Wissenschaftliche Publikationen
Es gibt einige wenige philosophische Sätze, die kennt (fast) jede: Gott ist tot! (Nietzsche); Das Sein bestimmt das Bewußtein (Marx); oder Sokrates nie genug hochzuschätzende Feststellung: Ich weiß, dass ich nichts weiß – na gut, jetzt wird es schon ziemlich eng mit dem Angebot. Aber einer der berühmtesten fehlt, und er kommt ganz knapp und unschuldig und einfach daher. Aber das täuscht. Man versteht ihn nämlich gar nicht, auf Anhieb jedenfalls. Deshalb erzählt René Descartes in seinen Meditationen auch die ganze Geschichte dazu, wie er auf diesen Satz gekommen ist: Er hat nämlich damit angefangen, an der Existenz von allem zu zweifeln – dem schauerlich kalten Raum in den Niederlanden, wo er im Exil sitzt, während in Europa der 30jährige Krieg tobt; er zweifelt an dem Ofen, am seinem Nachtrock, an dem Stück Papier, an seinen Händen – einfach an allem, was ihn umgibt. Es könnte ja ein Traum sein, vorgespiegelt von einem tückischen Dämon! Ein paar Gedankensprünge weiter (es kommt hier nicht auf akademische Exaktheit an) bleibt nur eines, was unbezweifelbar ist: Dass es ein Ich gibt, das diese Zweifel denkt; eine denkende Substanz, nicht ausgedehnt im Raum, nicht greifbar und fassbar: ein sozusagen reines Ich, das ist, weil es denkt. Cogito ergo sum, Ich denke, also bin ich! (natürlich schrieb der Universalgelehrte Descartes auf Latein; und es gibt auch viele Streitigkeiten über genaue Formulierung, Übersetzungen etc. etc.) Ich denke, also bin ich. Ach so, ist man geneigt zu sagen. Aber was nützt mir das eigentlich, bei genauerer Betrachtung, und wenn wir unsere philosophische Höhle wieder verlassen und in die Welt der greifbaren Dinge hinausgehen?
Das ist die Frage, die Thomas Wellmanns Comic (es ist aber eher eine Art graphic philosophical novel) mit dem Titel Renés Meditationen. Frei nach René Descartes umtreibt. In ihm begegnen wir Descartes, und zwar als Bären (er erinnert gelegentlich ein wenig an Winnie Pooh, beispielsweise wenn er Honig isst oder philosophische commonplaces von sich gibt). Und er hat einen Gefährten, einen pfiffigen Waschbären (ziemlich viel klüger als Piglet, dem er aber trotzdem in der Gestalt ein wenig ähnelt). Und er braucht ihn auch. Denn René ist zwar, bärengemäß, ein sehr tiefer und gründlicher und geduldiger Denker, aber Marin – so heißt der Waschbär – widerspricht ihm regelmäßig auf die allernetteste, allerfreundlichste – und abgrundskeptischste Art und Weise der Welt. Marin und René; ohne Dialog, ohne allerfreundlichsten und abgrundskeptischen Widerspruch keine Philosophie. Wer aber ist Marin?
Eine google-Recherche später (es war sogar eine leichte) sind wir klüger: Marin Mersenne war ebenfalls ein Universalgelehrter; studierter Theologe, ambitionierter Physiker, Astronom und Mathematiker, in gewissem Sinne: Erfinder des modernen Experiments und bis heute vor allem bekannt durch die nach ihm benannten Mersenne-Primzahlen sowie durch seine Universaltheorie der Musik und der Instrumente. Aber vor allem korrespondierte er. Das Gelehrtennetzwerk seiner Zeit war das Gegenstück zu den heutigen social media (nur eben auf Latein und mit technischen Zeichnungen statt Videos). Marin Mersenne kannte sie alle, die Großen seiner Zeit; und er besuchte sie auch, er machte sozusagen europaweit Werbung für sie, er war ein großer Vermittler, heute würden wir wahrscheinlich pompös sagen: „Wissenschaftskommunikator“.
Marin und René, Waschbär und Braunbär, sind aber auch zwei grundverschiedene Denkertypen. Denn genau wie René sich im Winter mit vollgefressenem Bauch und verstopftem Darm in seiner Höhle vergräbt und sehr, sehr lange nicht wieder herauskommt, so denkt er auch. Mit verstopftem Darm? So stutzt man beim Lesen an dieser Stelle, was soll uns denn dieser fun fact wohl sagen? „Bären verstopfen im Herbst vorsätzlich ihren Darmausgang, um während des Winterschlafs nicht aufs Klo zu müssen“! Ach, er sagt uns alles, er gibt uns den Schlüssel. Auf ihm kann man eine ganze Kritik des Systemdenkens schlechthin aufbauen! Das wissen wir aber erst am Ende, wenn wir René lange und geduldig beim Denken zugeschaut haben, so wie Marin. Wenn wir gesehen haben, wie er ins Brüten verfällt, immer mehr von außen nach innen geht, und es gärt und es brodelt in seinem Kopfe, aber es will noch nicht hinaus, es kann noch nicht hinaus, es soll noch nicht hinaus, sondern gärt weiter und weiter und – man male sich die Metapher selbst aus!
Derweil verbringt Marin seinen Winter in einer schönen dunklen Bibliothek und ernährt sich von Büchern. Und deshalb weiß er auch, welche genaue Oberflächentemperatur die Sonne hat und wie groß ihr Durchmesser ist. Oder er weiß, dass Menschen Wesen voller Mängel sind. Und er kann sich auch eine Körpermaschine ohne Geist vorstellen (er ist nämlich nicht nur Atheist, sondern auch Materialist); und er weiß, dass die großen bösen Wölfe dieser Welt weiter die kleinen flinken Kaninchen jagen werden, weil das eben der Gang der Dinge ist unter einer Sonne, die eine unvorstellbare Oberflächenhitze und einen immensen Durchmesser hat. Er weiß sogar, wozu man trotz alledem noch Philosophie betreiben sollte – nämlich weil ---
Aber das wäre jetzt zu viel gespoilert. Das muss jede schon für sich herausfinden, es macht auch einfach zu viel Spaß und ist gar nicht lang zu lesen! Man schaue aber auch auf die zeichnerischen Details; erfreue sich am wilden Wald und seinen kleinen Tieren oder an Renés interessanten Götterbild (einer Mischung aus Bären und Buddha). Und dann beginne man, dem Denken zuzuschauen, wie es sich zeichnerisch wie sprachlich entwickelt: entweder auf die Braunbärenart (langes Brüten, Verstopfung aller Zugänge zur Außenwelt, explosionsartige Universalerkenntnis am Ende) oder auf Waschbärenart (lesen, schauen, zweifeln; lesen, schauen, zweifeln, lesen …). Am Ende jedenfalls ist man klüger.
Die neunmalkluge Eule aber hat es von Anfang an schon gewusst: „Denkt aber nicht, isst bloss“, der René! Darauf könnte man auch mal eine Philosophie aufbauen.
Thomas Wellmann: Renés Meditationen. Frei nach René Descartes. Rotopolpress Kassel, 2024.
Was ist Aufklärung? Je nachdem, in welchem Kontext man diese Frage stellt, wird die Antwort wohl unterschiedlich ausfallen: Man wird auf kichernde Kinder und errötende Eltern stoßen, die Dinge über Bienen und Blumen daherstammeln (na gut, heute vielleicht nicht mehr…). Man könnte auf ernsthaft dreinblickende Politiker stoßen, die ‚lückenlose Aufklärung‘ nach einem Skandal fordern. Oder man könnte auch auf Literaturwissenschaftlerinnen stoßen, die einen Vortrag über Wieland, Kant und Lessing halten und über die Aufklärung des 18. Jahrhunderts als geistige und literarische Bewegung, die unser modernes Selbstverständnis als aufgeklärte Menschen bis heute prägt. So weit, so gut, aber noch etwas unscharf. Fragen wir weiter:
1. Was ist Aufklärung? Eine Metapher
Was also ist Aufklärung, verstanden nun als geistesgeschichtlicher Prozess oder als historische Epoche, die sich ungefähr über das gesamte 18. Jahrhundert erstreckt und dabei verschiedene Phasen durchläuft? Sagen wir zunächst das Offensichtliche: Es ist eine Metapher, also ein sprachliches Bild. Etwas klärt sich auf, wenn die Dunkelheit heller wird, der Nebel verschwindet, die Sonne immer stärker wird und alles in ihr helles Licht taucht. Eben dieses tut das ‚Licht der Vernunft‘ in der schon von den Zeitgenossen selbst ‚Aufklärung‘ genannten Epoche der menschlichen Geschichte: Es leuchtet dorthin, wo dunkle Gesellen wie der Aberglaube und das Vorurteil ihr Unwesen treiben; es bringt dabei ans Licht, was für alle Menschen nützlich, ja unentbehrlich zu wissen ist, um sich in der Welt orientieren zu können. Doch kann es nicht auch zu hell werden? Setzen wir nicht Sonnenbrillen auf, wenn die Sonne allzu grell vom Himmel scheint, und suchen den sanften, versöhnlichen Schatten? Das ist das Gute wie das Schlechte an Metaphern: Sie machen etwas anschaulich, sie lassen uns einen Gedanken sinnlich erfahren; aber sie zeigen gleichzeitig dort Grenzen auf, wo der Begriff sie normalerweise nonchalant überspielen würde.
Kann es zu viel Aufklärung geben? Georg Christoph Lichtenberg, ein skeptischer Aufklärer und großer Liebhaber von Metaphern samt ihrer Übersetzung ins Begriffliche, sinniert beispielsweise:
„Was man von dem Vorteile und Schaden der Aufklärung sagt, ließe sich gewiß gut in einer Fabel vom Feuer darstellen. Es ist die Seele der unorganischen Natur, sein mäßiger Gebrauch macht uns das Leben angenehm, es erwärmt unsere Winter und erleuchtet unsere Nächte. Aber das müssen Lichter und Fackeln sein, die Straßenerleuchtung durch angezündete Häuser ist eine sehr böse Erleuchtung. Auch muß man Kinder damit nicht spielen lassen“.
Es ist denkbar, dass diese Passage nach der Französischen Revolution geschrieben wurde, die sich eine einigermaßen radikale Aufklärung auf ihre Fahnen geschrieben hatte und sie mit angesteckten Häusern illustrierte. Es ist aber auch denkbar, dass Lichtenberg überhaupt ein wenig skeptisch war, ob sich alle Dinge wirklich immer und in jeder Hinsicht durch bessere Beleuchtung aufklären lassen!
2. Was ist Aufklärung? Lexikondefinitionen
Was also, fragen wir erneut, ist Aufklärung, und wo vielleicht sind ihre Grenzen und Gefahren? Wie bei den meisten Begriffen, die man auch gern zu ideologischen Zwecken benutzt, ist ihr Inhalt nicht gerade in Stein gemeißelt; jeder benutzt solche Begriffe zwar gern, aber jeder denkt sich etwas anderes dabei (und manchmal auch gar nichts; je allgemeiner der Begriff, desto größer die Gefahr, dass er zur leeren Formel wird). Je mehr man meint, einen solchen Allgemein- und Kampfbegriff auf Anhieb verstehen zu können, desto stärker zeigt der zweite Hieb, dass der Begriff selbst eher schwammartigen Charakter zu haben scheint und in seiner Geschichte auch sehr fragwürdige Dinge aufgesogen hat.
Fragen wir also Leute, deren Job es ist, Begriffe möglichst präzise zu definieren; fragen wir Lexikonmacher, Wörterbuchautoren. Beginnen wir damit im 18. Jahrhundert selbst, also der Zeitspanne, die den Begriff sozusagen „erfunden hat“ (der Sachverhalt selbst ist natürlich viel älter, schon die Antike hatte ihre Aufklärung), und befragen als ersten Kronzeugen Johann Christoph Adelung, Sprachforscher, Philologe und eben Lexikonmacher. In seinem ‚Grammatisch-Kritischen Wörterbuch der deutschen Sprache‘, einem damaligen Standardwerk, definiert er, kurz und bündig: Aufklärung sei
„1) Die Handlung des Aufklärens, besonders im figürlichen Verstande [also: eine Metapher]. 2) Der Zustand, da man mehr klare und deutliche, als dunkle Begriffe und Vorurtheile hat“.
Aufklärung ist also nicht nur abstraktes Denken, sondern auch konkretes Tun, Handlung, schon vom grammatischen Sinn des Wortes her. Ist die Handlung aber einmal in Gang gesetzt, ist die Aufklärung in Schwung gekommen, dann etabliert sie einen Zustand, in dem Vorurteile und unklaren Begriffe immer stärker durch „klare und deutliche“ Begriffe ersetzt worden sind; Begriffsklärung selbst ist also ein ur-aufklärerischer Zweck! Ob dieser Prozess dabei jemals an sein Ende kommt, lässt Adelung klugerweise offen: Er spricht nur von „mehr“ klaren und deutlichen Begriffen, und man muss wohl kein Skeptiker sein, um hier im Blick auf unsere eigene Zeit zu sehen, dass ein Endstadium dieser Entwicklung wohl noch nicht in greifbare Nähe gerückt worden ist, eher: im Gegenteil.
Halten wir jedoch vorläufig fest: Aufklärung wird von Adelung mit der Handlung des Aufklärens und einem Zustand der Aufgeklärtheit in Bezug auf den Sprachgebrauch und das Erkenntnisvermögen verbunden. Der Begriff selbst wird dabei in keinerlei Weise inhaltlich gefüllt, es geht weder um Menschenrechte, Toleranz oder sonstige inhaltlich definierbare Ziele. Das ist noch mehr oder weniger genauso im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm, dem lexikalischen Mammutprogramm des 19. Jahrhunderts. Dort wird lakonisch Kant zitiert: „Aufklärung ist die Maxime, jederzeit selbst zu denken“. Eine Maxime ist Aufklärung also, ein Leitsatz, an dem man sich im täglichen Handeln orientieren kann; kein ehernes Gesetz, sondern ein etwas erweiterter ins Prinzipielle ausgeweiteter guter Vorsatz. Und auch hier finden wir nur eine rein formale Bestimmung: Man möge bitteschön – und zwar jederzeit, darauf kommt es an! – selbst denken. Von Ergebnissen des Selbstdenkens ist nicht die Rede.
Das ändert sich mit zunehmender historischer Distanz. Ein aktueller Duden bestimmt Aufklärung als „von Rationalismus und Fortschrittsglauben bestimmte europäische geistige Strömung des 17. und besonders des 18. Jahrhunderts, die sich gegen Aberglauben, Vorurteile und Autoritätsdenken wendet“. Wir haben nun erstmals zwei inhaltliche Bestimmungen: Aufklärung wird verbunden mit (1) Rationalismus (also, im weitesten Sinne: Orientierung an der menschlichen Vernunft, nicht mehr beispielsweise an Gottes Offenbarung, wie bisher üblich) und (2) Fortschrittsglauben (die Menschheit entwickelt sich, und zwar zu ihrem Besseren). Dazu bekommen wir eine örtliche Situierung in Europa (diskutierbar; schon die Aufklärung selbst hielt das China des Konfuzius teilweise für aufgeklärter als die eigene Welt) und wir bekommen die Hauptgegner (Aberglauben, Vorurteile, Autoritätsdenken).
Ähnlich formuliert auch Wikipedia: „Der Begriff Aufklärung […] bezeichnet die um das Jahr 1700 einsetzende Entwicklung, durch rationales Denken alle den Fortschritt behindernden Strukturen zu überwinden. Es galt Akzeptanz für neu erlangtes Wissen zu schaffen“. Dazu gehörten beispielsweise „die Hinwendung zu den Naturwissenschaften, das Plädoyer für religiöse Toleranz und die Orientierung am Naturrecht. Gesellschaftspolitisch zielte die Aufklärung auf mehr persönliche Handlungsfreiheit, Bildung, Bürgerrechte, allgemeine Menschenrechte und das Gemeinwohl als Staatspflicht“. Das sind nun schon eine ganze Reihe inhaltlicher Bestimmungen, und man könnte die Liste zweifellos auch weiterführen; denn wie alle Listen ist sie ein wenig beliebig, und die Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts hätten wahrscheinlich schon beim dem Wort „Naturwissenschaften“ zweifelnd die Stirn in Falten gelegt, es gab das Wort nämlich noch gar nicht (und die Sache erst in Ansätzen). Zudem sagt ein Begriff wie „Naturrecht“ auch den heutigen Gebildeten kaum noch etwas, so sehr ist uns die Überzeugung, dass alle Menschen von Natur aus gleiche Rechte haben, in Fleisch und Blut übergegangen. Hingegen ist die formale Bestimmung hier sehr weit zurückgetreten: Vom „Selbstdenken“ ist beinahe überhaupt nicht mehr die Rede. Ist es inzwischen auch selbstverständlich geworden – oder nur in den Hintergrund gerückt? Sind, polemisch gefragt, die Menschenrechte und die Toleranzforderung wichtiger als das Selbstdenken?
3. Was ist Aufklärung? Die berühmte Frage in der ‚Berliner Monatsschrift‘
Fragen wir also noch einmal, fragen wir die Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts nun selbst: Was ist Aufklärung? Gehen wir dabei zurück an den Anfangspunkt; gehen wir ins Jahr 1783, als eine damals sehr berühmte Zeitschrift, die Berlinische Monatsschrift (sie galt sozusagen als Kampfblatt der aggressiven Berliner Aufklärung), in ihrer Dezember-Ausgabe eine Frage an das gebildete Publikum stellt (auch das war damals durchaus üblich, manchmal gab es sogar Preise für die beste Antwort). Der Anlass war ein eher anti-aufklärerischer Beitrag eines Berliner Pastors zur Zivilehe, und in einer Fußnote, ausgerechnet, hatte er ein wenig polemisch gefragt: „Was ist Aufklärung? Diese Frage, die beinahe so wichtig ist, als: Was ist Wahrheit? Sollte doch wohl beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfinge. Und doch habe ich sie nirgends beantwortet gefunden!“ Das konnten die Herausgeber nicht auf sich sitzen lassen, galten sie doch als Speerspitze der Aufklärung schlechthin! Und so baten sie ihre Leser um Klärung, und gleich zwei der berühmtesten Philosophen der Zeit fühlten sich angesprochen: Moses Mendelssohn (auf dessen Antwort ich hier nicht eingehe, weil sie sich eher auf die Begriffe Kultur und Bildung konzentriert) und kein Geringerer als der Königsberger Philosoph Immanuel Kant, der seit seiner Kritik der reinen Vernunft (erschienen 1781) zum unbestrittenen philosophischen Leitwolf der Zeit aufgestiegen war.
4. Immanuel Kant: Aufklärung braucht Mut!
Und so erschien genau ein Jahr später, unter den Christbaum sozusagen, Immanuel Kants Antwort in der Berlinischen Monatsschrift, und sie hat sich bis heute als die haltbarste Formel zur Bestimmung des schwammigen Begriffs Aufklärung erwiesen. Programmatisch bestimmt Kant (und gibt dabei gleichzeitig ein Beispiel dafür, wie eine ordentliche aufklärerische Begriffsdefinition aussehen sollte):
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung!“
Das ist ziemlich nahe an dem, was wir von Adelung gehört hatten; Aufklärung ist die Handlung des Aufklärens durch die Tätigkeit des eigenen Verstandes. Auch Kant gibt dabei keine einzige inhaltliche Bestimmung; er fordert einfach nur von jedem sich seines ihm von der Natur oder von Gott gegebenen Verstandes auch zu bedienen, und zwar selbständig, ganz allein, ohne Anleitung und ohne Netz und doppelten Boden. Tue er dies jedoch nicht, bleibe er nicht nur ewig unmündig, sondern er sei auch noch selbst schuld: Denken, so Kant, erfordert vor allem eines: Nicht Ausbildung, nicht Anleitung, nicht Brillanz, sondern – Mut! Angeborene Dummheit ist verzeihlich, nicht aber Furcht. sapere aude, so zitiert Kant Horaz und damit einen der zentralen Denker der antiken Aufklärung (die noch nicht so hieß natürlich); die vollständige Formulierung lautet: „Einmal begonnen ist halb schon getan. Entschließ dich zur Einsicht! Fange nur an!“ Schiller übersetzt: „Erkühne dich, weise zu sein!“ Auf den Anfang des Erkennens kommt es an; nicht auf das Ende.
Denn wir Menschen, so Kant im nächsten Passus ziemlich realistisch, sind gar nicht so ungern unmündig: „Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beureilt usw. so brauche mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nöthig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann“. Das sind klare und harte Worte, daran ist wenig misszuverstehen. Kant nimmt jeden Einzelnen in die Pflicht und in die Verantwortung; und er verschweigt nicht, dass der Prozess der Aufklärung lebenslange Mühe und Arbeit ist. Denn die Freiheit des Denkens, sie ist so ungewohnt; niemand hat uns dazu erzogen, und sie ist ein Risiko, wer selbst denkt, irrt selbst, auf eigene Rechnung; er kann sich hinterher nicht damit herausreden, jemand anderes hätte ihn böswillig in die Irre geführt. Denn selbst wenn man so weit gekommen sei, sich durch einen Akt des mutigen Entschlusses aus der Unmündigkeit zu verabschieden, in der man es sich so wohnlich eingerichtet hatte, kann man nach Kant nicht sofortige Erfolge erwarten: Der des Selbstdenkens noch Ungewohnte würde „dennoch auch über den schmalsten Graben einen nur unsicheren Sprung thun, weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt ist“. Fragen wir uns das, jede und jeder einzeln für sich: Sind wir zu „dergleichen freier Bewegung“ wirklich gewöhnt? Glauben und vertrauen wir nicht immer noch allzu gern selbst ernannten Sachverständigen, Experten, Vormündern und Vordenkern, Leitartiklern und Think tanks? Lehren wir unsere Kinder in Schulen wirklich das Selbstdenken, eine rein formale Fähigkeit, die trainiert und geübt werden will, ganz unabhängig von ihren Ergebnissen – oder lehren wir sie nicht doch eher das, was sie zu denken haben, wenn sie als aufgeklärt gelten sollen?
Kants Antwort ist damit aber noch nicht beendet. Er diskutiert noch eine Reihe von wichtigen Fragen – über das Verhältnis öffentlicher und privater Aufklärung, über die Grenzen der Aufklärung im Autoritätsstaat Preußen, sogar über die Notwendigkeit, gelegentlich die Aufklärung gezielt zurückzustellen (zum Beispiel im Militär, wo es wenig Sinn macht, Soldaten in Kampfsituationen zu ihrer Meinung zu befragen, und mag sie noch so selbstgedacht sein). Völlig überzeugt davon ist er jedoch, dass die Aufklärung als historischer Prozess der Emanzipation des Menschengeschlechts von seinen Vormündern zwar nicht aufzuhalten sei; aber keinesfalls über Nacht geschehe. Und der Text endet in einem beinahe poetischen Bild des Königsberger Meisterdenkers:
„Wenn denn die Natur unter dieser harten Hülle den Keim, für den sich am zärtlichsten sorgt, nämlich den Hang und Beruf zum freien Denken, ausgewickelt hat; so wirkt dieser allmählich auf die Sinnesart des Volkes […] und endlich sogar auch auf die Grundsätze der Regierung, die es ihr selbst zuträglich findet, den Menschen, der nun mehr als eine Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln“.
Sogar die Regierung! Das muss man sich ein wenig auf der Zunge zergehen lassen. Aber immerhin bietet Kant damit auch endlich einen inhaltlichen Begriff zur Bestimmung der Aufklärung an: Es ist die Menschenwürde; sie jedoch ergibt sich logisch erst daraus, dass der Mensch über das Maschinenstudium herausgekommen ist, indem er damit begonnen hat, selbständig zu denken! Menschenwürde ist das Ergebnis von Aufklärung, nicht ihre Voraussetzung.
5. Christoph Martin Wieland: Aufklärung ist eine Selbstverständlichkeit
Kant ist insgesamt jedoch, im Wesentlichen, optimistisch: Die Aufklärung des Publikums lässt sich nicht endlos aufhalten, und irgendwann wird auch ein Zustand erreicht sein, der dieser Aufgeklärtheit einen politischen Rahmen gibt. Aber vielleicht nicht schon übermorgen; übermorgen hingegen wird die Französische Revolution stattfinden und nicht nur für Kant seinen grundlegenden Optimismus über den Fortschritt der Menschheit massiv in Frage stellen, da sie zwar heroische Ziele verkündete, sie aber durch einen bisher ungesehenen Terror durchzusetzen versuchte (wir erinnern uns an Lichtenberg: Aufklärung geschieht nicht durch angezündete Häuser!). Wieland hingegen – nun, er gilt mindestens ebenso als Musteraufklärer wie Kant, und das durchaus zu Recht. Aber auch er ist sich bewusst, dass es mit der Sache einige Schwierigkeiten hat. Seine eigene Antwort zur Berliner Frage „Was ist Aufklärung?“ findet sich sechs Jahre später in seiner eigenen Zeitschrift, dem Teutschen Merkur; also genau im Revolutionsjahr 1789. Und sie kommt ein wenig verwickelt und verschroben daher: Es ist ein Beitrag mit dem merkwürdigen Titel „Ein paar Goldkörner aus – Maculatur oder Sechs Antworten auf sechs Fragen“; geschrieben hat ihn, angeblich, ein gewisser Timalethes (ein offensichtliches Pseudonym, das als „Weisheitslehrer“ aus dem Griechischen übersetzen kann). Da sich Wieland jedoch mehrere Jahre später persönlich als Timalethes geoutet hat, können wir ihn als eine ironisch verklausulierte Äußerung Wielands lesen. Aber können wir wirklich?
Der Text beginnt zunächst mit einer Art Rahmenhandlung, in der seine Entstehung mit einer etwas bizarren Geschichte verbunden wird: Der Autor habe, wie es ja durchaus üblich sei, mal wieder einen Bogen Makulaturbögen (also schadhafte oder veraltete Druckbögen) zu seinem üblichen Zweck nutzen wollen (der Leser darf assoziieren: an einem gewissen Örtlein). Da sei ihm irgendwie aufgefallen, dass gerade dieser Bogen sechs Fragen zum Wesen von Aufklärung enthalte (es war also ein Bogen aus der Berlinischen Monatschrift, sogar die korrekte Seitenzahl wird genannt). Und da man schließlich von den Weisheitslehrern alter Zeiten wisse, dass man auch „aus einer gewissen unnennbaren Materie den Stein der Weisen“ ziehen – also Gold machen könne -, habe er, Timalethes/Wieland, doch auch einmal den Versuch unternommen, aus diesen Bögen Makulatur das Gold (der Weisheit nämlich) zu ziehen. Darauf folgen sechs Antworten auf sechs Fragen; sie sind kurz, knapp und auf den Punkt und illustrieren des Verfassers Hauptthese, nämlich: dass diese Fragen „schon seit einigen tausend Jahren für alle verständige Menschen keine Fragen mehr“ seien! Darüber aber sowie den Goldgehalt der aus dieser Makulatur gewonnenen Weisheiten möge doch gefälligst – der Leser dieser Bögen selbst urteilen!
Das ist eine klare Aufforderung zum Selbstdenken, hören wir uns also an, was uns Timalethes/Wieland zu sagen haben und urteilen wir dann selbst! Was Aufklärung sei, so werden wir von Timalethes zunächst belehrt, wisse jeder, der Augen habe und hell und dunkel unterscheiden könne und insofern ein natürliches Wissen darüber habe, dass man die Dinge im Hellen besser sehe als im Dunkeln (wir wiederholen: Aufklärung als Metapher). Daraus ergebe sich auch schon die Antwort auf die zweite Frage, nämlich welche Gegenstände Objekt der Aufklärung sei? – alle sichtbaren, natürlich, da man im Dunklen nur – nun gut, der Leser wisse schon was – tun könne und alles andere das Licht nicht scheue; und zwar auch und gerade (jetzt gehen wir zum ersten Mal über die Bildebene der Metapher heraus) das „Licht des Geistes“, das nämlich das Wahre vom Falschen, das Gute vom Bösen scheiden könne und als solche der natürliche Agent der Aufklärung sei. Aber es gebe selbstverständlich Leute, die Grund hätten, dieses Licht des Geistes zu scheuen, und zwar nicht nur Betrüger. Zu ihnen gehörten vielmehr beispielsweise (und bitte jetzt auf die Beispiele achten!) jeder, „der Grillen fängt, Luftschlösser baut, und Reisen ins Schlaraffenland oder in die glücklichen Inseln macht“; haltlose Idealisten also, Phantasten und Schwätzer! Das ist mutig gesagt von jemand, der selbst als Dichter gelegentlich das eine oder andere Luftschloss gebaut hat und gelegentlich auch eine unschuldige Grille fängt! Wir als Leser beginnen derweil nachdenklich zu werden; spricht hier nicht doch ein gewisser ironischer Unterton mit?
