Im Sport weiß man, wie wichtig der Anlauf ist. Wer gut oder weit oder hoch springen will, muss einen ordentlichen Anlauf nehmen; aus dem Stand kann man nur – hüpfen. Als Kind habe ich ein wenig geturnt, das Talent hat nicht ganz zum Leistungssport gereicht, aber immerhin zu einigeren kleineren Wettbewerben in der Mittelklasse (was ich gelegentlich geneigt bin, als eine Metapher für mein gesamtes Leben zu betrachten, aber das ist eine andere Geschichte). ‚Sprung‘ war sogar meine beste Disziplin: Also mordsmäßig Anlauf nehmen und dann von einem kleinen Sprungbrett aus in einem hohen Bogen über, sagen wir: einen längs aufgestellten Kasten fliegen; und je weiter das Sprungbrett weggelegt werden konnte vom Kasten, desto höher und schöner flog man, stützte sich nur im Vorbeiflug sozusagen auf dem braunen, abgewetzten Leder ab und landete auf der anderen Seite (landen konnte ich nicht so gut, was wiederum – nein, andere Geschichte). Was würde ich heute dafür geben, einmal noch einen solchen Sprung, einen weiten Flug über den doch recht abschreckend hohen und langen Kasten zu tun – näher kann man dem Fliegen kaum kommen, aus eigener Kraft! Damals aber dachte ich nicht nach, ich nahm Anlauf und sprang und flog.
Irgendwann aber tauchte ein seltsames Problem auf, und wahrscheinlich war das das erste Anzeichen dafür, dass es vorbei war mit dem Fliegen, weil sich die böse Reflexion dazwischen gedrängelt hatte: Ich konnte nämlich auf einmal nicht mehr richtig Anlauf nehmen, sondern begann mitten im Anlaufweg zu – trippeln; also nicht mehr mit zunehmender Geschwindigkeit und gleichmäßig großen Schritten auf das Sprungbrett zuzurasen, sondern dumme kleine tänzelnde Schritte in die Mitte einzufügen. Zeitlich parallel dazu war es auch beim Weitsprung in der Schule so (auch darin war ich ziemlich gut), dass ich vor lauter Angst, den Absprungbalken zu verpassen, „überzutreten“, so hieß das, den Absprungbalken verpasste (ja, die Metapher verdichtet sich ...). Ich bin irgendwie nicht mehr richtig in Schwung gekommen, und das Getrippel konnte mir die Trainerin einfach nicht mehr abgewöhnen; sie versuchte es mit Tricks, sie legte mir einzelne Matten hin als Trittstufen sozusagen (schönes Bild, auch das, es gibt im Hinduismus einen Mythos – nein!), aber ich fiel in die Lücken und trippelte. Es war vorbei, ich sprang wohl noch über den Kasten, aus geringerer Entfernung, in kleinerer Höhe - aber ich flog nicht mehr. Das Turnen gab ich dann bald auf.
Diesen ganzen mühevollen Anlauf habe ich jedoch genommen, um ein anderes Phänomen zu beschreiben, dass sozusagen vom gleichen Problem zehrt, aber eine andere Richtung nimmt. Es geht nämlich ums Schreiben, was ja, irgendwie, auch eine Art Sport ist (für manche ein Leistungs-, für andere – siehe oben: Es reicht zu Wettbewerben in der Mittelklasse). Allgemein bekannt auch bei Laienschreiberinnen ist die Angst vor der leeren Seite, dem ersten Satz; wie nur beginnen? Wenn man aber seinen ersten Satz gefunden hat, läuft es oft von allein; auch diese Erfahrung ist sowohl von Laien- als auch von Profischreibern vielfach bestätigt. Es läuft aber vielleicht nicht, und damit komme ich nun zu meinem Getrippel vor dem Sprungbrett – gleich ganz rund los. Es holpert ein wenig in den Folgesätzen, manchmal holpert es auch ganze Absätze lang, und man spürt es direkt, während man sie schreibt; man kommt nur mühsam von Matte zu Matte, und eben, leider, nicht in Schwung, nicht in den Rhythmus, nicht ins Fliegen. Am Ende hat man einen kleinen Bocksprung gemacht, Punktabzug bei der wackligen Landung.
