Schwätzer! Das ist mutig gesagt von jemand, der selbst als Dichter gelegentlich das eine oder andere Luftschloss gebaut hat und gelegentlich auch eine unschuldige Grille fängt! Wir als Leser beginnen derweil nachdenklich zu werden; spricht hier nicht doch ein gewisser ironischer Unterton mit?

Demgegenüber gibt es auf die dritte Frage – „wo sind die Grenzen der Aufklärung?“, also eine durchaus berechtigte und auch von Kant thematisierte Frage – nur zwei, drei lakonische Sätze: dort, wo man eben nichts sehen könnte, egal bei welchem Licht (was unschuldig klingt, aber ein wenig zum Denken herausfordert: Wie ist es beispielsweise mit metaphysischen Fragen? Mit religiösen? Ist hier eine absichtliche Leerstelle?). Etwas ausführlicher wendet sich unser Timalethes hingegen der vierten Frage zu, durch welche „sicheren Mittel“ Aufklärung befördert werde: Man mache eben Licht! Himmel nein, möchte man an dieser Stelle sagen, da waren wir auch schon selbst drauf gekommen. Timalethes jedoch wird an dieser Stelle sogar ungewöhnlich ausführlich: Er nimmt eine systematische Unterscheidung zwischen Gegenständen sinnlicher Erkenntnis und Vorstellungen als Objekten einer geistigen Erkenntnis vor. Letztere würden aufgeklärt, in dem man „das Wahre vom Falschen daran absondert, das Zusammengesetze in seine einfachen Bestandtheile auflöst, das Einfache bis zu seinem Ursprung verfolgt, und überhaupt, keiner Vorstellung oder Behauptung, die jemals von Menschen für Wahrheit ausgegeben worden ist, ein Freybrief gegen die uneingeschränkeste Untersuchung gestattet wird“. Dann aber doch, könnte vielleicht der an dieser Stelle schon etwas gewitzigte Leser einwenden, gilt das doch auch für die als so einleuchtend und unmittelbar präsentierten Weisheiten des – Timalethes? Man wird sehen.

Denn unter dem fünften Punkt wird die Sache, bei allem immer strahlendem Licht des Autors, nicht eben deutlicher. Wer berechtigt sei, die Menschheit aufzuklären? Jeder natürlich, lässt Timalethes den dummen Frager wissen, denn welches oberaufgeklärte Obertribunal solle denn sonst bitte entscheiden, wer aufklären darf oder wer nicht? Nein, es werde wohl dabei bleiben müssen, „daß jedermann – von Sokrates oder Kant bis zum obscursten aller übernatürlich erleuchteten Schneider und Schuster, ohne Ausnahme berechtigt ist, die Menschheit aufzuklären“. Natürlich leuchtet das ein in Falle von Sokrates oder Kant, beide sind Kronzeugen der Aufklärung in der Philosophie. Aber etwas verwirrender ist der Punkt mit dem Schneider und dem Schuster. Denn worum es hier, zumindest halboffen geht, ist nicht die Rehabilitierung von Unterschichten in ihrem natürlichen Urteilsvermögen; nein, jeder aufgeklärte Zeitgenosse Wielands denkt natürlich sofort an den wesentlichen philosophischen Schuster der Philosophiegeschichte, nämlich den mystischen Esoteriker Jakob Böhme, und bei seinem Kollegen, dem Schneider, an den Wiedertäufer Jan von Leiden, also den Anführer einer fanatische Glaubensbewegung des Mittelalters – beide geradezu Antipoden einer Aufklärung, in jeder Hinsicht! Was will uns Timalethes damit sagen? Dass die Anti-Aufklärer die besseren Aufklärer sind? Dass man den Trank der Aufklärung bis zur bitteren Neige leeren muss, und wer einmal ein Prinzip geheiligt habe – lückenlose, unbegrenzte Aufklärung – auch mit den Konsequenzen wird leben müssen, nämlich: Aufklärung durch Anti-Aufklärer? Timalethes lehnt sich jedoch zurück und schreibt noch ein wenig darüber, dass zu erwartende Schäden durch unfähige Aufklärer leichter zu verkraften seien als nun ein Aufklärungstribunal, dass öffentlich zugelassene Aufklärer zertifiziert. Zudem habe man ja die Buchdruckerpresse, und jeder Unsinn, der veröffentlicht werde, erhalte schon die nötige Antwort. Man könnte meinen, er habe das Internet vorausgesehen!

