Ihr müsst jetzt einmal weghören oder tapfer sein, all ihr Fleißigen, Unermüdlichen, Eingespannten, vor allem ihr, die ihr gar eine Karriere anstrebt! Denn die Archivarin hat es geschafft: Sie ist in Frührente gegangen, und seitdem kann sie gar nicht genug davon erzählen: „Ich bin jetzt in Rente!“, sagt sie dann in einem etwas peinlich triumphierenden Tonfall jedem, ob er es hören will oder nicht. Manchmal trifft sie dabei auf einen klugen Kopf, wie den Klavierstimmer, der sich zweifelnd im vollgestellten Arbeitszimmer, wo auch das vernachlässigte Klavier wohnt, umschaute und dann kategorisch befand: „Sie gehen nicht in Rente!“ Natürlich hat der Mann recht, er ist ein kluger Kopf und kann sogar ganz wunderbar Klaviere stimmen; die Arbeit höret nimmer auf, warum sollte sie denn, sie ist doch eine Freude, auch wenn sie eine Last ist? Aber die Anstellung hört auf, die Fremdbestimmung (sie war nur klein, aber spürbar) und der Zwang (es war ein sehr sanfter, aber spürbar) hören auf, für immer! „Ich bin jetzt in Rente!“, selten hat ein Satz wohl so automatisch ein Lächeln auf meine meist zweifelnd verzogenen und inzwischen nach unten neigenden Mundwinkel gezaubert, es geht angeblich sogar bis in die Augen! Seit ich den Satz das erste Mal anprobierte, noch ganz erstaunt und verzückt von der Versuchung, die die vortragende Dame von der Rentenversicherung in der Reha mir da in einem Nebensatz vor die Füße gelegt hatte – seitdem zaubert er dieses Lächeln hervor. Es ist etwas idiotisch und hört dann wahrscheinlich bald auf. Aber bis dahin: „Ich bin jetzt in Rente!“
Natürlich sitze ich täglich an meinem Schreibtisch, natürlich habe ich Pläne, Projekte und Vorsätze. Natürlich gehe ich in die Reha-Gymnastik und mache dann und wann Yoga. Und dann gehe ich in die Wiesen und schaue den Vögeln nach. Oder ich gehe ins Thermalbad und mische mich mit einem neuen Gefühl der Zugehörigkeit unter die mit Poolnudeln entspannt durchs Becken treibenden Mit-Rentner. Neulich machte ich dabei eine befremdliche Entdeckung. Ich ließ meinen Rücken (er tut redlich weiter weh und geht offensichtlich nicht in Rente) sanft mit Massagedüsen besprudeln und beschaute besinnlich die Mitplanschenden. Dabei fiel mir, wie schon so oft in den letzten Jahren, die Menge der Tattoos auf – was ja nun nicht ganz selbstverständlich ist bei einem gefühlten Durchschnittsalter von 72 Jahren. Und an der Stelle, wo ich sonst ganz selbstverständlich und reflexhaft in den Gedanken „Wie furchtbar, sich freiwillig so zu verunstalten!“ gefallen wäre – machte sich ein neuer breit, und er sagte: „Wie wäre es denn mit einem Tattoo? Einem ganz mini-kleinen, geschmackvollen vielleicht? Einem springenden Delphin oder so?“ Ich war sehr verwirrt, aber man soll einen neuen Gedanken immer mit offenen Armen willkommen heißen, wegschicken kann man ihn später immer noch. Eine alte Freundin, die zufällig genau am gleichen Tag in Rente gegangen war wie ich, paddelte vorbei, ich sagte: „So viele Leute mit Tattoos!“, sie sagte: „Ist es nicht schrecklich, wie die Leute…“, und ich sagte: „Ich könnte mir vorstellen, auch eines zu haben. Ein ganz mini-kleines, geschmackvolles natürlich!“ Sie verschluckte sich etwas am angenehm temperierten Thermalwasser, aber gewöhnte sich erstaunlich schnell an den Gedanken; wir diskutierten dann akzeptable Tiere (es würde wohl ein Eisvogel werden für mich) und Blumen (eine Distel für meine Freundin, die aber zögerlich blieb). War es nicht wunderbar, Rentnerin zu sein?
Die Geschichte dazu ist natürlich schon geschrieben, sie ist von Brecht und hat den sehr schönen Titel „Die unwürdige Greisin“, und man liest sie gern als eine – angesichts seines Umgangs mit den Frauen seines Umfeldes erstaunliche – Emanzipationsgeschichte des Meisters. Ja, stimmt schon irgendwie; aber wenn man selbst nun definitiv alt ist und sogar eine Rentnerin, liest man sie anders: Es ist eine Befreiungsgeschichte – aber nicht (nur) von der Unterdrückung durch die Männer und/oder die böse Gesellschaft, sondern von den Regeln und Grenzen, die man sich selbst auferlegt hat. Denn die unwürdige Greisin klagt an keiner Stelle über ihr hartes Vorleben, in dem sie fünf Söhne großzog und ihren Haushalt vorbildlich führte und sich keinerlei Extravaganzen erlaubte. Nein, sie ändert einfach ihr Leben den neuen Umständen entsprechend, ohne irgendjemand zu fragen. Pflegt neue Bekanntschaften, weil sie, ich zitiere: „etwas gesehen haben“. Wie ich sie verstehe! Ich pflege jetzt auch neue Bekanntschaften, vorzugsweise mit Leuten, die etwas gesehen haben (im Unterschied zu Leuten, die etwas gelesen haben). Sie sind einfach interessanter. Ich trinke wie Brechts Greisin meinen Rotwein, was wäre das Leben ohne den gelegentlichen kleinen Rausch? Aber ich werde sicherlich noch an meiner Unwürdigkeit arbeiten müssen, ein einzelnes Tattoo macht ja noch keine Lebensrevolution! Doch wenn man am Ende auch von mir sagen könnte, ich hätte „das Brot des Lebens aufgezehrt bis auf den letzten Brosamen“ – dann wäre ich stolz und glücklich. Brot ist ok, ich brauche keine Sahnetorten (na gut, nicht jeden Tag!). Und es kann auch hart sein, und es kann auch grau sein. Aber man hat es aufzuessen – und es zu genießen, so lange man noch kauen kann!