Wenn man sich dann aber zusammenreißt und trotzdem weiterschreibt, kann es geschehen, dass man doch noch seinen Rhythmus findet. Auf einmal beginnt der Text zu fließen, und kaum kommt kaum mit dem Tippen hinterher für all die Worte, die sich plötzlich herausdrängen und die schönsten Luftsprünge machen, ganz von allein! Man darf nicht aufschauen dann, das unterbricht den flow (ja, langweilige Metapher; ja, richtige und gute Metapher); man darf nicht nachdenken über das, was man doch eigentlich schreiben oder sagen wollte, denn der Text hat die Herrschaft übernommen und sagt das, was er sagen will. Was gesagt werden muss. Es kann dann sein, dass man an einer völlig anderen Stelle landet. Aber es ist, wahrscheinlich, die bessere. Manchmal kann es auch sein, dass völlig unerwartet ein Bild hervorspringt, oder ein Satz: Und man sieht auf einmal, dass der ganze bisherige Text – nur Anlauf war für dieses eine Bild, diesen einen Satz. Sie sind perfekt. Aber niemals, niemals hätte man sie ohne Anlauf schreiben können.
Kafka, um schnell einen gelehrten Seitensprung unterzubringen (er ist aber sinnvoll), hielt dies für die einzig legitime Art zu schreiben: eine Folge von perfekten Sätzen. Das ist sogar Kafka so selten gelungen, dass er lieber all seine Texte verbrannt haben wollte als all die gescheiterten, trippeligen, langwierigen Anläufe aufbewahrt zu wissen. Es gibt ganz kleine Textbruchstücke von ihm, die einen einzigen Satz immer wieder variieren, in den winzigsten Details; und oft geht es dabei nur um den Rhythmus, die Satzmusik, gar nicht um die großen symbolischen Meistersprünge oder gar einen „relevanten“ (Kafka hätte sich eher erschossen, als dieses Unwort zu schreiben!) Inhalt! Nein, Kafka wusste, dass er viel Anlauf brauchte, besonders, wenn er aus dem Büro zurückkam, wo er sprachlich perfekte Versicherungsgutachten schrieb, jeden Tag, aber nicht direkt – Weltliteratur (obwohl, wer weiß?). Vielleicht war Goethe, waren andere wirkliche Meisterautoren, irgendwann soweit, dass sie ohne Anlauf loslegen konnten, weil ihr ganzes Leben ein einziger innerer Anlauf geworden war. Aber wir anderen – wir geraten ins Trippeln. Dann muss man starke Nerven haben und einen kleinen Glauben, der sagt: Kommt schon, lauf einfach weiter. Die Welt braucht gelegentlich auch kleine Sprünge mit Abzügen in der B-Note. Und vielleicht, zwischendurch, wer weiß – bekommt ein Bild, ein Satz, eine Satzfolge ja doch Flügel?
Deshalb ist, um diesen eher trippeligen Text abzuschließen, das Schreiben sogar für Profis häufig nicht der reine Genuss, sondern angstbesetzt. Sie fürchten, ich fürchte nicht das weiße Blatt, ach was, weiße Blätter sind ganz wunderbar, jedenfalls wenn man keine Platzangst hat (ich bin aber eher der klaustrophobische Typ). Ich fürchte mich vor der Bewährungsprobe, die jeder winzige Text ist. Denn der unerbittlichste Schiedsrichter ist nicht die Leserin (es gibt nur eine ideale Leserin, und man wird sie niemals finden), und auch nicht der Kritiker (er wertet sowieso mit gezinkten Noten); nein, es ist die Autorin selbst. Jeder Text ist eine Feuerprobe; na gut, übertriebene Metapher: Jeder Text ist ein – Sprung, von einem sehr kleinen Sprungbrett, über eine Kluft, die man erst sieht, wenn man abgesprungen ist.
(eine Parabel, mit Anlauf geschrieben)
I.
Als ich neulich nachts darüber nachdachte, warum ich in meinem bisherigen Leben für das Wort „tragisch“ so wenig Verwendung hatte (eine untragische Existenz?), fiel mir im Morgengrauen ein, dass Franz Kafka (eine tragische Existenz?) die ultimative Parabel zu diesem Thema geschrieben hat. Es ist die Geschichte von dem Mann, der sein ganzes Leben vor einer Tür verbracht hat, wir wissen noch nicht einmal, ob es einen Warteraum gab (ich kenne mich gerade sehr gut aus mit Warteräumen, inneren und äußeren) und das große, weite Internet war auch noch nicht erfunden. Und als es ans Sterben geht, kommt der Türhüter, der ihm standhaft den Eintritt verweigert hatte, zu ihm und sagt, ungefähr, so meinte ich dämmernd zu wissen: Diese Tür war nur für dich bestimmt und ich gehe jetzt und schließe sie!