Damit aber schnell zum sechsten und letzten Punkt: Woran erkennt man nun den jeweiligen Stand der Aufklärung? Natürlich, sagen wir in Chor, daran, dass es heller geworden ist; aber Timalethes geht wenigstens noch ein bisschen mehr ins Detail. Man erkenne es natürlich daran, dass die „Masse der Vorurtheile und Wahnbegriffe zusehends immer kleiner wird“ (Wahnbegriffe, schönes Wort, was meint er wohl damit?); aber auch wenn „die Schaam vor Unwissenheit und Unvernunft, die Begierde nach nützlichen und edeln Kenntnissen, und besonders wenn der Respect vor der menschlichen Natur und ihren Rechten unter allen Ständen unvermerkt zunimmt“. Aufgeklärt ist, so könnte man sagen, wenn man aufgeklärt werden will; und schon sind wir unversehens bei Kant, der in der Aufklärung vor allem eine Frage des Mutes und des Entschlusses sah. Timalethes ergänzt: Es ist eine Frage des Respekts. Selbstdenken + Respekt, das wäre wohl die Formel, auf die das zu bringen wäre.

An dieser Stelle und mit einer kleinen Schluss-Sottise gegen die Anti-Aufklärer und ihre Pamphlete endet die Goldmacherei aus Makulatur; und dazu als Bonus sozusagen einem kleinen provozierenden Vers des Timalethes: „Sagt, hab ich recht? Was dünkt euch von der Sache / Herr Nachbar mit dem langen Ohr?“ Der Weise macht sich also lustig, über sein Gegenteil, den Narren mit den langen Ohren; aber wer ist nun genau der Weise und der Narr? Denn der phasenweise so übereindeutige und dann wieder so verzwickt-ironische Text lässt jeden nur halbwegs aufgeklärten Leser mit einem Unbehagen zurück. Goldkörner? Nun ja. Das eine oder andere Katzengold vielleicht. Aber was erwartet man auch von Makulatur? Alle Bücher, auch die klügsten und besten und weisesten, werden irgendwann zu Makulatur; alle Fragen, auch die aufgeklärtesten, landen samt ihren Antworten auf dem Müllhaufen der Geschichte, egal ob sie Kant oder Sokrates oder Jakob Böhme geschrieben haben, egal ob sie die Aufklärung gefeiert oder sie verdammt haben. Das Leben nämlich, so Timalethes, sei die „Capelle“, in der das geschürfte Gold geprüft wird, und nicht der Buchdruck. (Hier haben wir, beiläufig gesagt, ein letztes Beispiel für die tiefe Ironie und Doppeldeutigkeit, die dem Artikel zugrunde liegt. Denn die „Capelle“ lässt uns natürlich an eine kleine Kirche denken; der zweite Wortsinn jedoch, den Adelung (unser Lexikograph aus dem 18. Jahrhundert) noch kennt, ist: Capellen sind „in der Chymie und Schmelzkunst, flache Tiegel von Asche und gebrannten Knochen, Silber und Gold darauf abzutreiben“). Denn nur Narren glauben, endgültige Weisheiten aus Druckerzeugnissen gewinnen zu können; nur einfältige Weisheitslehrer bedienen ihr Bedürfnis nach einfachen Antworten.

Ich bin mir inzwischen fast sicher, dass Wieland mit diesem Text (vor allem, aber vielleicht nicht nur) – ärgern wollte, provozieren wollte, in gewissem Sinne auch eine unnötige Debatte beenden wollte: Wenn ihr nach all dieser Zeit und alle diesen Schriften immer noch nicht verstanden habt, was Aufklärung ist – nämlich eine zu jeder Zeit mögliche Selbstaufklärung durch Nachdenken, Unterscheiden, Respekt – und wenn ihr darauf besteht, einfache Antworten auf einfache Fragen zu bekommen – bitte schön, da habt ihr sie! Erwartet aber keine goldenen Weisheiten. Erwartet, bestenfalls, Katzengold! Und dann geht hinaus und praktiziert Aufklärung! (Wieland hat den Text selbst übrigens, als einige Jahre später und damit nach der Französischen Revolution, dieser aufklärerischen Zeitwende, ein Streit darüber ausbrach, als „Diatribe“ bezeichnet: also als eine Form moralphilosophischer Lehre in einfacher Sprache, die sich an ein breites Publikum richtet; gelegentlich aber auch eine gelehrte Schmährede. Beides macht Sinn. Der Leser, die Leserin, entscheide selbst; so geht Selbstdenken!).