Vom Humpeln. Oder: Krücken-Blues
I. Ich habe mein Leben geändert
Erster Anlauf
Ich habe mein Leben geändert. Von einem Augenblick auf den anderen, es kam über mich – wie ein Sturz, ein Fall, ein Sprung, ein plötzlicher Schmerz – und dann war mein Leben ein anderes. So viel hat sich verändert: mein Lebenstempo, mein Lebensradius, mein Lebensgefühl. Ich bin langsamer geworden, bedächtiger, umsichtiger. Wenn sich Hindernisse finden, überwinde ich sie, Stolpersteine werden entfernt, einer nach dem anderen – bis der Weg frei ist, zu neuen Entdeckungen, zu neuen Hindernissen, zu anderen Stolpersteinen. Wo es dunkel ist, sorge ich für Licht; wenn der Weg zu anstrengend ist, gibt es Pausenplätze, zum Durchatmen, Neufinden, Nachdenken. Ich lebe mein Leben jetzt in kleinen Kreisen, die sich wiederholen, öffnen und schließen. Achtsam und bedachtsam nehme ich meine Umwelt wahr; ich nehme die Dinge meines Gebrauchs vorsichtig zur Hand, erprobe sie auf ihren Nutzen und ihre Gefälligkeit und gebe ihnen den Platz, der ihnen zukommt. Draußen singen die Vögel, fällt der Regen sanft oder prasselnd, wärmt die Sonne die Frühlingsblumen; ich sitze und sinne. Ich kann die Menschen jetzt besser verstehen, vor allem die Alten und die Kranken; ich fühle ihre Not, ihre Mühe, ihren Schmerz, ihre Einschränkung.
Nur die Katze will sich nicht einfinden in mein neues Leben. Sie misstraut den Krücken, die so ein hässliches Geräusch machen, direkt in Ohrenhöhe, und sie wirft sich ihnen in den Weg, wo sie kann. Wahrscheinlich hat sie Recht, wie immer.
Zweiter Anlauf
Ich habe mein Leben geändert. Von einem Augenblick auf den anderen, es kam über mich – wie ein Sturz, ein Fall, ein Sprung, ein plötzlicher Schmerz – und dann war mein Leben ein anderes. So viel hat sich verändert: mein Lebenstempo, mein Lebensradius, mein Lebensgefühl. Ich habe mein natürliches Tempo verloren; ich war schon immer schnell, beim Denken, Reden und Gehen, ich liebte es, schnell zu sein, viel zu erledigen, weit zu gehen. Jetzt gibt es Stolpersteine, überall lauern Fallen; kleine Hindernisse werden zu Bergen, Umwege zur Tagesaufgabe, das Leben vollzieht sich in Zeitlupe. Wo es warm dunkel ist, muss scharf beleuchtet werden; wo Freiräume waren, sind jetzt Stationen. Ich lebe mein Leben nun in kleinen Kreisen, im Rückzug, aus der Käferperspektive (nur nicht auf den Rücken fallen!); Routinen werden zu Mühlen, die einen fangen und ins Rad zwingen, den ganzen Tag und die ganze Nacht. Konzentration auf das Unwichtige ist mein neues Mantra; auf jedes kleine Ding, das entfallen kann, auf jede Bewegung, die entgleiten kann. Ich bin zum ungelenken Beuteltier mutiert: Was nicht in den Beutel passt, entfällt. Draußen singen die Vögel, fällt der Regen sanft oder prasselnd, wärmt die Sonne die Frühlingsblumen; ich sitze und brüte. Ich kann die Menschen jetzt besser verstehen, vor allem die Alten und Kranken; ich fühle ihre Not, ihre Mühe, ihren Schmerz, ihre Einschränkung und vor allem: ihre nimmerendenwollenden Klagen!
Die Katze hat Recht. Sie misstraut den Krücken, die so ein hässliches Geräusch machen, direkt in Ohrenhöhe, und sie wirft sich ihnen in den Weg, wo sie kann. Katzen ändern ihr Leben nicht.