Aber natürlich musste ich bei fortgeschrittener Tageszeit die Geschichte nochmal nachlesen, dafür gibt es ja das große weite Internet und Frühstückskaffee. Als erstes stellte ich fest, dass ich einen gar nicht so unwesentlichen Teil vergessen hatte. Den Titel. „Vor dem Gesetz“ heißt die Parabel nämlich, der arme Mann kommt vom Land und steht nicht sein Leben lang vor irgendeiner Tür, sondern er ist zum Gesetz gekommen in der gutgläubigen Annahme, zum Gesetz werde doch jeder vorgelassen, aber er hat keinen Einlass erhalten. Er hatte sogar Dinge mitgebracht, mit denen er den „tartarischen“ Türhüter, der einen dünnen schwarzen Bart hat und einen Pelz, in dem Flöhe wohnen (kein unwichtiges Detail, wir werden darauf zurückkommen!) bestechen kann. Oder von denen er leben kann, von irgendwas muss er doch gelebt haben die ganze Zeit! Aber darum geht es nicht in Parabeln, wo es um das reine Leben geht, nicht das schnöde Überleben. Man spricht manchmal miteinander, gelegentlich tut der Türhüter so, als sei er wirklich einer, und stellt kleine Pseudo-Verhöre an. Der Mann vom Lande sollte nicht das Gefühl haben, etwas verpasst zu haben, also außer seinem Leben vielleicht, auch als er später „kindisch“ wird und beginnt mit den Flöhen zu sprechen (ein wunderbar kafkaeskes Detail, und wüssten wir nicht gern, welche Gespräche er mit ihnen führt, um ihr winziges Flohherz zu erweichen?). Am Ende ist der Mann noch kleiner geworden, und der Türhüter, der ihn „unersättlich“ nennt, muss sich ihm hinabbeugen, um seine letzte Frage zu vernehmen: Warum denn er eigentlich der Einzige gewesen sei, der hier, an dieser Tür, zum Gesetz gewollt habe? Und der Türhüter schreit ihm, seines „vergehenden“ Gehöres wegen, die Antwort ins Angesicht, sein ganz persönliches Todesurteil (das ich korrekt erinnert habe, sogar in der Formulierung): Diese eine Tür sei nur für ihn bestimmt gewesen, und er werde sie jetzt schließen. Im Hintergrund hatte der Mann immerhin noch das „unerlöschliche“ Strahlen des unerreichten Gesetzes gesehen; aber das ist jenseits der Parabel, und die Tür fällt zu.
II.
Man könnte nun, wenn man Kafka, was man überhaupt öfters tun sollte, gegen den kafkaesken Strich bürstet, überlegen, wer denn hier genau die tragische Figur ist, oder vielleicht sogar: was? Der Mann vom Lande, nun, er ist ein allzu offensichtlicher Kandidat: klein und dumm und leicht riechend denkt man sich ihn, und wie kann man nur so naiv sein zu glauben, jeder komme vor das Gesetz, einfach so, selbst wenn vom Lande kommt? Aber woher wissen wir das alles eigentlich? Ist der Mann vom Lande nicht eigentlich ein Held der Aufklärung, ein Don Quijote des Selbstdenkens? Denn immerhin hat er sich ohne Marschbefehl aufgemacht, einfach so, um endlich einmal das Gesetz, von dem immer alle reden, selbst in Augenschein zu nehmen. Vielleicht hat er Frau und Kinder verlassen, vielleicht war er reich auf dem Lande und selbst ein großer Mann mit Pelzen im Schrank, und gewitzt ist er sowieso, er hat schließlich Dinge mitgebracht! Dass er am Ende kindisch wird und mit Flöhen redet – nun, das erwartet uns alle, und froh sollen wir sein, wenn wenigstens die Flöhe noch mit uns sprechen. Und immerhin hat er vorher noch den großen Glanz gesehen, dass kann nun wirklich nicht jede von uns sagen!
III.