Demgegenüber gibt es auf die dritte Frage – „wo sind die Grenzen der Aufklärung?“, also eine durchaus berechtigte und auch von Kant thematisierte Frage – nur zwei, drei lakonische Sätze: dort, wo man eben nichts sehen könnte, egal bei welchem Licht (was unschuldig klingt, aber ein wenig zum Denken herausfordert: Wie ist es beispielsweise mit metaphysischen Fragen? Mit religiösen? Ist hier eine absichtliche Leerstelle?). Etwas ausführlicher wendet sich unser Timalethes hingegen der vierten Frage zu, durch welche „sicheren Mittel“ Aufklärung befördert werde: Man mache eben Licht! Himmel nein, möchte man an dieser Stelle sagen, da waren wir auch schon selbst drauf gekommen. Timalethes jedoch wird an dieser Stelle sogar ungewöhnlich ausführlich: Er nimmt eine systematische Unterscheidung zwischen Gegenständen sinnlicher Erkenntnis und Vorstellungen als Objekten einer geistigen Erkenntnis vor. Letztere würden aufgeklärt, in dem man „das Wahre vom Falschen daran absondert, das Zusammengesetze in seine einfachen Bestandtheile auflöst, das Einfache bis zu seinem Ursprung verfolgt, und überhaupt, keiner Vorstellung oder Behauptung, die jemals von Menschen für Wahrheit ausgegeben worden ist, ein Freybrief gegen die uneingeschränkeste Untersuchung gestattet wird“. Dann aber doch, könnte vielleicht der an dieser Stelle schon etwas gewitzigte Leser einwenden, gilt das doch auch für die als so einleuchtend und unmittelbar präsentierten Weisheiten des – Timalethes? Man wird sehen.
Denn unter dem fünften Punkt wird die Sache, bei allem immer strahlendem Licht des Autors, nicht eben deutlicher. Wer berechtigt sei, die Menschheit aufzuklären? Jeder natürlich, lässt Timalethes den dummen Frager wissen, denn welches oberaufgeklärte Obertribunal solle denn sonst bitte entscheiden, wer aufklären darf oder wer nicht? Nein, es werde wohl dabei bleiben müssen, „daß jedermann – von Sokrates oder Kant bis zum obscursten aller übernatürlich erleuchteten Schneider und Schuster, ohne Ausnahme berechtigt ist, die Menschheit aufzuklären“. Natürlich leuchtet das ein in Falle von Sokrates oder Kant, beide sind Kronzeugen der Aufklärung in der Philosophie. Aber etwas verwirrender ist der Punkt mit dem Schneider und dem Schuster. Denn worum es hier, zumindest halboffen geht, ist nicht die Rehabilitierung von Unterschichten in ihrem natürlichen Urteilsvermögen; nein, jeder aufgeklärte Zeitgenosse Wielands denkt natürlich sofort an den wesentlichen philosophischen Schuster der Philosophiegeschichte, nämlich den mystischen Esoteriker Jakob Böhme, und bei seinem Kollegen, dem Schneider, an den Wiedertäufer Jan von Leiden, also den Anführer einer fanatischen Glaubensbewegung des Mittelalters – beide geradezu Antipoden einer Aufklärung, in jeder Hinsicht! Was will uns Timalethes damit sagen? Dass die Anti-Aufklärer die besseren Aufklärer sind? Dass man den Trank der Aufklärung bis zur bitteren Neige leeren muss, und wer einmal ein Prinzip geheiligt habe – lückenlose, unbegrenzte Aufklärung – auch mit den Konsequenzen wird leben müssen, nämlich: Aufklärung durch Anti-Aufklärer? Timalethes lehnt sich jedoch zurück und schreibt noch ein wenig darüber, dass zu erwartende Schäden durch unfähige Aufklärer leichter zu verkraften seien als nun ein Aufklärungstribunal, dass öffentlich zugelassene Aufklärer zertifiziert. Zudem habe man ja die Buchdruckerpresse, und jeder Unsinn, der veröffentlicht werde, erhalte schon die nötige Antwort. Man könnte meinen, er habe das Internet vorausgesehen!
Damit aber schnell zum sechsten und letzten Punkt: Woran erkennt man nun den jeweiligen Stand der Aufklärung? Natürlich, sagen wir in Chor, daran, dass es heller geworden ist; aber Timalethes geht wenigstens noch ein bisschen mehr ins Detail. Man erkenne es natürlich daran, dass die „Masse der Vorurtheile und Wahnbegriffe zusehends immer kleiner wird“ (Wahnbegriffe, schönes Wort, was meint er wohl damit?); aber auch wenn „die Schaam vor Unwissenheit und Unvernunft, die Begierde nach nützlichen und edeln Kenntnissen, und besonders wenn der Respect vor der menschlichen Natur und ihren Rechten unter allen Ständen unvermerkt zunimmt“. Aufgeklärt ist, so könnte man sagen, wenn man aufgeklärt werden will; und schon sind wir unversehens bei Kant, der in der Aufklärung vor allem eine Frage des Mutes und des Entschlusses sah. Timalethes ergänzt: Es ist eine Frage des Respekts. Selbstdenken + Respekt, das wäre wohl die Formel, auf die das zu bringen wäre.
An dieser Stelle und mit einer kleinen Schluss-Sottise gegen die Anti-Aufklärer und ihre Pamphlete endet die Goldmacherei aus Makulatur; und dazu als Bonus sozusagen einem kleinen provozierenden Vers des Timalethes: „Sagt, hab ich recht? Was dünkt euch von der Sache / Herr Nachbar mit dem langen Ohr?“ Der Weise macht sich also lustig, über sein Gegenteil, den Narren mit den langen Ohren; aber wer ist nun genau der Weise und der Narr? Denn der phasenweise so übereindeutige und dann wieder so verzwickt-ironische Text lässt jeden nur halbwegs aufgeklärten Leser mit einem Unbehagen zurück. Goldkörner? Nun ja. Das eine oder andere Katzengold vielleicht. Aber was erwartet man auch von Makulatur? Alle Bücher, auch die klügsten und besten und weisesten, werden irgendwann zu Makulatur; alle Fragen, auch die aufgeklärtesten, landen samt ihren Antworten auf dem Müllhaufen der Geschichte, egal ob sie Kant oder Sokrates oder Jakob Böhme geschrieben haben, egal ob sie die Aufklärung gefeiert oder sie verdammt haben. Das Leben nämlich, so Timalethes, sei die „Capelle“, in der das geschürfte Gold geprüft wird, und nicht der Buchdruck. (Hier haben wir, beiläufig gesagt, ein letztes Beispiel für die tiefe Ironie und Doppeldeutigkeit, die dem Artikel zugrunde liegt. Denn die „Capelle“ lässt uns natürlich an eine kleine Kirche denken; der zweite Wortsinn jedoch, den Adelung (unser Lexikograph aus dem 18. Jahrhundert) noch kennt, ist: Capellen sind „in der Chymie und Schmelzkunst, flache Tiegel von Asche und gebrannten Knochen, Silber und Gold darauf abzutreiben“). Denn nur Narren glauben, endgültige Weisheiten aus Druckerzeugnissen gewinnen zu können; nur einfältige Weisheitslehrer bedienen ihr Bedürfnis nach einfachen Antworten.
Ich bin mir inzwischen fast sicher, dass Wieland mit diesem Text (vor allem, aber vielleicht nicht nur) – ärgern wollte, provozieren wollte, in gewissem Sinne auch eine unnötige Debatte beenden wollte: Wenn ihr nach all dieser Zeit und alle diesen Schriften immer noch nicht verstanden habt, was Aufklärung ist – nämlich eine zu jeder Zeit mögliche Selbstaufklärung durch Nachdenken, Unterscheiden, Respekt – und wenn ihr darauf besteht, einfache Antworten auf einfache Fragen zu bekommen – bitte schön, da habt ihr sie! Erwartet aber keine goldenen Weisheiten. Erwartet, bestenfalls, Katzengold! Und dann geht hinaus und praktiziert Aufklärung! (Wieland hat den Text selbst übrigens, als einige Jahre später und damit nach der Französischen Revolution, dieser aufklärerischen Zeitwende, ein Streit darüber ausbrach, als „Diatribe“ bezeichnet: also als eine Form moralphilosophischer Lehre in einfacher Sprache, die sich an ein breites Publikum richtet; gelegentlich aber auch eine gelehrte Schmährede. Beides macht Sinn. Der Leser, die Leserin, entscheide selbst; so geht Selbstdenken!).
6. Gotthold Ephraim Lessing: Aufklärung ist, lieber weiter zu irren als aufhören zu suchen
Für mich hat, um zum abschließenden Teil und zur letzten Antwort auf die Frage „Was ist Aufklärung?“ zu kommen, immer Gotthold Ephraim Lessing die beste Antwort gegeben. Das vor allem, weil er sich niemals auf die Frage eingelassen hat, sie war aber auch vor seiner Zeit (Lessing starb 1781, das war vor der Frage in der Berlinischen Monatsschrift). Er hat jedoch einen kleinen Text geschrieben, unter dem Titel „Über die Wahrheit“, und schon aus der Frage in der Berlinischen Monatsschrift wissen wir, dass beide Fragen, die nach der Wahrheit und die nach der Aufklärung, eng zusammenhängen (man könnte vermuten: Vielleicht ist Wahrheit und nicht Menschenwürde der eigentliche Inhalt von Aufklärung?). Lessing schrieb also, es war im Rahmen der endlosen gelehrten und publizistischen Streitereien, die er so gern und so souverän führte, eine Art kleines Glaubensbekenntnis. Es beginnt nicht mit einer Frage, sondern mit einer Feststellung, einer These, die ohne jede Einschränkung im Format des ultimativen Rechtshabens, ja sogar versehen mit einer Reihe von Superlativen daherkommt:
„Ein Mann, der Unwahrheit unter entgegengesetzter Überzeugung in guter Absicht ebenso scharfsinnig als bescheiden durchzusetzen versucht, ist unendlich mehr wert, als ein Mann, der die beste, edelste Wahrheit aus Vorurteil, mit Verschreiung seiner Gegner, auf alltägliche Weise verteidigt.“
Lessing begründet das im Weiteren noch, aber wir bleiben erstmals bei diesem wie gemeißelten Satz; es kommt auf jedes Wort an. Lessing skizziert also einen Mann, der von einer Unwahrheit persönlich überzeugt ist und sie deshalb für eine Wahrheit hält (es darf auch gern eine Frau sein; wenn Sie den Test im Ernst machen wollen, stellen Sie sich einfach einen AfD-Wähler vor…), die als Wahrheit auch verdient, dass man sie verteidigt und verbreitet. Unser Mann hat dabei, da er ja ehrlich von ihrer Geltung überzeugt ist, keine bösen Motive; er versucht vielmehr, mit all seinen Kräften ihr ebenso „scharfsinnig“ (er ist kein Dummer, Dumpfer) wie „bescheiden“ (also auch kein Superman der Erkenntnis) zur Geltung zu verhelfen.
Ihm gegenüber stellt Lessing einen zweiten Mann (es darf auch gern eine Frau sein), der zwar die Wahrheit sagt, sogar die „beste, edelste“. Er sagt sie aber nur aus Vorurteil, also ohne sich persönlich durch Selbstdenken von ihrer Wahrheit überzeugt zu haben, bedient sich also einer gängigen, allgemein akzeptierten und im mainstream unproblematischen Formel. Zudem benutzt er als wesentliches Argument die Denunzierung der Gegner (meist als Dumme, Dumpfe); er selbst bringt es aber nicht über ein „alltägliches“, triviales, abgelutschtes Argument hinaus (woher auch, er hat ja nicht darüber nachgedacht). Und Lessing nun sagt, und das muss man sich wirklich in aller Konsequenz vorstellen: Ersterer ist ihm lieber. Lieber eine persönlich erzeugte, eigenständig und bescheiden vorgetragene Unwahrheit als eine allgemein akzeptierte Globalwahrheit auf der Basis der Denunziation der Gegner und ohne jegliche Originalität im Ausdruck.
Lessing hat aber auch eine Begründung parat, eine komplizierte und eine einfache (das ist durchaus ein wenig wie bei Wieland, sie können den Text sozusagen wörtlich und symbolisch lesen). Ich bleibe aus Zeitgründen und auch, weil sie mir einleuchtet, bei der einfachen Begründung (den Rest können Sie selbst nachlesen, es steht überall im großen weiten Internet unter dem Titel „Über die Wahrheit“). Lessing sagt nämlich, dass der Wert eines Menschen (der moralische, können wir ergänzen, oder auch: seine Aufgeklärtheit) nicht im Besitz von Wahrheiten bestehe. Er bestehe vielmehr in der Mühe, die sich jemand gegeben habe, um die Wahrheit zu finden. Unversehens sind wir also wieder bei Kant angekommen und auch ein wenig bei Wieland: Auf Selbstdenken kommt es an, nicht aufs Finden und Haben von vermeintlich endgültigen Wahrheiten! Denn, so Lessing ganz konkret und unmetaphysisch: Niemand wachse dadurch, dass er einen Besitz angenommen habe; Besitz mache, so wörtlich „ruhig, träge, stolz“ (und stimmt das nicht, wird das nicht von der einfachsten Erfahrung bestätigt? Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen, hat Goethe gesagt, und in meiner Jugend habe ich das nicht verstanden. Man muss den Satz eben erst erwerben). Bemühung aber, persönliche Anstrengung, die man auf sich nehme, um eine kleine Wahrheit zu finden und dann vielleicht noch eine (es müssen durchaus nicht immer die größten Wahrheiten sein), daran wachse man, daran schule man seine Kräfte, dadurch werde man, so Lessing im aufklärerischen Sprachgebrauch: „vollkommener“. It’s a process, würde man heute sagen.
Deshalb aber, in diesen Satz mündet Lessings kleiner Text, deshalb gibt es eine Art Lackmus-Test für die eigene Aufgeklärtheit oder vielleicht besser: Aufklärbarkeit. Er geht so:
„Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater gib! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein“.
Einiges mag sich in uns gegen diese Szenario sträuben, zum Beispiel gegen die ja durchaus konventionelle Auffassung eines allmächtigen und allweisen Gottes, der im alleinigen Besitz der ganzen Wahrheit ist; ist das nicht eben die von Wikipedia beispielsweise festgemachte „Autoritätsgläubigkeit“, gegen die sich der wahrhaft Aufgeklärte wenden soll? Aber vielleicht könnte es einen zum Nachdenken bringen, dass Kant, Wieland und Lessing, die ich durchaus für die wichtigsten Kronzeugen der historischen Aufklärung in Deutschland halte, gläubige Menschen waren. Sie waren darin nicht nur Kinder ihrer Zeit, oh nein; sie hatten auch darüber gründlich nachgedacht, weil sie aufgeklärt genug waren, um über alles gründlich nachzudenken. Und dann hatten sie sich für den persönlichen Glauben entschieden, ob an einen christlichen Gott, ist dabei eher nachgeordnet. Es war ein Ausdruck ihrer Bescheidenheit als Erkennende, ihrer Anerkennung ihrer Schwäche als Mensch. Sie glaubten an die Vervollkommnungsfähigkeit, an die Perfektibilität des Menschen, das war ihr aufklärerisches Credo (was man übrigens auch mit Grund bestreiten kann, es gibt jede Menge gute Argumente dagegen, dass die Menschheit sich jemals vollständig perfektionieren wird!). Aber sie glaubten nicht daran, dass Menschen, einzelne Menschen oder das Gattungssubjekt Menschheit, jemals vollkommen sein würden. Vollkommenheit jedoch – nun, wenn es sie geben muss, dann nennen wir sie eben Gott. Eine regulative Idee, hätte Kant gesagt. Ein schöner Gedanke, hätte Wieland gesagt, schöner jedenfalls als sein Gegenteil. Ein Aufruf zur Demut, hat Lessing gesagt, und wer meint, das nicht nötig zu haben, hat schon demonstriert, wie dringend er es braucht.
7. Lessing, zum Zweiten: Aufklärung ist nicht besser denken, sondern besser handeln
Wer es lieber ein wenig anschaulicher mag, nicht mit so großen Worten, für den hat Lessing die Ringparabel in seinem dramatischen Gedicht Nathan der Weise geschrieben. Sie wird vielgelesen, noch heute, gern in den Schulen, und gedeutet und hochgelobt als energischer Aufruf zur religiösen Toleranz, und das ist sie zweifellos – auch. Sie ist aber mehr, und das wird seltener gesehen.
Ich rekonstruiere ganz kurz zur Erinnerung die Handlung. Das dramatische Gedicht Nathan der Weise spielt zur Zeit der religiösen Kreuzzüge im Mittelalter, also einer Zeit großer religiöser Konflikte. In seinem Zentrum steht die Ringparabel: Der weise Jude Nathan wird zum Sultan Saladin gerufen, und um ihn auf die Probe zu stellen, stellt Saladin die Frage, welche der monotheistischen Religionen er aufgrund seiner Weisheit und persönlichen Prüfung für die beste halte, die jüdische, die christliche oder die muslimische? Nathan ist klug genug, die Falle zu wittern, und rettet sich deshalb in eine Geschichte, die sog. Ringparabel (eine Erzählung, die er sich nicht ausgedacht hat, sie geisterte schon lange vorher durch die Literatur). In der Parabel geht es um einen Mann vor Urzeiten im Osten, der einen Ring von unschätzbarem Wert „von lieber Hand“ besaß, der die Fähigkeit besaß, seinen Träger „vor Gott und den Menschen angenehm zu machen“ (jeder darf auch gern an Tolkiens Herrn der Ringe denken, die Moral dort ist durchaus ähnlich: der eine Ring ist immer verderblich und korrumpiert denjenigen, der ihn trägt). Der Vater vererbte diesen Ring jeweils an den Sohn, der ihm der liebste war – bis der Ring auf einen Vater kam, der drei Söhne hatte, alle gleich lieb, alle gleich wert, und der Vater kommt auf die – seien wir ehrlich, weder besonders kluge noch besonders moralische Idee, drei Fälschungen anfertigen zu lassen und jedem der Söhne in dem Glauben zu lassen, er habe den einen Ring bekommen. Der Betrug fliegt natürlich auf nach dem Tod des Vaters, und die Söhne gehen vor Gericht (das Szenario mutet hier geradezu modern an!).
Der Richter lässt die Ringe untersuchen, man stellt aber aufgrund von Sachverständigengutachten fest, dass die Echtheit bei keinem feststellbar ist; worauf der weise Richter den Schluss zieht, dass das Original wahrscheinlich schon lange verloren gegangen war. Zudem, und hier erst erweist er sich als wahrhaft weiser Richter, führt er an, dass man den echten Ring an seinen Wirkungen ja zweifellos erkennen müsste; sein Besitzer müsste ja am meisten geliebt werden, und so müssten schon zwei von den drei Brüdern einen am meisten lieben! Tun sie aber nicht, und der Richter zieht den einzig möglichen Schluss: „Die Ringe wirken nur zurück? Und nicht / nach außen? Jeder liebt sich selber nur / am meisten? – O so seid ihr alle drei Betrogene Betrüger!“ Und die Empfehlung, die er den drei Söhnen mitgibt, lautet: Dann werdet ihr wohl jeder so handeln müssen, als hättet ihr den einen Ring! „Es eifre jeder seiner freien / unbestochnen Liebe nach“, ist die Maxime. Denn, seien wir ehrlich, was für eine moralische Leistung wäre es, aufgrund des ererbten Besitzes eines magischen Ringes aufgeklärt und menschenfreundlich zu sein? Schon das Geschenk selbst ist vergiftet, Produkt einer früheren Entwicklungsstufe der Menschheit und ihrer früheren Götter, die Günstlinge hatten, magische Geschenke willkürlich verteilten und durch Wunder wirkten.
8. Was ist Aufklärung? Aufklärung ist, wenn man trotzdem denkt
Was also ist Aufklärung? Aufklärung ist, für Wirkungen des eigenen Handelns selbst verantwortlich zu sein – im Bewusstsein der eigenen Fehlbarkeit und der Möglichkeit des Irrtums selbst bei allerbesten Bemühungen; das könnten wir mit Lessings Ringparabel sagen. Und sie zeigt sich nicht nur im Selbstdenken, sondern vor allem im Handeln. Denn was Aufklärung ist, allgemein und als Definition von Goldwert – ich kann es Ihnen nicht sagen. Kant kann es Ihnen nicht sagen. Wieland kann es nicht, noch nicht einmal Lessing kann es. Das einzige, was man mit einem gewissen Allgemeinheitsanspruch sagen kann ist: Aufklären beginnt mit Selbstdenken. Mut haben. Liebgewordene Überzeugungen überprüfen, immer wieder, das Vorurteil wohnt oft da, wo man es gerade nicht vermutet. Jedem das Recht zum Irrtum zugestehen, sich selbst und anderen. Keine Wunder erwarten, keine Erleuchtungen, keine Patentrezepte. Und am wichtigsten: Endlich anfangen mit Denken und niemals damit aufhören. Aufklärung hat kein Ende, weder ein gutes noch ein schlechtes.
Zweifellos gehört Leipzig zu den wichtigsten kulturellen und geistigen Zentren der Früh- wie der Hoch-Aufklärung in Deutschland, sei es als Buchhandels- und Messezentrum oder als universitäre „Gelehrtenrepublik von einzigartiger Konsistenz“1, als Metropole von urbanem Zuschnitt wie auch als Plattform für junge Autoren2. Dafür stehen Namen wie Johann Christoph Gottsched, Christian Fürchtegott Gellert und Christian Felix Weise sowie bezeichnende Wortprägungen wie die vom "galanten Leipzig", vom „Klein-Paris“ oder vom „Pleiße-Athen“.3 Ebenso topologisch verfestigt ist jedoch die Diagnose des Niedergangs Leipzigs gegen Ende des Jahrhunderts, wie sie sich in der bekannten Xenie Pleiße konzentriert äußert:
Flach ist mein Ufer und seicht mein Bächlein, es schöpften zu durstig
Meine Poeten mich, meine Prosaiker aus.4
Etwas ausführlicher, aber ähnlich vernichtend formuliert Georg Witkowski in seiner Geschichte des literarischen Lebens in Leipzig zu Beginn des 20. Jahrhunderts:
Es wäre ein Irrtum, wollte man annehmen, daß dieses große Staubecken der Literatur
das umgebende Erdreich in besonderem Maße ertragfähig gemacht hätte. Seit der Zeit,
wo die Schriftstellerei zum Broterwerb dienen konnte […], haben wohl viele kleine
Literaten in Leipzig gehaust, um bei den Verlegern im persönlichen Verkehr Arbeit zu
suchen. Aber es fehlt, wenige kurze Zeiträume ausgenommen, an führenden Gestalten,
an innerer Energie und an Wirkung nach außen. Auch das literarische Interesse und
Verständnis der Bevölkerung hat nie einen gewissen Durchschnittsgrad überstiegen.
Leipzig verhielt sich neuen geistigen Bewegungen gegenüber stets ängstlich
zurückhaltend oder gar feindselig.5
Und noch 1995 kann man in Das literarische Leipzig. Kulturhistorisches Mosaik einer Buchstadt über die Zeit um 1800 lesen:
Leipzig hatte seine Vorreiterrolle auf dem Gebiete der Literatur endgültig verspielt. Zu
orthodox-konservativ verhielten sich Stadt und Universität. Die dummdreiste bis
penetrante Arroganz der Leipziger Eliten bildete kein Klima für originäres,
anspruchsvolles Kunstschaffen.6
Begründet werden die diversen Verdammungsurteile jeweils mit ähnlichen Argumenten: Gegen die ‚Flachheit‘ und Massenhaftigkeit der Leipziger Literatur-Produktion werden die ‚Tiefe‘ und Singularität der neuen klassischen (Weimarer) Ästhetik gesetzt; gegen deren Bildungsziele die Ansprüche eines vor allem an Unterhaltung interessierten breiten Publikums. Offensichtlich zeichnet sich hier die im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer größer werdende und heute verfestigte Kluft zwischen der sogenannten ‚E‘- und ‚U‘-Literatur (und Kunst insgesamt) ab. Sie beruht auf dem modernen Glaubenssatz, demzufolge künstlerisch wertvoll eigentlich nur
diejenigen Werke der jeweiligen Avantgarde sind, die Bestehendes in Frage stellen, Normen verletzen und ihre Qualität vor allem durch eine Verweigerungshaltung gegenüber dem Massenpublikum mittels gezielt hergestellter Schwerverständlichkeit beweisen. Bereits den Zeitgenossen um 1800 war diese Spaltung bewusst; so
beschreibt Friedrich Schlegel die Situation in seinem Aufsatz Über das Studium der griechischen Poesie (1797):
Ferner der schneidende Kontrast der höhern und niedern Kunst. Ganz dicht
nebeneinander existieren besonders jetzt zwei verschiedene Poesien nebeneinander,
deren jede ihr eignes Publikum hat, und unbekümmert um die andre ihren Gang für sich
geht. Sie nehmen nicht die geringste Notiz voneinander, außer, wenn sie zufällig
aufeinander treffen, durch gegenseitige Verachtung und Spott; oft nicht ohne heimlichen
Neid über die Popularität der einen oder die Vornehmigkeit der andern. Das Publikum,
welches sich mit der gröbern Kost begnügt, ist naiv genug, jede Poesie, welche höhere
Ansprüche macht, als für Gelehrte allein bestimmt, nur außerordentlichen Individuen oder
doch nur seltnen festlichen Augenblicken angemessen, von der Hand zu weisen. Ferner
das totale Übergewicht des Charakteristischen, Individuellen und Interessanten in der
ganzen Masse der modernen Poesie, vorzüglich aber in den spätern Zeitaltern. Endlich
das rastlose unersättliche Streben nach dem Neuen, Piquanten und Frappanten, bei dem
dennoch die Sehnsucht unbefriedigt bleibt.7
Leipzig spielt in diesem literaturgeschichtlichen folgenreichen Ausdifferenzierungsprozess um die Jahrhundertwende eine entscheidende Rolle: Hier formulieren die Autoren der Spätaufklärung ein neues ästhetisches Programm, hier treffen sie auch auf die neuen Vertreter einer 'sächsischen Romantik'.8
Ich werde zunächst etwas zu popularästhetischen Überlegungen im Leipzig der Spätaufklärung am Beispiel von Texten Christian Garves und Ernst Platners sagen (2). Danach werde ich auf einige beim Publikum besonders beliebte Textsammlungen von Leipziger Autoren der Spätaufklärung eingehen (3) sowie auf das schon romantisch
imprägnierte Gespensterbuch von August Apel und Friedrich Laun schließen (4). Abschließend sollen die verschiedenen Argumentationslinien zusammengeführt werden (5).
2. Popularästhetik: Christian Garve und Ernst Platner erfinden das 'Interessante'
Das wichtigste Element dieses spätaufklärerischen Leipziger ‚Milieus‘ ist wohl die durchgängige Prägung durch das, was je nach ideologischem Standpunkt entweder abschätzig oder anerkennend ‚Popularphilosophie‘ genannt worden ist, und zwar sowohl im Blick auf die eigentliche Philosophie im engeren Sinne als auch auf die Dichtung, die als deren Medium begriffen wird: Auch der Dichter soll, so der ‚spiritus rector‘ der Leipziger Aufklärung, Christian Felix Weise, „der Lehrer des Volks seyn; der leichte, faßliche, gefällige Philosoph für die Welt“.9 Programmatisch steht der Titel über Johann Jakob Engels gleichnamiger Zeitschrift, dem Philosoph für die Welt, die in zwei Bänden 1775 und 1777 in Leipzig erschien, bevor Engel nach Berlin berufen wurde. Bezeichnend für das Verständnis von Popularphilosophie und deren enger Beziehung zur Literatur ist der Beitrag Die Göttinnen, der den ersten Band eröffnet: Minerva, die Göttin der Weisheit, und Venus, die Göttin der Liebe und Schönheit, streiten sich darüber, wer den größten Einfluss auf die Menschen hat. Herrscht jedoch nur jeweils eine von ihnen allein, machen sie ihre Liebhaber zu „Gerippen“ – worauf Jupiter, der Göttervater, salomonisch befindet, indem er sich auf die anthropologische Grundformel der Aufklärung schlechthin, das ‚commercium mentis et corporis‘ beruft:
Denn weder für die Wollüste des Geistes, noch für die Wollüste des Körpers ist der Mensch allein geschaffen; in beiden stürzt Übermaaß ihn ins Elend. So wie der äußere Mensch ohne unsere vereinigten Wohlthaten […] Nicht bestehen kann; so kann auch der innre Mensch ohne eure vereinigten Gaben, ohne deine Weisheit, Minerva, ohne deine Triebe, o Venus, ohne deine Musen, Apoll, zu keiner Vollkommenheit aufblühen; und der ganze Mensch kann ohne uns alle – – O verzweifelt, mein Leser! Indem ich eine der treflichsten philosophischen Deductionen aus dem Archiv des Himmels, wovon Mercur einige Blätter für mich entwandt hat, abschreiben will; so fährt durch meine einsame Sommerlaube ein Zephyr, und führt mir meine Blätter weg in die Luft.10
Besonders das ironische Ende macht deutlich, worauf es dem Popularphilosophen Engel hier ankommt: nicht auf lebensferne „philosophische Deductionen“, sondern auf anschauliche Demonstrationen lebensweltlicher Erfahrungen und daraus abgeleiteter Erkenntnisse – weiterdenken und den Schluss daraus ziehen muss der Leser selbst, der so gleichermaßen unterhalten wie auch im aufklärerischen Sinn zum Selbstdenken motiviert wird.