6. Gotthold Ephraim Lessing: Aufklärung ist, lieber weiter zu irren als aufhören zu suchen

Für mich hat, um zum abschließenden Teil und zur letzten Antwort auf die Frage „Was ist Aufklärung?“ zu kommen, immer Gotthold Ephraim Lessing die beste Antwort gegeben. Das vor allem, weil er sich niemals auf die Frage eingelassen hat, sie war aber auch vor seiner Zeit (Lessing starb 1781, das war vor der Frage in der Berlinischen Monatsschrift). Er hat jedoch einen kleinen Text geschrieben, unter dem Titel „Über die Wahrheit“, und schon aus der Frage in der Berlinischen Monatsschrift wissen wir, dass beide Fragen, die nach der Wahrheit und die nach der Aufklärung, eng zusammenhängen (man könnte vermuten: Vielleicht ist Wahrheit und nicht Menschenwürde der eigentliche Inhalt von Aufklärung?). Lessing schrieb also, es war im Rahmen der endlosen gelehrten und publizistischen Streitereien, die er so gern und so souverän führte, eine Art kleines Glaubensbekenntnis. Es beginnt nicht mit einer Frage, sondern mit einer Feststellung, einer These, die ohne jede Einschränkung im Format des ultimativen Rechtshabens, ja sogar versehen mit einer Reihe von Superlativen daherkommt:

„Ein Mann, der Unwahrheit unter entgegengesetzter Überzeugung in guter Absicht ebenso scharfsinnig als bescheiden durchzusetzen versucht, ist unendlich mehr wert, als ein Mann, der die beste, edelste Wahrheit aus Vorurteil, mit Verschreiung seiner Gegner, auf alltägliche Weise verteidigt.“

Lessing begründet das im Weiteren noch, aber wir bleiben erstmals bei diesem wie gemeißelten Satz; es kommt auf jedes Wort an. Lessing skizziert also einen Mann, der von einer Unwahrheit persönlich überzeugt ist und sie deshalb für eine Wahrheit hält (es darf auch gern eine Frau sein; wenn Sie den Test im Ernst machen wollen, stellen Sie sich einfach einen Afd-Wähler vor…), die als Wahrheit auch verdient, dass man sie verteidigt und verbreitet. Unser Mann hat dabei, da er ja ehrlich von ihrer Geltung überzeugt ist, keine bösen Motive; er versucht vielmehr, mit all seinen Kräften ihr ebenso „scharfsinnig“ (er ist kein Dummer, Dumpfer) wie „bescheiden“ (also auch kein Superman der Erkenntnis) zur Geltung zu verhelfen.

Ihm gegenüber stellt Lessing einen zweiten Mann (es darf auch gern eine Frau sein), der zwar die Wahrheit sagt, sogar die „beste, edelste“. Er sagt sie aber nur aus Vorurteil, also ohne sich persönlich durch Selbstdenken von ihrer Wahrheit überzeugt zu haben, bedient sich also einer gängigen, allgemein akzeptierten und im mainstream unproblematischen Formel. Zudem benutzt er als wesentliches Argument die Denunzierung der Gegner (meist als Dumme, Dumpfe); er selbst bringt es aber nicht über ein „alltägliches“, triviales, abgelutschtes Argument hinaus (woher auch, er hat ja nicht darüber nachgedacht). Und Lessing nun sagt, und das muss man sich wirklich in aller Konsequenz vorstellen: Ersterer ist ihm lieber. Lieber eine persönlich erzeugte, eigenständig und bescheiden vorgetragene Unwahrheit als eine allgemein akzeptierte Globalwahrheit auf der Basis der Denunziation der Gegner und ohne jegliche Originalität im Ausdruck.

