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Spinnstube
Erzähltes


Beim Bau der Bibliothek

Nach Franz Kafkas ‚Beim Bau der chinesischen Mauer‘


Die Bibliothek ist an ihrer entlegensten Stelle beendet worden. Einzelne Werke wurden von verschiedenen Richtungen in sie hereingetragen und hier vereinigt. Das System des Einzeltextes wurde auch im Kleinen ihrer Herstellung verfolgt. Werke von etwa hundert Seiten Länge wurden von verschiedenen Autoren begonnen und auf größere Themenkomplexe zu geschrieben. Nachdem ein Katalog-Bereich vollendet war, wurde jedoch nicht etwa systematisch weiter geschrieben, sondern es wurde wieder an ganz anderen Wissensbereichen angesetzt. Natürlich entstanden auf diese Weise viele große Lücken, die erst nach und nach langsam aufgefüllt wurden, manche sogar erst, als die Bibliothek schon als vollendet galt. Ja, einige wurden sogar niemals gefüllt, aber das gehört möglicherweise zu den vielen Legenden, die um den Aufbau der Bibliothek entstanden sind und die für den einzelnen Leser, jedenfalls mit eigener Lektüre und eigenem Wissen, infolge der Größe der Bibliothek unnachprüfbar sind.

Nun würde man von vornherein glauben, es wäre vorteilhafter gewesen, zusammenhängend zu schreiben. Die Bibliothek war doch, wie allgemein verbreitet wird und bekannt ist, zum Schutz gegen die Willkür der Zeichen, die Zerstreuung des Wissens und das verlorene Vertrauen in den Sinn geschrieben worden. Wie kann aber eine Bibliothek schützen, die nicht systematisch geordnet und zusammenhängend verfasst ist. Ja, eine solche Bibliothek selbst ist in fortwährender Gefahr. Die abgelegenen Einzelwerke können immer wieder leicht von Dekonstruktivisten zerstört werden, zumal diese damals, geängstigt durch die Bibliothek, mit unbegreiflicher Schnelligkeit wie die Heuschrecken ihre Theorien wechselten und deshalb vielleicht sogar einen besseren Überblick über den Fortschritt der Sammlung hatten als selbst die einzelnen Autoren.

Trotzdem konnte die Bibliothek nicht anders ausgeführt werden. Sie sollte schützenden Sinn und verlässliches Wissen für Jahrhunderte stiften; sorgfältigste Systematik, Benützung der literarischen und wissenschaftlichen Errungenschaften aller bekannten Zeiten und Völker, dauerndes Gefühl der persönlichen Verantwortung der Beiträger waren deshalb unumgängliche Voraussetzung für die Arbeit. Zu den Katalogisierungsarbeiten konnten zwar Praktikanten verwendet werden, wer sich für gutes Geld anbot; aber schon zur Anleitung der Hilfskräfte war ein verständiger Schreiber nötig, ein Autor, der bis in die Tiefe des Herzens mitfühlte, worum es ging.
Man war nicht leichtsinnig an den Aufbau der Bibliothek herangegangen. Fünfzig Jahre vor dem ersten Satz hatte man im ganzen Staat das Schreiben zur wichtigsten Kunstform erklärt und alles andere nur anerkannt, soweit es damit in Beziehung stand. Ich erinnere mich sehr wohl, wie wir als kleine Kinder, kaum unserer Muttersprache sicher, im Gärtchen unserer Lehrerin standen, aus einzelnen Wortbausteinen erste Sätze bauen sollten; wie die Lehrerin ihre Brille abnahm, einzelne Wörter entfernte und umstellte, dabei natürlich jeden Sinn und Inhalt zerstörte und uns wegen der Schwäche unserer Sätze solche Vorwürfe machte, dass wir uns heulend in der Kuschelecke verkrochen. Ein winziger Vorfall, aber bezeichnend für den Geist der Zeit.

