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 Nemo beim Zahnarzt

Moderne Fabeln  


 

Klappentext

Was wäre eigentlich, wenn die Tiere auf uns schauen könnten, auf ihre nächsten und doch so fernen Verwandten in der Kernfamilie der Evolution? Natürlich werden wir das nie wissen, sondern können nur die Tiere vermenschlichen und unsere eigenen Wünsche und Fürchte auf sie projizieren. Aber zumindest ein Gedankenexperiment kann man wagen, indem man die Perspektive einmal umkehrt.  Moderne Fabeln lässt in der alten Form der Tierfabel bekannte Tierfiguren aus Film und Literatur zu Wort kommen; wir begegnen Nemo beim Zahnarzt, dem letzten Einhorn auf dem Ponyhof, Garfield im Restaurant. Ergänzt werden die Fabeln durch Essays zur Geschichte des jeweiligen Tiers in Kulturgeschichte, Philosophie und Literatur.   

Inhalt 

Nemo beim Zahnarzt * Das Model und der Frosch * Kingkong und der Popstar * Garfield im Restaurant * Das Moorhuhn und der Bürojäger * Das letzte Einhorn auf dem Ponyhof * Dumbo beim Schönheitschirurg * Esel beim Psychotherapeuten * Kung Fu Panda und der Geheimagent * haekelschwein im Weltall * Furby und die Feministin * Paul der Krake beim Orakel * Nachwort * Homo sapiens im Streichelzoo

 Leseprobe

 Nemo beim Zahnarzt 

Jetzt lebte Nemo schon seit einigen Tagen in dem geräumigen Aquarium des Zahnarztes. Er hatte sich schnell mit den ande­ren Bewohnern angefreundet, genoss die farben­frohe Ausstat­tung mit Korallenriffen und Seeanemonen und hatte sogar das etwas eintönige Fischfutter schätzen gelernt. Besonders lustig waren jedoch die Besucher des Zahnarztes. Komischerweise mussten sie sich alle in diesen seltsamen Stuhl mit den vielen Geräten setzen (war es vielleicht eine Art gestrandetes U-Boot?), das Boot begann dann langsamzu sinken, und der Zahnarzt bohrte ihnen anschließend mit ei­nem spitzen Gerät im Mund herum. Nemo war froh, dass die Glaswände des Aquariums das gruslige Geräusch abschirm­ten; es erinnerte ihn an eine bedrohliche, nicht ganz rund laufende Schiff­schraube. Der Zahnarzt war aber eigentlich sehr freundlich. Abends, wenn der letzte Besucher mit schmerzverzerrtem Gesicht verschwunden war und mit ihm auch die netten weißgekleideten Damen, die ihn so gern fütter­ten, redete er mit den Fischen im Aquarium. Auch mit Nemo. Immer wieder fragte er ihn, ob er sich nicht nach dem großen weiten Meer sehne, nach seiner Clownfisch-Familie oder nach etwas, das er „Freiheit und Abenteuer“ nannte. Offensichtlich hatte er noch nicht von den Haien gehört, die so viele und so scharfe Zähne hatten, dass sie noch nicht einmal der fleißige Zahnarzt hätte wegbohren können. Und die Familiengemein­schaft in der Seeanemonensymbiose war auf die Dauer auch eher erdrü­ckend gewesen. Nein, Nemo blieb lieber im Aqua­rium – Voll­pension mit Meeresdeko, Zimmer mit Aussicht und dann und wann ein kleiner Flirt mit der blauschillernden Doktorfisch-Dame (irgendetwas fanden die Besucher komisch an dem Na­men, was nur?), was wollte man mehr? Er fühlte sich wie ein Fisch im Wasser (wie auch sonst). Leider konnte er dem netten Zahnarzt nicht danken, der immer so sehnsüch­tig aufs Meer schaute, wenn er nicht gerade in fremden Mün­dern bohrte. Menschen sind Seelen, nicht Münder, hätte er ihm dann ge­sagt; du musst etwas tiefer schauen. So aber schwamm er nur eine besonders schöne Pirouette und wa­ckelte aufmunternd mit den Flossen. 