Lessing hat aber auch eine Begründung parat, eine komplizierte und eine einfache (das ist durchaus ein wenig wie bei Wieland, sie können den Text sozusagen wörtlich und symbolisch lesen). Ich bleibe aus Zeitgründen und auch, weil sie mir einleuchtet, bei der einfachen Begründung (den Rest können Sie selbst nachlesen, es steht überall im großen weiten Internet unter dem Titel „Über die Wahrheit“). Lessing sagt nämlich, dass der Wert eines Menschen (der moralische, können wir ergänzen, oder auch: seine Aufgeklärtheit) nicht im Besitz von Wahrheiten bestehe. Er bestehe vielmehr in der Mühe, die sich jemand gegeben habe, um die Wahrheit zu finden. Unversehens sind wir also wieder bei Kant angekommen und auch ein wenig bei Wieland: Auf Selbstdenken kommt es an, nicht aufs Finden und Haben von vermeintlich endgültigen Wahrheiten! Denn, so Lessing ganz konkret und unmetaphysisch: Niemand wachse dadurch, dass er einen Besitz angenommen habe; Besitz mache, so wörtlich „ruhig, träge, stolz“ (und stimmt das nicht, wird das nicht von der einfachsten Erfahrung bestätigt? Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen, hat Goethe gesagt, und in meiner Jugend habe ich das nicht verstanden. Man muss den Satz eben erst erwerben). Bemühung aber, persönliche Anstrengung, die man auf sich nehme, um eine kleine Wahrheit zu finden und dann vielleicht noch eine (es müssen durchaus nicht immer die größten Wahrheiten sein), daran wachse man, daran schule man seine Kräfte, dadurch werde man, so Lessing im aufklärerischen Sprachgebrauch: „vollkommener“. It’s a process, würde man heute sagen.

Deshalb aber, in diesen Satz mündet Lessings kleiner Text, deshalb gibt es eine Art Lackmus-Test für die eigene Aufgeklärtheit oder vielleicht besser: Aufklärbarkeit. Er geht so:    

„Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater gib! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein“.

Einiges mag sich in uns gegen diese Szenario sträuben, zum Beispiel gegen die ja durchaus konventionelle Auffassung eines allmächtigen und allweisen Gottes, der im alleinigen Besitz der ganzen Wahrheit ist; ist das nicht eben die von Wikipedia beispielsweise festgemachte „Autoritätsgläubigkeit“, gegen die sich der wahrhaft Aufgeklärte wenden soll? Aber vielleicht könnte es einen zum Nachdenken bringen, dass Kant, Wieland und Lessing, die ich durchaus für die wichtigsten Kronzeugen der historischen Aufklärung in Deutschland halte, gläubige Menschen waren. Sie waren darin nicht nur Kinder ihrer Zeit, oh nein; sie hatten auch darüber gründlich nachgedacht, weil sie aufgeklärt genug waren, um über alles gründlich nachzudenken. Und dann hatten sie sich für den persönlichen Glauben entschieden, ob an einen christlichen Gott, ist dabei eher nachgeordnet. Es war ein Ausdruck ihrer Bescheidenheit als Erkennende, ihrer Anerkennung ihrer Schwäche als Mensch. Sie glaubten an die Vervollkommnungsfähigkeit, an die Perfektibilität des Menschen, das war ihr aufklärerisches Credo (was man übrigens auch mit Grund bestreiten kann, es gibt jede Menge gute Argumente dagegen, dass die Menschheit sich jemals vollständig perfektionieren wird!). Aber sie glaubten nicht daran, dass Menschen, einzelne Menschen oder das Gattungssubjekt Menschheit, jemals vollkommen sein würden. Vollkommenheit jedoch – nun, wenn es sie geben muss, dann nennen wir sie eben Gott. Eine regulative Idee, hätte Kant gesagt. Ein schöner Gedanke, hätte Wieland gesagt, schöner jedenfalls als sein Gegenteil. Ein Aufruf zur Demut, hat Lessing gesagt, und wer meint, das nicht nötig zu haben, hat schon demonstriert, wie dringend er es braucht.

7. Lessing, zum Zweiten: Aufklärung ist nicht besser denken, sondern besser handeln

Wer es lieber ein wenig anschaulicher mag, nicht mit so großen Worten, für den hat Lessing die Ringparabel in seinem dramatischen Gedicht Nathan der Weise geschrieben. Sie wird vielgelesen, noch heute, gern in den Schulen, und gedeutet und hochgelobt als energischer Aufruf zur religiösen Toleranz, und das ist sie zweifellos – auch. Sie ist aber mehr, und das wird seltener gesehen.