Ich hatte das Glück, dass, als ich mit sechszehn Jahren die Schriftprüfung abgelegt hatte, gerade der Aufbau der Bibliothek startete. Viele andere, die schon früher fertig geworden waren, wussten jahrelang mit ihrem Wissen nichts anzufangen, trieben sich, im Kopf die großartigsten Werke, Epen und Enzyklopädien, von Praktikum zu Praktikum herum und verlotterten schließlich als Talk-Show-Moderatoren im Privatfernsehen. Aber diejenigen, die endlich am Aufbau der Bibliothek teilnehmen durften, und sei es nur als Juniorschreiber, waren dessen tatsächlich würdig. Es waren Autoren, die viel über das Schreiben nachgedacht hatten und nicht aufhörten, darüber nachzudenken, die sich mit dem ersten Satz, den sie ihrem Einzelwerk einschrieben, ihm verwachsen fühlten. Solche Schreiber trieb natürlich auch neben der Begierde, ihren Job gut zu machen, die Ungeduld, die Bibliothek in ihrer Vollendung zu sehen. Die einfachen Hilfskräfte kennen diese Ungeduld nicht, ihnen reicht der Lohn, und auch die hauptberuflichen Vielschreiber, ja selbst die Abteilungsleiter sehen genug vom vielseitigen Wachsen der Bibliothek, um dadurch bei der Stange zu bleiben. Aber für die einfachen Schreiber, die geistig weit über den kleinen Monographien standen, die sie zu verfertigen hatten, musste anders gesorgt werden. Man konnte sie zum Beispiel nicht in einer entlegenen Spezial-Abteilung, himmelweit entfernt vom geistigen Zentrum der Bibliothek, Monate oder gar Jahre Kurzgeschichten oder Lexikonartikel schreiben lassen; sie wären an der Aussichtslosigkeit ihrer Arbeit verzweifelt und vor allem unfähig zum produktiven Weiterschreiben gewesen.
Deshalb wählte man das System des Einzeltextes. Kleinere Monographien konnten in fünf Jahren fertiggestellt werden, dann waren die Beiträger freilich in der Regel zu erschöpft und hatten alles Vertrauen zu ihrer Schreibkunst, zum Thema, zur Welt verloren. Darum wurden sie dann, wenn ihre Texte mit einigen weiteren zu einer Katalog-Unterabteilung mit einer eigenen Signatur in der Systematik vereinigt worden war, noch im Hochgefühl der erreichten Synthese beurlaubt. Während ihres sabbaticals trafen sie hier und da andere Beiträger, lasen andere Monographien, sahen die Registerschränke für die sich füllenden Kataloge, durchstreiften schon vollständige Abteilungen, trafen die nachrückenden Schreiberjahrgänge und hörten in den Medien die hochtönenden Ankündigungen. Das Sozialprestige, das alle Schreiber genossen, das Vertrauen, das ihre lesenden Mitbürger in die Vollendung der Bibliothek setzten, dies alles motivierte sie aufs Neue. Wie ewighoffende Liebende bekamen sie wieder die Lust, am großen Text zu arbeiten, sie stiegen früher wieder ein und die Leser begleiteten sie, verfolgten ihre tweets und Blogs noch über lange Zeit, die Regale und sogar die Tastaturen waren mit Fahnen geschmückt. Jeder Leser war ein Freund, für den man das Wissen und den Sinn befestigte, und der mit allem, was er hatte und war, sein Leben lang dafür dankte. Wissen! Sinn! Ohr an Ohr, Mund an Mund, ein Chor der Leser, Zeichen, nicht mehr eingesperrt in den kärglichen Kreislauf eines Einzelwerks, sondern frei fließend und doch kreisend im unendlichen Textuniversum.

Dadurch wird das System des Einzeltextes verständlich; aber es hatte wohl noch andere Gründe. Will ich die Gedanken und Erlebnisse jener Zeit vermitteln und begreiflich machen, kann ich dieser Frage nicht tief genug nachbohren.

Zunächst muss man sich sagen, dass damals Leistungen vollbracht wurden, die wenig hinter der Niederschrift der Heiligen Bücher zurückstehen, an Menschlichkeit aber gerade das Gegenteil jener Schriften darstellen. Ich erwähne das, weil in den Anfangszeiten der Bibliothek ein wissenschaftliches Projekt diesen Vergleich sehr genau untersucht hat. Es suchte zu beweisen, dass die Niederschrift der Heiligen Bücher keineswegs aus den allgemein behaupteten Ursachen den Sinn verfehlt hatte. Seine Beweise bestanden nicht nur aus der umfangreich zitierten Forschungsliteratur, sondern auch aus empirischen Befragungen und Statistiken, die zeigten, dass die Heiligen Bücher an ihrem zu schwachen empirischen und medialen Fundament scheiterten und scheitern mussten. In dieser Hinsicht allerdings war unserer Zeit jener vergangenen weit überlegen. Fast jeder gebildete Zeitgenosse war ein Schriftsteller oder Gelehrter und in der Frage der medialen Darstellungstechniken hoch kompetent. Dahin zielte das Forschungsprojekt aber gar nicht, sondern behauptete, erst die Bibliothek werde zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit das Fundament für eine neue Heilige Schrift schaffen. Also zuerst die Bibliothek und dann die Heilige Schrift. Die Forschungsergebnisse wurden in allen Medien zitiert, aber ich gestehe, dass ich sie bis heute nicht genau begreife. Die Bibliothek, die doch nur eine Art monumentaler Sammelband war, sollte die Basis für eine neue Religion abgeben? Das konnte doch nur in symbolischer Hinsicht gemeint sein. Aber wozu dann die Bibliothek, die doch etwas Tatsächliches war, Ergebnis der Mühe und Schreibarbeit so vieler Autoren? Und wozu waren in dem Forschungsprojekt bereits Skizzen, allerdings fragmentarische, dafür enthalten, wie die Bibliothek das Volk der Leser in einer neuen Religion vereinigen sollte?