*** 

Seit dem Kinoerfolg von Findet Nemo!  haben es Eltern schwer,ihren Kindern Fischstäbchen schmackhaft zu machen. „Fische sind Freunde, kein Futter!“ haben die Kleinen nämlich im Kino von den Vegetarier-Haien Bruce (der geläuterte ehemalige „Weiße Hai“ aus dem gleichnamigen Film-Schocker), Hammer und Hart ge­lernt. Und sie haben gesehen, dass die guten Fische im Meer alle eine große Familie sind, dass sie sich gegen­seitig helfen, wenn einmal ein kleiner Clownfisch unter die Räder gerät, und dass sogar eine sehr vergessliche alte Doktorfisch-Dame ein wichtiges Mitglied im großen multi-piscinalen Rettungsteam sein kann. Für die er­folgsverwöhnte Animations-Industrie waren es jedoch keine kleinen Fische, ausgerechnet ebensolche zu univer­sal erfolgreichen Sympathieträgern zu machen: Denn knuddelig finden wir gewöhnlich eher diejenigen Spe­zies, die uns selbst ähnlich sind (also beispielsweise Arme und/oder Beine statt Flossen haben), aus großen Kulleraugen nach vorn blicken (nicht seitlich weglinsen, wie die Fische) und von einem möglichst weichen Fell überzogen sind (und nicht von feuchtkalten Schuppen). Und auch die Simulation einer realistisch erscheinenden Unterwasserwelt war eine echte Heraus­forderung: Was­ser ist im wahrsten Sinne des Wortes ein vielschichtiges und schillerndes Element - und zudem eines, mit dem die Menschen dann doch nicht mehr recht vertraut sind, seit sie es aus evolutionären Grün­den eines schönen Tages verlassen haben (weshalb Fi­sche nun für uns doch eher Fischstäbchen als Freunde sind). 

Nun aber Nemo: der niedliche Clownfisch, eine Halbwaise mit einem hyperprotektiven Vater, der auf­grund einer Verkettung unglücklicher Umstände im Aquarium eines Zahnarztes mit einer fischemordenden Nichte im fernen Sydney gelandet ist. Und der Vater begibt sich heldenhaft auf eine Odyssee, um seinen ver­lorenen Sohn in den unendlichen Weiten der Weltmeere zu finden. Natürlich werden die beiden am Ende wie­dervereinigt, dafür sorgt Hollywood verlässlich; neben­bei hat der Vater damit auch seine Therapie erledigt und kann seinen Sohn endlich unbesorgt frei-schwimmen lassen. Denn schließlich ist sein Sohn Nemo; und wenn ein Nomen jemals ein Omen war (und ergibt sich „Nemo“ nicht geradezu zwingend anagrammatisch aus „Nomen“ und „Omen“?), dann dieser! Nemo – das ist im Lateinischen „Niemand“; „Niemand“ sei sein Name, rief schon der listenreiche Odysseus dem tumben Riesen Polyphem zu, nachdem er ihm sein einziges Auge aus­gestochen hatte, und der Riese klagte von nun an ver­zweifelt seiner verständnislosen Umwelt, „Niemand“ habe ihn geblendet. Nemo ist aber auch, wiederum ana­grammatisch, ein Teil der Anemone; also derjenigen Pflanze, mit der der Clownfisch in einer friedlichen Symbiose lebt. Er ist nämlich ein schlechter Schwimmer und lockt mit seinen leuchtenden Farben die nicht-ve­getarischen Haie geradezu, und die Anemone verbirgt ihn vor Räubern. Der Clownfisch hingegen schützt die Anemone vor ihren Fressfeinden, die sich (warum auch immer) nur über unbewohnte Seeanemonen hermachen. Und Nemo ist, zum dritten, einer der Urahnen der Science-Fiction-Literatur, nämlich der Held in Jules Ver­nes‘ Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer: ein tra­gischer (menschlicher) Held, der nach dem Verlust sei­ner ge­samten Familie dem oberirdischen Leben den Rücken gekehrt hat. Nun befährt er, als abgetauchter fliegender Holländer sozusagen, mit seinem U-Boot den Meeres­grund und versorgt sich und seine Mannschaft aus den Schätzen des Meeres. All das steckt in dem klei­nen Nemo: Er ist Odysseus; er ist ein symbiotischer Teil einer Anemone, und er ist sozusagen personifiziertes Weltlite­raturerbe – weiter kann man von Fischstäbchen gar nicht entfernt sein! 