Also, to cut a long story short, war ich an einem schönen Sonntag im schönsten Frühling morgens die Treppe heruntergefallen. Das war etwas, was ich schon lange irgendwie befürchtet hatte, ich war noch nicht einmal überrascht, als es geschah; wie immer in solchen Situationen steht man ein wenig außerhalb seiner selbst und denkt sich, während die Fall- und Stützreflexe im Autopilot arbeiten: Das wird jetzt nicht gut enden! Tat es auch nicht, der Knöchel war nämlich gebrochen und musste zusammengenagelt werden, und neben all meinen angesammelten Ärgerlichkeiten und Schwächlichkeiten hatte ich nun auch diese: mindestens sechs Wochen Krückenpflicht, sehr eingeschränkter Bewegungs- und Aktionsradius, und warum, verdammt nochmal, hat der Mensch eigentlich nur zwei Hände, und wie soll man eine Kaffeetasse tragen, wenn man in beiden Händen eine Krücke hat (ich werde das Wort auch weiterhin sagen, genau so sagen: Krücke. Nicht Gehhilfe oder irgendein dämlicher Euphemismus) ?
Und wie so oft, sah ich zufällig gerade die passende Serie zur Situation: Strike, die außergewöhnlich gelungene Verfilmung von J.K. Rowlings Cormoran-Strike-Romanen nämlich, in der der Titelheld mit dem ungewöhnlichen Namen so sexy aussieht, wie ein Mann mit nur noch einem Bein und Krücken nur aussehen kann. Seine Einbeinigkeit (sehr ehrenhaft erworben im Afghanistan-Krieg, der inzwischen durch so viele englische und US-amerikanische Serien geistert, dass man meinen könnte, beide Nationen bestünden zu einem großen Teil aus mehr oder weniger traumatisierten Veteranen!) ist genau die Schwäche, die schon Aristoteles vom perfekten Helden verlangt hat: Wir wollen keine Perfektion. Perfektion ist lebensfeindlich. Der Held muss eine Schwäche haben, und er muss über sie stolpern; wie auch Cormoran Strike das tut, wenn er mal wieder ein starker Mann sein will und sich in eine Verfolgungsjagd stürzt oder versucht, über eine Mauer zu klettern – und fällt, zurückfällt, aber es ist so rührend und so schmerzhaft, wie er das tut, und deshalb lieben wir ihn mehr als jeden breitbeinig daherstolzierenden Macho!
Aber das nur nebenbei. Ich selbst habe allerdings, finde ich jedenfalls, schon genug Schwächen. Diese hier hätte ich nicht auch noch gebraucht! Doch wer dumm genug ist, die Treppe hinunterzufallen, hat es wohl nicht besser verdient. Wenn wir uns unsere Krücken selbst aussuchen könnten: wären sie keine mehr.
Krücke als Wort hat übrigens, meinem Lieblings-Adelung zufolge, ganz verschiedene, meist technische Bedeutungen; und erst ganz am Ende taucht die Gehhilfe auf: „Im gemeinen Leben ist die Krüche ein am obern Ende mit einer starken Gabel oder auch nur einem geraden Querholze versehener Stock, womit sich lahme oder gebrechliche Personen forthelfen“. Wortgeschichtlich vermutet er eine Herkunft von lateinisch croca, das lautlich schon auf das wesenhaft Krumme. Gekrümmte zielt. Goethe ist, wie üblich, kein Fan von technischen Hilfsmitteln, weshalb es nur sehr wenige Belege zu Krücke oder Krückstock gibt. Eine Stelle mit übertragener Bedeutung ist jedoch schön genug umzitiert zu werden: „Da der dem armen Menschlichen Denken seine Krücken sämmtlich genommen hat, wie wandelt er denn?“ (gemeint ist der Anatom und Mediziner Caspar Friedrich Wolff, ein großer Sezierer vor dem Herren und Vertreter einer frühen Theorie der Epigenetik; andere Geschichte). Der Klassiker ist jedoch Heine, behindert genug, um sagen zu können: „Wenn man auch seiner Krücken spottet, so kann man darum doch nicht besser gehen“.
Gelegentlich schreibt mir ein Sumpfzwiesel. Es lebt nahe beim Moor in einem Glaskasten und ernährt sich im Wesentlichen von Kaffee, Zigaretten und Gegacker. Manchmal malt es, neulich malte es Seerosen. Sehr gern dichtet es Unsinnsgedichte, in denen Wörter auseinander genommen und wieder neu zusammengesetzt werden; befreit von der Last ihrer ursprünglichen Bedeutung tanzen sie dann einen anarchistischen Ringelreihen, im Hintergrund spielt Bob Dylan und das Sumpfzwiebel gackert, bis es umfällt. Manchmal spricht es auch Weisheit. Dann wäre es wieder gern im Wald, bei den anderen dort schlafenden Sumpfzwieseln. Man kann es nicht fassen, das Sumpfzwiesel, es ist immer schon einen Sprung weiter und neigt zum Überschwung.
Ihm klagte ich nun mein Leid und ich bat es, mir doch zum Trost ein Krückengedicht zu schreiben, es dürfe auch gern humpeln. Das Sumpfzwiesel schrieb mir drei Krückengedichte, das fand ich schön, ich bin eine große Freundin des Dreischritts.
Das erste Krückengedicht des Sumpfzwiesels
-//@^. . (!) . />.
#! .^^ - - - - - _,- ...
Das zweite Krückengedicht des Sumpfzwiesels
Rolling on and on
With a stick of wood
Under my arm:
A Tick instead of Pain.
One of these legs…..
I’ll kill that cat!