Dabei entwickelt sich in Leipzig eine Sparte dieser Popularphilosophie, die man vielleicht am besten in analoger Weise eine ‚Popularästhetik‘ nennen könnte.11 Dazu gehört beispielsweise Christian Garves in einem Aufsatz für die Leipziger Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste12 in den 70er Jahren vorgetragenes Konzept des „Interessierenden“ – ein relativ neuer Begriff in der ästhetischen Debatte der Zeit. Immerhin hatte schon Johann Georg Sulzer in seiner enorm einflussreichen Allgemeinen Theorie der schönen Künste dem „Interessanten“ einen eigenen Artikel gewidmet und es dort als „wichtigste Eigenschaft ästhetischer Gegenstände“ bezeichnet.13 Um sich die Bedeutung dieser Einschätzung Sulzers und Garves vor Augen zu führen, muss man das Interessante dem wenig später entwickelten Konkurrenzmodell des "interesselosen Wohlgefallens“14 gegenüberstellen, das ja bei Kant und Schiller genau darauf abzielt, alle allzu
einseitig-persönlichen Komponenten bei der Kunstproduktion wie -rezeption zugunsten der allgemein-menschlichen Komponenten auszuschalten. Garve stellt jedoch, im Gefolge Sulzers, darauf ab, dass erst das persönliche Interesse einen emotionalen Bezug zum Gegenstand des Kunstwerks ermöglicht: „Wer uns
interessiren will, muß uns viel zu denken geben, oder uns in Affekt bringen“ (GI 168).15 Deshalb muss der Künstler seine Gegenstände aus der „wirklich vor uns liegenden Welt“ (GI 183) anstelle einer „imaginativen“ (GI 187) nehmen, damit der Rezipient diese persönliche Beziehung auch wirklich herstellen kann und nicht im
unverbindlichen Reich der Fiktion verbleibt.16 Themen, die ein solches lebhaftes Interesse wecken, sind nach Garve vor allem „Rachsucht und Liebe“ (GI 241) – was in der Sing- und Schauspiel-Produktion der Zeit wahrlich ausgenutzt wird –, aber ebenso beispielsweise der Wahnsinn17 und damit ein Thema, das dann auch die
sächsischen Romantiker aufgreifen werden und das insgesamt Spätaufklärung und Romantik auf sehr bezeichnende Weise verbindet.18
Im ersten Teil seiner umfangreichen Ausführungen über das Interessierende vertritt Garve dabei noch eine ganz konventionelle aufklärerische Wirkungspoetik. Auch das Interessierende dient in erster Linie der Belehrung der Leser:
Eine Poesie, die diesen Endzweck nicht hat, die keiner wichtigen Lehre, keinem
nüzlichen Begriffe Leben und anschauende Klarheit verschafft, ist nicht nur ein bloßes
Spiel, und ein sehr kostbares zeitverderbendes Spiel, sondern es ist auch größtentheils ein mattes langweiliges Vergnügen. (GI 212)
Im Anhang zum zweiten Teil der Abhandlung aus dem Jahr 1779 jedoch vollzieht er eine bezeichnende Wende und korrigiert sich explizit selbst:
Ich ändre jetzt diese Meynung. Wenn ich auf die Denkungsart des größten Theils der Menschen sehe, für welche doch die Poesie, und besonders die theatralische, bestimmt ist; wenn ich auf meine eigne in den Zeiten sehe, wo ich mich erholen will, und diese Zeiten soll das Theater eigentlich ausfüllen: so werde ich gewahr, daß die unterhaltene und befriedigte Neugier, das Wohlgefallen an einer wunderbaren und doch natürlichen Begebenheit, die Erwartung, in die wir wegen des Erfolgs gesezt werden, die Grundlage von dem Vergnügen ausmache, das wir während der Anhörung des Stücks genießen, und daß das Vergnügen der Rührung und des Unterrichts nur einzelne Theile der Zeit ausfülle, die wir zu dieser Erlustigung bestimmen. (GI 358f.)
Hier wird das Vergnügen als Selbstzweck deutlich aufgewertet, und zwar auf Kosten der aufklärerischen Belehrungsfunktion – nicht aus theoretischen Erwägungen heraus, sondern im Blick auf die eigene empirische Erfahrung sowie deren Bestätigung durch das ‚breite‘ Publikum, den „größten Theil der Menschen“ und deren sehr konkretes alltägliches Unterhaltungsbedürfnis.
Ein weiterer popularästhetischer Autor, der besonders prägend für die jungen Autoren der späteren 'sächsischen Romantik' wurde, war der einflussreiche ‚philosophische Arzt‘ Ernst Platner.19 Der Initiator der zeitgenössischen Anthropologie mit seiner 1772 erschienenen Anthropologie für Ärzte und Weltweise las seit den 70er Jahren regelmäßig über Ästhetik, eine auch vom Leipziger Bürgertum ihres Unterhaltungswertes wegen gern besuchte Veranstaltung. Veröffentlicht hat er die Vorlesung nie, aber es ist eine Mitschrift seines Schülers Moritz Erdmann Engel überliefert,20 die sich wohl auf eine 1789 oder 1790 gehaltene Vorlesung Platners bezieht und die für den hier dargestellten Argumentationszusammenhang einschlägiger ist als seine erste Ästhetik-Vorlesung aus den 70er Jahren, die noch in vielerlei Hinsicht der Auseinandersetzung mit dem Sturm und Drang verpflichtet ist.21 Platner setzt sich hier zunächst explizit gegenüber den fachphilosophischen Hallenser Ästhetik-Autoritäten Alexander Baumgarten und Georg Friedrich Meier ab – wobei er Baumgarten bezeichnenderweise vor allem mangelnde praktische Erfahrung in ästhetischen Dingen und fehlende Weltkenntnis überhaupt vorwirft.22 Demgegenüber bettet er seine eigene Ästhetik von Anfang an in einen popularphilosophischen Gesamtkontext ein: Der Künstler ist nur eine Variante des „guten Menschen“ schlechthin; im Unterschied zum „Philosoph“, der gern nachdenkt, und zum „nützlichen Mann“, der sich als tätiger Menschenfreund praktisch engagiert, kümmert er sich eben um die Künste.23 Im Unterschied zu ihrem negativen Gegenbild, dem nur theoretischen „Afterphilosophen“ (VAe 9), haben auch die Künstler einen praktischen gesellschaftlichen Auftrag zu erfüllen: Sie sind zuständig für die „Bildung des Empfindungsvermögens“ (VAe 21). Ähnlich findet sich dieser Gedanke wiederum bereits bei Sulzer24, bei Platner wird er jedoch noch handgreiflicher und im Blick speziell auf das Leipziger Zielpublikum formuliert:
Die Künstler aber dachten entweder deutlich, oder fühlten nur dunkel, daß das Beste, was in der Welt ist, das Handeln sey, und zwar das Handeln nicht eben allein in dem sogenannten Geschäftsleben, sondern vielmehr das Handeln im wirklichen Leben, welches einzig und allein auf Empfindung beruht. (VAe 21)
Es fehlt in der Welt an Empfindung, fahren sie fort, bei sich zu denken, es fehlt an Empfindung für die Natur und des [sic!] Interesse der Menschheit, und ohne eben so besondere Veranstaltungen und Einrichtungen zu treffen, wie zum Besten der Bildung des Verstandes geschehen ist, hoffen wir doch diesem Uebel einigermaßen abzuhelfen (VAe 22f.).
Damit grenzt sich Platner auch ganz explizit gegen Sulzer ab: Hatte dieser den Hauptzweck der Kunst noch in „Weisheit“ und „Tugend“ gesetzt, so hält Platner ihm entgegen:
Der Künstler hat nämlich gewiß und vor allen Dingen zu seinem vorzüglichsten Zwecke Schönheit und dadurch Vergnügen der Einbildungskraft (VAe 18).
Auch hier taucht der Vergnügensbegriff damit an zentraler Stelle auf: Schönheit wird nicht im Zustand des ‚interesselosen Wohlgefallens‘ wahrgenommen, sondern in spezifisch ästhetischen Empfindungen, die „aus dem Bewußtseyn eines angenehmen Zustandes in Ansehung des Geistes und Körpers zugleich“ (VAe 29) resultieren. Als solche beschreibt Platner nicht nur die Schönheit und die Erhabenheit als sozusagen ‚klassische‘ ästhetische Empfindungen, sondern auch das Edle, das Prächtige, das Große und Starke, das Niedliche, das Naive und Natürliche, das Lächerliche, das Scherzhafte sowie das Unangenehme.25 Insgesamt sind damit die ästhetischen Empfindungen nur eine Untergattung aller angenehmen Empfindungen überhaupt, die gleichermaßen – und nach Platner sogar überwiegend – von „Wahrheit, Zweckmäßigkeit, Schicklichkeit, Sittlichkeit, Nützlichkeit, was, mit Einem Worte, mit dem gesunden Verstande in Verbindung steht“ (VAe 69) erweckt werden können und teilweise „weit reiner und geistiger“ (VAe 71) als die spezifisch ästhetischen Empfindungen seien.26
Die fortschreitende Integration der Ästhetik ins Alltagsleben zeigen auch die Bestimmungen, die Platner bezüglich des künstlerischen Produzenten – unter dem einschlägigen Stichwort „Genie“ – und des Rezipienten – unter dem Äquivalent zum Genie, dem „Geschmack“ – abgibt. Das Genie beruht auf einer exzellenten Fähigkeit des „Geistes“ (wie jede andere hervorragende Begabung des „guten Menschen“ auch) sowie der damit einhergehenden „Reizbarkeit der Seele“ (VAe 77f.). Diese befähigt ihn erst, an der Welt Anteil zu nehmen; hier trifft sich Platner also mit der Garveschen Definition des „Interessanten“. Dazu kommt für den Anthropologen natürlich noch eine besondere physiologische Anlage des Genies (vgl. VAe 88). Ein solches Genie hat die selbstverständliche Pflicht, ein „Philosoph für die Welt“ zu sein, indem es sich als „Lehrer“ in jeglicher Wissenschaft und Kunst „auf das Ganze der wirklichen Welt und die menschliche Glückseligkeit“ bezieht (VAe 85); nur so erwirbt er sich das „Interesse der ganzen Menschheit“. Spiegelbildlich dazu wirkt das rezeptive Vermögen, der „Geschmack“, nicht nur in der Kunst, sondern in allen Bereichen der menschlichen Existenz, bis hinab zur Kleidung und Mode. Denn, so Platner wiederum eminent bürgerlich, die Glückseligkeit des Menschen hänge nicht nur von den klassischen philosophischen Letztzielen Weisheit, Aufklärung und Tugend ab, sondern auch von Gesundheit, Sicherheit des Lebens und Eigentums, Notwendigkeiten und Bequemlichkeiten des Lebens und schließlich dem Vergnügen – für das dann insbesondere die Kunst verantwortlich ist (vgl. VAe 100). Sie kann dabei auch zu erzieherischen und religionspädagogischen Zwecken eingesetzt werden; dazu aber muss sie notwendig populär sein, was Platner abschließend speziell für die Musik empfiehlt27:
Aber leider! Fehlt es uns noch sehr an solcher populärer Musik, besonders für das Land. (VAe 195)
Die Bemühung um Popularität, verbunden mit einer Aufwertung der Unterhaltungs- und Vergnügungsfunktion von Kunst, ihrem ‚delectare‘, gegenüber einer Abwertung des traditionellen ‚prodesse‘, ihrer Lehrfunktion, demonstrieren auch eine Reihe von Publikationstypen, die gegen Ende des Jahrhunderts in Leipzig florieren. Es handelt sich dabei um Sammlungen unterschiedlichster Art, wie sie später auch Apel und
seine Freunde vorlegen werden. So ist beispielsweise August Meißner bald nach Abschluss seines Jura-Studiums in Leipzig mit Kriminalgeschichten, den sogenannten Skizzen, an die Öffentlichkeit getreten, in denen er aufsehenerregende Kriminalfälle gleichermaßen als Materialien zur ‚Erfahrungs-Seelenkunde‘ sowie zur Unterhaltung erzählerisch vorträgt. Die Sammlung wurde ständig erweitert und mehrfach wieder neu aufgelegt. In der späteren Vorrede von 1796 reflektiert Meißner noch einmal seine ursprünglichen Absichten,
von einigen Haupt-Grundsätzen der gewöhnlichen Kriminal-Justiz auszugehen; verschiedene angebliche Axiomata in ihr näher zu betrachten; einige psychologische Bemerkungen und Aufsätze damit zu verbinden, und endlich, als Belege von einigen Zweifeln, die Geschichten selbst folgen zu lassen.28
Ähnlich wie Garve bei seiner nachträglichen Rückschau auf sein Konzept des „Interessierenden“ lässt jedoch auch Meißner bezeichnenderweise die theoretischen Ambitionen immer mehr fallen, indem er den „räsonnierenden Theil“ „gänzlich“29 aufgibt. Zwar lehnt er es ab, die Geschichten durch eine stärkere erzählerische Ausgestaltung reißerischer zu machen, obwohl sie durch „eine willkürlichere Behandlung gewiß an Wirksamkeit gewinnen“ könnten. Er habe sie aber trotzdem ganz als „wahre Geschichte, nicht etwa wie man Novellen erzählt“, behandelt. Auch habe er solche Geschichten, die „ungeheure Mordgeschichten und nichts weiter waren“30, ausgespart. Trotzdem zehrt der langjährige Erfolg der Skizzen sicherlich primär von den ‚interessanten‘, nämlich spannungsreichen und vergnüglichen Aspekten der Lektüre von Kriminal- und Schauergeschichten, die sich bis heute bewähren.
Nach dem gleichen Erfolgsmuster ist die von dem bekannten Sprachhistoriker und Lexikographen Johann Christoph Adelung 178531 vorgelegte Geschichte der menschlichen Narrheit oder Lebensbeschreibungen berühmter Schwarzkünstler, Goldmacher, Teufelsbanner, Zeichen- und Liniendeuter, Schwärmer, Wahrsager, und anderer philosophischer Unholden gestrickt. Wiederum bemüht Adelung in seiner Vorrede den philosophischen Rechtfertigungstopos: Es gehe ihm um falsch betriebene Philosophie und also um ein ernsthaftes aufklärerisches Thema. Andererseits jedoch verleugnet auch er nicht den Unterhaltungsanspruch:
Ich habe daher geglaubt, daß eine solche Sammlung in unsern Tagen, wo das Lesen ein so wichtiges Bedürfniß geworden ist, eine nicht ganz unwichtige Abwechselung mit Romanen, Reisebeschreibungen und andern Zeitbüchern dieser Art gewähren würde.32
Adelung bezieht sich damit konkret auf die vielkritisierte ‚Lesesucht‘ der Zeit, die natürlich in der Bücherstadt Leipzig ein besonderes Problem war; und er nennt auch gleichzeitig die Literaturgattungen, die den größten Erfolg beim Lesepublikum hatten, nämlich in erster Linie die Romane, daneben aber auch die Reiseliteratur; beide fasst er unter dem neuen Begriff der "Zeitbücher", also: Werke von großer Aktualität, aber wahrscheinlich eher geringer Lebensdauer.
Eine weitere Spezialität des Leipziger Buchmarkts sind im weitesten Sinne kulturgeschichtliche Publikationen33, die nun den Sachprosa-Markt erobern und ebenfalls neben Belehrung immer stärker auf das Vergnügen des Lesers setzen. Dazu gehören beispielsweise die Publikationen des Altphilologen Karl Gottlob Schelle, der nicht nur ein Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften veröffentlichte, sondern auch eine Geschichte des männlichen Bartes unter allen Völkern der Erde bis auf die neueste Zeit (eine Übersetzung nach dem Französischen, 1797) sowie eine Kulturgeschichte des Spaziergangs (Die Spatziergänge oder die Kunst spatzierenzugehen, 1802) vorlegte. Beide Schriften sind fest im anthropologischen Paradigma der Platnerschen Tradition verwurzelt, indem sie eine enge Verbindung zwischen der physischen und geistigen Natur des Menschen34 herstellen bzw. auf den „ganzen Menschen“35 zielen und dadurch die im Garveschen Sinne ‚interessante‘, wenn auch nicht reinrassig philosophische Thematik rechtfertigen.36 Beide versuchen, wie die Publikationen von Meißner und Adelung, die Vorliebe des Lesers für Sammelwerke anstelle großer geschlossener Gesamtwerke auszunützen; so führt Schelle in der Vorrede zur Bart-Monographie aus:
Sammlungen der Art haben vor dem größten Theil gelehrter und literarischer Produkte, und selbst vor der allgemeinen Geschichte den Vortheil voraus, daß sie allgemein gefallen und allen Arten Lesern nützlich werden können. Sie entwickeln die Gegenstände genauer; sie können, ohne sich zu erniedrigen, bis zu Details herabsteigen, welche die allgemeine Geschichte vorbey zu gehen sich genöthigt sieht. Die Mannigfaltigkeit der gewählten, fast immer interessanten Züge gefällt dem müßigen Leser, der sich nur spielend und durch den Reiz des Vergnügens zu unterhalten sucht; während daß dieselben Thatsachen den denkenden Leser aufklären.37
Schelle stellt wie Schlegel auf eine Zweiteilung des Publikums in ein „denkendes“– den ‚E-Leser‘ sozusagen – und ein „müßiges“ Publikum ab. In den Spatziergängen wird er, nach einem einführenden Lob des Popularphilosophen nach dem Muster von Garve und Engel38, noch deutlicher:
Die Philosophie muß sich vertraulich dem Kreise des Lebens nähern, muß sich anspruchslos zur unterhaltenden Gesellschaft in Stunden der Erholung darbieten, muß sich sogar mit den Vergnügungen der veredelten Menschheit vermählen, um ihren Werth auch der nichtphilosophischen Welt fühlbar zu machen.39
Hier ist die Vermählung zwischen dem Popularphilosophen der aufklärerischen Tradition und dem Unterhaltungsschriftsteller für die Mußestunden weitgehend vollzogen, auch wenn in Formulierungen wie der „veredelten Menschheit“ ein letztes Residuum der alten Erziehungs- und Aufklärungsidee erhalten bleibt.
Ein weiteres neues Erfolgsgenre, das in der Romantik zunehmend an Bedeutung gewinnt, ist die Geister- oder Gespenstergeschichte. So veröffentlicht der Jurist und Schriftsteller August Apel, aufgewachsen im spätaufklärerischen Milieus Leipzigs, gemeinsam mit dem Dresdner Unterhaltungsschriftsteller Friedrich August Schulze ein Gespensterbuch, das in fünf Bänden zwischen 1811 und 1815 im Verlag Göschen in Leipzig erschien. Apel selbst hat in seiner Nachrede den Text als anthropologische Mustersammlung bezeichnet und damit auch in die spätaufklärerische Tradition beispielsweise Adelungs gestellt:
Eine Geschichte des Wunderglaubens wäre also für die Naturerkenntniß dasselbe, was eine Geschichte der Religionen für die Theologie.40
So gemahnt beispielsweise Klara Montgomery. Aus den Papieren des Chevaliers St…ge41 in vielerlei Hinsicht an die klassische aufklärerische Wundergeschichte.42 Die Erzählung ist vor einem vergleichbaren zeit- und kulturgeschichtlichen Hintergrund angelegt und wird von einem Ich-Erzähler dargeboten; dabei wechseln Gespräche mit erzählenden Passagen, am Ende gibt es gar eine Reihe beigefügter Briefe, die nach aufklärerischem Muster die Authentizität des Erzählten verbürgen sollen. Das „Wunder“, das im Mittelpunkt der Geschichte von der verschleierten Braut steht, wird immer wieder explizit als solches thematisiert; wie ein echter Aufklärer fordert der Greis in der Geschichte seinen Besucher auf, selbst zu sehen und zu untersuchen (vgl. G 284); er zeige ihm nur „Monumente der Geschichte, deren Echtheit freilich der Kritik zur Untersuchung überlassen bleibt“ (G 288). Wie ein echter Aufklärer rechtfertigt er auch seine instrumentelle Nutzung des in der menschlichen Natur angelegten „Geisterglaubens“ (G 289) zu löblichen Zwecken in der ihm anvertrauten Gemeinde. ‚Romantischer‘ geht es erst in den Briefen zu, bevor am Ende in der wieder aufgenommenen Rahmenhandlung der Reisende und der Greis das Geschehen resümieren. Es sei eben nicht alles einfach mechanisch erklärbar, so wie es die Aufklärung noch geglaubt habe:
Denn was man im gemeinen Leben Erklärung nennt, ist ja gewöhnlich nur Veränderung des Wortes, die uns der eigentlichen Einsicht um keinen Schritt näher bringt. […] Wir müssen ein höheres Denkvermögen kultivieren, um die chemischen Durchdringungen, wieder ein höheres, um das organische Leben zu begreifen (G 325f.).
Deutlich zeigt sich hier die romantische Überformung aufklärerischer und anthropologischer Themen und Axiome. Dazu gehören die Aufwertung und Rechtfertigung interessanter und vergnüglicher Literatur, die sich auf die Unterhaltung des Bürgers konzentriert – allerdings wird das Vergnügen bei den Spätaufklärern noch nicht als hedonistischer Selbstzweck gedacht. Ähnliches gilt für die Darstellung psychischer Abweichungsphänomene – hier bestand das zentrale Interesse der Aufklärer darin, diese in ihrer Genese zu analysieren und damit zu erklären, während die Romantiker gerade die Nicht-Erklärbarkeit mit rein rationalen Mitteln thematisieren werden. Schließlich vertreten Spätaufklärer wie Romantiker eine Ganzheitsanthropologie nach dem Platnerschen Muster, auch hier aber mit signifikanten Unterschieden im Einzelnen, was beispielsweise die Bewertung der beiden Bestandteile Leib und Seele oder die herbeizitierten philosophischen bzw. religiösen Rahmenkonzepte betrifft. Diese Überformung ist an vielen Stellen sehr stark und verdeckt dadurch die gemeinsame Vorgeschichte, die auch die 'sächsischen Romantiker' noch länger und stärker, als es ihnen wahrscheinlich bewusst oder lieb war, an ihre popularphilosophischen und -ästhetischen Wurzeln in der Leipziger Spätaufklärung bindet.
Wie kaum ein anderes deutsches kulturelles Zentrum war die Verlags- und Universitätsstadt Leipzig um die Wende zum 19. Jahrhundert prädestiniert für die durchaus experimentelle Entwicklung neuer Formen von Massen- und Unterhaltungsliteratur. Die rapide Zunahme von lesehungrigen, ja lesesüchtigen Kunden (vor allem jedoch Kundinnen; Frauen machen einen wesentlichen Anteil am neuen Lesepublikum aus), die auf immer neue Nahrung drängten, vereinte sich mit einer großen Anzahl von Autoren, die größtenteils ebenfalls in ihren Nebenstunden produzierten und willig auf die neue Herausforderung reagierten. Die ästhetischen Grundlagen hatten Überlegungen von Popularphilosophen wie Christian Garve und des Leipziger Universitätsprofessors Ernst Platner gelegt, die neue ästhetische Kategorien etablierten und dabei immer stärker auch das primäre und berechtigte Interesse des Lesers an Unterhaltung in Betracht zogen: Aufgewertet wurden nun das Interessante, aber auch das Lächerliche, das Niedliche, das Prächtige, ja sogar das Hässliche. Damit einher gehen neue Themenbereiche, die bis heute ihre Attraktivität nicht verloren haben: Kriminalgeschichten, Geistergeschichten, aber auch Kulturgeschichten erobern nun den literarischen Markt. Dabei wird jedoch ein aufklärerisches Interesse an Belehrung durchaus nicht vollständig obsolet, sondern bleibt vielmehr in der anthropologischen Begründung der Ästhetik lange Zeit erhalten: Unterhaltung und Belehrung schließen sich durchaus nicht aus, und gerade wer nicht nur den Kopf der Leser erreichen will, sondern ihn auch zum moralischen Handeln animieren, muss unter Umständen einen Umweg über die Gefühle und die Einbildungskraft nehmen. Als strategisch besonders gut vermarktbar erweisen sich dabei Textsammlungen: Sie reagieren auf das Bedürfnis nach einer Gelegenheitslektüre ohne großen Anspruch an die geistige Aufmerksamkeit oder eine konzentrierte, lang andauernde Lektüre, die man zwischendurch zur Hand nehmen, aber ebenso schnell wieder weglegen kann. Gleichzeitig versuchen sie jedoch, einen gewissen aufklärerischen Grundstandard nicht zu unterbieten, indem sie auch Angebote für den denkenden Leser machen, jedoch dabei populär und verständlich bleiben. Denn niemand konnte zu dieser Zeit mehr an der Tatsache vorbei sehen, dass die Mehrheit der Deutschen bereits lieber kleine Krimis und Wundergeschichten lasen, als ihre zukünftigen Klassiker noch an ihren großen Werken schrieben. Die schlechtere Alternative wäre jedoch wahrscheinlich gewesen, dass sie gar nicht mehr lesen.
Erschienen in: Gellert und die empfindsame Aufklärung. Wissens- und Kulturtransfer um 1750. Hg. von Sibylle Schönborn und Vera Viehöver. Berlin 2008, S. 23-37.
Das Attribut „empfindsam“ geht gern – das liegt in der Natur der Sache selbst – Paarungen ein. Was jedoch ist mit der auf den ersten Blick paradoxen Wortprägung „empfindsame Wissenschaft“ gemeint? Ist die Wissenschaft, zumindest wie wir sie heute verstehen, nicht das größtmöglich Unempfindsame schlechthin? Widerstreitet „empfindsame Wissenschaft“ nicht zutiefst den wissenschaftlichen Grundtugenden der Moderne, ihrem kombinierten Anspruch auf Objektivität des Wissenschaftlers, Allgemeinheit der Ergebnisse und Regelgeleitetheit der Methode? Nun ist es zugestandenermaßen bei näherer Betrachtung auch heute so, dass nicht alle Wissenschaften gleichermaßen an diesem offensichtlich von einem traditionellen Verständnis der Naturwissenschaften abstrahierten Idealtypus partizipieren; es gibt sogenannte „weiche“ und „harte“ Disziplinen, allgemeinere und speziellere Ergebnisse und systematische und weniger systematische Methoden (und häufig auch, daran gekoppelt, eine unterschiedliche gesellschaftliche Wertschätzung). Und auch bei Gellert soll es ja in erster Linie um die „schönen Wissenschaften“ gehen – nur ist das leider ein Terminus, der vielen wahrscheinlich inzwischen ebenso fremd anmutet wie die „empfindsame Wissenschaft“. Immerhin jedoch hat dieser Begriff eine Geschichte, die ich deshalb in einem ersten Schritt – sehr gekürzt – darstellen werde. Daran anschließend werde ich Gellerts Wissenschaftsverständnis, sein Rollenbild des Gelehrten und sein Konzept des idealen Studenten analysieren, wie er sie in seiner Antritts- und in einer seiner Schlussvorlesungen darstellt. Am Ende sollte daraus dann ersichtlich werden – so hoffe ich zumindest –, was es mit meiner Rede von der „empfindsamen Wissenschaft“ auf sich hat. Ein Schwerpunkt wird dabei auf der Frage liegen, inwiefern diese von interdiskursiven Transferleistungen profitiert; und was vielleicht sogar heute noch von ihr zu lernen wäre (oder auch nicht).