Vor Nemo hatte immerhin schon ein weiterer Fisch Filmkarriere gemacht: Flipper, der „Freund aller Kinder, großer nicht minder“, wie die deutsche Titelversion ly­risch wenig überzeugend, aber umso einprägsamer da­hinträllerte. Im englischen Original ist der forsche Del­phin wenigstens noch „king of the sea“, dazu „faster than lightning“, „smarter“ als alle anderen und trotzdem „kind and gentle“. Er erweist sich damit als ein würdiger Nach­fahre der antiken Delphine, die der griechische Mythos verewigt hat. So sollen Delphine den Sänger Arion, der nach einem Sieg bei einem antiken Song Contest von neidischen Schiffsleuten über Bord geworfen wurde, wohlbehalten auf ihrem Rücken samt Klampfe ans Ufer getragen haben – wofür sie, für alle Ewigkeit, ins Stern­bild des Delphins versetzt wurden und nun Sphären­klängen lauschen dürfen. [...]

 

 Nachwort  

Tiere sind unsere ältesten und nächsten Verwandten. Und wie das mit Verwandten so ist: Wir schätzen nicht alle von ihnen, wir schätzen sie nicht immer und nicht unter allen Um­ständen. Einige unserer tierischen Ver­wandten dürfen uns sehr nahekom­men; sie essen mit uns, schlafen mit uns, begleiten uns auf unseren Wegen.Deshalb nennen wir sie „Hau­stiere“: Sie teilen unseren ganz persönlichen Lebens­raum. Andere tragen unsere Lasten, pflügen unsere Felder, wärmen uns mit ihrem Fell, teilen mit uns (nicht ganz freiwillig) die Versorgung ihres Nachwuchses, opfern uns (ganz und gar nicht freiwillig) ihr Leben. Wir haben sie nicht ins Haus gelas­sen, sondern ehemals in den Stall, heute in die industri­ellen Hallen der Mas­sentierhaltung verbannt, und am Ende kommen sie in den Schlachthof. Deshalb nennen wir sie Nutztiere: Wir benutzen sie solange, bis sie kei­nen Nutzen mehr für uns haben. Wieder andere unter­halten uns mit ihren tierischen Talenten, machen für uns Kunststücke, er­möglichen uns sportliche Hochleistun­gen: Zirkustiere, Dressurtiere, Sporttiere, Zootiere. Ei­nige wenige haben wir zu Kapitalanlagen gemacht, die wie seltene Roh­stoffe oder Kunstwerke verkauft und gehandelt werden: Zuchttiere. Andere bevölkern die Labore und geben ihre Leben für Medikamente, Kosme­tika oder die menschli­che Neugier im Allgemeinen: Ver­suchstiere. Der nutz­lose Rest hat Glück gehabt –oder auch nicht, vielleicht haben wir ihn auch schon verse­hentlich ausgerottet, weil wir seinen Lebensraum für etwas Anderes brauchten (wahrscheinlich zum Geld­verdienen). Der Mensch, das Erfolgsmodell der Evolu­tion, die am weitesten verbrei­tete Spezies auf diesem Erdboden, der Allesfresser und Alleskönner, hat sich die Tierwelt wahrhaft untertan gemacht! 

Der Mensch konnte das tun, weil er dasjenige Tier ist, das Sprache hat und deshalb über sich selbst und über andere reflektieren kann;weil er dasjenige Tier ist, das im Lauf seiner Zivilisation Kunst und Wissenschaft er­funden hat. Seit der Antike sind Tiere deshalb auch ein Gegenstand eigener wissenschaftlicher Disziplinen, die sich ihrer Beobachtung und Klassifikation verschrieben haben. Ihrer richtigen Haltung, Pflege und Vermehrung widmet sich seither ein unübersehbares akademisches Schrifttum und eine immer noch wachsende Sachbuch­literatur. Sogar für die Philosophie –eigentlich eine Menschenwissenschaft - ist das Tier unersetzlich: Der Mensch ist von den berühmtesten Philosophen jahrhun­dertelang gerade durch das definiert worden, was nicht Tier ist an ihm – sein Geist,seine Religion, seine un­sterbliche Seele und andere Unbeweisbarkeiten. Und auch die wenigen Philosophen, die sich intensiver mit dem Tier selbst beschäftigten und dabei die zoologi­schen Er­kenntnisse ihrer Zeit zur Kenntnis nahmen,schätzten an den Tieren genau das, was sie mit den Menschen ver­band: ihr menschenähnliches Sozialver­halten, ihre sprachähnlichen Kommunikationsmittel,ihre reflexions­ähnlichen und instinktiven Fähigkeiten zur Orientierung in der Welt. 