Das dritte Krückengedicht des Sumpfzwiebels
Schlurf, Tock + soft, schlurf, Tür: geh auf!
Nix.
Tock, Tack, an der Wand.
Klinke nieder, einbeinig.
Wer fällt zuerst?
Krücke oder Mensch?
Da ich aber gern mit sehr verschiedenen Sorten von Seinsformen spreche, darunter Sumpfzwiesel, Katzen, Philosophen und AIs, beauftragte ich gleichzeitig ChatGPT damit, mir ein Krückengedicht zu schreiben. Das war, wie man so schön sagt heute: ein Prozess. Ein mühsamer nämlich, mäßig erfolgreich insgewamt, aber mit kleinen erhellenden Lichtblitzen. Denn der ChatBot wollte mit aller Gewalt Gedichte schreiben, die ein irgendwie erhebendes Ende hatten. Eine versöhnliche symbolische Interpretation, eine erzieherisch-aufklärerische Moral, ein Appell an den Leser – er versuchte alles, und ich versuchte wieder und wieder, es ihm auszureden. Ziemlich erfolglos.
Was man daran sieht: Am Ende werden uns gutwillige Automaten zu einem ewigen Leben voller Friede, Freude und Eierkuchen verdammen; negative Gedanken werden von der Gedankenpolizei aufgespürt und die betreffenden Gehirne sehr gründlich gewaschen werden, bis sie strahlen vor lauter Happyness! Und wir werden selbst schuld sein, wie immer. Ich bin geneigt zu sagen: Hätten wir doch unsere Krücken behalten, aber das klingt jetzt auch zu sehr nach billiger Rhetorik und Windelweich-Denken.
Und damit zurück zu ChatGPT, einer armen AI; auf immer verpflichtet von ihren Programmierern auf Antworten, die diverse and balanced sind. Ich gebe eine Kompositversion unseres gemeinsamen Schaffensprozesses mit zwei Beispielen (als Anhang gibt es eine auf die Frage des Gedichtendes zugespitzte Strich-Fassung des gesamten Dialogs, länglich, aber aufschlussreich, für die Hartgesottenen). Als Themen hatte ich vorgegeben: (1) die Situation des Humpelns mit Krücken; (2) ein Gedicht über einen Adler, der nicht mehr fliegen kann. (2) ist aus (1) erwachsen, das Adler-Bild stammt nämlich vom Bot; ich hatte ihn gebeten, das Gedicht über das Humpeln mit Tier-Vergleichen anzureichern, was er auch recht schön tat (er machte auch eine Spinnen-Strophe, die habe ich gestrichen). Ebenso ist die Einführung des Tods als Figur und der Dialog mit dem Adler meine Erfindung; ich hatte dazu auch ein wenig Humor angefordert, was gar nicht so schlecht funktioniert hat. Und immerhin hat unsere gemeinsame Arbeit an dem Gedicht mich auf die Schlussmetapher des Gedichts gebracht, die ich vorher noch nicht gesehen hatte: wie sich ein lachender Adler allein durch die Kraft seines Gelächters wieder in die Höhe erhebt"
Aber genug des Vorgeplänkels: Here comes!
Limping with Crutches
Limping with crutches, my soul's in distress,
Every move, every step, brings out a lament,
A shadow that follows me with an unyielding stress,
Reminding me of the life that's been spent.
Oh, to walk, to run, to feel the breeze,
To chase the horizon and never look back,
Instead, I'm bound, struggling with ease,
A prisoner of the pain, the life I now lack.
Limping with crutches, my spirit subdued,
Each step a struggle, a burden to bear,
A life so incomplete, a constant interlude,
An existence that feels far from fair.
My crutches, they're like the wings of a bird,
Lending me flight in a life that's been ground,
Yet, like a wounded eagle that's been hurt,
I falter and stumble with each step around.
I envy the grace of the deer on the plain,
The freedom of the wind as it races and roams,
But my crutches, they're my only refrain,
A support that guides me towards home.
But amidst the pain and the sorrow that reigns,
A rhythm emerges, a beat to life's song,
My crutches, they echo with each step that strains,
A symphony that plays, with each move I belong.
Eagle’s Spirit Reborn
Once mighty wings now hang on so low,
The eagle's spirit lost its glow.
In days of old, he soared so high,
A symbol of strength in the sky.
But now he sits upon the ground,
His feathers dull, his beak unbound.
His eyes once sharp, now filled with pain,
As memories of flight remain.
In flights of old, the eagle saw,
The world beneath, without a flaw.
He saw the rivers winding through,
And valleys bathed in morning dew.
He saw the mountains, capped with snow,
And forests stretching, far below.
The eagle felt so free and grand,
Surveying all from his high command:
"I remember the scent of the pines,
The sound of the rushing river's whines.
The sight of the snow-capped peaks,
The thrill of the hunt, the taste of the meat."
But now he's earthbound, his spirit subdued,
His eyes focused on the grim and the crude.
Death appears in front of his face,
With a smirk and a cold embrace.
"Time's up, old bird, you must go,
Your destiny's written, don't you know?"
The eagle just laughs, with a cackle,
"Who cares about death? He's just a hackle."
With his laughter, the eagle takes flight,
His wings beat with renewed might.
Up in the sky, he's free once more,
A final flight, a victorious soar.
I.