„Schöne Wissenschaften“ – eine kleine Begriffsgeschichte
Zur Geschichte des Begriffs „schöne Wissenschaften“ hat Werner Strube 1990 eine ebenso gründliche wie erhellende Studie vorgelegt, auf die ich mich im folgenden beziehe. Strube verfolgt den Begriffsgebrauch von seinem ersten Auftauchen im 17. Jahrhundert an bis zu seinem traurigen Abstieg zu Beginn des 19. Jahrhunderts; es ist also eine recht kurze Geschichte, die, knapp gesagt, zeigt, wie ein ehrwürdiger Begriff im Laufe nur eines Jahrhunderts vor die Hunde geht. Wobei Strube gleich zu Beginn hervorhebt, dass es im gesamten 18. Jahrhundert durchaus nicht klar ist, was mit „schönen Wissenschaften“ nun eigentlich gemeint sei. Sie stehen, zum Ersten, in einem unklaren Nachfolgeverhältnis zu den antiken „artes liberales“, enthalten aber nicht alle sieben freien Künste, sondern meist eine Auswahl daraus. Sie stehen, zum Zweiten, in einem ebenso unklaren Verwandtschaftsverhältnis zu den „schönen Künsten“ , mit denen sie manchmal identisch sind, manchmal aber auch kombiniert werden. Sie werden, drittens, häufig, aber nicht immer als eine vage Übersetzung der französischen „belles lettres“ benutzt, was das Problem noch interkulturell verschärft. Das einzige, was man – zum Vierten und mit einiger Sicherheit – sagen kann, ist, dass sie die sogenannten „oberen Fakultäten“ oder die „höheren Wissenschaften“, wie Gellert sie nennt (nämlich Theologie, Jurisprudenz, Medizin), nicht umfassen. „Schöne Wissenschaften“ sind also sozusagen der etwas unseriösere Rest, der im weitesten Sinne alle Künste, bzw. deren Theorie und Geschichte, von der Poesie bis zum Gartenbau und von der Lyrik bis zum Ausdruckstanz sowie die Sprachdisziplinen Rhetorik, Grammatik, Poesie und schließlich die Historie umfassen kann.
Innerhalb des 18. Jahrhunderts verschiebt sich dabei nach Strube der Schwerpunkt innerhalb dieser Selektionsmöglichkeiten sehr deutlich. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts, bei Christian Thomasius, wird der Begriff vor allem „stiltypologisch“ verwandt: Er meint eine bestimmte Art, Wissenschaft zu betreiben, versteht den Wissenschaftler als „bel esprit“ und macht den, der sie hinreichend beherrscht, zum „homme galant“. Demgegenüber findet sich bei Alexander Baumgarten und seinem Schüler Georg Friedrich Meier eine rein „ästhetische“ Gebrauchsweise; der Begriff wird nur auf die Künste bezogen. Eine weitere Variante ist die humanistisch-philologische Begriffsverwendung bei Johann Friedrich Bertram: Hier werden unter den „schönen Wissenschaften“ vor allem Grammatik, Kritik, Rhetorik, Poesie und Historie verstanden; diese bilden im Lehrbetrieb gleichzeitig die Propädeutik für die höheren Fakultätswissenschaften. Eine Mittelstellung nimmt schließlich Gottsched ein, der nach Strube den Begriff sowohl „ästhetisch“ als auch „polyhistorisch“ und bezeichnenderweise in der Doppelformel „schöne Wissenschaften und freye Künste“ verwendet: Er kombiniert die ästhetische Begriffsverwendung und die humanistisch-philologische, indem er alle Künste sowie Geschichte und Grammatik einbezieht; das Mittelglied bilden dabei die Poesie und die Rhetorik. Gellert führt Strube (wie ich meine zu Recht) im Wesentlichen in der humanistisch-philologischen Traditionslinie.
Ich will jedoch die Darstellung noch kurz über Gellert hinaus weiterzeichnen, weil der Begriff nach der Jahrhundertmitte – in der er seine Blütephase hat – zunehmend vereinseitigt wird und immer mehr in die Kritik gerät; beides ist wichtig, auch für die Beurteilung von Gellerts Wissenschaftsverständnis. Zunächst wird der Begriff auf den rein ästhetischen Bedeutungsbereich verengt, während die humanistische Bildungstradition in den Hintergrund gerät. Daneben nehmen die Vorwürfe gegen das damit verbundene Wissenschaftsverständnis zu: Die schönen Wissenschaften seien oberflächlich und „seicht“; sie hätten keine gründliche und systematische Methode; sie brächten eine „unordentliche“ Schreibweise und eine „undeutliche“ Vortragsweise hervor. Immer stärker beginnt sich im Hintergrund ein neues Wissenschaftsverständnis durchzusetzen, das bei Sulzer in der Allgemeinen Theorie der schönen Künste (und eben nicht Wissenschaften!) schon aufscheint und in Kants vernichtendem Verdikt in der Kritik der Urteilskraft vollendet wird : Er hält die „schönen Wissenschaften“ nur noch aufgrund einer peinlichen „Wortverwechslung“ für Wissenschaften; das Schöne werde schließlich auch ohne Begriff erkannt, und das, was man ohne Begriff erkenne, könne nun platterdings keine Wissenschaft konstituieren. Der Untergang des alten Begriffs steht damit wohl kaum zufällig in engem Zusammenhang mit dem Aufstieg des neuen objektivistischen, von den Kantischen Kritiken mitinitiierten Wissenschaftsparadigmas.
Schöne Wissenschaften bei Gellert – Empfindsame Programmatik und angewandte Rhetorik
a) Die Antrittsrede Von dem Einflusse der schönen Wissenschaften auf das Herz und die Sitten: Der ideale Gelehrte
Von einem solchen kantischen Wissenschaftsverständnis ist Gellert weit entfernt, als er im Jahr 1751 zu Leipzig seine enthusiastische Antrittsrede unter dem Titel „Von dem Einflusse der schönen Wissenschaften auf das Herz und die Sitten“ als außerordentlicher Professor der Philosophie hält. Geradezu panegyrisch klingen das einleitende Fürsten- und Gotteslob; geradezu berauscht die persönliche Würdigung als „schönster und glücklichster [Tag] meines Lebens“. Die ganze Rede ist ein Musterexempel empfindsam gesteigerter Rhetorik – und damit gleichzeitig ein autoreferentieller Beweis für die Nützlichkeit und Notwendigkeit rhetorischer Bildung nicht nur für die Akademie, sondern fürs Leben. Denn exakt dieses will Gellert in der Rede selbst dartun: Er will beweisen, dass die schönen Wissenschaften einen wichtigen Einfluss auf das „Herz“ des Menschen, seine „Sitten“ und das „gemeine Leben“ haben. Die Beschäftigung mit ihnen schärfe nicht nur den Verstand, sondern belebe auch die Einbildungskraft und bereichere das Gedächtnis; kurz: die schönen Wissenschaften bildeten nicht nur den Gelehrten und seine oberen geistigen Vermögen, sondern auch den Menschen in einer Art vollständiger anthropologischer Schätzung. Wie aber tun sie dies?
Um dies darzustellen, entwirft Gellert zunächst das Bild des idealen Gelehrten bzw. seines Gegenteils; die Gegenüberstellung nimmt in wichtigen Zügen Schillers Unterscheidung des „Brotgelehrten“ vom „philosophischen Kopf“ in dessen Jenaer Antrittsrede (1789) vorweg. Bei Gellert heißt das so:
Wodurch erwarben sie [die vorbildlichen Wissenschaftler] sich alle die Verdienste um die höhern Wissenschaften, die wir an ihnen verehren? Wodurch setzten sie sich in den Stand, ihnen so viel Licht, Gründlichkeit, und Anmuth zu geben. Dadurch, daß sie die engen Schranken gewisser Compendien und Systeme ängstlich durchliefen; daß sie ihr Gedächtniß mit einer Menge leerer und trockner Sätze beschwerten? Oder dadurch, daß sie sich eine genaue Kenntniß der Sprachen, Alterthümer und Sitten aller Zeiten erwarben; daß sie die heilige und weltliche Geschichte sorgfältig erlernten; daß sie sich mit den Meisterstücken sowohl der Poesie als Beredsamkeit bekannt, und den Geist und die Schönheit der alten und neuern Schriftsteller durch Lesen, Nachdenken und Nachahmen sich eigen machten?
Der Textauszug enthält bereits komprimiert das Programm des idealen Wissenschaftlers, das Gellert im Folgenden ausführen wird. Dieser hat kein totes Kompendien-Wissen, sondern lebendige und umfassende Kenntnisse sowohl historischer als auch philologischer und kulturgeschichtlicher Art; er formuliert sein Wissen nicht in abstrakten, sondern in schönen Sätzen, entsprechend dem „Geist“ der antiken und zeitgenössischen Musterautoren, an deren rhetorischen und poetischen Meisterwerken er seine Darstellungskunst geschult hat. Dazu jedoch benötigt der Gelehrte in gleichem Maße durch Übung erworbene Virtuosität wie auch angeborenes „Genie“, „eine gewisse natürliche Größe und Lebhaftigkeit der Seele“. Es geht nämlich in den „schönen Wissenschaften“ beileibe nicht nur um die mechanische Erzeugung von Wissen und Kenntnissen, sondern um umfassende Persönlichkeitsbildung, die sich dann ebenso im Denk- wie im Darstellungsstil zeigt und erst den intendierten umfassenden Nutzen der schönen Wissenschaften über die „Studierstube“ des Autors hinaus und für „die Welt, in die Gesellschaften, in die Geschäfte des Lebens und unsrer Häuser“ ermöglicht.
Wie dieses Programm im Einzelnen funktioniert, zeigt der an die einleitende Passage angeschlossene Mittelteil der Rede, in dem die eigentliche Beweisführung stattfindet; auch hier ist das zugrundeliegende rhetorische Schema der Gliederung der Rede durchaus erkennbar. Das wesentliche Instrument für die wissenschaftliche Charakterbildung ist der Geschmack, dem in Gellerts moralphilosophischen und poetischen Konzepten auch insgesamt die zentrale Rolle zukommt. Für Gellert ist der Geschmack nicht so sehr ein rationales Urteil in ästhetischen Fragen, sondern eher ein beinahe intuitives Gefühlsurteil, das sich nicht in erster Linie auf Details, sondern auf einen holistisch wahrgenommenen Gesamteindruck eines Phänomens bezieht; der Geschmack sei, so wörtlich,
ein zarte, geschwinde und treue Empfindung alles dessen, was in den Werken des Geistes so wohl in einzelnen Gedanken und Ausdrücken, als überhaupt in dem ganzen Baue des Werkes richtig, schön, edel, harmonisch; und auf der andern Seite alles dessen, was fehlerhaft, was matt, was kindisch, was abentheuerlich und mißhellig ist.
Das Geschmacksurteil wird durch seinen „Gebrauch“ im Laufe des Lebens habitualisiert; es nimmt zwar seinen Ausgang bei der Beurteilung ästhetischer Phänomene, erstreckt sich dann aber auch auf „Gespräche“ und „Handlungen“, schließlich auf den „ganzen Charakter“. Dabei trägt der ausgebildete Geschmack inhaltlich nichts zur Tugendhaftigkeit seines Trägers bei; moralische Normen kann er weder hervorbringen, begründen noch deren Befolgung gewährleisten. Seine eigentliche Funktion ist es, tugendhaftes Handeln in eine schöne Form zu bringen und dadurch eine Art Belohnungseffekt zu erzeugen: Der „Geschmack am Guten“ macht es nicht nur schöner und „anmutiger“ , sondern auch leichter und überzeugender, tugendhaft zu handeln.
Wozu jedoch dient der Geschmack nun konkret in den Wissenschaften? Gellert erwägt an dieser Stelle seiner Beweisführung zunächst den jeweiligen Beweiswert einer induktiven Herleitung aus „der Natur der Seele und der schönen Wissenschaften“ gegenüber dem von „Zeugnissen und Beyspielen“ – und entscheidet sich, wiederum mehr rhetorisch denn philosophisch begründet, für letztere, indem er seine Hörer zu einem Gedankenexperiment auffordert: „Stellt euch einen Freund der schönen Wissenschaften vor“. Diesen modelliert er nach den antiken Exempeln von Cicero, „Paul Aemil“ und Plinius sowie in der Tradition der antiken Charakterdarstellung. Dieser exemplarische Freund der schönen Wissenschaften setzt das oben dargestellte Bildungsprogramm nun in die Tat um: Er liest und studiert die besten Werke der Alten und der Neuen, und zwar nicht nur mit dem Verstand, sondern vor allem „mit Empfindung“; er identifiziert sich dabei natürlicherweise und noch verstärkt durch den „rührenden Ton“ und die „lebhaften Bilder“ mit den dargestellten „Beyspiele[n] der Menschenliebe, der Zärtlichkeit, der Freundschaft, der Dankbarkeit, der Liebe zum Vaterlande, des Heldenmuthes, der wahren Ehrbegierde“. Er wird dadurch nicht nur ein guter Wissenschaftler, sondern profitiert in all seinen gesellschaftlichen Rollen (wie wir heute sagen würden) als „Bürger“, „Hausvater“, „Ehemann“, „Freund“ und „Gesellschafter“. Den geradezu universalen Nutzen dieser wissenschaftlichen Geschmacks- und Charakterbildung zeigt vielleicht am besten dasjenige Beispiel, das uns heute wohl am abwegigsten vorkommt, der Nutzen für die „Unternehmungen des Krieges“: Der vorbildliche Paul Aemil nämlich wird vom „guten Geschmack“ beherrscht, wenn er seine Armee im „Geist der Ordnung, der Klugheit, der Symmetrie“ nicht nur schön, sondern auch „vortheilhaft“ aufstellt.
Aber, so nimmt Gellert an dieser Stelle der Beweisführung in guter rhetorischer Tradition mögliche Einwände seiner Gegner vorweg, gibt es nicht auch ganz unanmutige, ungesellige und geschmacklose Wissenschaftler? Gibt es tatsächlich, aber das sind eben die oben bereits erwähnten falschen pedantischen Schillerschen Brotgelehrten:
Begierig auf ihre Künste, verschließen sie sich auf ihre Studierstuben und fliehen den Umgang, auf den sie ihre Kenntnisse sollten anwenden lernen. Sie bleiben Fremdlinge auf dem Schauplatze der Welt.
Das Gleiche gilt für das Argument, dass offensichtlich die Beschäftigung mit den schönen Wissenschaften nicht immer eine bessere Moral, sondern geradezu das Gegenteil bewirken kann: Auch hier liegt die Ursache nicht in den Wissenschaften selbst, sondern ihrem „fehlerhaften Gebrauch“ allein zur Befriedigung egoistischer Zwecke. Schließlich, so ein letzter möglicher Einwand, gebe es doch auch hinreichend geschmackvolle und moralisch vorbildliche Menschen außerhalb der Akademien; diese aber, so Gellert, hätten ihr Studium letztlich durch die bildenden Institutionen von Eltern, Lehrern, Freunden oder Büchern substituiert; und er würde sich nicht wundern,
wenn ein einziges gutes Buch, wenn eine Clarissa oder ein Grandison dem aufmerksamen Leser mehr gute und edle Empfindungen einflößet, als eine ganze Bibliothek moralischer Schriften dem Gelehrten.
Auf die Wichtigkeit der richtigen Lektüre – sowohl der Alten als auch der Neuen, wie Gellert in dieser Rede in einer Art cultural correctness ständig betont – werde ich gleich noch zu sprechen kommen. Zunächst jedoch bringt Gellert seine Beweisführung zu Ende, indem er einen letzten rhetorischen Haken schlägt: Er stellt nämlich in Frage, ob es überhaupt möglich sei, seine Behauptung des umfassenden Nutzens des Studiums der schönen Wissenschaften für Geist, Charakter, Moral und das Leben schlechthin im strengen Sinne zu beweisen. Letztlich müssten die Hörer diese Wahrheit nämlich „empfinden“; und das könnten sie am besten, indem sie sie im täglichen Leben durch die tägliche Erfahrung erproben. Gellert schließt deshalb mit einem Appell, einer ganzen Kaskade rhetorischer Fragen und einer letzten Berufung auf die auctoritas des Cicero , bevor er in eine Reihe von Lobsprüchen ausbricht, die die Begeisterung des Anfangs mit all ihren Superlativen wieder aufnehmen und die Leipziger Universität nun endgültig zum Exzellenzcluster für geschmackvoll betriebene schöne Wissenschaften erklären:
Es blühe diese Academie, sie sey eine Quelle der größten Geister, der schönsten und liebenswürdigsten Sitten; und ewig sey der Name dieser Stadt, der Name Leipzigs, Sachsens Zierde, und fremder Länder Bewundrung!
b) Die Abschlussvorlesung Von der Fehlern der Studierenden – Der ideale Student
Der enthusiastisch vorgetragenen, rhetorisch durchformten und empfindsam eingetränkten Programmatik der „schönen Wissenschaften“, des geschmackvollen Gelehrten und des vielfältigen alltagsweltlichen Nutzens umfassender akademischer Ausbildung in der Antrittsrede folgt in einer Abschlussvorlesung mit dem Titel Von den Fehlern der Studierenden bey der Erlernung der Wissenschaften, insonderheit auf Academien ein einigermaßen realitätsgesättigtes Bild des akademischen Lebens. Gellert nimmt die ursprüngliche Programmatik wieder auf, um sie nun jedoch stärker in der Praxis des akademischen Lebens und vor allem im Studium selbst zu verankern. Er beschränkt sich dabei nicht mehr auf die „schönen Wissenschaften“, sondern es geht ihm um die Wissenschaften insgesamt. Auch die Struktur ist ein wenig variiert, behält jedoch gleichwohl das rhetorische Grundmuster der Dreiteilung bei. An die Stelle des Fürsten- und Gotteslobs in der Einleitung tritt eine explizite captatio benevolentiae an die studentische Hörerschaft – die zweifellos über den rhetorischen Effekt hinaus tatsächlich nötig ist, da Gellert ein heikles Thema behandeln, nämlich „von den Fehlern der Studierenden bey der Erlernung der Wissenschaften, insonderheit auf Academien“, sprechen will. Darauf folgt im Mittelteil eine diesmal sogar systematisch gegliederte Auflistung möglicher „allgemeiner“ Fehler: Gellert unterscheidet zum Ersten nach der Studienmotivation, der „Absicht“ und den Bewegungsgründen“ für die Aufnahme eines Studiums; zum Zweiten nach einer fehlerhaften Praxis, den Fehlern in der „Art, mit der man studieren soll“. Die Schlusswendung hat dann wieder Appellcharakter.
Zu den Fehlern im Einzelnen. Der erste Punkt, die Studienmotivation, lässt sich noch relativ leicht auf das in der Antrittsrede dargelegte Wissenschaftsprogramm zurückführen: Idealerweise sollte man studieren,
um unsern Verstand mit nützlichen Kenntnissen zu bereichern, unser Herz edelgesinnt und rechtschaffen zu machen, uns zum Dienste des Vaterlandes, der Welt vorzubereiten; dieses Verlangen sollte uns unstreitig bey unserm Studieren beleben. Die Vorstellung, daß es unsre Pflicht ist, die Kräfte unsers Geistes zur Ehre seines Urhebers zu verwenden, sollte uns regieren, uns die Mühe des Fleißes, des Nachdenkens, versüßen, welche die Arbeiten des Verstandes kosten.
Die Wissenschaft wird also weiterhin sowohl auf moralische Wirksamkeit als auch gesellschaftliche Nützlichkeit verpflichtet. Neu ist demgegenüber jedoch die stärkere Betonung der religiösen Verbindlichkeit, eine Vorliebe für Metaphern und Gedankenfiguren aus dem Bereich der Ökonomie (die Bereicherung durch Kenntnisse, der möglichst effiziente Einsatz der von Gott verliehenen Talente ) und eine stärkere Betonung der natürlichen anthropologischen Gegengewichte gegen eine akademische Tätigkeit: Von der „Liebe zur Gemächlichkeit, zum Vergnügen, zur Eitelkeit“ ist weiter unten explizit die Rede. Offensichtlich belohnt sich also die wissenschaftliche Tätigkeit doch nicht so ganz von allein, wie es im ersten Text noch den Anschein hatte.
Ein etwas realistischer gewordenes Menschenbild zeigt auch die sich daran anschließende Diskussion möglicher „Triebfedern“, wie es im psychologisch-mechanistischen Jargon der Zeit heißt, für die Aufnahme eines Studiums. Gellert erkennt nun an, dass ansonsten verwerfliche Leidenschaften immerhin nützliche Antriebe abgeben können:
Nein, ich gebe es gern zu, daß wir durch den Befehl der Eigenliebe angefeuert, durch die reizenden Aussichten der Ehre, der Hoheit, des Vermögens belebt, nicht allein die beschwerlichsten, sondern auch die nützlichsten Bemühungen in den Wissenschaften unternehmen können. Ich verlange nicht, daß das Herz der Studierenden ohne alle Leidenschaften seyn soll; dieses ist stoischer Unsinn.
Das ist ein deutlicher Reflex auf die anthropologischen Debatten der Zeit, die in dieser Zeit über die Empfindsamkeit hinaus zu einer Rehabilitierung der Leidenschaften beitragen zu beginnen. Gleichwohl, so Gellert, sei Vorsicht beim Gebrauch falscher Motive anzuraten: Die hemmungslose wissenschaftliche Ruhmbegierde führe zu religionsgefährdender „Freygeisterei“ ; die Verletzung der wissenschaftlichen Eitelkeit und die Frustration des akademischen Ehrgeizes mache „gelehrte Menschenfeinde“; die Konzentration auf „Modewissenschaften“ forciere akademische Übereilung und Frühreife; die Vernachlässigung von „Geschmack“ und persönlichem „Genie“ zu den Wissenschaften habe „Oberflächlichkeit“ zur Folge. Zwar seien „mittelmäßige Gelehrte“ für den gesellschaftlichen Einsatz in „geringen Ämtern“ durchaus von Nöten; aber wer könne schließlich garantieren, dass sie nicht doch in die eigentlich für die exzellenteren Köpfe vorgesehenen höheren Posten gelangten? Und könne man es sich gar leisten, ausgerechnet auf den Schulen „Halbgelehrte“, „düstre Köpfe mit Wörtern und Sentenzen“ unterrichten zu lassen? Gellert resümiert kategorisch: „Ohne Genie, und aus niedrigen Absichten studieren, heißt die Wissenschaften verunehren“.
Diesen Befunden ist, seien wir ehrlich, auch aus heutiger Sicht wenig hinzuzufügen; sie sprechen für eine sehr pragmatische Analyse wechselhafter akademischer Alltagserfahrung. Das Gleiche gilt für Gellerts sich daran anschließende Auflistung der verbreitetsten Fehler studentischer Praxis. Der erste und schwerwiegendste ist die Lektüre der falschen Schriften, womöglich zur falschen Zeit, und meist auf die falsche Weise. Gegenüber einer offensichtlich verbreiteten Lektüre-Präferenz „neuerer Werke des Witzes, Journale, Wochenblätter, guter Romane“ sowie zeitgenössischer „Schriften der Ausländer“ und der eigenen „Muttersprache“ empfiehlt Gellert nun verstärkt die frühzeitige, wiederholte, gründliche und umfassende Lektüre der Alten. Er betont dabei zunächst deren unentbehrlichen Bildungswert, wobei er wiederum auf den Geschmacksbegriff rekurriert:
In eben den Jahren, da unser Verstand reifer wird, und wir ihn durch die edle Denkungsart der Alten bilden, und durch ihren guten Geschmack unsern Geschmack schärfen sollten, werfen wir die schönsten Schriften hochmüthig und unwissend aus den Händen
Daneben jedoch entwickelt er eine eigene Hermeneutik, eine Art Modell der idealen Lektüre, die auf eine Rekonstruktion der Autorintention unter möglichst starker und umfassender Einbeziehung philologischer, historischer, kultur- und sittengeschichtlicher Kontexte abzielt. Die erste Voraussetzung dafür ist eine möglichst gründliche Kenntnis der fremden Sprache; optimalerweise, so Gellert, übersetze man fremdsprachige Texte nicht etwa beim Lesen in die Muttersprache, sondern lese und denke in der fremden Sprache selbst. Nur dadurch könnten Missverständnisse durch Verschiebungen im Wortgebrauch vermieden werden:
Aber dennoch bleibt es wahr, daß wir ohne eine richtige und genaue Kenntniß der alten Sprachen, ihres besondern Charakters, ihrer Regeln, die Werke der Alten nicht mit Nutzen lesen, und nicht mit Gründlichkeit auslegen können. Nur alsdenn verstehen wir eine Schrift, wenn wir bey ihren Worten das denken, was der Schriftsteller dabei gedacht hat.
Zum Zweiten müsse der Leser weitestgehend mit „Sitten, Gewohnheiten, Meynungen“, mit „Religion“ und „Regierungsform“ anderer Zeiten vertraut sein; sonst könne er „die Schriften der Alten nur im Dunkeln lesen“. Schließlich seien auch stilistische Kenntnisse und ein geschulter Geschmack vonnöten, um die Schönheiten des Ausdrucks und der Darstellung hinreichend würdigen zu können; hier taucht wieder das erzieherische Geschmacksideal der Antrittsvorlesung auf, das auch hier auf eine Mischung aus Anlage – „gewisser richtiger Empfindung der Natur“ – und Training – durch „Sorgfalt und Aufmerksamkeit“ – gründet.
Was heißt also, so fragt Gellert an dieser Stelle – und zwar nicht nur rhetorisch – „[w]as heißt Einsicht in die Sprache, was heißt Aufmerksamkeit im Lesen, um mit Empfindung zu lesen?“ Und er gibt keinen enthusiastischen Sermon über die Schönheiten des empfindsamen Romans oder die rührenden Stellen bei den Alten zur Antwort, sondern ganz konkrete Anweisungen: Es heißt nämlich, nicht nur die fremde Sprache so zu verstehen, dass man keine Übersetzungen und Kommentare benötigt, sondern sogar die Feinheiten der individuellen Autorsprache zu kennen und erkennen; es heißt, einen Text nicht nur einmal, sondern immer wieder lesen; es heißt, ihn nicht nur oberflächlich, sondern gründlich, „mit einer Art Zergliederung“ und „beynahe eben mit der Sorgfalt“ lesen, „wie man schreibt“; es heißt, sowohl auf die Details als auch auf die gesamte Komposition des Textes zu achten und den Zusammenhang beider niemals aus den Augen zu verlieren. Es heißt letztlich, Lesen als eine ernsthafte und kräftezehrende Arbeit zu verstehen, als einen hermeneutischen und deshalb unabschließbaren Erkenntnisprozess, als Einübung in eine fremde Kultur und eine individuelle Geisteswelt gleichermaßen. Lesen in diesem Sinne ist Einarbeitung in eine grundlegende und für die Bildung unentbehrliche Kulturtechnik des Abendlandes.
Neben der falschen Lektüre ist der zweite Fehler, den Gellert geißelt, die Vernachlässigung der rhetorischen Fertigkeiten. Wiederum verweist er vor allem auf den praktischen Nutzen der „deutlichen“, „ordentlichen“ und „schönen“ Darstellung, ohne den alle noch so wertvolle Erkenntnis letztlich unvermittelbar und folgenlos bliebe. Und wiederum macht er klar, dass ein wahrer „Scribent […] für die Welt“ nur durch wiederholte, langjährige, intensive Übung entsteht:
Man muß die Sprache gebraucht, geübt, man muß darinnen gedacht und geschrieben haben, wenn man sie bis zur Deutlichkeit, Schönheit, bis zum Nachdrucke in der Gewalt haben will.
Mehr Lesen, mehr Schreiben, mehr Zeit zum Reifen der Gedanken und zum Ausformen der Ausdruckskraft – das alles könne doch angesichts der akademischen und gesellschaftlichen Realität nur ein „schöner Traum“ sein, so nimmt Gellert selbst in einem Anfall von Realismus die mögliche Kritik vorweg; zum Einen sei all das von höchstens akademischen Nutzen, zum Anderen habe kein Mensch Zeit für all diese doch nur rein propädeutischen Dinge. Das erste Argument beantwortet Gellert mit dem aus der Antrittsrede bereits bekannten Preis des Nutzens der Gelehrsamkeit fürs „gemeine Leben“, der aber auch hier etwas realitätsnäher und pragmatischer gerät. Zum zweiten stellt er eine Reihe unliebsamer Forderungen auf, die sich wie eine Art modernes PISA-Programm lesen. Zuerst müssten nämlich die Schulen verbessert werden, damit die Studenten eine bessere Grundlage in den für das Studium notwendigen Kulturtechniken hätten. Zum Zweiten erwartet er von den Studenten selbst mehr „Neigung für die Wissenschaften“ und mehr „Fleiß“. Zum Dritten plädiert er dafür (und das will gerade heute wohlerwogen sein), das Studium eher zu verlängern als zu verkürzen, und die Zeit vor allem effektiver zu nutzen. Zum Vierten müsse man „das Vorurtheil ableg[en], daß die Zeit zum Lesen und Studieren nur in die Grenzen der Jahre des Jünglings eingeschlossen sey“ ; modern formuliert: Lernen sei ein offener und lebenslanger Prozess. Schließlich sei die Zeit, die man in die propädeutischen schönen Wissenschaften investiere, auch für die höheren gut angewandt, da man bereits, ebenfalls modern gesagt, das Lernen bereits gelernt habe. Gellert schließt seine Ausführungen deshalb mit einem modifizierten Appell an die Studenten und – bezeichnenderweise – nicht mehr mit einem Dank an die Obrigkeit, sondern mit einem Hinweis auf die religiöse Verpflichtung auch des Wissenschaftlers:
möchte ich Sie doch in Ihrem rühmlichen Eifer, in der gründlichen Erlernung der Sprachen, der Geschichte, der Philosophie, der Beredsamkeit und Poesie, zum Besten der höhern Wissenschaften, durch diese Rede bestärkt haben! [...] Von wem haben wir unseren Geist, der die Wissenschaften faßt? Sollten wir sie nicht zur Ehre des Vaters der Geister und der Menschen erlernen und anwenden?