Die Literatur schließlich nutzte die Tiere vor allem als unendliches Projektionsfeld: All das, was man über den Menschen gern sagen würde, aber aus unterschiedlichen Gründen gerade nicht sagen durfte oder wollte, konnte man auf die Tiere übertragen – davon zehrt das jahr­hundertealte Erfolgsmodell der Tierfabel in ihren ver­schiedenen Abarten bis heute. Daneben konnten ein­zelne Tiere natürlich auch, individuumsähnlich, dem Menschen zur Seite gestellt werden, als treuer Gefährte in Kampf und Not, oder aber ihm bedrohlich gegenüber treten, als Monster, als ganz und gar menschenunähnli­che Bestie. Bis heute werden so auch in der Kunst die Tiere untertan gemacht: Von ihren Geschichten lebte der Mythos und das Märchen, von ihrer künstlerischen Dar­stellung zehrten Genrebilder und Stillleben. Von dort sind sie in die Fantasy- und Abenteuerliteratur, in die Kinderbücher und die Comics, und mit den modernen Massenmedien in den Trickfilm, die Naturdokumenta­tion und den Animationsfilm gewandert, in dem jedes Tier endlich zu einem vollwertigen Menschen gemacht werden kann. In der immer stärker virtuellen Welterfah­rung zukünftiger Menschengenerationen werden Tiere wahrscheinlich schon in naher Zukunft nur noch auf diese Weise wirklich präsent sein: Das Ende des Strei­chelzoos steht unmittelbar bevor. 

Was wäre jedoch, wenn die Tiere auf uns schauen könnten, auf ihre nächsten und doch so fernen Ver­wandten in der Kernfamilie der Evolution? Natürlich werden wir das nie wissen, sondern können auch hier nur „vermenschlichen“ und projizieren; und natürlich gibt es noch viel weniger als „die“ Menschen „die“ Tiere. Aber zumindest ein Gedankenexperiment kann man wagen, indem man die Perspektive einmal umkehrt und schaut, wie sich die Dinge aus der anderen Rich­tung darstellen. Wahrscheinlich würden die Tiere uns zunächst, genau wie wir sie, im Blick auf unseren Nut­zen betrachten. Einige Tiere sind Kulturfolger und ha­ben schon lange demonstriert, dass sie die Nähe zum Menschen durchaus für ihre eigenen Zwecke ausbeuten können; und nicht nur Katzenbesitzer fragen sich dann und wann, wer hier eigentlich wen domestiziert hat. Ganz sicher aber sind wir für die meisten Tiere eine Be­dro­hung: Wir jagen sie, wir fangen sie, wir sperren sie ein; wir opfern sie, wir schlachten sie, wir essen sie; wir töten sie gezielt aus reiner Lust am Töten, oder rotten sie, ganz nebenher und mehrere Arten an jedem einzel­nen Tag, einfach aus.Menschen sind für Tiere ein Prob­lem, nicht die evolutionäre Lösung. 