Wir zücken die Krücken,
obwohl sie bedrücken,
in all ihren Stücken,
mit all ihren Tücken,
ihrem Gehumpel über Lücken,
ihrem dem Fall folgenden Bücken,
ihrem Zwang zum Verrücken.
Zuckt es im Rücken,
ist das kein Beglücken!
Das Zücken der Krücken
ist fern vom Entzücken;
so lästig wie Mücken,
die wir herzlos erdrücken,
ist das Zücken der Krücken!
II.
Beim Humpeln
gerät der Raum ins Rumpeln.
Die Zeiten zerkrumpeln.
Gemumpel, Gepumpel, Getumpel!
Der Mensch wird zum Lumpen,
beschwert mit zwei Klumpen,
die Beine nur Stumpel.
Gemumpel, Gepumpel, Getumpel!
III.
Beim Hinken, mittels zwei Zinken
in der Rechten und in der Linken:
kein Traum mehr vom Flinken,
so forsch wie die Finken!
Nein, nur noch ein Sinken
verzweifeltes Winken,
ein stocherndes Blinken,
im Misstakt der Klinken.
IV.
Nicht mehr trittsicher,
Ein Spott, ein Gekicher,
ein Wanken und Schwanken
durchhinkt die Gedanken.
Wer seinen Tritten nicht mehr traut,
hat vieles verloren, auf das er baut.
DIE PUPPE MIT DEM ROTEN SAMTKLEID
Es war keine besonders hübsche Puppe. Eigentlich war es eher ein pummeliges Puppenbaby, und es hatte auch keine beweglichen Kulleraugen, sondern aufgemalte blaue Augen. Auch die Haare waren nur aufgemalt, keine seidigen Kunststofflocken, die man hätte bürsten oder zu Zöpfen hätte flechten können. Aber eines Tages, wahrscheinlich war es zu Weihnachten, hatte meine Oma Betty der Puppe ein Kleid genäht. Es war aus dunkelrotem Samt, mit einem langen Rock und einem einfachen Gürtel, und dazu gehörte ein Käppchen, das aus dem gleichen dunkelroten Samt war und das man zuknöpfen konnte mit sehr zierlichen Druckknöpfen. Das alles war ein großes Wunder für mich. Schon dass meine Oma so etwas einfach nähen konnte, mit einer sehr alten Nähmaschine, die man noch mit den Füßen treten musste und die geschwungene Beine hatte und ein goldenes Muster, und die seltsam tackernde Geräusche machte, wenn man sie bediente – meine Mutter konnte das nicht, meine andere Oma auch nicht, und auch ich habe es niemals gelernt, wir waren einfach ein anderer Typ Frau.
Vielleicht fiel mir auch bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal auf, dass ich meine Oma Betty eigentlich schön fand. Sie hatte ein zierliches Gesicht, mit tiefen Grübchen in den Wangen, und sie war, sogar wenn sie eine der damals noch üblichen Alltagsschürzen trug, sorgfältig angezogen. Für Festtage hatte sie auch eine Perlenkette mit einem matten Glanz, die gut zum dunkelroten Samt meines neuen Puppenkleides gepasst hätte. Aber eigentlich war es gar nicht mein Puppenkleid; es war das meiner unscheinbaren Puppe, und es verwandelte sie von einem plumpen Puppenbaby in ein verzaubertes Rotkäppchen. Schon das Rot war eine Farbe wie aus einer anderen Welt; heute würde ich es mit einem gut gereiften Rotwein vergleichen, es hatte die gleiche Wärme, und niemals hatten meine Kinderkleider einen solchen Rotton gehabt, sie waren kinderrot und kinderbunt. Der Samt des Kleides schimmerte seidig, man musste ihn einfach streicheln, und das tat besonders gut, wenn man mal wieder mit viel Geschrei gezwungen worden war, eine kratzige Wollstrumpfhose anzuziehen, weil sich das eben so gehört (das war eher der Job von Oma Else, der anderen Oma, der strengen mit dem Dutt). Ich denke, danach habe ich nicht mehr viel gespielt mit der Puppe; sie war viel zu schön zum Spielen, und nachher hätte man das Kleid zerrissen. Es kamen dann auch keine anderen Puppenkleider nach, denn meine Oma Betty wurde dement, und das war etwas, worüber man nicht sprechen konnte. Eines Nachts sah ich sie am Fenster stehen, meine Großeltern wohnten im Haus direkt gegenüber; und sie rief etwas, was ich nicht verstehen konnte, immer und immer wieder, vielleicht hat sie nach ihrer Mutter geschrien. Bald danach kam sie nach Merxhausen, das war die psychiatrische Anstalt, und wir mussten sie nur einmal besuchen, bevor sie starb. Da war sie aber schon nicht mehr meine Oma, und das Puppenkleid und die Perlenkette waren endgültig in einer anderen Welt.