Wissenschaft als bedrohte Lebensform – zur Zusammenfassung
Vergleicht man die beiden akademischen Reden, so ist trotz der wahrscheinlich nur geringen zeitlichen Differenz in der Entstehung eine Entwicklung erkennbar: Die Emphase in der Antrittsrede ist kritischen Untertönen in der Abschlussvorlesung gewichen; die empfindsam-rhetorische Vehemenz der Darstellung ist vom genus grande zum genus mediocre abgeschwächt; der inhaltliche Schwerpunkt hat sich vom recht allgemeinen Bild des idealen Gelehrten zu einem recht präzisen Bild des idealen Studenten verlagert; und die schönen Wissenschaften bleiben zwar immer noch empfindsam grundiert und auf lebensweltliche Anwendung verpflichtet, werden aber jetzt stärker in einen religiösen (und damit absolut verpflichtenden) Begründungszusammenhang gestellt sowie funktional auf eine Propädeutik zurückgefahren. Das spiegelt zum einen bekannte biographische Veränderungen in Gellerts Lebenshaltung, zum anderen aber auch die zeitgeschichtliche Abschwächung allzu empfindsamer Elemente zugunsten eines differenzierteren Menschenbildes, das die menschlichen Schwächen stärker in Rechnung stellt.
Darüber hinaus jedoch erbringt Gellert in beiden Reden vielfache Transferleistungen, die gegen die altbekannten Vorwürfe mangelnder Originalität, dünner philosophischer Substanz und popularistischen Philistertums in Stellung gebracht werden könnten: Er vermittelt auf vielfache Weise zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, zwischen Gelehrsamkeit und Leben, zwischen Vernunft und Gefühl ebenso wie zwischen Erkenntnis und Moral. Das Medium, in dem sich all diese Gegensätze begegnen, ist der Interdiskurs der Empfindsamkeit, die gleichzeitig als moralphilosophisches und anthropologisches Konzept (bezüglich des Geschmacksbegriffs und der Theorie des moral sense), als Lebenshaltung (bezüglich der verschiedenen Rollenmodelle) und als Darstellungsnorm (bezüglich der Rhetorik als Emotionalisierungstechnik) verstanden werden kann. Auf einer theoretisch-formalen Ebene könnte man das Konzept der empfindsam getönten schönen Wissenschaften sogar als fortschrittlich bezeichnen, wenn man es nur ein wenig modernistisch reformuliert: Gellert entwirft ein holistisches Wissenschaftsmodell unter selbstverständlicher Einbeziehung ethischer Aspekte; er zeigt die vielfältige Anschließbarkeit eines solchen Modells an gesellschaftliche wie individuelle Probleme; er demonstriert den allgemeinen Bildungswert speziell der schönen Wissenschaften; er macht das lebenslange Lernen zu einer Aufgabe für jeden Menschen; er betont die Wichtigkeit der Beherrschung zentraler Kulturtechniken; und er ruft auf zu effizientem Zeitmanagement. Dass es demgegenüber eher als konservativ oder schon damals als anachronistisch wahrgenommen wurde, liegt vor allem in seinen inhaltlichen Komponenten begründet: der absoluten Bindung an die Religiosität des Menschen, der unterwürfigen Haltung gegenüber der Obrigkeit, der Verbindung mit einem aus der Mode kommenden Geschmacksbegriff, dem simplifizierend wirkenden Menschenbild, dem engen Lektürekanon, der einseitigen Verherrlichung der Antike. Allerdings hängen Vor- und Nachteile aufs engste zusammen: Holistisch wird das Modell erst um den Preis eines einheitlichen, weil religiös fundierten Menschen- und Weltbildes; anschließbar an die gesellschaftliche Praxis wird es durch die Berufung auf festgelegte Rollenmuster; bildungstheoretisch ambitioniert durch die Konzentration auf die Antike als ideale Modellwirklichkeit und die Definition von Bildung als langjährigen, diszipliniert durchgeführten und effizient organisierten Selbstformungsprozess.
Vielleicht ist es gerade dieser letzte Punkt, der angesichts eines rapiden Verfalls von traditionellen Bildungswerten und Kulturtechniken heute am meisten Anregungspotential bietet. „Empfindsame Wissenschaft“ gibt es, das zeigt auch Gellerts eigener von der Antritts- bis zur Abschlussrede zurückgelegter Weg, nicht einfach durch lebhaftes Fühlen oder schönes Schreiben allein; sie ist eine Haltung, ein aufgrund besonderer Anlagen erworbener Habitus, letztlich eine Lebensform, in der es keine Trennung zwischen Wissenschaft und Leben mehr gibt, sondern nur noch eine fortschreitende gegenseitige Durchdringung von Denken, Fühlen, Handeln und, nicht zuletzt, Darstellen.
Wenn der Leser, welcher den Schriftsteller kennt, ihn selbst handeln gesehn, ihn reden gehört hat, wenn ein solcher Leser überhaupt die Schriften des Mannes besser versteht; wenn er sich viele Stellen durch die Geberde desselben, durch seine Mienen, durch sein ganzes Betragen besser zu erklären weiß, oder sie rührender und eindringender findet: so muß es bey dieser Moral vorzüglich statt finden.
So leitet Christian Garve seine im Todesjahr Gellerts erschienene Würdigung Vermischte Anmerkungen über Gellerts Moral, dessen Schriften überhaupt, und Charakter ein. Was er hier an seinem langjährigen Freund und Mentor hervorhebt, ist zunächst eine alte hermeneutische Binsenweisheit: Wer einen Autor persönlich kennt, kann sein Werk besser verstehen, sei es nun sein literarisches (als „Schriftsteller“) oder sein philosophisches (seine „Moral-philosophie“). Es ist aber eine Binsenweisheit, die in der Moderne reichlich aus der Mode gekommen ist. In der Literaturwissenschaft ist sie verpönt als schlichter und schlechter ‚Biographismus‘, als reduktionistische Verkürzung der komplexen ästhetischen Zusammenhänge des autonomen literarischen Kunstwerks auf banale lebensgeschichtliche Daten. Und beinahe noch problematischer erscheint sie in der Philosophie, wo der Gedanke, dass ein Moralphilosoph gefälligst für die Richtigkeit seiner ethischen Überzeugungen mit seinem ganzen Leben (und also auch: seinem Sterben!) einstehen sollte, schon seit Sokrates deutlich an Attraktivität verloren hat. Garve aber verbindet nicht nur Werk und Person, Leben, Denken und Schreiben Gellerts auf Engste; er leitet gerade aus dieser ‚Ganzheit‘ die Besonderheit des schon kurz nach seinem Tod so vielfach geschmähten Leipziger Professors ab. Ist diese Vorstellung wirklich rettungslos anachronistisch und mit der ‚Überwindung‘ der moraldidaktischen Ausrichtung von Literatur, die für die Aufklärung noch über weite Strecken selbstverständlich war, endgültig ausgestorben? Und hängt sie unter Umständen mit der Empfindsamkeit zusammen, wenn man sie als literaturgeschichtliche Epoche ebenso wie als gesamteuropäische Geisteshaltung und als Variante sozialen Verhaltens versteht?
Im Folgenden soll sehr überblicksartig skizziert werden, wie in Gellerts Person und Werk empfindsame Tendenzen biographisch, philosophisch und poetologisch zusammenhängen, und warum sie das auf notwendige Weise tun (I). Ausgehend von Garves Porträt arbeite ich einige Merkmale und Begriffe heraus, die mir besonders geeignet scheinen, den ‚ganzen Gellert‘ zu charakterisieren. Am Leitfaden dieser Merkmale beleuchte ich dann zunächst Gellerts Lebenspraxis (II), seine Denkhaltung in seiner Moralphilosophie (III) und die Formprinzipien, die vor allem seine Brieftheorie prägen (IV). Abschließend versuche ich zusammenzufassen, was den ‚ganzen Gellert‘ ausmacht, inwiefern er exemplarisch für die deutsche Frühaufklärung ist, und werfe dann einen abschließenden vergleichenden Blick auf Jean-Jacques Rousseau (V).
Für Christian Garve liegt die Besonderheit von Gellerts Persönlichkeit bemerkenswerterweise in der Abwesenheit individueller Eigenheiten: Gellert exzelliert nicht in „einer einzigen Fähigkeit, sondern durch die Vereinigung und die mittlere Proportion“ aller geistigen Fähigkeiten. Das erkläre auch seinen Erfolg bei sehr verschiedenen Lesergruppen, da in ihm selbst die unterschiedlichsten Anlagen in untereinander ausgewogenen Verhältnissen vorliegen und sich sozusagen jeder das aussuchen kann, was ihn persönlich anspricht. Gellert verfügt, in einer kompakten Formel, über einen „von Natur gleichsam gemäßigten Geist“. Er entspricht damit dem rationalistischen Begriff eines schönen Ganzen, das als „gute Bildung aller Theile“ und „Uebereinstimmung derselben“ definiert ist. Das Ergebnis ist ein harmonischer Gesamteindruck der Persönlichkeit, der eben seiner Ganzheit wegen schwer analytisch zu beschreiben ist. Garve bedient sich dafür eines für die gesamte Aufklärung und für Gellert selbst besonders zentralen Begriffs, nämlich dem des Geschmacks:
Uns dünkt, wenn man das Ding, was man Geschmack nennt, irgend wo zu suchen hat, so ist es eben nicht an den äußersten Gränzen des Genies, sondern in diesem Mittelpunkte, wo die verschiednen Fähigkeiten, die in den Umkreiß des menschlichen Geistes gehören, gleichsam zusammenstoßen, und sich in gleichen Proportionen vereinigen.
Gellert ist also sozusagen ein Inbegriff des Geschmacks; er ist, sofern man Garves Argumentation folgt, das Genie des Durchschnitts.
Gellerts ausgeglichene, gleichsam in sich selbst schon ästhetische Persönlichkeitsstruktur (eine Vorwegnahme dessen, was wenig später ‚schöne Seele‘ heißen wird) ist gleichzeitig nach Garve die biographische Voraussetzung für seine starke Wirkung auf alle Arten von Lesern, unabhängig von deren sozialem Rang oder Bildungsstand. Die enorme Popularität werde zudem durch den starken Praxisbezug seiner Moralphilosophie und ihre allgemeinverständliche Präsentation erreicht: Gellert richte sich insgesamt mehr an das „Herz“ als an den „Kopf“ des Lesers/Hörers; er sei mehr an konkreter Besserung denn als Unterrichtung interessiert. Auch deshalb müsse er aber selbst das beste Beispiel für seine Lehren sein: Gellert sei ein Mann, „der die Tugend kennt, weil er sie ausübt“ – also nicht nur durch die Lektüre philosophischer Grundlagenschriften, sondern durch tägliche Praxis.
Die Schlüsselkompetenz für tugendhaftes Handeln ist dabei Garve zufolge die Beherrschung der Leidenschaften und zwar nicht nur, weil sie eine permanente Bedrohung für die Vernunft darstellen. Vielmehr setzt gerade die empfindsame Berufung auf das ‚Herz‘ des Lesers/Hörers ein Gefahrenpotential frei. Wer, wie Gellert, professionell mit Emotionalisierungstechniken arbeitet, um das Befolgen moralischer Grundsätze mit einem lustvollen Belohnungserlebnis zu verbinden, spielt genau mit dem Feuer, das er einzudämmen verspricht: Denn aus sozialen, gemäßigten, vernunftkompatiblen Affekten können im Handumdrehen unbeherrschbare Leidenschaften werden, wenn das rechte Maß nicht eingehalten wird. In diesem Prozess, so Garve nun weiter unter Berufung auf Gellert, spielt die Einbildungskraft eine zentrale Rolle: Sie verstärkt unsere Leidenschaften schon allein dadurch, dass sie die Empfindungen aus ihrem Lebenskontext isoliert und dadurch zwingend idealisiert und übersteigert. Dagegen hilft nur eines:
man muß seinen Verstand und seine Einbildungskraft mit so viel wichtigen und einnehmenden Begriffen und Bildern anzufüllen suchen, als man kann. Man muß denken lernen.
Unersetzlich für die Beherrschung der Leidenschaften ist also die Habitualisierung eines vernunft- und tugendgemäßen Verhaltens durch kontinuierliche Selbstbeobachtung und durch anhaltende Übung in einer vorbildlichen moralischen Praxis; nicht nur die Leidenschaften müssen gezügelt, auch die Einbildungskraft muss in diesem Prozess domestiziert werden. Nur so kann die Tugend als lebenslange Praxis, die sich in ihrer Ausführung selbst belohnt und dadurch als genauso befriedigend erlebt werden kann wie sinnliche oder materielle Vergnügungen, eine Art natürlicher Verhaltensreflex werden. Tugend ist lernbar, das ist Gellerts Botschaft nach Garve; aber es ist keine leichte Übung, und sie muss lebenslang trainiert werden.
War Gellert nun tatsächlich in diesem Sinne ein vorbildlich tugendhafter Mensch, ist er den von Garve (und ihm selbst) vertretenen Ansprüchen an die Übereinstimmung von Lebenspraxis und philosophischer Denkhaltung gerecht geworden? Seit auch seine verstreuten autobiographischen Zeugnisse publiziert vorliegen – und das wäre ihm selbst wahrscheinlich unendlich peinlich gewesen –, kann man diese Frage mit ziemlicher Sicherheit negativ beantworten: Zumindest derjenige Gellert, der nach 1751 als öffentlicher Professor der Moralphilosophie lehrte, sich von der Poesie abwandte und stattdessen auf religiöse Dichtungen konzentrierte und der in dieser Zeit auch begann, sein Leben in Tagebüchern zu protokollieren, war ganz und gar nicht von seiner eigenen Moralität überzeugt. 1754 bilanziert er in einem Bekenntnistext mit dem Titel Feyerliche Erneuerung meines Bundes mit Gott dem Allmächtigen:
Da ich dieses niederschrieb, waren es zwey, bis drittehalb Jahre, daß mich Gott mit Schwermuth u. Traurigkeit des Geistes heimgesucht. Kaltsinnigkeit, Unempfindlichkeit gegen das Gute, gegen die Religion u. den Glauben an Jesum waren meine Plagen. Unvermögen zum Gebete, Gott zu denken, und s. Allmacht, Güte, Allwissenheit; fürchterliche, entsetzliche Gedanken, deren ich mich nicht erwehren konnte, waren mein Jammer.
In anderen Niederschriften zeichnet er „Sündenregister“ auf, in denen er seine religiösen Verfehlungen kategorisiert, beispielsweise nach „grobe Sünden“, „Unterlassungssünden“ oder Sünden in verschiedenen Alters- und Lebensumständen. Ja, er stellt sogar eine grotesk anmutende (und noch dazu rechnerisch falsche) fiktive Sündenberechnung auf: Wenn man 20 Jahre lang jede Woche eine Sünde begeht, ergeben sich 1040 Sünden; wenn man an jedem Tag einmal sündigt, sind wir schon bei 7980; wenn man gar an jedem Tag 24 Sünden begehen würde, und das 24 Jahre lang, ergäben sich 16.224. Gellert leidet nicht nur unter den bekannten körperlichen Beschwerden, darunter auch wiederholten sexuellen Anfechtungen, sondern unter wiederkehrenden und lang anhaltenden Phasen von Angst, Antriebs- und Empfindungslosigkeit. Wir würden heute, so vorsichtig man mit solchen posthumen Diagnosen auch sein muss, wahrscheinlich von einer ausgeprägten depressiven Neigung mit einer schweren psychosomatischen Symptomatik sprechen. Gellert jedoch interpretiert all das als persönliche Verfehlung; mangelnde Empfindung ist nicht nur die Ursünde des Empfindsamen schlechthin, sondern gleichzeitig göttliche Strafe und Beweis menschlicher Unzulänglichkeit: „O Herr Jesu, ich bin todt in Sünden u. Ubertretungen“. Sein persönliches Empfindsamkeitserleben ist insofern ganz konkret anzusiedeln zwischen zwei medizinischen Extremen: den unbeherrschbaren Versuchungen der Sexualität als ausschweifender Leidenschaftlichkeit schlechthin auf der einen und den dunklen Stunden der Depression als gotteslästerlicher Empfindungslosigkeit auf der anderen Seite.
Das jedoch ist erst der späte Gellert; und an dieser Verfinsterung scheinen eine seit früher Jugend prägende strenge Religionsauffassung und das pietistische Gebot zur permanenten Selbstbeobachtung nicht ganz unschuldig zu sein. Man möchte lieber glauben, dass der junge Gellert, so lange er noch Lustspiele, Fabeln und einen ziemlich bemerkenswerten Roman schrieb, auch ein weniger düsteres Selbstbild hatte. Zumindest jedoch gab er sich lebenslang die größte Mühe, seine empfindsamen Lebenslehren vor allem an die noch bildsame Jugend weiterzugeben – womöglich mit der Intention, ihnen das eigene Schicksal zu ersparen. Der pädagogische Impetus prägt überdeutlich beispielsweise seine akademische Antrittsrede mit dem hochprogrammatischen Titel Von dem Einflusse der schönen Wissenschaften auf das Herz und die Sitten, in der er das Bild eines Gelehrten weitab von trockenen Kompendien und philosophischen Systemen entwirft. Der ideale Gelehrte nach Gellert hat natürlich eine solide klassische Bildung erworben, vor allem im Blick auf die Werke der Alten. Aber er hat auch „Genie“, nämlich „eine gewisse natürliche Größe und Lebhaftigkeit der Seele […], die den Menschen zu allen großen Unternehmungen begeistern muß“. Dieses Genie ist jedoch nicht das wenig später zu Berühmtheit gelangte, quasi fertig vom Himmel gefallene ‚Original-Genie‘; es muss vielmehr erst ausgebildet und danach permanent geübt werden, und das wiederum nicht nur theoretisch, sondern durchaus praktisch. Dabei sind in diesem Prozess, wie in Garves Gellert-Porträt, die Gedanken selbst, ihre Ausdrucksweise und die durch sie ausgelösten Empfindungen untrennbar miteinander verbunden:
Wird man wahr, genau, schön und mannichfaltig denken, wird man sich richtig und lebhaft ausdrücken, wird man lehren, gefallen und das Herz des Menschen rühren können.
Deshalb, so Gellert wiederum in Parallele zu Garve, muss der akademische Lehrer als Genie auch zwingend über Geschmack verfügen. Diesen bildet er nur dadurch aus, dass er kein „Fremdling auf dem Schauplatze der Welt“ bleibt und sich in seine Akademie verkriecht, sondern indem er den Umgang mit allen Arten von Menschen sucht. Der Geschmack ist dabei zunächst ganz konventionell eine Fähigkeit zum ästhetischen Urteil, nämlich
ein zarte, geschwinde und treue Empfindung alles dessen, was in den Werken des Geistes so wohl in einzelnen Gedanken und Ausdrücken, als überhaupt in dem ganzen Baue des Werkes richtig, schön, edel, harmonisch; und auf der andern Seite alles dessen, was fehlerhaft, was matt, was kindisch, was abentheuerlich und mißhellig ist.
Interessanterweise beruht er jedoch primär auf einer Empfindung, nicht etwa einem rationalen Urteil. Und er hat Auswirkungen auf die gesamte Lebensführung; das demonstriert Gellert bezeichnenderweise anhand eines Gedankenexperiments in der Tradition der Charakteristik. Die Hörer werden aufgefordert, sich einen Mann vorzustellen, der die schönen Wissenschaften studiert hat und die Werke der Alten und der Neuen regelmäßig liest. Er gewinnt dabei durch das Mitempfinden der dort dargestellten Beispiele von tugendhaftem Handeln selbst eine tugendhafte Haltung in allen gesellschaftlichen Rollen und Funktionen. Diese wirkt von nun an als eine „geheime Stimme“ in allen Situationen seines Lebens – also nicht etwa als inhaltlicher Maßstab für moralische Beurteilungen, denn für diese sind weiterhin die „Natur, oder vielmehr die Religion“ zuständig. Der geschulte Geschmack sorgt vielmehr dafür, dass alle Tugenden „brauchbarer“ werden:
Nein, ihr Geist wird uns als ein treuer Gefährte in alle Verrichtungen des Lebens, in die Geschäfte des Hauses, in die Angelegenheiten des Staats, in die Unternehmungen des Krieges folgen.
Die konkrete Entwicklung einer solchen Erkenntnis, Tugend und Geschmack verbindenden Lebenshaltung hat Gellert auch in vielen Details in einem fiktiven Lehrbrief dargetan, den Lehren eines Vaters für seinen Sohn, den er auf die Akademie schickt – ein seit der Antike verbreitetes Genre der Umgangs- und Verhaltensliteratur.
Gellerts Maximen mögen heute genauso altbacken wirken wie seine ganze Person und sein Literaturkonzept, haben aber gleichwohl bei unvoreingenommener Betrachtung viel Bedenkenswertes und können leicht modern reformuliert werden. So entwirft er ein grundlegendes Konzept von Zeitmanagement, in dem nicht nur das Studium, sondern auch die Erholung einen Platz findet; er weist auf die Wichtigkeit geregelter Tagesabläufe für ernsthafte, längerfristige Studien hin. Und er konzentriert sich vor allem auf Anweisungen dazu, wie und was man am besten liest; er empfiehlt dazu bewährte, aber heute weitgehend in Vergessenheit geratene hermeneutische Grundprinzipien wie die Mehrfachlektüre (vor allem der Klassiker) oder das Anfertigen von Exzerpten und Lesetagebüchern, das gleichzeitig die eigene sprachliche Ausdrucksfähigkeit trainiert: „Man muß die Sprache gebraucht, geübt, man muß viel darinnen gedacht und geschrieben haben, wenn man sie bis zur Deutlichkeit, Schönheit bis zum Nachdrucke in der Gewalt haben will“. Das intensive Lesen und auch das regelmäßige Schreiben, sei es von akademischen Texten wie von Briefen, erweisen sich damit als Schlüsseltätigkeiten für die Geschmacksbildung, die neben die reine Geistesausbildung treten, aber wiederum intensiver, regelmäßiger Übung bedürfen.
Theoretisch begründet hat Gellert diese Zusammenhänge in seinen Moralischen Vorlesungen, deren Zulauf in Leipzig legendär war. Das Programm ist kompakt in der ‚Vorerinnerung‘ zusammengefasst:
Ich will es also versuchen, ob ich Ihnen die vornehmsten Theile der Sittenlehre auf eine lebhaftere Art, nicht bloß durch Beweise der Vernunft, sondern zugleich durch die Aussprüche des Herzens und die Stimmen der innerlichen Empfindung und des Gewissens, durch Beyspiele und Gemälde, vortragen und erläutern kann.
Man muss hier genau lesen. Es geht Gellert weder um die Entwicklung eines eigenen, gar originellen gedanklichen Systems von Grundsätzen – hier beruft er sich auf die anerkannten philosophischen Autoritäten seiner Zeit – noch um reine Vermittlung abstrakter Wissensinhalte. Wichtig ist vielmehr auch hier die untrennbare Einheit von Gedanken, „Beweisen der Vernunft“ (dem Inhalt der „Sittenlehre“), Ausdrucksform (anschauliche, lebhafte Darstellung durch „Beispiele und Gemälde“) und emotionaler und emotionalisierender Wirkung („Aussprüche des Herzens“, „innerliche Empfindung“, „Gewissen“). Denn die Moral, so wie Gellert sie lehrt, stimmt nicht nur nach dem rationalistischen Modell mit den Wahrheiten von Vernunft und Religion überein; sie hat vielmehr eine eigene Stimme im „geheimen Gefühl des Herzens, oder den Trieb des Gewissens“. Wie jedoch wird sichergestellt, dass diese innere Stimme wirklich immer im Einklang mit den Gesetzen von Vernunft und Religion urteilt und dass wir auch auf diese innere Stimme hören und ihr gemäß handeln?
Erneut stehen damit die Empfindungen an der Schlüsselstelle der Theorie. Gellert macht mehrfach deutlich, dass der Mensch Affekte braucht: Sie sind ihm von Gott als „Triebfedern unsers Glücks“ verliehen, ermöglichen also erst unsere Glückseligkeit sowohl als moralische als auch als physische Wesen. Sie haben jedoch gleichzeitig ein Potential zum Guten als auch zum Schlechten; tatsächlich nämlich hängt Gellert durchaus weiterhin einer Variante der Erbsünde an:
Aber daß unsre natürliche Tugend sehr unvollkommen bleibt, daß wir oft tausend Bemühungen, uns zu bessern, fruchtlos anwenden, daß wir eine Neigung zum Bösen, die sowohl durch die Geburt, als durch die Erziehung und durch Beyspiele erzeugt ist, in uns tragen, daß sie der beste Menschen nie ganz bekämpfen kann, daß wir eine große Trägheit und oft ein Unvermögen zum Guten fühlen, dieses lehret uns die Erfahrung.
Diese „Neigung zum Bösen“ im Menschen kann nur durch entschiedenes Moraltraining überwunden werden. Von frühester Jugend an müssen die Leidenschaften zwar nicht unterdrückt, aber durch gute Beispiele und ständige Arbeit an sich selbst vernunftkonform gemacht werden, muss die Moralität solange trainiert werden, bis das tugendhafte Verhalten schließlich zum unreflektierten Habitus wird, und zwar in jeder Situation, sei es
als Kind, als Vater, als Bruder, als Gatte, als Freund, als Lehrer, als Regent, als Unterthan, als Bürger des Vaterlandes, und als Bürger in der Stille und in dem Geräusche, in den Stunden der Arbeit und der Erholung, im Glücke oder im Unglücke, in gesunden und kranken Tagen, nahe am Tode und fern vom Grabe, in allen Verhältnissen des Lebens der Welt und der Ewigkeit.
Diese Habitualisierung wird im Wesentlichen durch den Geschmack bewirkt, den Gellert hier nun explizit auch als spezifisch moralisches Vermögen einführt: Es gibt von Natur aus einen „moralischen Geschmack“ im Herzen eines jeden, der zwar durch „Sinnlichkeit, Sorglosigkeit oder vorsetzliche Unterdrückung“ korrumpiert, aber ebenso durch gute Vorbilder und Beispiele kultiviert werden kann. Ist er jedoch einmal im Gemüt etabliert, verstärkt das moralische Handeln sich selbst in einem prinzipiell unabschließbaren Steigerungsprozess mit eingebauter Rückkopplung: „Es wird uns leichter gut zu seyn, weil wirs schon oft gewesen sind“.
Gellert argumentiert an dieser Schlüsselstelle offensichtlich mit einer Begriffsvariante des moral sense, der aus den englischen Schriften Francis Hutchesons und dessen Schülers David Fordyce stammt, von denen er selbst in seinen Moralischen Vorlesungen zunächst ausführt:
Ihr Eigenthümliches besteht vornehmlich darinnen, daß sie nicht sowohl die Pflicht und das Herz der Menschen aus Grundsätzen, als vielmehr seine Pflicht und Tugend aus den Grundlinien des Herzens, aus seinen moralischen Empfindungen zum Guten und Bösen, zu erklären, und, gleich den Naturforschern, aus Beobachtungen und Erfahrungen das sittliche System aufzurichten suchen.