Ich rekonstruiere ganz kurz zur Erinnerung die Handlung. Das dramatische Gedicht Nathan der Weise spielt zur Zeit der religiösen Kreuzzüge im Mittelalter, also einer Zeit großer religiöser Konflikte. In seinem Zentrum steht die Ringparabel: Der weise Jude Nathan wird zum Sultan Saladin gerufen, und um ihn auf die Probe zu stellen, stellt Saladin die Frage, welche der monotheistischen Religionen er aufgrund seiner Weisheit und persönlichen Prüfung für die beste halte, die jüdische, die christliche oder die muslimische? Nathan ist klug genug, die Falle zu wittern, und rettet sich deshalb in eine Geschichte, die sog. Ringparabel (eine Erzählung, die er sich nicht ausgedacht hat, sie geisterte schon lange vorher durch die Literatur). In der Parabel geht es um einen Mann vor Urzeiten im Osten, der einen Ring von unschätzbarem Wert „von lieber Hand“ besaß, der die Fähigkeit besaß, seinen Träger „vor Gott und den Menschen angenehm zu machen“ (jeder darf auch gern an Tolkiens Herrn der Ringe denken, die Moral dort ist durchaus ähnlich: der eine Ring ist immer verderblich und korrumpiert denjenigen, der ihn trägt). Der Vater vererbte diesen Ring jeweils an den Sohn, der ihm der liebste war – bis der Ring auf einen Vater kam, der drei Söhne hatte, alle gleich lieb, alle gleich wert, und der Vater kommt auf die – seien wir ehrlich, weder besonders kluge noch besonders moralische Idee, drei Fälschungen anfertigen zu lassen und jedem der Söhne in dem Glauben zu lassen, er habe den einen Ring bekommen. Der Betrug fliegt natürlich auf nach dem Tod des Vaters, und die Söhne gehen vor Gericht (das Szenario mutet hier geradezu modern an!).

Der Richter lässt die Ringe untersuchen, man stellt aber aufgrund von Sachverständigengutachten fest, dass die Echtheit bei keinem feststellbar ist; worauf der weise Richter den Schluss zieht, dass das Original wahrscheinlich schon lange verloren gegangen war. Zudem, und hier erst erweist er sich als wahrhaft weiser Richter, führt er an, dass man den echten Ring an seinen Wirkungen ja zweifellos erkennen müsste; sein Besitzer müsste ja am meisten geliebt werden, und so müssten schon zwei von den drei Brüdern einen am meisten lieben! Tun sie aber nicht, und der Richter zieht den einzig möglichen Schluss: „Die Ringe wirken nur zurück? Und nicht / nach außen? Jeder liebt sich selber nur / am meisten? – O so seid ihr alle drei Betrogene Betrüger!“ Und die Empfehlung, die er den drei Söhnen mitgibt, lautet: Dann werdet ihr wohl jeder so handeln müssen, als hättet ihr den einen Ring! „Es eifre jeder seiner freien / unbestochnen Liebe nach“, ist die Maxime. Denn, seien wir ehrlich, was für eine moralische Leistung wäre es, aufgrund des ererbten Besitzes eines magischen Ringes aufgeklärt und menschenfreundlich zu sein? Schon das Geschenk selbst ist vergiftet, Produkt einer früheren Entwicklungsstufe der Menschheit und ihrer früheren Götter, die Günstlinge hatten, magische Geschenke willkürlich verteilten und durch Wunder wirkten.

8. Was ist Aufklärung? Aufklärung ist, wenn man trotzdem denkt   

Was also ist Aufklärung? Aufklärung ist, für Wirkungen des eigenen Handelns selbst verantwortlich zu sein – im Bewusstsein der eigenen Fehlbarkeit und der Möglichkeit des Irrtums selbst bei allerbesten Bemühungen; das könnten wir mit Lessings Ringparabel sagen. Und sie zeigt sich nicht nur im Selbstdenken, sondern vor allem im Handeln. Denn was Aufklärung ist, allgemein und als Definition von Goldwert – ich kann es Ihnen nicht sagen. Kant kann es Ihnen nicht sagen. Wieland kann es nicht, noch nicht einmal Lessing kann es. Das einzige, was man mit einem gewissen Allgemeinheitsanspruch sagen kann ist: Aufklären beginnt mit Selbstdenken. Mut haben. Liebgewordene Überzeugungen überprüfen, immer wieder, das Vorurteil wohnt oft da, wo man es gerade nicht vermutet. Jedem das Recht zum Irrtum zugestehen, sich selbst und anderen. Keine Wunder erwarten, keine Erleuchtungen, keine Patentrezepte. Und am wichtigsten: Endlich anfangen mit Denken und niemals damit aufhören. Aufklärung hat kein Ende, weder ein gutes noch ein schlechtes.