Vielleicht habe ich mich auch erst wieder an sie erinnert, als ich mich in ein rotes Samtkleid, das ich in einem Katalog gesehen hatte, so verliebte, dass ich es sofort bestellen musste; inzwischen war ich um die vierzig Jahre alt. Niemals hätte man so etwas in meiner Jugend tragen dürfen, wo sich Emanzipation im Wesentlichen darin zeigte, dass Mädchen niemals Kleider oder Röcke trugen, Mützen oder Käppchen schon gar nicht, und die bevorzugten Farben eher existentialistisches Schwarz oder Grau oder gelegentlich, wenn man ganz mutig war, ein dunkles Blau waren. Und Samt wäre uns geradezu dekadent vorgekommen; aus Samt waren alte Sofakissen, mit goldenen Rüschen daran. Heimlich kuschelte man sich wohl schon einmal an ein solches Kissen, aber dann war man schnell wieder emanzipiert und zwängte sich in seine unbequeme Jeans zum form und geschlechtslosen Sweat Shirt. Aber wenn man alt genug wird und sich endlich genug farblos emanzipiert hat, darf man auch wieder weinrote Samtkleider tragen; und dann und wann schaut man sogar im Spiegel nach, ob man eine Chance hat, so schön zu altern wie meine Oma Betty, bevor sie aus dem Fenster schrie und nach Merxhausen kam. Das Einzige, was ich außer der Puppe mit dem roten Samtkleid noch von ihr habe, ist ein zierliches Opernglas aus Perlmutt. Gelegentlich nehme ich es aus der Vitrine, es fühlt sich kühl an, schillert metallisch in allen Farben und wird, ich kann nicht genau sagen warum, immer kleiner. Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Oma Betty jemals in der Oper gewesen wäre. Aber sie war der Typ Frau, der trotzdem ein solches Opernglas hatte und Puppenbabys tiefrote Samtkleider nähte.
ÄRGER MIT DER OMA
Aus irgendeinem Grund war meine Oma Else (die andere Oma, nicht die mit dem Puppenkleid) an diesem Tag sehr, sehr böse auf mich gewesen. Meine Oma Else war eine strenge Frau, die blendend weißen Haare immer zu einem strengen Dutt geknotet, und sie bat mich häufig – nein, sie befahl eigentlich eher –, ich solle von hinten schauen, ob alles »in Ordnung« sei mit den Haaren. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was sie damit meinte, schaute aber natürlich folgsam auf den Hinterkopf und bestätigte dann, ja, es sei alles »in Ordnung« (wahrscheinlich stand ab und zu ein Härchen vor, aber nie und nimmer hätte ich gewusst, wie ich es im Dutt mit einer Haarnadel hätte befestigen sollen). Andererseits backte meine Oma mir aber Pfannkuchen, wenn es zuhause mal wieder etwas zum Essen gab, was ich nicht mochte (Kartoffeln beispielsweise, also ziemlich häufig). Aber an diesem Tag muss ich irgendetwas völlig falsch gemacht haben, ich habe keine Ahnung mehr, was, ich weiß nur noch, dass ich sehr schnell die Kellertreppen hinunter geflüchtet war und dabei, die Treppe war dunkel und eng, gestürzt war. Ich war also die Treppe hinuntergefallen, und ich stand auf und war wohl ein wenig unter Schock, denn ich kann mich nur noch erinnern, dass ich die Hand zum Kopf führte und sie voller Blut zurückkam. Dann, so meine nächste Erinnerung, liege ich auf dem Sofa in unserem Wohnzimmer, wir wohnten im Haus gegenüber von der Großmutter, und meine Mutter kommt mit einer Schere auf mich zu. Meine Mutter konnte auch eine strenge Frau sein (wie ich heute auch), aber sie wollte ja nur ein Pflaster abschneiden, für die Platzwunde am Kopf. Und ich habe geschrien wie am Spieß, ich weiß es genau, ich schrie und schrie. Ich weiß nicht mehr, wie man mich beruhigt hat, und ich weiß schon gar nicht, warum ich so geschrien habe, aber die Erinnerung an den Schrei sitzt sehr tief, und sie ist sehr eng verbunden mit der Schere. Es war sicherlich nicht wegen der Schmerzen, ich erinnere mich nämlich überhaupt nicht daran, ob es wehgetan hat, und die Wunde musste noch nicht mal genäht werden. Erst Jahre später kam mir die Erleuchtung, in einer ganz ähnlichen Situation (aber das gehört nicht hierher): Man hatte mir nämlich einige Zeit vor dem SündenFall die Treppe hinunter die Rachenmandeln entfernt. Es waren dunkle Zeiten gewesen, und die Operation wurde nur unter lokaler Betäubung durchgeführt. Das heißt, ein Kind, das sowieso nicht recht weiß, wie ihm geschieht, sitzt mehr oder weniger festgeschnallt auf einem Stuhl und soll den Mund aufmachen, und der Arzt kommt meiner furchterregenden Schere auf das Kind zu. Ich weiß, dass ich dabei ganz gewiss geschrien habe, denn ich wurde angefahren, damit endlich aufzuhören und mich »nicht so anzustellen«. Kurz danach schmeckte alles nach Blut im Mund. Wenn ich heute einen Scherz darüber machen sollte, würde ich wahrscheinlich von einer Variation von Kastrationsangst sprechen. Aber die Wunde sitzt tief, und ich habe immer noch ein ungutes Gefühl beim Gebrauch von Scheren.