Zudem haben wir einige Angewohnheiten, die den meisten Tieren entschieden merkwürdig vorkommen müssten: Verleugnen wir doch unsere Tierhaftigkeit, die wir doch niemals loswerden können, wo immer wir können. Wir tragen Kleider, um unsere natürliche Haut zu ver­decken; wir entfernen unser Fell, regelmäßig und groß­flächig, oder scheren es; wir verleugnen unseren Kör­pergeruch und überdecken ihn durch künstliche Düfte. Wir essen und trinken nicht, wenn wir Hunger und Durst haben, sondern wenn es die Uhr und die Diät empfehlen. Wir vermehren uns nicht in regelmäßigen Zyklen und möglichst viel, um das Überleben unserer Art zu garantieren, sondern kontrolliert oder gar nicht. Wir legen unsere Wohnräume dort an, wo die Natur sie zerstören kann, verlassen sie mutwillig oder zerstören gar unsere biologische Umwelt so sehr, dass an einigen Orten überhaupt kein Leben mehr möglich ist. Und wir töten nicht nur die uns unterlegenen Glieder der Nah­rungskette, son­dern eigentlich alle anderen lebenden Wesen, ja sogar unsere Artgenossen: nicht aus unmittel­barer Not, son­dern mit aufwändigen technischen Mit­teln, großflächig und massenhaft. Das macht uns min­destens ebenso sin­gulär wie unsere Sprache oder unser – was immer das aus Tierperspektive sein mag – „Geist“: Der Mensch ist das Tier, das seine Artgenossen gezielt meuchelt, seit Kain und Abel und millionenfach bis heute. 

Der Mensch ist jedoch auch dasjenige Tier, das die Kunst erfunden hat und wenigstens mit und in ihr viele Tiere, die geliebt und geehrt werden. Könnten Tiere Kunst haben, und wie würde sie aussehen? Zweifellos verfü­gen sie über erstaunliche Formen von handwerkli­cher Geschicklichkeit, was die nur in der überheblichen Mo­derne unterschätzte Grundlage aller Kunst ist. Als Ar­chitekten sind viele Arten zweifellos hochbegabt, und ihre Höhlen, Nester, Waben und sonstigen Baukunst­werke haben auch für den menschlichen Betrachter nicht nur Funktionalität, sondern dann und wann wahre Schönheit. Viele Tiere legen zudem Wert auf Schönheit. Nicht nur wir halten den Pfau mit seinem schillernden Rad für eine Augenweide, sondern ebenso das un­scheinbare Pfauenweibchen; und der Gesang einiger Vögel ist nur ein Beispiel für musikalische Glanzleistun­gen (aber erst langsam beginnen unvoreingenommene Kunsttheorien darüber nachzudenken, ob nicht auch menschliche Kunst und menschliches Schönheitsemp­finden doch sehr handfeste biologische Wurzeln haben). Eine offen­sichtliche Grenze bildet jedoch wiederum die Sprachfä­higkeit: Selbst wenn man, einem bekannten Diktum nach, noch so viele tausend Affen auf noch so vielen tausend Computer-Tastaturen herumhämmern ließe, bekäme man immer noch kein Shakespeare-Sonett (das Gleiche gilt im Übrigen jedoch, wenn man die Affen durch Menschen ersetzt). 

Die Tiere können also, leider, keine Geschichten er­zählen– obwohl sie zweifellos viel zu erzählen hätten. Die Pinguine und die Zugvögel würden vielleicht klassi­sche Epen ihrer großen Wanderungen dichten; die Tief­seefische dunkle Fantasy aus einem anderen Universum. Trau­ernde Elefanten sängen Elegien von getötete Artge­nos­sen, Turteltauben das Hohelied von der ehelichen Treue, die Gottesanbeterin vom Opfertod des wahrhaft Lieben­den. Eintagsfliegen verfassten Kürzestgeschich­ten, Schnecken und Schildkröten priesen in langen sich win­denden Versen die Muße. Kleine Fische erzählten lau­nige Pikaro-Romane vom Leben am unteren Ende der Futterkette; Raubkatzen schwärmten in opulent ausge­statteten Trivialromanen vom großen Fressen am oberen Ende. Von den Dinosauriern wäre eine monu­mentale Tragödie überliefert: Die Letzten ihrer Art; von den Ein­zellern ein experimenteller Einzeiler: Die Ersten ihrer Art. Kängurus und Gazellen erfänden neue Vers­füße mit großen Sprüngen, Fische den blubbernden Nachtgesang, und ewig grüßte das Murmeltier (mit Fortsetzungen). Der Mensch käme dann und wann vor als der große Böse, als der Erzfeind schlechthin; viel­leicht aber auch manchmal als der freundliche Gefährte: Ich und mein Mensch, ein tierischer Erziehungsroman. Ja, vielleicht gäbe es sogar –Menschenfabeln?  

 

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