Es gab – dieses Forschungsprojekt ist nur ein Beispiel – viel Verwirrung der Köpfe damals, vielleicht gerade deshalb, weil sich so viele auf die Bibliothek konzentrierten. Das menschliche Wesen, unbeständig in seinen Lektürevorlieben, von der Natur zerfallenden Pergaments und vieldeutiger Zeichen, verträgt keine Konzentration; zwingt es sich selbst dazu, wird es bald hyperaktiv in alle Arten von Ablenkungen flüchten und Bibliothek, Wissen, Sinn und sich selbst in alle Himmelsrichtungen zerstreuen.

Es ist möglich, dass auch diese Erwägungen bei der Festsetzung des Einzeltextprinzips nicht unberücksichtigt geblieben sind. Wir haben eigentlich erst im Ausschreiben der Anordnungen des obersten Bibliothekars uns selbst kennengelernt und gefunden, dass ohne ihn weder unsere schriftstellerische Ausbildung noch unsere persönliche Lebenserfahrung für den kleinen Beitrag, den wir innerhalb der großen Bibliothek lieferten, ausgereicht hätte. Im Katalograum des obersten Bibliothekars – wer er war, und wo er ist, weiß niemand –, in diesem Katalograum kreisen alle menschlichen Fragen und Entwürfe, und in Gegenkreisen alle Antworten und Werke. Durch die Fenster aber fällt der Abglanz der göttlichen Weltschöpfung auf die Katalogfächer.

Und deshalb will es dem unbestechlichen Betrachter auch nicht eingehen, dass der oberste Bibliothekar, wenn er es ernstlich gewollt hätte, nicht die Probleme hätte überwinden können, die einer zusammenhängenden Niederschrift des Wissens entgegenstanden. Das System des Einzeltextes war nur ein Notbehelf und unzweckmäßig. Bleibt die Folgerung, dass der oberste Bibliothekar etwas Unzweckmäßiges wollte. Sonderbare Folgerung! – Gewiss, und doch hat sie von anderer Seite ihre Berechtigung. Heute, da es keine Geheimnisse im Datenuniversum mehr gibt, kann man das vielleicht ohne Furcht aussprechen. Damals war der geheime Grundsatz vieler Autoren, sogar der Besten: Suche mit all deinen Kräften die Systematik der Bibliotheksleitung zu verstehen, aber nur bis zu einer bestimmten Grenze, dann höre mit dem Nachdenken auf. Ein sehr vernünftiger Grundsatz, der noch eine weitere Auslegung in einem oft wiederholten Vergleich fand: Es wird dir sonst geschehen wie einem Einzeltext beim Lesen. Er reichert sich bei jeder Deutung und durch jeden Kontext mit Bedeutung an, wird immer breiter, seine Symbole immer mächtiger, seine Sätze immer dynamischer, er bietet seinen Lesern immer neue Erlebnisse und Erkenntnisse, sein Verlauf gewinnt dramatische Gestalt, er behält seine individuelle Gestalt und wird doch der Heiligen Schrift ebenbürtiger und willkommener. Soweit denke der Systematik der Bibliothek nach. Dann aber wird der Einzeltext zu viel gedeutet, er tritt über seine Sätze, seine Symbole werden gestaltlos, seine Wirkungen diffus, die realen Kontexte vernachlässigt, er versucht, isolierte Deutungsstränge zu bilden und kann sich auf die Dauer in seiner breiten und tiefen Bedeutung nicht halten; ja, er trocknet sogar im heißen Gefecht der Forschungs- und Theoriedebatten kläglich aus. – So weit denke der Systematik der Bibliothek nicht nach.

Nun mag dieses Bild während des Aufbaus der Bibliothek außerordentlich treffend gewesen sein, für meinen jetzigen Bericht hat es nur beschränkte Geltung. Mein Bericht ist doch nur historisch; aus den längst überwundenen Ideologien und Methoden-Schulen droht keine Gefahr mehr, und ich darf deshalb nach einer Erklärung des Systems des Einzeltextes suchen, die tiefer greift. Die Grenzen, die meine Denkfähigkeit mir setzt, sind seither sehr erweitert, aber das Gebiet, das sie hier umgreift, ist immer noch unendlich.