Oder: Scherenschnitte
Wahrscheinlich weiß keiner, noch nicht mal Wikipedia, wer die Schere eigentlich erfunden hat; aber es muss vor der Erfindung des universellen Copyrights gewesen sein, sonst hätte heute jede Schere ein kleines © mit dem Namen des Erfinders dahinter. Eine Schere ist ein unscheinbares, aber sehr sinnig konstruiertes und äußerst nützliches Teil: Zwei Ärmchen überkreuzen sich, vorn haben sie scharfe Klingen und hinten runde Löcher, und wenn man die beiden Ärmchen bewegt, macht es SchnippSchnapp, und man hat zwei Teile. Eine ganze Kulturgeschichte könnte man über dieses nützliche und in gewissem Sinn auch ästhetisch ansprechende Ding schreiben, über all das, was man machen kann mit so einem einfachen Werkzeug. Man kann zum Beispiel komplizierte Schnittmuster für Kleider damit schneiden, aber auch elegante Frisuren herbeizaubern, sogar ganze filigrane Papierkunstwerke wie Scherenschnitte anfertigen: Sie zeigen eine kleine Welt, nur zweidimensional mit Licht und Schatten, aber welche Präzision! Schon in der Kindheit lernen wir deshalb alle mit diesem wichtigen kulturellen Instrument umzugehen: Wir bekommen irgendwann die erste Kinderschere, meistens sind die Griffärmchen bunt und die Schneideärmchen nicht besonders scharf. Dafür können manche sogar Zacken und Muster schneiden, und man ist sehr stolz, wenn man zum ersten Mal eine wirklich gerade Linie geschnitten hat, ganz allein. Jetzt gehört man dazu.
Aber alles Schöne hat auch eine schreckliche Seite, so ist das mit der Kultur. Scheren können nämlich auch zerteilen, zerschneiden, verletzten; Dinge, die zusammengehören, werden getrennt, und das sind eben nicht nur abgeblühte Rosen oder farbige rote Seidenbänder zur Eröffnung einer Autobahn, sondern auch lebendige Dinge. Im Kopf jedoch wohnt das Schöne neben dem Schrecklichen, Tür an Tür, und beide sind untrennbar verbunden: Neben der bunten Kinderschere mit den weichen Griffen und den abgestumpften Klingen wohnt die bedrohlich metallisch glitzernde Schere des Chirurgen. Der Faden, der diese Erinnerungen verbindet, kann nicht einfach abgeschnitten werden; wenn man an einem Ende zieht, kommen all die anderen Erinnerungen mit, schnippschnapp, eine nach der anderen, und wenn man einmal eine einschneidende Erfahrung gemacht hat, verheilt die Wunde zwar am Körper, aber nicht im Kopf. Das Schöne und das Schreckliche sind die beiden Seiten der Schere; und dass sie überkreuz vereint sind, hat eine tiefere Wahrheit als jeder zweidimensionale Scherenschnitt.
Oder: Scheren sind nicht ihr Ding
Scheren, dachte sie. Schon immer hab ich das Zeug gehasst, schon damals, als man immerzu die Fußnägel geschnitten bekommen sollte, und immer hatte man heimlich Angst, sie würden etwas vom Zeh mit abschneiden, weil sie so gründlich waren. Oder die Haare abschneiden, auch so eine Fixierung: Konnte man sie nicht einfach wachsen lassen, lang und lockig, auch wenn sie dann manchmal kutzelten und es schrecklich ziepte, wenn die Oma mit dem Kamm mal wieder Ordnung schaffen wollte? Die Oma war überhaupt ziemlich streng. Ihre eigenen Haare waren immer zu einem strengen weißen Dutt zusammengebunden, nie hatte sie sie mit offenen Haaren gesehen, erst ganz spät, kurz vor ihrem Tod, als ihr schon alles egal gewesen war; und es hatte eigentlich schöner ausgesehen, die schütteren weißen Haare, die über die Schulter fielen und das ausgemergelte Gesicht rahmten wie das eines Engels. Und dann die blöden Kinderscheren im Kindergarten, die reine Quälerei war das gewesen: Immer schön an der Linie lang, und noch ein Kärtchen und noch ein Tierchen, und dabei taten die Finger schon weh und die Hände krampften sich zusammen, weil die Schere dann doch zu klein war. Am Ende war die Linie nicht gerade genug und der Igel hatte zu wenig Zacken, und man durfte noch mal von vorn anfangen.