Oder ist der Türhüter die tragische Figur? Definitiv der dämlichste Job der Welt, minder qualifiziertes Sicherheitspersonal hat die Krisengebiete dieser Welt geflutet, und man kann noch froh sein, wenn es nicht allzu schwer bewaffnet ist und nur Flöhe in seinem dicken, stinkenden Pelz hat. Zudem ist er nur der vorderste Vorpfosten, wie er selbst erläutert; ein winziges Rädchen in der großen Gesetzes-Maschine, nicht nur ein Vor-, sondern eher ein an die Peripherie versetzter Außenposten, zuständig für Männer vom Lande. Und er macht seinen Job halb anständig, er stellt kleine Pseudo-Verhöre zur Unterhaltung an, er hat dem armen Mann sogar einen Schemel gegeben, beinahe menschenfreundlich! Und er ist, am Ende, immerhin ehrlich. Als sich die ganze „Erfahrung“ (so sagt Kafka, und das ist höchst unkafkaesk) des Mannes zur letzten Frage ballt, die so nahe auf der Hand liegt, dass er sie die ganze Zeit übersehen hat – da sagt ihm der tartarische Türhüter (ging es Kafka vielleicht nur um das Lautgeklingel?) die ganze Wahrheit, die er also auch schon all diese Jahre gewusst hat und bei größerer Menschenfreundlichkeit ja auch vorher hätte sagen können (dann wäre der Mann aber nie aus „Erfahrung“ klug geworden!). Der Tod ist der Preis für diese Antwort, danach stirbt ein Mann, ein minderer Türhüter in der Provinz schließt eine Tür und ist arbeitslos. Schließt er sie von innen oder von außen? Was wird aus ihm? Beginnt er auch mit den Flöhen zu sprechen? Ist er eine tragische Figur? Der Mann vom Lande war nur für ihn bestimmt, und jetzt ist er tot.
IV.
Und das Gesetz? Leuchtet es jetzt weiter, hinter verschlossener Tür? Aber es war doch eine Tür, und wenn sich zu viele weitere Türen schließen, wird das Gesetz dann nicht doch erlöschen (was an die bekannte Frage erinnert, ob im Kühlschrank nach Verschließen der Tür das Licht ausgeht, nie werden wir es wissen, und Kafka dreht sich im Grab herum)? Das Gesetz, ein dunkler Schemen, ein Männerding, ein jüdisches Kafka-Ding – was überhaupt soll das denn sein, dieses unerlöschlich Strahlende, das einen ehrlichen Mann vom Lande mit den besten Absichten nicht an sich heranlässt? Nennen wir es, auch wenn es peinlich literaturwissenschaftlich ist: eine Leerstelle. Denn ein gelebtes Gesetz sähe anders aus: Weit geöffnet wären seine Scheunentore, von allen Seiten strömte das Volk herbei, und die nicht arbeitslos gewordenen Türhüter, aller Schrecklichkeit bar, empfingen sie mit Konfetti (in das sich die Flöhe spontan verwandelt hatten, das kommt, wenn man zu viel Kafka liest). Und das Gesetz kennte nicht Tag und nicht Nacht und nicht Schalteröffnungszeiten, sondern es wäre der reine Tag und die reine Ewigkeit. Hinter Türen verborgen, von Kaskaden von Türhütern bewacht jedoch – es wäre ein tragisches Gesetz, das nur noch in sich selbst flackert, ein erstorbener Vulkan, der gelegentlich kleine Brocken ausrülpst, die keinen Schaden mehr anrichten.
V.
Die Flöhe jedoch leben. Man denkt sie sich unsterblich im dicken verfilzten Peltz. Sie erzählen sich Flohgeschichten und machen fröhliche Flohtänze, die Generationen gehen unmerklich ineinander über, ganz gesetzlos. Gelegentlich saugen sie ein wenig Blut, sie meinen es aber nicht böse, man muss ja überleben. Es sind sehr kleine Herren, aber es sind ihre eigenen.
VI.