Er grenzt sich aber auch explizit von ihnen ab: „Aber beyde, insonderheit der erste, bauen in ihrer Sittenlehre wohl zu sehr auf den moralischen Geschmack (sens morale) den Shaftesbury zuerst durch seine Schriften bey den Engländern in Aufnahme gebracht hat“. Für Gellert erfüllt der moralische Geschmack hingegen zwar eine wichtige Rolle für das Moraltraining, ebenso wie die geschulte Vernunft; unentbehrlich sind jedoch nur das absolute Vertrauen in Gott und der Glaube an seine geoffenbarten Gesetze. Ohne Religion ist die Tugend nicht zu befestigen, davon ist Gellert unerschütterlich überzeugt, und das unterscheidet ihn sowohl vom späteren Deismus oder von naturreligiösen Auffassungen der Aufklärung als auch von den moral-sense-Philosophen im engeren Sinne:
Allein, meine Zuhörer, verlassen Sie sich bey Ihrer Tugend auch auf die beste Moral der Vernunft nicht. Sie ist gut, aber nicht zureichend, das verdorbene Herz zu ändern und umzubilden. Dieses thut allein die göttliche Kraft der Religion. […] Nein, das Auge der Vernunft, welches das Licht der Religion nicht vertragen kann, ist gewiß ein blödes Auge.
Hier sind wir an der Grenze des empfindsamen Programms der wechselseitigen Geistes-, Gefühls- und Geschmacksschulung angelangt, die durch die Religion markiert wird. Die bleibende Fixierung auf eine wenig lebens- und sinnenfreundliche Religiosität mag Gellert später selbst zum Verhängnis geworden sein. Gleichwohl zeigen die Moralischen Vorlesungen demgegenüber sein unermüdliches Bestreben, die Tugend wenigstens auch lebensweltlich und empfindsam zu verankern. Dazu trägt vor allem derjenigen Theoriebestandteil bei, den er der französischen moralistischen Tradition entnimmt, nämlich die durchgehende Demonstration moralischer Lehren durch Charakterbilder. Gellert ‚beweist‘ seine Lehrsätze nicht durch Argumente oder Deduktionen; er zeigt sie sozusagen bei der Arbeit im Leben, in bestimmten Situationen, bei unterschiedlichen Persönlichkeiten. Die ultimative Bewährungssituation ist dabei, nicht zufällig, das Sterben des jeweiligen Charakters. Erst angesichts der letzten menschlichen Erfahrung erweist sich die Werthaltigkeit der moralischen Maximen; nur wer gut sterben kann, hat gut gelebt:
Der letzte Auftritt des Lebens, da wir alle die andern Güter verlassen müssen, erklärt die Güter des Herzens für die würdigsten. Sie versüßen das Schrecken des Todes, und machen den Augenblick, in dem auch Helden zittern, für uns zum trostvollen und ruhigen.
Die Bedeutung dieser ultimativen Bewährungssituation ließe sich, wie viele weitere Aspekte von Gellerts Moralphilosophie, gut an seinem einzigen Roman demonstrieren, dem Leben der schwedischen Gräfin von G***, wo reichlich gestorben wird, mal mehr, mal weniger vorbildlich. Hier soll jedoch seine Brieftheorie in seiner Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmack in Briefen (1751) im Vordergrund stehen, in der der untrennbare Zusammenhang von Persönlichkeit, Denkstil und Ausdrucksform, die der empfindsame Gellert repräsentiert, noch stärker ist. Das hängt zum ersten natürlich mit dem Brief selbst zusammen, der keine rein literarische Form ist, sondern primär ein lebensweltliches Kommunikationsmedium; Gellert weist explizit darauf hin, dass „die meisten Briefe“ „Verzeichnisse von besondern Angelegenheiten des gemeinen Lebens“ seien und aus einer konkreten Gelegenheit heraus entstünden. Zum zweiten ist auch das Formideal des Briefes nach einem lebensweltlichen Muster ausgerichtet: Er ist Gellert zufolge eine „freye Nachahmung des guten Gesprächs“ , was ihn zu einem interessanten Mittel literarischer Gestaltung macht, das auch Gellert selbst in seinen fiktionalen Texten gern benutzt. Sein Stilideal ist die natürliche, ungekünstelte Sprache jenseits der Normen standardisierter Briefsteller; gleichwohl muss sie sich aber in den Grenzen des guten Geschmacks und der Moralität halten, ist also nicht einfach unachtsame Umgangssprache oder sterile Kanzleisprache.
Wie die Fähigkeit zur Tugend ist auch die Anlage zum guten Briefschreiber prinzipiell jedem Menschen gegeben, da sie auf seiner natürlichen Empfindungs- und Mitteilungsfähigkeit beruht. Wie die Moralität muss sie aber zwingend trainiert und habitualisiert werden, und zwar ebenso wie diese am besten anhand von guten Vorbildern und Beispielen; deshalb sind Gellerts ‚Briefsteller‘ zugleich Mustersammlungen. Und wie die Tugend ist die Fähigkeit gute Briefe zu schreiben schließlich abhängig von den geistigen Fähigkeiten des Briefschreibers; Gellert stellt apodiktisch fest:
Wer gut schreiben will, der muß gut von einer Sache denken können. Wer seine Gedanken gut ausdrücken will, muß die Sprache in der Gewalt haben. Das Denken lehren uns alle Briefsteller nicht.
Für den Stil am wichtigsten ist aber die Emotionalität; sie stellt nämlich vor allem sicher, dass das Ideal der natürlichen Ausdrucksweise auch wirklich erreicht wird. Das ist ganz analog gedacht zur Grundierung der Moral im Herzen, dem ‚moralischen Geschmack‘ als Verbindung des Guten und Schönen im menschlichen Handeln. Briefe, die aus einer solchen unmittelbaren Empfindung heraus geschrieben werden, weisen nach Gellert eine besonders ‚natürliche‘ Ordnung auf – eben weil es diejenige der realen Emotionen selbst ist. Nur dann, wenn die Übergänge im Brieftext wirklich diejenigen der unmittelbar empfindenden Seele sind, wenn sich zudem die von der starken Empfindung erzeugte Aufmerksamkeit auf die kleinsten Nebenumstände in der Wirklichkeit auch Eingang in den Brief findet – nur dann entsteht Natürlichkeit in ihrer reinsten Form: „Der Hauptbegriff von dem Natürlichen ist, daß sich die Vorstellungen genau zur Sache, und die Worte genau zu den Vorstellungen schicken müssen“; das aber ist eben nur garantiert im zeitlichen und emotionalen Zusammenhang von Erleben und Schreiben, wo sich die Wörter sozusagen automatisch zu den Sachen gesellen.
Dazu kommt schließlich als letzter Faktor auch hier die Geschmacksbildung durch gute Beispiele und Lektüre hinzu. Weder schlecht erzogene noch moralisch zweifelhafte oder geschmacklose Menschen können gute Briefschreiber sein:
Wer keine gute Auferziehung gehabt, wer seinen Verstand noch gar nicht durch den Umgang mit geschickten und vernünftigen Leuten, oder durch das Lesen guter Bücher geübt, und in Ordnung gebracht, oder wer ihn durch einen bösen Geschmack gar schon verderbt hat, der wird freylich nach dieser Regel immer noch elende Briefe schreiben.
Gellert galt natürlich als anerkannt guter Briefschreiber; seine Korrespondenzbeziehungen, gerade seine späten, müssen letztlich auch den Mangel persönlich befriedigender Beziehungen, vor allem in Bezug auf das weibliche Geschlecht, kompensieren. Es gehört zur Tragik von Gellerts Person und Leben, dass der Autor des ersten deutschen empfindsamen Romans und der Apologet der moralisch gefestigten ehelichen ‚Zärtlichkeit‘ nicht verheiratet war. Gellert war im ‚wahren Leben‘ leider über weite Strecken nicht der vernünftige und doch empfindsame, der gesellige und gesellschaftlich integrierte Mann, wie er ihn beispielsweise in der Figur des bürgerlichen R*** in seinem Roman entwirft. Er war bekanntermaßen hypochondrisch, insgeheim sogar depressiv und wenig sozial gestimmt; schlimmer noch, er litt zunehmend unter dem Vergleich mit der Legende, die sich bald um ihn gebildet hatte. Schon 1751 schrieb er in einem Brief:
Ein gewisser Begriff, eine vortheilhafte Meynung, die meine Schriften von mir erweckt, geht voran. Man hofft den scherzhaften, den muntern Mann zu sehn, den man in dieser oder jener Stelle angetroffen hat; man glaubt etwas zu sehn, das man sich selbst entworfen hat, und man sieht das Gegentheil, man sieht eine ernsthaft finstre Stirn, man hört einen Mann, der wenig redt […]. Dieses bemerke ich, ich fühle es, u. sehe, daß ich meinem Namen selber im Wege bin.
Auch seine drastische Lebenswende in den folgenden Jahren, die Abwendung von der freien literarischen Schöpfung zugunsten der philosophischen Lehrtätigkeit und der religiösen Lehrdichtung, muss vor diesem Hintergrund gesehen werden: Die Religion bleibt sein Rettungsanker gegenüber der Eigendynamik der Empfindsamkeitsbewegung, die er mit ausgelöst hatte. Seine literarischen Texte hatten sich gegenüber ihrem Autor verselbständigt; und das gleiche gilt für die von ihm in so sorgsam gehüteten Grenzen aufgewertete Emotionalität des Menschen.
Ebenso wenig wie Gellert seine eigenen Leidenschaften allein mit Geschmacksbildung und Emotionsdisziplin in den Griff bekam, gelang das den Lesern seiner Texte, zumal nicht nur die Zahl der Veröffentlichungen, speziell im Bereich der Romanliteratur, sondern auch diejenige der Leser rapide anstieg. Die Religion allein erwies sich angesichts der Verführungen durch die qualitativ ganz neuen Reize der Romanliteratur als zu schwaches Gegengift gegen die Empfindsamkeit. Dass diese dann relativ schnell zu einer viel kritisierten Modeerscheinung wurde, kann umgekehrt genauso aus Gellerts Schicksal erklärt werden: Sobald den äußeren Ausdrucksformen der ‚Zärtlichkeit‘ eben kein innerer Gehalt mehr entsprach, die Tränen zu beliebigen Anlässen strömten und die Gefühle stärker äußerlich vorgezeigt als wirklich innerlich empfunden wurden, war die Grundlage von Gellerts ganzheitlicher Empfindsamkeits-Variante zerstört. Wer nicht tatsächlich über den von ihm propagierten ‚moralischen Geschmack‘, die natürliche Übereinstimmung des Guten und Schönen in allen Lebenslagen, verfügte, wer das Wechselverhältnis seiner moralischen und ästhetischen Gefühle nicht gleichermaßen langjährig trainiert, diszipliniert und habitualisiert hatte, musste zum ‚Empfindler‘ werden.
Empfindsamkeit ohne Moral jedoch (und, in der stärkeren Variante: ohne Religion) ist für Gellert nicht nur undenkbar, sondern gefährlich, ja sogar entschieden zu bekämpfen. Fatalerweise wirkt die negative Dynamik der falschen, empfindelnden Lektüre nämlich genauso ganzheitlich wie die positive der richtigen, geschmackvoll empfindsamen Lektüre: Sie verdirbt nicht nur den Geschmack, sondern auch die Moral und mit beidem zusammen schließlich die gesamte Lebenshaltung. Insofern ist es nur logisch, dass sich in späteren Vorlesungsnachschriften der kategorische Rat des früheren Romanautors findet:
Wenn man also jemanden einen Rath geben soll, ob, wie viel, und was für Romanen er lesen könne, so ist es der: Er lese so wenig Romanen als nur möglich ist, so steht er nicht in der Gefahr verderbt zu werden. Allein, zu wißen, welche Metaphysisch, d.i. nach der Regel gut sind, und welche die Moralische Güte, nämlich die Unschuld der Sitten haben: das kan nützlich seyn.
Diese Gefahren der Empfindsamkeit möge zum Abschluss ein vergleichender Ausblick nach Frankreich demonstrieren. In den 50er Jahren, als sich Gellert in Leipzig der Religion und der Philosophie zuwendet und die Literatur hinter sich lässt, beginnt Jean-Jacques Rousseau seine philosophischen und literarischen Schriften zu publizieren, die in mehrerlei Hinsicht den Höhepunkt der Empfindsamkeit in Frankreich markieren. Belegt ist nur Gellerts Lektüre von Rousseaus Erziehungsroman Emile, ou De l‘Education, der 1762 erschien, und auch dort nur diejenige des Vorworts. Gellert ist empört von dem Werk, ja, er verbietet seiner Korrespondenzpartnerin Caroline Lucius die Lektüre geradezu. Dafür führt er mehrere Gründe an, von denen der wichtigste seine Ablehnung von Rousseaus Bekenntnis zur Naturreligion im Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars ist: Dessen Weisheit vertrage sich „im Ganzen“ leider nicht mit der Religion. Daneben jedoch lehnt Gellert, konsequent nach dem ganzheitlichen Muster, auch Rousseaus Stil ab: „Ich liebe das Natürliche und einfältig Schöne und Wahre, und Rousseau liebt das Sonderbare, das Paradoxe, und höchstens das schimmernde Wahre“. Kurz gesagt: Rousseau gibt kein gutes Beispiel, weder stilistisch noch moralisch; er macht sich selbst zum Außenseiter anstatt, wie Gellert, zur vorbildlichen moralischen und stilistischen Autorität.
Allerdings nimmt Rousseau häufig für sich genau das in Anspruch, was auch Gellert besonders auszeichnet: die absolute Übereinstimmung von Person und Werk, und zwar nicht nur in philosophischer Hinsicht – Rousseaus Leben ist für ihn selbst der wichtigste Beweis für die Richtigkeit seiner Überzeugungen –, sondern ebenso in stilistischer. In den Zusätzen zu seinen Confessions schreibt er:
Ich werde mich also mit dem Stil ganz nach den Dingen richten. Ich werde nicht danach streben, ihn einheitlich zu machen, sondern immer den haben, der mir eben zufällt, und ihn ungescheut nach meiner Stimmung wechseln, ich werde jede Sache so sagen, wie ich sie empfinde, wie ich sie sehe, ohne Nachforschung, ohne Scham, ohne mich an dem Stilgemisch zu stören. […] Mein ungleichmäßiger und natürlicher Stil, bald geschwind und bald diffus, bald vernünftig und bald verrückt, bald gewichtig und bald heiter, wird selbst ein Teil meiner Geschichte sein.
Gegen ein solches Stilideal hätte Gellert zumindest theoretisch wenig einwenden können. Und Rousseaus Konzept des Geschmacks ist ebenfalls nicht sehr weit von dem Gellertschen entfernt. Auch für Rousseau ist der Geschmack eine natürliche, angeborene Fähigkeit; sie muss jedoch erst durch Ausbildung ausgeprägt werden, wie er im Emile ausführt:
Der Geschmack ist allen Menschen natürlich, aber nicht alle besitzen ihn im gleichen Maß, er entwickelt sich nicht bei jedem in gleichem Grad und ist bei allen aus den verschiedensten Gründen der Veränderung unterworfen. Das Maß an Geschmack, das man besitzen kann, hängt von der Empfindungsfähigkeit ab, die man mitbekommen hat; seine Kultur und seine Form hängen von den Kreisen ab, in denen man gelebt hat.
Die „Empfänglichkeit“ (sensibilité) als Voraussetzung für den Geschmack führt natürlich wieder auf die Empfindsamkeit, die bei Rousseau aber im Kontext seiner eigenen Philosophie sehr viel stärker auch physiologisch begründet wird. Zudem betont Rousseau mehr als Gellert die sozialen Faktoren der Geschmacksbildung sowie den Einfluss der unterschiedlichsten äußeren Einflussfaktoren: Der Geschmack wird nicht nur im Umgang mit möglichst unterschiedlichen gesellschaftlichen Kreisen geschult, wobei dem Umgang mit dem jeweils anderen Geschlecht eine besondere Bedeutung zukommt; er ändert sich auch in jeder Person nach Alter, Geschlecht und Charakter sowie in Abhängigkeit von Klima, Regierungsformen und gesellschaftlichen Sitten. Insofern ist der Geschmack für Rousseau primär nicht von allgemeingültigen Gesetzen der Moral oder gar der Religion abhängig, und auch nicht so sehr vom Individuum, sondern vielmehr von dessen jeweiligen sozialen Kontext:
Je weiter man die Definitionen des Geschmacks herholt, um so mehr verirrt man sich: der Geschmack ist nur die Fähigkeit zu beurteilen, was den meisten Menschen gefällt oder mißfällt.
Gleichwohl hat der Geschmack, und das wird für seine erzieherische Funktionalisierung im Emile explizit betont, auch bei Rousseau moralische Komponenten. So wird er im Rahmen der zivilisatorischen Bewegung vom Naturzustand hin zum Kulturzustand durch den zunehmenden Luxus immer stärker korrumpiert: Das absolute Maß aller Schönheit ist auch für Rousseau die Natur, und alles, was sich von dieser entfernt oder sie gar verleugnet – wie der Überfluss der Luxusgesellschaft oder eine ästhetische Avantgarde, die gerade das Nicht-Naturgemäße, Seltene und Ungewöhnliche betonen, muss naturgemäß nicht nur moralisch problematischer, sondern auch hässlicher werden:
Die Menschen schaffen in ihren Werken nur Schönes in der Nachahmung. Alle wahren Vorbilder des Geschmacks liegen in der Natur. Je weiter wir uns vom Meister entfernen, um so verzerrter werden unsre Bilder.
Im Ergebnis schließlich ist Rousseau mit Gellert in zwei Punkten einig: Zum einen bietet nur der tatsächlich durch persönliche Anschauung, Bildung und Reflexion erworbene Geschmack eine wirkliche Leitlinie sowohl im moralischen als auch im ästhetischen Urteil: „Wenn ihr erreicht, daß jeder Mensch zu allen Zeiten seine eigene Meinung hat, so wird das, was an sich am angenehmsten ist, immer die Stimmenmehrheit haben“. Zum anderen ist es wichtig, ein authentisches emotionales Verhältnis zu den Gegenständen seiner Darstellung zu haben und nicht einfach einen modischen Habitus einzunehmen oder vermeinte Autoritäten nachzuahmen:
Das der Laune und der Autorität unterworfene eingebildete Schöne ist nichts anderes mehr als denen, was denen gefällt, die uns führen. Wir werden von den Künstlern, den Vornehmen, den Reichen geführt, und sie werden von ihren Vorteilen und ihrer Eitelkeit geführt.
Was Gellert jedoch letztlich an Rousseau nicht gutheißen konnte – und das ist wohl der tiefere Grund für seine Ablehnung des „Sonderbaren“ und „Paradoxen“ –, ist dessen Anerkennung seiner Gefühle auch dann, wenn sie nicht mehr religions- oder moralkonform, aber zweifellos authentisch sind. So hatte Rousseau beispielsweise in seiner grandiosen Selbstdarstellung in seinen später veröffentlichen Lettres à M. de Malesherbes beteuert
Ich kenne meine großen Fehler, und fühle alle meine Laster lebhafft. Mit allem diesen werde ich in voller Hoffnung auf dem höchsten Gott sterben, und fest überzeugt, daß von allen Menschen, die ich in meinem Leben gekannt habe, keiner beßer war, als ich.
Ein solcher Satz wäre für Gellert nicht nur paradox, sondern geradezu gotteslästerlich gewesen. Gleichwohl verbindet beide Autoren, die nicht umsonst beide an der Grenze und an den Übergängen von Philosophie und Literatur operierten, ein Bekenntnis zur notwendigen Authentizität von Gefühlen, die wirklich persönlich erlebt und nicht nur erfunden oder prätendiert werden müssen, um sie angemessen beschreiben zu können. Das macht die Empfindsamkeit bei ihren stärksten Vertretern zu einer besonderen, lebendigen Bewegung: Es geht nicht abstrakt nur um die philosophische Rehabilitierung der Sinnlichkeit oder die psychologische Aufwertung der Empfindungen oder die Erprobung literarischer Darstellungstechniken des Rührenden; es geht vielmehr um ein gleichzeitig unmittelbares und reflektiertes Verhältnis des Menschen zur eigenen Emotionalität und ihren Veränderungen über die Lebenszeit. Gellert ist in diesem Zusammenhang, zugespitzt gesagt, das Genie des Durchschnitts, Rousseau das Genie der Ausnahme. Beide aber verkörpern ein Modell des Autors, das tatsächlich ganzheitlich mit seinem Leben für sein Werk einstehen will – auch wenn dieser einigermaßen heroische Vorsatz aus sehr unterschiedlichen Gründen scheitert und scheitern muss und beide offensichtlich persönlich darunter gelitten haben, ja, ihr gesamtes Lebenswerk konsequenterweise dadurch in Zweifel gezogen sahen. Die beiden prominenten Vordenker der Empfindsamkeit in Deutschland und Frankreich waren gleichzeitig bereits ihre Märtyrer.
Dass Vertrauen eine Haltung sein könnte, die genuin anti-skeptisch ist, leuchtet intuitiv schnell ein: Wer jemanden vertraut, zweifelt nicht an ihm; Vertrauen als Haltung besteht ja gerade darin, sozusagen programmatisch von vornherein die Möglichkeit des Zweifels zugunsten einer positiven Haltung zu suspendieren: Ich bin mir ganz sicher, dass ich nicht enttäuscht werde; ich kann mich auf jemanden oder etwas völlig verlassen, ohne darüber nachdenken zu müssen. Wie ist der systematische Zusammenhang beider Begriffe jedoch genau zu denken, und wie entwickelt er sich historisch? Ich werde diese Fragen über einen etwas größeren Zeitraum verfolgen, nämlich von der Antike bis hin zur Gegenwart; die uns besonders interessierende „Revolutionsepoche“ zwischen 1770 und 1850 wird dabei jedoch eine zentrale Stellung einnehmen, da hier ein wichtiger Umschlag stattfindet: Vom Standardmuster „Gottvertrauen“ wird auf die weltlichen Muster „Selbstvertrauen“ und „Weltvertrauen“ umgestellt. Damit ist bereits eine These benannt, die ich in meinem ersten Teil mit Blick auf einzelne philosophische und literarische Texte ausführen will. Ich werde dabei zunächst noch einmal kurz auf das Verhältnis von Skepsis und Vertrauen in systematischer Hinsicht eingehen und mich dabei vor allem auf Lexikondefinitionen von Vertrauen sowie Niklas Luhmanns Theorie des Vertrauens beziehen. Im zweiten Teil will ich in einer kleinen „Systematik des Vertrauens“ verschiedene Varianten unterscheiden und an philosophischen Texten illustrieren. Der dritte Teil wird sich dann auf Texte der „Revolutionsepoche“ konzentrieren und hier wesentliche Veränderungen nachzeichnen, –bevor ich dann am Schluss noch einmal resümierend auf den Zusammenhang von Skepsis und Vertrauen eingehe.
Ein Großteil der antiskeptizistischen Kritik, vor allem in ihren eher polemischen Ausprägungen, lebt davon, dass die ursprünglichen Ideen der antiken Skepsis nur sehr oberflächlich rezipiert werden; man bastelte sich lieber ein möglichst abschreckendes Feindbild – der Skeptiker als erkenntnistheoretischer Terrorist, verstockter Ungläubiger oder generell unsicherer Zeitgenosse –, an dem man sich dann wesentlich eindrucksvoller abarbeiten kann. Um wenigstens zu versuchen, diesen Fehler zu vermeiden, werde ich für meine Zwecke vom Konzept der pyrrhonischen Skepsis ausgehen, wie sie im Grundriß von Sextus Empiricus überliefert ist. Davon unabhängig und grundlegend für jede Variante der Skepsis ist dabei wohl, dass die Möglichkeit der Erkenntnis von objektiven, allgemein und überzeitlich geltenden Wahrheiten bestritten wird. Sextus Empiricus begründet die Unmöglichkeit einer dogmatischen Wahrheitserkenntnis vor allem damit, dass die menschliche Wahrnehmung in den unterschiedlichsten Hinsichten subjektiv und relativ ist. Er bestreitet jedoch nicht, dass der Mensch, um zu überleben, gewisse Sachverhalte anerkennen muss: Er steht unter Erlebnis- und Handlungszwängen (körperliche Bedürfnisse, Sitten und Gesetze), die er undogmatisch befolgt. Das Ziel der Skepsis ist dabei nicht der zum Prinzip erhobene Zweifel um seiner selbst willen, sondern eine kontinuierliche Haltung der „Seelenruhe“: Indem der Skeptiker sich ständig die Gleichwertigkeit gegensätzlicher Urteile über eine Sache vor Augen führt und sein eigenes Urteil dabei zurückhält, erreicht er ein seelisches und emotionales Gleichgewicht gegenüber der Veränderlichkeit und Unzuverlässigkeit der ihn umgebenden der Welt; so formuliert Sextus Empiricus:
Das motivierende Prinzip der Skepsis nennen wir die Hoffnung auf Seelenruhe. Denn die geistig Höherstehenden unter den Menschen, beunruhigt über die Ungleichförmigkeit in den Dingen und ratlos, welchen von ihnen man eher zustimmen sollte, gelangten dahin zu untersuchen, was wahr ist in den Dingen und was falsch, um durch die Entscheidung dieser Frage Ruhe zu finden.
a) Lexikalische Definitionen: “So ist er auch verbunden, auf Gott sein Vertrauen zu setzen“
Ruhe zu finden im bewegten Leben – das ist offensichtlich etwas, das auch für das Vertrauen entscheidend ist. Etymologisch geht das deutsche Wort „Vertrauen“ auf das gotische Wortfeld um „treu“, zurück: Man verlässt sich auf etwas, das stark, zuverlässig und gleichbleibend ist. Der Archetyp des Vertrauens ist dementsprechend für lange Zeit das „Gottvertrauen“ als ultimative Waffe gegen jede Form von Skepsis (Glaube und Skepsis schließen sich beispielsweise für Huet nicht aus; auch Bayle und Shaftesbury meinen, Skepsis stärkt den Glauben, weil sie unsere Unwissenheit hervorhebt), wie es sich auch in althergebrachten Sprichwörtern und Kirchenlieder äußert: „wer gott vertraut, hal wol gebaut“ ; oder, vom Gegenteil her gedacht: „wer auf das zeitliche vertraut, der hat auf lauter sand gebaut“. Für Johann Heinrich Zedler ist Vertrauen in seinem Grossen Vollständigen Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste zunächst, abstrakt gesehen, „eine Freude über dem Guten, was man zu erhalten gedencket“. Es ist semantisch abzugrenzen von der Hofnung durch seinen „höhern Grad der Gewißheit“; und es ist zu unterscheiden in „gegründetes“ oder „ungegründetes“. Die allerhöchste mögliche Gewißheit aber gibt allein das „Vertrauen auf Gott“. Es beruht auf der Überzeugung der Vollkommenheit von Gottes Schöpfung in der „besten Welt“ und ist deshalb geradezu Pflicht für den „wahren Christen“ : „Derowegen, da er verbunden ist Gottes Ehre zu befördern; so ist er auch verbunden, auf Gott sein Vertrauen zu setzen“. Demgegenüber basiert das „ungegründete“ Vertrauen auf „leerer Einbildung“ , es kann aber trotzdem auch Wirkungen entfalten. So schildert Zedler bereits den heute wissenschaftlich belegten Placebo-Effekt: „Fällt das Vertrauen weg, so haben die Medicamente schon die halbe Krafft verloren“. Während das „Vertrauen in Gott“ bei Zedler noch einen eigenen, umfangreichen Artikel bekommt, werden die anderen Arten des Vertrauens im Hauptartikel kürzer abgehandelt und durchgängig negativ bewertet. Das „Vertrauen auf andere“ ist nur schwach gegründet; es sei, als ob man aus einem „löcherichten Brunnen Wasser [...] schöpffen“ wolle. Ebenso gefährlich ist das „Vertrauen auf sich selbst“: Es führt zur Selbstüberschätzung – „Wir verlassen uns zu viel auf unsere Kräffte“ – und zur Geringschätzung von Gottes „Gnaden-Mitteln“.
Interessanterweise tritt das bei Zedler noch absolut dominierende Gottvertrauen bereits in Johann Christoph Adelungs Grammatisch-Kritischem Wörterbuch der Hochdeutschen Sprache entschieden zurück. Vertrauen wird nun recht sachlich als „die Handlung des Vertrauens“ definiert sowie als „die feste Erwartung eines Guten von jemanden, und in engerm Verstande, seiner Sicherheit, seiner Wohlfahrt, wo dieses Wort einen höhern Grad der Erwartung bezeichnet, als Hofnung, aber einen schwächern, als Zuversicht“. Auch Adelung nimmt also eine Abstufung des Sicherheits- und Gewißheitsgrades im Wortfeld des Fürwahrhaltens vor; darüber hinaus betont er besonders den lebenspraktischen Wert: Vertrauen gibt Sicherheit im Blick auf das eigene Wohlergehen. Das Vertrauen zu Gott taucht hier nur noch als ein Beispiel unter mehreren auf: „So auch, Vertrauen zu Gott haben, die Erfüllung seiner Zusagen von ihm erwarten“.