Gegen wen sollte die Bibliothek schützen? Gegen den allgemeinen Verlust von Wissen und Sinn. Ich stamme aus einer gutsituierten bildungsbürgerlichen Familie, kein Sinnverlust bedroht unser geistiges Wohlergehen. Wir lesen von Krisen der Intellektuellen, die immerwährenden existentiellen Zweifel, die sie ihrer Natur nach bedrohen, stimmen uns mitleidig in unserem versicherten Dasein. In den objektiven Berichten des Qualitätsjournalismus lesen wir vom Rachen des Nihilismus, vom tödlichen Gift des Zweifels, von den Plagen der geistigen Freiheit. Wollen die Kinder nicht lesen oder schreiben lernen, schicken wir sie in ein öffentlich subventioniertes Stadttheater oder ein Programmkino, und schon kehren sie reumütig in das Einfamilienhaus zurück. Zu groß ist der geistige Raum, und auch die wildesten Ideen werden sich im Gewirr des Internet und der Kanalvielfalt des Privatfernsehens verlaufen.

Warum also verlassen wir das Einfamilienhaus, die bildungsbürgerliche Familie, den Garten und das Pony, die lernunwilligen Kinder und die frustrierten Ehefrauen, die pflegebedürftigen Eltern, und unsere Gedanken sind bei der Bibliothek? Frage den obersten Bibliothekar. Er kennt uns. Er, der die ungeheure Systematik verwaltet, weiß von uns, sieht uns zusammensitzen im Einfamilienhaus vor dem LCD-Bildschirm, und das Programm ist ihm wohlgefällig oder missfällt ihm. Und wenn ich mir einen solchen Gedanken über den obersten Bibliothekar erlauben darf, so bin ich der Meinung, dass es ihn schon früher gab; dass er nicht, wie etwa ein Manager, durch einen kleinen Rausch vom Vorabend angeregt, am Morgen eiligst ein Meeting einberuft, sogleich eine Reorganisation beschließt und schon am Mittag die Gruppenleiter ausschickt, um neue Folien zu erstellen, und sei es nur, um die Aktionäre zu befriedigen, die gestern noch wohlwollend kauften und am gleichen Abend, die Börse in Hongkong hat kaum geschlossen, die gekauften Aktien wieder abstoßen. Vielmehr bestand die Bibliothekssystematik wohl seit jeher und der Beschluss zum Aufbau der Bibliothek ebenfalls. Unschuldige Intellektuelle, die glaubten, ihn verursacht zu haben, verehrungswürdiger Bibliotheksdirektor, der glaubte, er habe ihn angeordnet. Wir Autoren wissen es anders und schweigen.

Ich hüte mich vor Verallgemeinerungen und behaupte nicht, dass es in gesellschaftlichen Randgruppen, verschiedenen Ethnien, der Vielfalt biologischer Geschlechter und kultureller Traditionen sich so verhält wie bei uns in der bildungsbürgerlichen Kleinfamilie. Wohl aber darf ich aufgrund meiner Beobachtungen beim Aufbau der Bibliothek, die dem Beiträger Gelegenheit gab, die Mentalitäten fast aller genannten Gruppen zu durchlesen, vielleicht sagen, dass die Auffassung vom Bibliotheksleiter immer wieder und überall einen gemeinsamen Grundzug mit der aus meiner eigenen Herkunft resultierenden Auffassung zeigt. Diese Auffassung will ich durchaus nicht loben, im Gegenteil. Zwar ist sie in der Hauptsache von der Bibliotheksleitung verschuldet, die nicht imstande war, die Systematik des Katalogs zu solcher Klarheit auszubilden, dass sie in allen Gruppen und Lebensumständen der Leser unmittelbar einsichtig wurde. Andererseits liegt doch auch darin eine Schwäche der Vorstellungs- und  Imaginationsfähigkeit bei den Lesern, welche es nicht schaffen, den Bibliotheksleiter und seine Systematik aus dem Innersten seines Katalogs hinaus in die lebendige, sinnliche Gegenwart der Lektüre zu zwingen; die als einzelne Lesende doch nichts anderes wollen, als einmal einen Blick auf das Ganze des Sinns zu werfen und an ihm sich zu vergessen.

Eine Tugend ist also diese Auffassung wohl nicht. Umso auffälliger ist es, dass gerade diese Schwäche eines der wichtigsten gemeinsamen Merkmale der Leser überhaupt zu sein scheint; ja, wenn man sich soweit vorwagen darf, geradezu die Basis der Einzeltextlektüre überhaupt.

Hier einen Tadel ausführlich begründen zu wollen, heißt nicht an unserem schwachen Intellekt, sondern, was viel ärger ist, an unserem Hunger nach Sinn rütteln. Und darum will ich in der Untersuchung dieser Frage vorderhand nicht weiter gehen.

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