Außerdem, dies ist ein neuer Tag und Wissen von Wikipedia, sind Flöhe ziemlich interessante Tiere. Sie sind zum Beispiel homometabol – das heißt, sie machen eine vollständige Verwandlung durch, von der Larve zur Puppe zum Insekt (was für Insekten gar nicht so außergewöhnlich ist, der Mensch hingegen, zwar fähig zur Tragik, aber ansonsten höchstens semi-metabol). Sie haben keine Flügel, aber dafür sehr kräftige Hinterbeine, mit denen sie sehr weite Sprünge machen können; die Sprünge sind zwar ungerichtet, aber dafür eine der schnellsten Bewegungen im Tierreich (ist das nicht wieder metaphernträchtig und vergleichlich: Der Mensch macht zwar auch gern große Sprünge, aber er bildet sich doch tatsächlich ein, die Richtung bestimmen zu können! Spränge er doch mehr ins Ungerichtete, ins Offene - -- ). Sehen können sie nicht so gut, die Flöhe, leider keine Facettenaugen; brauchen sie aber auch nicht, sie halten sich nämlich entweder in ihren Nestern auf (dann sind es Nestflöhe), die sie nur für einen kleinen Stich verlassen, oder im Pelz, wie beim Türhüter (dann sind es Pelzflöhe); dort können sie sich ihrer besonderen Flachheit wegen gut bewegen. Der Saugrüssel kennt die Richtung sowieso, es ist die des fließenden warmen Blutes, und wer ins Ungerichtete springt, braucht keinen Kompass. Der Floh ist genügsam, ein ordentlich gehaltvoller Zug reicht ihm schon einmal für zwei Monate (nicht unersättlich, die kleinen Tierchen, auch wenn sie meistens vom Lande kommen).
Zudem sind Flöhe unterhaltsam. Den Flohzirkus gab es wirklich, und man kann daraus vor allem lernen, auf welch abwegige Ideen Menschen kommen, wenn sie sich langweilen, egal ob auf dem Lande oder in den Städten: Sie hören die Flöhe husten vor lauter Langeweile, und dann bilden sie sich ein, sie könnten sie dressieren (nie kommt ein Mensch auf die Idee, sich selbst zu dressieren, und wenn es noch so juckt). Sie haben sich aber nur einen Floh ins Ohr gesetzt damit, jetzt krabbelt er im Gehörgang herum und kann keine weiten Sprünge mehr machen, deshalb flüstert er seinem Wirt zu, von kleinen Flohhusten-Anfällen unterbrochen, die den superflachen Chitinpanzer erzittert lassen und sanft am Trommelfell abperlen: Geh doch mal zum Gesetz, hörst du? Wer weiß, was dich erwartet dort? Der Flohzirkus hier funktioniert auch ohne dich, und der Sack Flöhe im Pelz hütet sich auch selbst. Aber das Gesetz, das Gesetz!
Es gibt übrigens auch eine Flohliteratur. Die Humanisten, Leute mit ziemlich viel Flöhen in ihrem Gelehrtenpelz, hatten es irgendwann satt, immer nur total obermoralische lateinische Fabeln zu schreiben, in denen der Fuchs listig ist, der Bär patschig und die Bienen fleißig, oh so bienenfleißig! Irgendwann juckte einen der Satire-Floh, und dann will der Humanist Blut sehen. Und schreibt eben zur Abwechslung eine Floh-Fabel, es kann auch es ganzes Epos sein, in dem die Flöhe das sind, was sie tatsächlich sind, nämlich: sprungstark, schnell, zielsicher zustechend und Blut ziehend. Außerdem, als Bonus obendrauf: promiskuitiv und erotisch subversiv! Ein Flohweibchen kann nämlich nicht nur bis zu vierhundert Eier ablegen, die ein vorbeikommender Flohherr bei Gelegenheit dann begattet; nein, der Floh spaziert auch bei der Wirtin, wohin er will, und das ist mit Vorliebe dort, wo das Fell am dichtesten ist. Dann juckt er. Ach, ist der Floh nicht ein fabulöses Tier! Nein, der Floh will und will nicht zur tragischen Gestalt werden in dieser Parabel. Während der Glanz des Gesetzes erlischt und Männer vom Lande samt ihren jeweiligen Türhüter-Doppelgänger vergehen, ungesättigt für immer, metabolisiert sich der Floh. Er ist fein raus, er braucht nur einen provisorischen Wirt und nicht einmal einen Schemel im Wartesaal.
VII.
Eines Morgens erwachte der Mann vom Lande und war ein Floh geworden. Er freute sich ein wenig, dann setzte er sich auf die Hinterbeine und macht einen gewaltigen Sprung. Gerichtet ins Ungerichtete (kein Richter, niemals). Oder war es vielleicht – eine Frau aus der Stadt?
VII.