Insgesamt ist Adelung damit nicht mehr weit entfernt von dem, was man heute in etwas modernisierter Sprache in Wikipedia unter dem Eintrag „Vertrauen“ findet:
Unter Vertrauten wird die Annahme verstanden, dass Entwicklungen einen positiven oder erwarteten Verlauf nehmen. Ein wichtiges Merkmal ist dabei das Vorhandensein einer Handlungsalternative. Dies unterscheidet Vertrauen von Hoffnung.
Immer noch findet sich also die Abgrenzung zur Hoffnung, aber mit einer wichtigen Variation: Die Existenz von Handlungsalternativen erst macht Vertrauen zu einem Akt freier Entscheidung; wer „alternativlos“ in Gott vertrauen muss, hat nach dieser Definition bestenfalls eine Hoffnung. Daran schließen sich in Wikipedia die Erläuterung verschiedener disziplinärer Kontexte an, in denen der Vertrauensbegriff eine Rolle spielt – von den Wirtschaftswissenschaften über die Soziologie und die Kommunikationswissenschaften bis hin zu Politik, Verwaltung, Recht sowie Entwicklungspsychologie, Wahrscheinlichkeitstheorie und Biochemie (nach neuesten Forschungsergebnissen ist das Hormon Oxytocin maßgeblich an der Vertrauensbildung beteiligt, dass zum Beispiel beim Stillen oder bei zärtlichen Berührungen freigesetzt wird). Vertrauen ist damit gegenwärtig ein disziplinär stark ausdifferenzierter Begriff. Seine Allgegenwärtigkeit in den verschiedensten Kontexten demonstriert seine zunehmende Bedeutung für das menschliche Selbstverständnis und den Zusammenhalt der Gesellschaft.
b) Systemtheorie des Vertrauens bei Luhmann: „Vertrauen ist letztlich immer unbegründbar“
Einen Versuch einer allgemeinen Theorie des Vertrauens hat Niklas Luhmann bereits 1968 vorgelegt; ihn will ich im folgenden noch in aller Kürze referieren, da Luhmann wichtige strukturelle Begriffsmerkmale herausarbeitet, die sich in einigen Punkten direkt auf die Skepsis beziehen lassen. Der Mensch sieht sich, so die bekannte Grundthese der Luhmannschen Systemtheorie, mit einer ihn gewaltig überfordernden Komplexität der Welt konfrontiert, die er um jeden Preis reduzieren muss, um überleben zu können. Bereits darin zeigt sich eine gewisse Verwandtschaft zum skeptischen Weltbild – die Welt wird als unübersichtlich und unzuverlässig und nicht etwa gesetzlich oder vernünftig geordnet angesehen – sowie zum skeptischen Letztziel: Der Mensch braucht ein inneres Gleichgewicht als Gegenpol zu dieser chaotischen Welt. In diesem Zusammenhang kommt dem Vertrauen nun in der Luhmannschen Systemtheorie eine zentrale Stellung zu: Es stellt einen Entscheidungsmechanismus bereit, der die Handlungsmöglichkeiten des Menschen erweitert – er kann bestimmten Personen und Institutionen vertrauen, muss sie also nicht ständig erneut überprüfen – und damit die Komplexität der Welt reduziert. Die Voraussetzung dafür ist bei Luhmann jedoch genau das, was die pyrrhonische Skepsis systematisch bezweifelt: „Vertrauen ist überhaupt nur möglich, wo Wahrheit möglich ist“. Nur wenn es einen gemeinsamen, intersubjektiv übertragbaren Sinn gibt, kann nach Luhmann eine rationale und gesellschaftlich vertretbare Entscheidung darüber herbeigeführt werden, was und wem man vertraut: „Mit wahrem Sinn konfrontiert, muß jedermann anerkennen und die Reduktionsleistung übernehmen. [...] Wahrheit ist das tragende Medium intersubjektiver Komplexitätsreduktion“.
Da hätten die Skeptiker wohl energisch widersprochen, auch wenn der Wahrheitsbegriff bei Luhmann schon sehr modernistisch relativiert daherkommt. Übereingestimmt hätten sie hingegen damit, dass Luhmann das Vertrauen auch als eine Art elementaren „Erlebniszwang“ begründet:
Vertrauen im weitesten Sinne eines Zutrauens zu eigenen Erwartungen ist ein elementarer Tatbestand des sozialen Lebens. [...] Ohne jegliches Vertrauen aber könnte er morgens sein Bett nicht verlassen. Unbestimmte Angst, lähmendes Entsetzen befielen ihn.
Dabei akzeptiert derjenige, der vertraut, sogar die skeptischen Grundprämissen aller Erkenntnis: Er tut das nämlich, obwohl es ihm unmöglich ist, alle Informationen heranzuziehen und zu bewerten, die er eigentlich für eine verlässliche Entscheidung brauchte. Vertrauen beruht damit, so Luhmann, notwendig auf „Täuschung“ :
Vertrauen ist letztlich immer unbegründbar; es kommt durch Überziehen der vorhandenen Informationen zustande; es ist, wie Simmel notierte, eine Mischung aus Wissen und Nichtwissen.
Gleichwohl wird Vertrauen nicht blind geschenkt. – obwohl es geschenkt werden muss und damit, so Luhmann, „eher dem Verhalten von Helden oder Heiligen“ gleicht. Es wird aufgrund von Erfahrungen der Vergangenheit gebildet, die zu einer „Vertrautheit“ mit der Welt geführt haben; und es investiert aufgrund dieser Vertrautheit nun in die Zukunft. Eine solche ursprüngliche „Vertrautheit“ mit der Welt funktioniert nach Luhmann nur in kleinen lokalen Zusammenhängen, nicht jedoch in der globalisierten Weltgesellschaft. Vertrauen wandelt sich deshalb historisch zum abstrakten „Systemvertrauen“ der Moderne – in Geld, in das Recht, in politische Ordnungen. Dieses Systemvertrauen muss zwar dann und wann überprüft werden – die „Hochbauten des Vertrauens müssen auf der Erde stehen“ formuliert Luhmann mit einer hübschen Metapher –, seine Mechanismen funktionieren aber, sind sie einmal erlernt, weitgehend selbstverständlich und immunisieren gegen mögliche Enttäuschungen. Insgesamt ist Vertrauen für Luhmann damit „nicht das einzige Fundament der Welt; aber eine sehr komplexe und doch strukturierte Weltvorstellung ist ohne eine ziemlich komplexe Gesellschaft und diese ohne Vertrauen nicht zu haben“.
Mit Luhmann sind wir nun schon weit über unseren Untersuchungszeitraum hinausgeschossen. Seine Theorie zeigt aber bereits grundlegende historische und systematische Veränderungen des Begriffs, seine Umweltabhängigkeit sozusagen, auf, die im Folgenden genauer untersucht werden sollen. Ich werde dazu einen kleinen Katalog verschiedener Vertrauenstypen vorstellen.
a) Gottvertrauen: „Ich werde das ewige Leben erlangen“
Das Gottvertrauen als zentrales Paradigma für Vertrauen schlechthin wurde schon mehrfach erwähnt. Sein systematischer Gegenbegriff ist nicht das Misstrauen, sondern der Unglauben; seine Maxime könnte lauten: „Gott wird mich unter allen Umständen schützen, ich werde das ewige Leben erlangen“; sie ist also im skeptischen Sinn streng dogmatisch. Die klassische Bibelstelle dazu ist der Psalm 118, ein bekanntes Lob- und Danklied; ich zitiere nur die zentralen Stellen:
5In der Angst rief ich den HERRN an, und der HERR erhörte mich und tröstete mich.
6Der HERR ist mit mir, darum fürchte ich mich nicht; was können mir Menschen tun?
7Der HERR ist mit mir, mir zu helfen; und ich will meine Lust sehen an meinen Feinden.
8Es ist gut, auf den HERRN zu vertrauen, und nicht sich verlassen auf Menschen.
9Es ist gut auf den HERRN vertrauen und nicht sich verlassen auf Fürsten.
Das einzig sichere Vertrauen auf Gott wird hier, genau wie bei Zedler, abgegrenzt gegen das unzuverlässige Vertrauen auf Menschen und Fürsten. Ganz im Vordergrund steht die Schutzfunktion in einer bedrohlichen Umgebung, nämlich für die Israeliten, die von ihren Feinden verfolgt werden.
Philosophische Varianten dieses absoluten Gottvertrauens finden sich bis weit ins 17. Jahrhundert hinein in der rationalistischen Philosophie, wo sozusagen die „beste aller möglichen Welten“ Gott substituiert; so z.B. bei René Descartes in den Principia Philosophiae:
76. Vor Allem aber haben wir unserem Gedächtniss als oberste Regel einzuprägen, dass das, was Gott uns offenbart hat, als das Gewisseste von Allem zu glauben ist. Wenn daher auch das Licht der Vernunft etwas Anderes noch so klar und überzeugend uns zuführt, so sollen wir doch nur der göttlichen Autorität, nicht unserem eigenen Urtheil vertrauen. Aber in Dingen, wo der göttliche Glaube uns nicht belehrt, ziemt es dem Philosophen nicht, etwas für wahr zu halten, was er nicht als wahr erkannt hat, und den Sinnen, d.h. den unbedachten Urtheilen seiner Kindheit, mehr zu trauen als der gereiften Vernunft.
Immerhin führt Descartes schon eine weitere Instanz ein, der in Dingen außerhalb des göttlichen Verantwortungsbereichs ein eingegrenztes Vertrauen zukommt: die „gereifte Vernunft“, nicht jedoch die kindischen Sinne, denen der rationalistische Philosoph ebenso wenig vertraut wie der relativistische Zweifler.
b) Vertrauen zwischen Kindern und Eltern: „Meine Mutter wird für mich sorgen“
Seine grundlegendste Form nimmt zwischenmenschliches Vertrauen wohl in der Eltern-Kind-Beziehung an; zum Gottvertrauen besteht dabei eine enge Verbindung über die Bestimmungen von Gott als Vater und der Menschen als Gotteskinder. In der Psychologie des 20. Jahrhunderts wurde für die Beziehung des Kindes vor allem zu seiner Mutter der Begriff des „Urvertrauens“ etabliert. Sein Gegenteil wären wohl am ehesten „Urängste“, seine Maxime ist: „Meine Eltern werden immer für mich sorgen“; auch in der Betonung der Schutzfunktion zeigt sich die besondere Nähe zum Gottvertrauen. Der Begriff des „Urvertrauens“ wurde durch den Entwicklungspsychologen Erik Erikson in seiner Schrift Kindheit und Gesellschaft (1950) eingeführt. Erikson legt dort ein Entwicklungsmodell der Kindheit in mehreren Stufen vor, bei der das Vertrauen der ersten, „oralen Phase“ im ersten Lebensjahr zugeordnet wird: Durch die zuverlässige Versorgung des Kindes mit Nahrung bildet sich im Säugling das „Erleben des Konstanten, Kontinuierlichen und Gleichartigen in der Erscheinung“. Das sich dadurch ausprägende Urvertrauen ist die wichtigste Voraussetzung für die Bildung einer stabilen Ich-Identität ; fehlt es, sind unter Umständen schwere psychische Krankheiten (vor allem Schizophrenie) die Spätfolge. In diesem Modell kommt dem Vertrauen damit eine zweite wichtige Funktion neben dem Schutz zu: Es ist unmittelbar identitätsrelevant. Gleichzeitig thematisiert Erikson selbst die enge Verbindung seines Konzepts zur Religion, nur sozusagen unter umgekehrten Vorzeichen: „Das aus der liebenden Fürsorge erwachsende Vertrauen ist tatsächlich der Prüfstein der Aktualität jeder Religion“ – das Gottvertrauen hat also sozusagen seine naturalistische Basis im menschlichen Urvertrauen.
c) Vertrauen zwischen Freunden (und Liebenden): „Mein Freund wird immer zu mir stehen“
Über den engeren Zusammenhang der Familie hinaus verweist Vertrauen als Basis von Freundschafts- und Liebesbeziehungen. Sein Gegenbegriff ist nun endlich die exakte semantische Opposition, das Misstrauen – den Freunden traut man, den Fremden oder Feinden nicht –, seine Maxime könnte lauten: „Mein Freund wird unter allen Umständen zu mir stehen und meine Interessen vertreten“. Es handelt sich damit, im Unterschied zum Gott- und Urvertrauen, um ein Verhältnis unter Gleichgestellten, nicht unter Abhängigen. Deshalb ist aber auch die Bindungskraft nicht so stark und die Schutzfunktion zurückgedrängt; zudem wird es auf eine andere Art und Weise hergestellt und begründet. Das schildert einer der Klassiker der Freundschaftstheorie, nämlich Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik. An der zitierten Stelle geht es um die höchste Form der Freundschaft, nämlich die zwischen verwandten Geistern von hoher moralischer Qualität:
so waltet denn zwischen solchen Menschen das Band der Zuneigung und Freundschaft am meisten und am innigsten. Natürlich finden sich solche Freundschaften selten, denn Menschen von dieser Art gibt es wenige. Es bedarf dafür ferner der Zeit und der Gewohnheit des Zusammenlebens; denn dem Sprichwort zufolge lernt man einander nicht eher kennen, als bis man das bekannte Maß Salz zusammen verzehrt hat. Man kann nicht früher Gefallen an einander finden oder befreundet sein, bevor jeder vom Werte des andern völlig überzeugt ist und sein volles Vertrauen erlangt hat. Diejenigen, die schnell ein freundschaftliches Verhältnis zueinander eingehen, möchten gern Freunde sein; sie sind es aber nicht, wenn sie nicht zugleich liebenswert sind und dies auch einer vom andern wissen. Denn der Wunsch, Freundschaft zu schließen, stellt sich schnell ein, die Freundschaft nicht.
Letzteres könnte man wohl vielen Nutzern sozialer Netzwerke ins Facebook schreiben. Unabhängig davon betont Aristoteles jedoch eine wichtige Eigenschaft des freundschaftlichen Vertrauens: Es benötigt Zeit und entsteht dadurch, dass man es im täglichen Zusammenleben tatsächlich praktiziert; nur so kann es ein „begründetes“, „volles Vertrauen“ werden, das freiwillig aufgrund von gegenseitiger Wertschätzung vergeben wird. (Die Verbindung zur Skepsis ist hier eher schwach ausgeprägt, obwohl die Frage interessant wäre, ob auch Skeptiker Freunde haben können).
d) Vertrauen in Institutionen und Verhältnisse: „Andere werden in meinem Interesse handeln“
Neben dem Vertrauen in Götter und Menschen gibt es ein sozusagen sachlich gegründetes Vertrauen in Institutionen und Verhältnisse: juristische Verträge, politische Ordnungen, medizinischen Sachverstand oder wissenschaftliches Expertenwissen. Hier wird das Vertrauen temporär und in begrenztem Umfang übertragen. Als Gegenbegriff ist wohl auch hier „Misstrauen“ ansehen, die Maxime lautet: „Ich kann bestimmte Aufgaben an andere abgeben, die in meinem Interesse handeln werden“. Wie das Vertrauen zum Freund geht auch dieses sachlich gegründete Vertrauen bis in die Antike zurück; einschlägige Ausführungen zum Zusammenhang von Vertrauen und Gerechtigkeit in der Politik finden sich z.B. bei Cicero:
Dass aber Vertrauen geschenkt wird, kann durch zwei Weisen bewirkt werden, wenn man glauben wird, dass wir Klugheit verbunden mit Gerechtigkeit erlangt haben. Denn wir schenken denjenigen Vertrauen, die, wie wir glauben, klüger sind als wir und die nach unserer Ansicht die Zukunft vorhersehen und, wenn es zu handeln gilt und man sich entscheiden muss, eine Sache durchführen sowie einen Plan nach Lage der Umstände fassen können; denn dieses halten Menschen für eine nützliche und wahre Klugheit. Gerechten Menschen aber, d.h. guten Männern, wird unter der Bedingung Vertrauen geschenkt, dass es bei ihnen keinen Verdacht auf Täuschung und Unrecht gibt.
Seine ausdifferenzierten Formen erreicht dieses Vertrauen in Institutionen allerdings erst in der Moderne, seinen allgemeinsten Ausdruck im schon erläuterten Luhmannschen „Systemvertrauen“. Gleichwohl ist es eine lebenspraktisch wichtige Variante des Vertrauens, die auch die Skeptiker mit ihrer Anerkennung der jeweils herrschenden Sitten und Gebräuchen akzeptiert hätten.
e) Selbstvertrauen: „I can do it!“
Ebenfalls bereits antike Wurzeln hat das Selbstvertrauen zu den eigenen Kräften und Fähigkeiten. Sein Gegenbegriff ist die Unsicherheit (soweit es eher moralische oder psychische Sachverhalte betrifft, die eigene Identität im engeren Sinn) bzw. der Zweifel (sofern es um die Möglichkeit von Erkenntnis geht); seine Maxime lautet: „I can do it!“ bzw. „Meine Sinne trügen nicht“ (oder allerhöchstens in vernünftig bestimmbaren Grenzen). Die ethische Variante findet sich ebenfalls schon bei Cicero, wo das Vertrauen die sittlich gefestigte Persönlichkeit auszeichnet:
Der erhabene und ausgezeichnete Mann von grosser Seele, der wahrhaft tapfer ist, wird alles Menschliche unter sich stellen; er, den wir suchen und verwirklichen wollen, wird auf sich selbst und auf sein vergangenes und künftiges Leben vertrauen; er wird über sich selbst richtig urtheilen und annehmen, dass einen Weisen kein Uebel treffen könne.
Die erkenntnistheoretische Variante ist in unserem Zusammenhang die interessantere, da sie direkt an den skeptischen Zweifel an der Erkennbarkeit der Wahrheit anschließt: Kann man den eigenen Sinnen trauen? Liefern sie zuverlässige Daten für die Erkenntnis? Seit Beginn der Neuzeit werden die Beschränkungen der sinnlichen Erkenntnis, sei es durch einen dogmatischen Glauben oder durch eine dogmatische Vernunftorientierung, in Zweifel gezogen. Mit diesem Thema setzen sich vor allem die Empiristen auseinander. Eine mögliche antiskeptizistische Strategie verfolgt John Locke in seinem Essay concerning human understanding (1690), indem er die Verbindlichkeit möglicher Wahrheiten graduell abstuft und dabei die Wahrscheinlichkeit anstelle von Wahrheit zum neuen Ziel erhebt (inwiefern dann antiskeptizistische Strategie?):
Unser Wissen ist, wie ich gezeigt, beschränkt, und nicht von jedem Dinge, dem man begegnet, kann man die gewisse Wahrheit gewinnen [...]. Indess nähern sich manche Fälle der Gewissheit so, dass man keinen Zweifel an ihnen hegt, vielmehr ihnen so sicher zustimmt und so entschlossen danach handelt, als wären sie untrüglich bewiesen, und unser Wissen vollständig und gewiss. Allein es giebt hier Abstufungen von dem Punkte der Gewissheit und des Bewiesenen bis hinab zur Unwahrscheinlichkeit und bis zu der Grenze der Unmöglichkeit; ebenso noch Abstufungen der Zustimmung von der vollen Ueberzeugung und dem Vertrauen bis hinab zur Vermuthung, dem Zweifel und dem Misstrauen.
Das Vertrauen steht hier in einer mittleren Position zwischen der völligen Gewißheit (Überzeugung) und dem Zweifel. Ähnlich argumentiert auch David Hume in seinem Enquiry concerning Human Understanding (1748), indem er fordert, die empirische Erkenntnis dadurch zu festigen und vertrauenswürdiger zu machen, indem man möglichst viele Einzelfälle unter ein gemeinsames Prinzip subsumiert:
Von ähnlichen Ursachen erwartet man ähnliche Wirkungen. Darauf laufen alle Erfahrungsbeweise hinaus. [...] Nur nach einer langen Reihe gleichförmiger Vorgänge irgend einer Art erreichen wir in Beziehung auf einen bestimmten Fall Gewissheit und Vertrauen.
Vertrauen in die eigene Erkenntnisfähigkeit und die eigenen Vermögen kann also, trotz aller Anerkennung der skeptischen Argumente dagegen, zumindest graduell und unter genau kontrollierten Bedingungen gerechtfertigt werden. Die Skepsis dient dabei (wie für die Aufklärung insgesamt) als kritische Propädeutik und Kontrollinstrument: ein „Zweifeln in mässiger Weise“ (Hume) macht die in langer, kontinuierlicher Erfahrung wahrscheinlich gemachten und immer wieder kritisch reflektierten Erkenntnisse sogar erst vertrauenswürdig. Skepsis und Vertrauen sind hier sozusagen komplementär und ergänzen sich gegenseitig.
f) Weltvertrauen und Lebensvertrauen: „Die Welt ist mir nicht feindlich gesinnt“
Damit komme ich zur letzten und umfassenden Variante von Vertrauen, dem im Titel bereits genannten „Weltvertrauen“ samt seinen engen Verwandten, dem „Lebensvertrauen“ oder dem „Seinsvertrauen“. Es kann vorläufig als säkularisierte Variante des Gottvertrauens bestimmt werden und umfasst dann ein umfassendes Vertrauen in eine übergeordnete weltliche Instanz, das das ganze Leben prägt und grundiert. Sein Gegenbegriff wäre, wie beim ähnlich global verankerten „Urvertrauen“, die „Welt“- oder „Lebensangst“; seine Maxime: „Die Welt ist mir nicht feindlich gesinnt; ich werde mit meinen Handlungen Erfolg haben“. Obwohl es offensichtlich solche Haltungen gibt, ist der Begriff selbst nur selten nachweisbar. Intuitiv neigt man dazu, ihn mit Goethe zu verbinden (dazu später), entschiedeneren philosophischen Ausdruck findet er jedoch erst in den lebensphilosophischen Strömungen der Zeit um 1900. Die Verbindung zu Goethe stellt beispielsweise Friedrich Nietzsche in seiner Götzen-Dämmerung (1889) her:
Goethe konzipierte einen starken, hochgebildeten, in allen Leiblichkeiten geschickten, sich selbst im Zaume habenden, vor sich selber ehrfürchtigen Menschen, der sich den ganzen Umfang und Reichtum der Natürlichkeit zu gönnen wagen darf, der stark genug zu dieser Freiheit ist; den Menschen der Toleranz, nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke, weil er das, woran die durchschnittliche Natur zugrunde gehn würde, noch zu seinem Vorteil zu brauchen weiß; den Menschen, für den es nichts Verbotenes mehr gibt, es sei denn die Schwäche, heiße sie nun Laster oder Tugend... Ein solcher frei-gewordner Geist steht mit einem freudigen und vertrauenden Fatalismus mitten im All, im Glauben, daß nur das Einzelne verwerflich ist, daß im Ganzen sich alles erlöst und bejaht – er verneint nicht mehr.
Das ist natürlich eine Goethe-Interpretation vor dem Hintergrund des Übermenschen Zarathustra, gleichwohl zeigt sie einige wichtige Merkmale eines verallgemeinerten „Weltvertrauens“ auf: Es ist nur auf dem Boden eines außergewöhnlich stark ausgeprägten Selbstvertrauens möglich, und zwar nicht nur in geistiger, sondern auch in leiblicher Hinsicht; es impliziert eine positive Haltung zur Natur in all ihren Widersprüchen; es hat darüber hinausgehende ganzheitliche Züge, die die Einzelperspektive im Blick auf das größere Ganze überschreiten kann; und es bewirkt einen gewissen Fatalismus, der bei Nietzsche aber positiv akzentuiert ist.
Eine etwas weniger übersteigerte Variante findet sich beispielsweise in der Existenzphilosophie von Otto Friedrich Bollnow, in der das Vertrauen eine zentrale Stellung einnimmt. Ausgehend von der „gefährlichen Bedrohung des gesamten geistigen Lebens“ durch den Nihilismus (der aktuellsten Skepsis-Variante um 1900) – durchaus auch im Blick auf Nietzsche – und der daraus resultierenden existentiellen Erfahrung von Angst und Verzweiflung, aber auch Langeweile und Ekel findet der moderne Mensch nach Bollnow Halt in Akten des Vertrauens, die ihm ein „neues Gebühr der Geborgenheit“ vermitteln können (Ich frage mich, ob diesem Vertrauen nicht im dialektischen Sinne Skepsis vorausgegangen sein muss...). Dabei entsteht ein allgemeines Seinsvertrauen, ein „jedes bestimmte einzelne Vertrauen erst ermöglichendes Vertrauen zur Welt und zum Leben überhaupt“. Dieses, und damit leitet Bollnow elegant zu meinem dritten Teil über, komme vor allem in der Dichtung zum Ausdruck.
III. Wie entwickelt sich Vertrauen um 1800? – Literarische Texte der „Revolutionsepoche“
a) Vom Gottvertrauen zum Selbstvertrauen in der Lyrik: „Der bessre Mensch tritt in die Welt“
Wie stark die Begriffstradition des „Gottvertrauens“ in der Literatur des 18. Jahrhunderts noch ist, mögen exemplarisch drei Gedichte zeigen, die das „Gottvertrauen“ direkt im Titel führen; sie stammen von drei recht unterschiedlichen Autoren, nämlich dem Rokokodichter Johann Peter Uz und den Sturm-und-Drang-Dichtern Christian Friedrich Daniel Schubart und Jakob Michael Reinhold Lenz.
Das Gedicht mit dem Titel Vertrauen auf Gott von Uz entstand 1768. In sieben vierzeiligen, liedartigen Strophen stellt sich das lyrische Ich programmatisch unter den Schutz Gottes: „Gott, unter deinem Schutz, was sollt in bösen Zeiten, / Was sollt ich fürchten in Gefahr? / Wer dir vertraut, hat dich zur Seiten: / Du hilfst ihm wunderbar“. Die beschworenen Gefahren erstrecken sich von Naturkatastrophen über Krankheit und Tod bis hin zur Verleumdung durch übelwollende Mitmenschen; als besonderes Muster an Gottvertrauen wird schließlich David aufgerufen, bezeichnenderweise in seiner Funktion als Psalmendichter: „So sang er glaubensvoll in seiner Harfe Saiten: / Jehovah, meine Zuversicht!“ Insgesamt bleibt das Gedicht damit im topologischen Rahmen christlicher Lieddichtung.
Ganz ähnlich formuliert Lenz in einem im gleichen Jahr entstandenen Gedicht Das Vertrauen auf Gott (einem christlichen Frühwerk, das noch keine Spuren seiner späteren Skandalwerke aufweist): „Ich weiß nichts von Angst und Sorgen, / Denn, erwach ich jeden Morgen, / Seh’ ich, daß mein Gott noch lebt, / der die ganze Welt belebt“. Gott figuriert als „Vater“, der ebenso vor „Stürmen, Unglücks-Wellen“ wie vor „Noth“ und „eitlen Sorgen“ schützt; anstelle von David wird nun Jesus Christus persönlich als Zeuge angerufen, der die endgültige Überwindung des Feindes aller Feinde, des Todes nämlich, bezeugt. Schließlich taucht eine von Zedler vertraute Formulierung auf: Wer nicht bedingungslos auf Gott vertraut, ist kein „Gotteskind, ein wahrer Christ“.
Schubarts Vertrauen auf Gottes Schutz schließlich entstand wohl während seiner Inhaftierung auf dem Hohenasperg zwischen 1777 und 1787; darauf verweisen etliche der Bilder im Gedicht („Wenn Stürm’ um meinen Kerker brüllen“ ). Gottes Schutz wird dementsprechend vor allem gegen Fürstenwillkür in Anspruch genommen: „Für meinen Fürsten will ich beten, / Doch mein Vertrauen, Gott! Ist dein“. Auch Schubart zeigt sich damit als „wahrer Christ“, der in einer sehr konkreten Bedrohungssituation darauf vertraut, dass Gott die Schlösser seines Kerkers aufsprengen wird.
Eine erste Erweiterung dieser topologischen christlichen Lyrik demonstriert ein Gedicht von Friedrich von Matthisson mit dem programmatischen Titel Selbstvertrauen aus der Sammlung In der Fremde (1790–1793):
Dann gilts, daß er mit Selbstvertraun sich rüste
Der Mann, wenn er allein im Kampfe steht,
Und, als ob unverwundbar er sich wüßte,
Dem Andrang der Gefahr entgegengeht;
Wenn gleich, wie Abschiedswink von ferner Küste,
Kaum sichtbar noch der Hoffnung Schleier weht.
Umringten, wie Gigantenschaaren,
In dichtgeschloßnem Phalanx, ihn
Des ganzen Tartarus Gefahren,
Er bliebe kalt, und fest und kühn:
Denn Selbstvertraun, dieß Götterkind, entschiede
Gleich dem Gorgonenhaupte der Aegide!