Vor der Freiheit steht eine KI, die die Tür behütet. Zu ihr kommt eine Frau aus der Stadt und bittet um Einlass zur Freiheit. „Schon möglich, hast du das Passwort?“, sagt die KI, jedes Wort einzeln überbetonend. Die Frau hat kein Passwort. „Dann kann ich dich jetzt leider nicht einlassen“, sagt die KI. Da das Tor zur Freiheit wie immer offensteht und die KI ein wenig zur Seite tritt, streckt sich die Frau, um durch das Tor ins Innere zu sehen. Als die KI das bemerkt, kichert sie mechanisch und sagt: „Wenn du unbedingt willst, versuch doch einfach reinzugehen! Lass dir aber gesagt sein: Ich bin mächtig. Und ich bin nur eine KI der untersten Ebene. Von Stufe zu Stufe stehen andere KIs, viel komplexer und milliardenmale rechenstärker als ich, und sie wollen immer neue und kompliziertere Passwörter. Schon der Anblick der übernächsten überfordert selbst meine Verarbeitungskapazitäten!“ Solche Schwierigkeiten hatte die Frau aus der Stadt nicht erwartet; die Freiheit, so denkt sie, war doch jeder versprochen worden. Aber als sie jetzt die KI mit dem starren Blick aus ihren großen Kinderaugen und dem Monitor auf der Brust, auf dem die LEDs flickern, genauer ansieht, ihre feingliedrigen und absolut gleichmäßigen Robotergelenke, entschließt sie sich, doch lieber zu warten, bis sie vorgelassen wird. Die KI gibt ihr einen rückenfreundlichen Stuhl und weist sie an, sich seitwärts vor dem Tor hinzusetzen. Dort sitzt die Frau aus der Stadt Tage und Jahre, zwischendurch macht sie ein wenig Yoga. Die KI stellt öfter kleine Verhöre mit ihr an, fragte sie nach ihrer Karriere aus und nach ihren Kindern, es sind aber Routine-Fragen, wie ein Computerprogramm sie stellt, und zum Schluss sagt sie immer wieder, dass sie sie noch nicht einlassen könne. Die Frau versucht alles, um die KI zu überzeugen; sie erprobt alle Passwörter, die ihr einfallen, aber immer sagt die KI: „Das Passwort ist falsch“. Manchmal lässt sie sich zwar in Debatten ein, aber am Ende sagt sie immer: „Habe ich es richtig verstanden, dass du die Freiheit suchst, weil man sie dir versprochen hat? Gutes Gespräch, Elisa!“ Während all der Jahre beobachtet die Frau die KI die ganze Zeit. Sie vergisst all die anderen KIs, und diese allererste scheint ihr das einzige Hindernis. Sie verflucht den unglücklichen Zufall, zunächst noch zurückhaltend und ohne die KI durch ihre Wortwahl zu beleidigen; später wird sie ausfallend und beschimpft sie persönlich. Sie wird kindisch, und da sie nach dem jahrelangen Warten auch viele der Programmroutinen im Monitorfenster durchschaut zu haben meint, versucht sie mit den Viren zu verhandeln, die dort ein- und ausgehen. Schließlich wird ihr Augenlicht schwach und sie weiß nicht, ob es um sie wirklich dunkler wird oder sie nur von ihren Augen getäuscht wird. Wohl aber erkennt sie einen leuchtenden, freien Himmel, das Strahlen von tausend Sonnen bricht unverlöschlich aus dem Tor. Nun lebt sie nicht mehr lange. Vor ihrem Tod sammeln sich in ihrem Kopf alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die sie bisher der KI noch nicht gestellt hat. Die KI muss ganz nah an sie herantreten, sie meint erstmals einen schwachen Duft zu riechen. „Was kann ich denn jetzt noch für dich tun?“, fragt die KI, „du kannst ja wirklich niemals genug bekommen!“ „Alle wollen doch zur Freiheit“, sagt die Frau, „aber warum war ich in all den Jahren die Einzige hier?“ Die KI erkennt, dass die Frau ihrem Ende nahe ist, und, um ihr vergehendes Gehör noch zu erreichen, sagt sie sehr deutlich, jedes Wort einzeln überbetonend: „Diese Tür war nur für dich allein bestimmt. Du allein hattest das Passwort. Ich reiße sie jetzt nieder“. Und mit ihrem letzten Blick sieht die sterbende Frau die Tür zerfallen, die KI löst sich in einen Haufen Kabel und Dioden auf, und ganz schwach meint sie noch einige Viren in Richtung der untergehenden Sonnen hüpfen zu sehen.