Hier spricht ein lyrisches Ich, das kein Gottvertrauen mehr braucht, sondern kämpferisch allein auf die eigenen Kräfte baut. Seine beste Waffe ist sein Selbstvertrauen selbst, auch das „ungegründete“, nur eingebildete „Placebo“-Selbstvertrauen: „und als ob unverwundbar er sich wüsste“. Das Selbstvertrauen ist insofern wahrlich ein „Götterkind“ – es bildet das funktionale Äquivalent zum Gottvertrauen und ist deshalb auch von besonders hohem ideellen Wert. Ähnlich heißt es wenig später bei Schiller in einem kleinen Gedicht mit dem Titel Licht und Wärme (1797): „Der bessre Mensch tritt in die Welt / Mit fröhlichem Vertrauen“. Dieses Vertrauen geht dem lyrischen Ich zwar im Verlauf des Gedichts gründlich verloren, gleichwohl ist es ihm anfangs als eine Art Urvertrauen von den Göttern mitgegeben und zeichnet ihn als „bessren Menschen“ vor anderen aus. Selbstvertrauen wird damit zur moralischen Selbstverpflichtung.
b) Formen des Vertrauens bei Goethe: „Kannst du zu der Welt Vertrauen tragen?“
Für Goethe ist das Vertrauen in vielerlei Hinsicht ein wichtiger Begriff – wobei ich zunächst zugeben muss, dass es das Kompositum „Weltvertrauen“, trotz seiner Vorliebe für solche Zusammensetzungen mit „Welt“, bei ihm nicht gibt (wie ich noch bei Abfassung des Exposes fest glaubte; das Goethe-Wörterbuch hat mich aber eines besseren belehrt…), gleichwohl aber Phänomene, die sich unter diesem Begriff aufs schönste subsumieren ließen. Vertrauen ist für Goethe zunächst eine lebenspraktische Notwendigkeit und eine lebensgeschichtliche Erfahrung. Das zeigt sich vor allem in seinen Briefen. Immer wieder verweist er beispielsweise in den Briefen an Charlotte von Stein darauf, dass er das gegenseitige Vertrauen zwischen ihnen aufs höchste schätzt (vgl. c. Vertrauen unter Freunden“): „Eine Liebe und Vertrauen ohne Gränzen ist mir zur Gewohnheit worden“ (Brief vom 30. Juni 1780) ; oder, wenig später: „Ich habe kein größeres Glück gekannt als das Vertrauen gegen dich, das von jeher unbegränzt war, sobald ich es nicht mehr ausüben kann, bin ich ein andrer Mensch und muß in der Folge mich noch mehr verändern“ (8. Juni 1789) . Desgleichen versichert er demjenigen, der Charlotte von Stein in der bevorzugten Stellung des Lebensfreundes ablöst, nämlich Friedrich Schiller: „Ich freue mich in der Hoffnung daß Einwirckung und Vertrauen sich zwischen uns immer vermehren werden“ (3. Januar 1795) . Wechselseitiges Vertrauen und gemeinsame Produktivität werden dabei unmittelbar lebenspraktisch zusammengedacht, ähnlich wie es Aristoteles gefordert hatte: „Ich möchte Ihnen manche Sachen mitteilen und vertrauen, damit eine gewisse Epoche meines Denkens und Dichtens schneller zur Reife kommen“ (3. Januar 1798). Schließlich beschwört Goethe Vertrauen als fortgesetztes, dauerhaftes Austauschverhältnis in schwer wiegenden Worten in einem großen Bekenntnis-Brief an Sulpiz Boisseree, einen Monat vor seinem Tod (Brief vom 25. Februar 1832):
Hiedurch bin ich für mich an die Gränze gelangt, dergestalt daß ich da anfange zu glauben wo andere verzweifeln, und zwar diejenigen, die von Erkennen zuviel verlangen und, wenn sie nur ein gewisses, dem Menschen Beschiedenes erreichen können, die größten Schätze der Menschheit für nichts achten. So wird man aus dem Ganzen in's Einzelne und aus dem Einzelnen in's Ganze getrieben, man mag wollen oder nicht.
Für freundliche Theilnahme dankbar,
Fortgesetzte Geduld wünschend,
Ferneres Vertrauen hoffend.
Der alliterierende Dreischritt ist als Programm zu lesen: Aus freundlicher Teilnahme am Wirken des Freundes entsteht, bei fortgesetzter Geduld über die Zeit, eine begründete Erwartung auch zukünftigen Vertrauens. An die Stelle der „Verzweiflung“ des Erkennenden (da war Goethe durchaus skeptisch gesinnt) ist die bescheidene Zuversicht des Glaubenden getreten, der die Grenzen seiner menschlichen Erkenntnis kennt und akzeptiert, jedoch darauf baut, dass seine individuellen Begrenzungen durch das vertrauensvolle Zusammenwirken im Ganzen komplettiert werden.
In Goethes literarischen Werken spielt das Vertrauen ebenso eine wichtige Rolle, auch wenn es häufig nur in Nebensätzen thematisiert wird. Die einem „Weltvertrauen“ am nächsten kommende Formel findet sich in einem kleinen, 1776 im Teutschen Merkur veröffentlichten Gedicht, dem Brief an Lottchen aus dem Zusammenhang des Werther; ich zitiere im Auszug:
Still und eng und ruhig auferzogen
Wirft man uns auf einmal in die Welt;
Uns umspülen hundert tausend Wogen,
Alles reizt uns, mancherley gefällt,
Mancherley verdrießt uns, und von Stund zu Stunden
Schwankt das leicht’, unruhige Gefühl.
Wir empfinden, und was wir empfunden
Spült hinweg das bunte Welt-Gewühl.
Wohl weiß ich es, da durchschleicht uns innen
Manche Hofnung, mancher Schmerz;
Lottchen, wer kennt unsre Sinnen?
Lottchen, wer kennt unser Herz?
Ach, es möchte gern gekannt seyn, überfließen
In das Mitempfinden einer Creatur,
Und, vertrauend, zweifach neu genießen
Alles Leid und Freude der Natur.
Und da sucht das Aug’ oft so vergebens
Rings umher, und findet alles zu.
So vertaumelt sich der schönste Theil des Lebens
Ohne Sturm und ohne Ruh;
Und, zu deinem ew’gen Unbehagen,
Stößt dich heute, was dich gestern zog.
Kannst du zu der Welt Vertrauen tragen,
Die so oft dich trog.
Das Gedicht schildert eine durchaus skeptisch getönte menschliche Grunderfahrung, nämlich die Wankelmütigkeit des Menschen auf der einen Seite – seiner Gefühle vor allem, aber auch seiner „Sinne“ – und die Wechselhaftigkeit der Welt auf der anderen – das „bunte Welt-Gewühl“. Die Situation schreit sozusagen nach einem zuverlässigen Mechanismus zur Reduktion von Komplexität. Dieser findet sich im Bedürfnis nach Gemeinschaft – dem vertrauensvollen „gekannt seyn“, dem „Mitempfinden einer Creatur“ –, das jedoch schwer zu finden ist. Das Gedicht gipfelt in der Frage: „Kannst du zu der Welt Vertrauen tragen“? Es ist die gleiche Frage, die Werther sich selbst im Roman stellt, als er in seinem Liebeskummer das Gottvertrauen verliert:
Mußtest du, der du den Menschen arm genug erschufst, ihm auch Brüder zugeben, die ihm das bißchen Armut, das bißchen Vertrauen noch raubten, das er auf dich hat, auf dich, du All liebender! Denn das Vertrauen zu einer heilenden Wurzel, zu den Tränen des Weinstockes, was ist es als Vertrauen zu dir, daß du in alles, was uns umgibt, Heil- und Linderungskraft gelegt hast, der wir so stündlich bedürfen?
Vertrauen ist insofern schon für den jungen Goethe eine anthropologische Notwendigkeit, die sowohl auf Gott als auch auf die Natur – ihre „heilenden Wurzeln“ – als auch auf die Geliebte projiziert werden kann. Besonders wichtig ist dabei das Trost- und Heilungspotential des Vertrauens, das gegenüber der traditionellen Schutzfunktion an Bedeutung gewinnt.
Metaphysischen Trost benötigt der junge Goethe also immer noch, auch wenn er sich später im Rückblick auf seine Jugend als „Weltkind“ versteht: „Prophete rechts, Prophete links, / Das Weltkind in der Mitten“ , heißt es in einer berühmten Stelle von Dichtung und Wahrheit unter Anspielung auf seine Stellung zwischen Lavater und Basedow, den beiden Propheten des späten 18. Jahrhunderts. Solche „Weltkinder“, die einerseits der irdischen Welt ein geradezu kindliches Vertrauen entgegenbringen und andererseits für das Himmlische nicht unempfänglich sind, sind viele seiner liebenswürdigsten Romanfiguren, allen voran Wilhelm Meister, der durch seine Romane und sein Leben mehr stolpert denn geht und trotzdem – meistens – sein Glück findet. Zweifellos spielen hier eine konstitutionelle Veranlagung zum positiven Denken und ein stabiles Urvertrauen eine große Rolle. G
leichwohl wird in den Romanen Vertrauen vor allem als soziales und kommunikatives Phänomen thematisiert. Nur einige Beispiele aus den Wanderjahren, die besonders reich an solchen ‚Urszenen‘ des Vertrauens sind. Gleich zu Beginn trifft Wilhelm in den Bergen auf die wunderliche Familiengruppe des St. Joseph, er reagiert jedoch nicht ablehnend, sondern fällt mit der Tür ins Haus: „Der Anblick eures kleinen Familienzuges erregt Vertrauen und Neigung und, daß ich's nur gleich gestehe, ebensowohl Neugierde und ein lebhaftes Verlangen, euch näher kennen zu lernen“. Wenig später kommt er ins Haus des Oheims mit seinen beiden Nichten, die ebenfalls sogleich zutraulich werden, trotz der rätselhaften Begleitumstände des Besuchs: „Nun suchten die Schwestern durch Aufrichtigkeit und Mitteilung das Vertrauen des schweigsamen Gastes, der ihnen gefiel, zu gewinnen“. Das gelingt auch aufs schönste, so dass es wenig später schon heißt: „Dergestalt unterhielten sich die Frauenzimmer mit dem neuen Freunde gar vielseitig, und bei immer wachsendem gegenseitigem Vertrauen sprachen sie über den zunächst erwarteten Vetter“. Vertrauen wird Wilhelm in der „Pädagogischen Provinz“ entgegen gebracht und prompt erwidert:
Doch wir finden keine Zeit, solchen Erinnerungen und Nachgefühlen unwillig uns hinzugeben, denn unser Freund sieht sich angenehm überrascht, da ihm abermals einer von den Dreien, und zwar ein besonders zusagender, vor die Augen tritt. Entgegenkommende Sanftmut, den reinsten Seelenfrieden verkündend, teilte sich höchst erquicklich mit. Vertrauend konnte der Wanderer sich nähern und fühlte sein Vertrauen erwidert.
Vertrauen schenkt ihm das „nußbraune Mädchen“ entgegen: „‚Sie sind denn nicht vom Kaufmannsstande?’ sagte sie, ‚ich weiß nicht, woher mir das Vertrauen kommt und wie ich mich unterfangen mag, das Ihrige zu verlangen; erdringen will ich's nicht, aber gönnen Sie mir's, wie es Ihnen ums Herz ist.’“
„Ich weiß nicht woher mir das Vertrauen kommt“ – das könnte als Motto über Goethes Romanszenen stehen. Vertrauen entsteht hier häufig spontan; es bezieht sich sogar auffällig häufig auf ganz Fremde. In seinem Fortgang gefördert wird es durch möglichst offene und vielfältige kommunikative Akte des wechselseitigen Austauschs, der „Mitteilung“, wie es im Text immer wieder wörtlich heißt. Figuren, die ein habituelles Misstrauen pflegen – wie der kauzige Montan – werden in die Einsamkeit der Berge verwiesen und auf monologisches Sprechen reduziert; sie haben im sozialen Raum des Romans nicht zu suchen. Dem eher pantheistischen getönten Vertrauen in den lyrischen Texten korrespondiert in den Erzähltexten also ein vor allem auf die Mitmenschen bezogenes Vertrauen; es muss notwendig wechselseitig sein und zeigt sich im Umgang, der erst aus dem anfangs erteilten Vertrauensvorschuss ein bleibendes gemeinsames Kapital macht. Dabei kann es bis zu einem allgemeinen Weltvertrauen ausgeweitet werden, wie es eine der Romanfiguren im Angesicht des Todes auf den Punkt bringt: „Auf ihres Vaters erkaltete Brust hatte die Schöne-Gute ihre Hand gelegt: ‚In die Nähe soll man nicht hoffen’, rief sie aus, ‚aber in die Ferne, das war sein letzter Segen. Vertrauen wir Gott, jeder sich selbst und dem andern, so wird sich's wohl fügen.’“ Die Parallelität dieses Dreischritts zu den anderen Dreischritten des Romans – beispielsweise den drei Ehrfurchten in der „Pädagogischen Provinz“ – ist wohl kaum zufällig: Auch Vertrauen kann sich auf das über uns (das Göttliche), das neben uns (die Mitmenschen) und das unter uns (die Erde, auf der wir alle stehen) beziehen. Dies alles fließt zu einem Ganzen zusammen – dem Weltvertrauen, das der alte Faust in der „Tragödie zweiten Teil“ zur maximalen Ausdehnung bringt und damit die Reichweite des alten Gottvertrauens wieder einholt:
Doch fassen Geister, würdig, tief zu schauen,
Zum Grenzenlosen grenzenlos Vertrauen.
c) Welt- und Naturvertrauen zu Beginn des 19. Jahrhunderts: „Und täglich lern ich mehr der Flut vertrauen“
Ein Gedicht des Orientalisten und Philologen Friedrich Rückert illustriert, dass Goethe tatsächlich von den folgenden Dichter-Generationen, die unter ihrem Epigonentum litten, als Personifikation des Weltvertrauens schlechthin angesehen wurde. Der Text findet sich in der Weisheit des Brahmanen, die sowohl von Rückerts Kenntnis des Orient als auch seiner Auseinandersetzung mit Goethes West-östlichen Divan zeugen:
Was einen Dichter macht? das hohe Selbstgefühl
Und fröhliche Vertrau'n im bunten Weltgewühl.
O Freund, mir aber kam allbeides fast abhanden,
Nicht durch Unbilden, die ich reichlich selbst bestanden;
Was einem widerfuhr, der größer ist als ich
Und ohne den ich selbst nicht wäre, kränket mich:
Daß Goethe werden darf mißhandelt ungerochen,
Das hat mein Selbstgefühl und Weltvertrau'n gebrochen.
Endlich fällt nun der Begriff: „Weltvertrauen“ wird hier zu einem unentbehrlichen Accessoire des idealen Dichters erklärt, der sich geschützt durch eben dieses Vertrauen ins „bunte Weltgewühl“ wagen darf. Das Weltvertrauen wird dabei vom „Selbstgefühl“ des Dichters flankiert – auch hier stehen also Vertrauen und Identität in einem engen Zusammenhang. Daneben zehrt Rückerts „Weltvertrauen“ auch von den pantheistischen Tendenzen des Hinduismus, die sich im Konzept des „brahman“ als kosmischer Urkraft äußern. Ein weiteres Gedicht aus der Weisheit des Brahmanen appelliert an den „ew’gen Lebenshauch“, dem nun das gleiche Vertrauen entgegengebracht wird wie einst dem christlichen Schöpfergott; ich zitiere nur die Schlusszeilen:
Mit Zittern sieht er dich als Herren, der ihn schuf,
Und mit Vertrauen hört er deinen Vaterruf.
Verstecktere Goethe-Reminiszenzen weist auch ein 1847 entstandenes Sonett von Gottfried Keller mit dem programmatischen Titel Das Leben ist doch schön! auf:
Wie schön, wie schön ist dieses kurze Leben,
Wenn es eröffnet alle seine Quellen!
Die Tage gleichen klaren Silberwellen,
Die sich mit Macht zu überholen streben.
Was gestern freudig mocht mein Herz erheben,
Das muß ich lächelnd heute rückwärts stellen;
Wenn die Erfahrungen, sich drängend, schwellen,
Erlebnisse wie Blumen sie umgeben!
So muß ich breiter stets den Strom erschauen,
Auch tiefer mählich seh den Grund ich winken,
Und täglich lern ich mehr der Flut vertrauen.
Nun goldene Geschirre, sie zu trinken,
Gebt, Götter! mir und Marmor, um zu bauen
Den festen Damm zur Rechten wie zur Linken!
Das Gedicht feiert nun explizit das diesseitige „Leben“, seine Fülle, seinen Erlebnisreichtum. Poetisch umgesetzt erscheint es im Bild des Wassers, das sich von den Quellen über die „klaren Silberwellen“ hin zum breiten „Strom“ und zur „Flut“ steigert. Diesem Element vertraut das lyrische Ich sich an, und zwar nicht spontan, sondern in einem zunehmenden Prozess des Vertrautwerdens mit dem Leben in all seinen Facetten – auch wenn es damit ein Risiko eingeht; die silbernen Wellen der Oberfläche verbergen nämlich einen gefährlich tiefen Grund, die Flut könnte den Dichter ja auch hinwegreißen. Dieser aber verlangt am Schluss, mit einer reichlichen Portion Selbstvertrauen, „goldene Geschirre“ als Trinkgefässe und „Marmor“ zum Bau eines Dammes von nicht näher spezifizierten „Göttern“ – Kostbarkeiten also, die der Kostbarkeit der Erfahrung selbst entsprechen und sie in eine gleichermaßen bleibende wie preziöse Form (wie das Sonett) bringen sollen. Der christliche Gott ist in diesen Strophen definitiv nicht mehr anwesend; er wird auch nicht mehr gebraucht.
Auch in Kellers Prosa-Werk nimmt das Vertrauen eine ähnliche Stellung ein wie in den Bildungsromanen Goethes. Der „grüne Heinrich“ geht ebenso vertrauensvoll aus seinem Mutterhaus in die Welt hinein wie sein Vorläufer Wilhelm Meister – auch wenn ihm das Glück dabei nicht ganz so hold ist. Eine kleine Episode soll demonstrieren, wie Heinrich Lee sein Vertrauen begründet. Bei seiner Wanderung stellt er plötzlich fest, dass er kein Geld mehr hat. Drei Tage lang leidet er Hunger, bevor er es, in Erinnerung an seine glaubensfeste und Gott allein vertrauende Mutter, mit einem Gebet versucht:
In diesem Augenblicke der Not aber sammelten sich meine paar Lebensgeister und hielten Ratsversammlung, gleich den Bürgern einer belagerten Stadt, deren Anführer darniederliegt. Sie beschlossen, zu einer außerordentlichen verjährten Maßregel zurückzukehren und sich unmittelbar an die göttliche Vorsehung zu wenden. Ich hörte aufmerksam zu und störte sie nicht, und so sah ich denn auf dem dämmernden Grunde meiner Seele etwas wie ein Gebet sich entwickeln, wovon ich nicht erkennen konnte, ob es ein Krebslein oder ein Fröschlein werden wollte. Mögen sie's in Gottes Namen probieren, dachte ich, es wird jedenfalls nicht schaden, etwas Böses ist es nie gewesen! Also ließ ich das zustande gekommene Seufzerwesen unbehindert gen Himmel fahren, ohne daß ich mich seiner Gestalt genauer zu erinnern vermöchte.
Kaum ist das „Seufzerwesen“ beendet, fällt Heinrichs Blick auf seine in der Sonne glitzernde Flöte, und er kommt auf die Idee, sie zu verkaufen – offensichtlich eine direkte göttliche Eingebung, zumal die Aktion von Erfolg gekrönt ist; Heinrich erhält eine geringe Summe bei einem Trödler und begibt sich sofort in ein Kaffeehaus. Dort liest er in der Zeitung von einem allgemein angebeteten wundersamen Marienbild, was ihn dazu bringt, über sein eigenes, gerade erlebtes „stilles Privatwunder“ des so prompt erhörten Gebets nachzudenken; er reflektiert:
Bist du denn besser als diese Bildanbeter? Da kann man wohl sagen, wenn der Teufel hungrig ist, so frißt er Fliegen, und der Heinrich Lee schnappt nach einem Wunder! Und doch zögerte ich, mich der wohltuenden Empfindung einer unmittelbaren Vorsorge und Erhörung, eines persönlichen Zusammenhanges mit der Weltsicherheit zu entledigen. Schließlich, um dieses Vorteils nicht verlustig zu gehen und doch das Vernunftgesetz zu retten, erklärte ich mir den Vorgang so, daß die anererbte Gewohnheit des Gebetes an die Stelle einer energischen Zusammenfassung der Gedankenkräfte getreten sei, durch die damit verbundene Herzenserleichterung jene Kräfte frei und sie fähig gemacht habe, das einfache Rettungsmittel, das bereitlag, zu erkennen oder ein solches zu suchen; daß aber eben dieser Prozeß göttlicher Natur sei und Gott in diesem Sinne ein für allemal die Appellation des Gebetes den Menschen delegiert habe, ohne im einzelnen Fall einzugreifen, auch ohne sich für den jedesmaligen unbedingten Erfolg zu verbürgen. Vielmehr habe er die Anordnung getroffen, daß, um den Mißbrauch seines Namens zu verhüten, Selbstvertrauen und Tatkraft, solange sie irgend ausreichen, Gebeteswert haben und vom Erfolge gesegnet sein sollen.
An dieser Stelle kann man sehen, wie das Gottvertrauen direkt in ein Weltvertrauen uminterpretiert wird, wenn auch mit einem ziemlich großen Augenzwinkern. Gott wird zunächst als Garant der „Weltsicherheit“ betrachtet (mit ziemlicher Sicherheit ein Neologismus im Bereich der Komposita auf Welt-); persönlich hat er sich allerdings aus dem Versicherungsgeschäft zurückgezogen und seine Aufgaben „delegiert“ – eine sehr elegante Säkularisierungsthese, zweifelsohne. Das Gebet kann dann zur „energischen Zusammenfassung der Gedankenkräfte“ umgedeutet werden, also einem rein innerpsychischen Prozess. Es befreit zum Selbstvertrauen und zur Tatkraft, deren Erfolg jedoch im Hintergrund von der „Weltsicherheit“ garantiert wird; Selbstvertrauen und Weltvertrauen stehen damit ebenso wie Gottvertrauen und Selbstverständnis als „wahrer Christ“ in einem engen Zusammenhang.
Zum Schluss will ich noch einmal versuchen, das im „historischen Teil“ Ausgearbeitete zusammenzufassen und auf das anfangs erläuterte Problem des systematischen Verhältnisses von Skepsis und Vertrauen zu beziehen. Relativ eindeutig erscheint mir, dass die Umstellung von Vertrauen von „Gottvertrauen“ auf „Selbst“- und „Weltvertrauen“ eine notwendige Konsequenz der umfassenden Säkularisierungs- und Emanzipationsbewegungen ist, die das 18. Jahrhundert auf allen Ebenen durchziehen. Der Mensch emanzipiert sich auch im Blick auf eine vertrauensvolle Lebenshaltung von Gott als „Vater“, der zwar umfassenden Schutz bot, aber nur um den Preis unbedingter Unterwerfung: Gottvertrauen ist Christenpflicht. Zu dieser Befreiung trägt in sozialer und politischer Hinsicht sicherlich bei, dass das ganz direkte anthropologische oder politische Schutzbedürfnis durch die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft auf der einen Seite und die Fortschritte von Wissenschaft und Medizin auf der anderen nicht mehr ganz so ausgeprägt ist: Der Mensch ist nicht mehr in der gleichen Weise existentiell bedroht wie zu Zeiten des Absolutismus oder der Pest. Kompensiert wird die „Versicherungslücke“, die das verabschiedete Gottvertrauen hinterlässt, zudem durch die Aufwertung sozialer Beziehungen und deren Vertrauenspotential: Stabilität geben nun auch gelingende interpersonale Kommunikationsprozesse, befriedigende und dauerhafte Freundschaftsverhältnisse, die Umstellung der Liebesbeziehung auf die „romantische Liebe“ zweier gleichberechtigter Partner – also die umfassende Erfahrung wechselseitigen Vertrauens zwischen Menschen, das freiwillig gegeben und freiwillig erwidert wird und damit auch gleichzeitig ein Gegengewicht zu den neuen Bedrohungen des Determinismus und Materialismus bildet.
Die eher metaphysischen denn „versicherungstechnischen“ Funktionen von Vertrauen hingegen konzentrieren sich immer stärker im Konzept des „Selbstvertrauens“, das eine stabile Identitätsbildung und ein befriedigendes Austauschverhältnis mit der jeweiligen Umwelt voraussetzt. Sinn wird dadurch nicht mehr durch das Vertrauen auf die göttliche Wahrheit erfahren, sondern im Vertrauen auf die Möglichkeit der eigenen Lebensgestaltung – wobei, wie man bei Kellers Grünem Heinrich sehen kann, die Folie des Gottvertrauens noch sehr lange durchscheint. Dem „Selbstvertrauen“ korrespondiert dabei ein allgemeines „Weltvertrauen“, das pantheistisch begründet werden kann (wie bei Goethe oder bei Rückert) oder auch über das Erlebnis von Natur und Fülle (in Kellers Gedicht).
Ohne dass der Terminus explizit verwendet wird, ist dieses abstrakte Weltvertrauen natürlich sozusagen die Vertragsbasis für die Verklärungsforderungen des Poetischen Realismus. Es gerät jedoch mit diesem selbst gegen Ende des Jahrhunderts immer stärker in die Krise. Dagegen hilft nur die Flucht in die Reflexion, die das 20. Jahrhundert insgesamt kennzeichnet. Friedrich Nietzsche hat, mit seinem bekannten Talent für analytische Zuspitzungen, das von den Modernen geforderte, ultimative Vertrauen in seiner Fröhlichen Wissenschaft auf den Punkt gebracht:
Aber warum nicht sich täuschen lassen? – Man bemerke, daß die Gründe für das erstere auf einem ganz andern Bereiche liegen als die für das zweite: man will sich nicht täuschen lassen, unter der Annahme, daß es schädlich, gefährlich, verhängnisvoll ist, getäuscht zu werden - in diesem Sinne wäre Wissenschaft eine lange Klugheit, eine Vorsicht, eine Nützlichkeit, gegen die man aber billigerweise einwenden dürfte: wie? ist wirklich das Sich-nicht-täuschen-lassen-wollen weniger schädlich, weniger gefährlich, weniger verhängnisvoll? Was wißt ihr von vornherein vom Charakter des Daseins, um entscheiden zu können, ob der größere Vorteil auf Seiten des Unbedingt-Mißtrauischen oder des Unbedingt-Zutraulichen ist? Falls aber beides nötig sein sollte, viel Zutrauen und viel Mißtrauen: woher dürfte dann die Wissenschaft ihren unbedingten Glauben, ihre Überzeugung nehmen, auf dem sie ruht, daß Wahrheit wichtiger sei als irgendein andres Ding, auch als jede andre Überzeugung?
Dieses ultimative Vertrauen muss also auch noch seinen Gegenpol integrieren, das Misstrauen; es ist ein reflexiv gewordenes und dialektisch durchdekliniertes Super-Vertrauen, das im Misstrauen vertraut und im Vertrauen misstraut und nur so die ganze Welt, alle Facetten des Daseins, Gutes und Böses, Schützendes und Bedrohliches umfassen kann. Damit jedoch hat ein derart undogmatisch-dynamisiertes Vertrauen auch die Skepsis endgültig eingeholt: Es vertraut (und misstraut im Vertrauen) im Angesicht der Unmöglichkeit von Gewißheit. Ähnlich hatte es auch Luhmann formuliert: Vertrauen in hochkomplexen Gesellschaften setzt immer Täuschung – mangelnde Information, unzureichende Entscheidungsgrundlagen – voraus; als „durchschauendes Vertrauen“ ist es eine menschliche „Spitzenleistung“, die nur von einem bestimmten Menschentyp der Moderne erreicht wird: „urban, beweglich, anpassungsfähig, taktisch-rational Gefühl und Wirklichkeit trennend [...] mit einem hohen Potential für ‚Dahingestelltseinlassen’“. Vielleicht geht man nicht fehl, wenn man in diesen knapp gezeichneten Zügen das Profil des Skeptikers durchscheinen sieht, der sich als Profi des „Zurückhaltens“ mit dem urbanen Systemtheoretiker der Moderne und seinem „hohen Potential für Dahingestelltseinlassen“ auf eine Insel der Seelenruhe mitten im „bunten Gewühl“ der bunten Welt gerettet hat.