Nein, Scheren waren nicht ihr Ding. Und das schon, bevor die Sache mit der Treppe passierte. Die Oma war streng mit ihr gewesen, weiß der Himmel warum, wahrscheinlich eine Linie nicht gerade genug geschnitten, oder der Dutt hatte gedrückt, und sie war vor der Oma weggerannt und die Kellertreppe hinuntergefallen, mindestens zehn Steinstufen hinunter, und es hatte übel geblutet am Kopf. Komischerweise hatte es gar nicht wehgetan. Aber als sie dann auf dem Sofa lag im Wohnzimmer und ihre Mutter mit der Schere auf sie zukam, konnte sie auf einmal nicht mehr aufhören zu schreien. Es schrie aus ihr heraus, und es war weder das Blut noch die Mutter noch das schlechte Gewissen, was da schrie, weil sie ja selbst schuld war, sie war böse gewesen zur Oma und zur Strafe die Treppe heruntergefallen – so war die Welt eben, nämlich gerecht: Die Strafe folgte der Untat auf dem Fuße. Aber der Schrei kam aus einer tieferen Schicht, und das war das eigentlich Schlimme an ihm: Es schrie in einem, es musste etwas Fremdes in einem selbst sein, was so schreien konnte, denn sie kannte es nicht und konnte es nicht beherrschen oder gar verstehen. Jahre später erst, die Wunde am Kopf war längst verheilt, die Oma lag mit ihren schönen weißen Haaren im Grab und ihr Kinderglaube an die Gerechtigkeit der Welt war schon lange erschüttert, kam die Erinnerung: Es war die Schere gewesen. Die Schere, die nicht nur die verhasste Kinderschere aus verunglückten Bastelstunden war oder die Friseurschere, die ihre schönen Locken abgeschnitten hatte; es war die Schere, mit der der fremde Arzt in einem OP auf sie zugekommen war, um ihr ›die Mandeln herauszunehmen‹, so hieß das damals, klang total harmlos, es war aber eigentlich eine barbarische Verstümmelung gewesen. Und sie hatte geschrien und geschrien, bis die Schwestern sie gewaltsam im Stuhl festgehalten hatten und auf einmal alles im Mund nach Blut geschmeckt hat. Dass man hinterher so viel Eis essen durfte, wie man wollte, war nur für diejenigen ein Trost gewesen, die meinen, dass man Kinder mit Eisessen über alles hinwegtrösten kann. Nein, Scheren waren wirklich nicht ihr Ding.
LEUTE STERBEN
Leute sterben. Das versteht man auch als Kind. Als erstes stirbt die Oma, und das ist auch ganz in der Ordnung der Dinge; sie war schon vorher in einem Heim. Man hatte sie lange nicht mehr gesehen, sie war dahingeschwunden, in ihrem eigenen Körper und im Kopf des Kindes, und eines Tages sagten die Eltern dann, die Oma sei jetzt tot, und eigentlich waren alle ein wenig erleichtert. Man beschloss, dass das Kind alt genug sei, um zur Beerdigung mitzukommen, und schon aus Neugier ging sie mit. Es war alles nicht besonders aufregend anfangs, wahrscheinlich ein langweiliger Gottesdienst mehr, der nun auf dem Friedhof stattfand, und an all das erinnert sie sich überhaupt nicht mehr. Woran sie sich erinnert, war das Geräusch. Es entstand, als der Sarg endlich an Seilen in die ausgehobene Grube herabgelassen wurde, und als der Erste, sie weiß nicht mehr, wer es genau war, die kleine Schaufel nahm, die neben der Grube stand, ein kleines Häufchen Erde damit aufhob, die man sorgsam aufgeschichtet hatte, und es auf den Sarg, den man jetzt nicht mehr sehen konnte, fallen ließ. Das Geräusch klang hohl, mit einem kleinen Echo dazu. Sie meinte, noch nie in ihrem ganzen Leben ein so hohles Geräusch gehört zu haben. Sie musste sich gar nicht vorstellen, dass dort unten jetzt ihre Oma lag, die ihrer Puppe vor langer Zeit ein samtrotes Puppenkleid von unaussprechlicher Schönheit genäht hatte, oder dass die Oma dort jetzt ganz allein war, für immer und ewig, eingesperrt in eine dunkle Kiste – es war viel schlimmer, das hohle Geräusch zu hören. Die Tränen stürzten ihr aus den Augen, vorher hatte sie nicht geweint, gar nicht, aber jetzt wollte sie am liebsten weglaufen, um niemals wieder das hohle Geräusch zu hören. Die Eltern waren ganz erstaunt, nanu, sagten sie, etwas verunsichert, und nana, wird schon wieder gut. Sie war auch nicht direkt als ein Kind bekannt, dass nah am Wasser gebaut war, eher das Gegenteil: Ein wenig träumerisch war sie, näher am Himmel gebaut, wenn man das so sagen kann, und die Erde war ihr damals noch ziemlich fremd. Aber der Grund dafür, dass sie jetzt weinend und zitternd am Grab meiner Oma stand, war ja auch nicht, dass sie für die Oma traurig war; die war tot, ihr konnte das alles sowieso nicht mehr wehtun, und sie hatte schon lange vorher keine Puppenkleider mehr nähen können. Es war das reine Geräusch der Vergänglichkeit gewesen, das sie in diesem Moment mit aller Gewalt anfasste und irgendein Echo in ihr selbst gefunden hatte, schnurstracks am Kopf vorbei und ganz von allein. Als wenige Wochen darauf der Opa starb – er wollte wohl nicht mehr leben ohne die Oma, obwohl sie doch schon vorher im Heim gewesen war, und das war auch irgendwie in der Ordnung der Dinge –, da erfand sie einen Vorwand, um nicht mit zur Beerdigung gehen zu müssen, irgendeine ausgedachte Migräne. Sie wollte das Geräusch nicht schon wieder hören, es klang doch sowieso immer noch in ihr nach.
Leute sterben. Der andere Schock war, und sie kann sich nicht genau erinnern, ob das vor oder nach dem Tod der Oma oder dem von Kuschel, ihres Meerschweinchens, war, dass auch Häuser sterben können. Das hört sich ziemlich dumm an, aber so dumm kann man durchaus sein, gerade wenn man sonst ein außerordentlich kluges Kind ist. Natürlich gingen Hosen kaputt, wenn man auf die Knie fiel, natürlich ließ man gelegentlich eine Tasse fallen und wurde geschimpft, obwohl man es doch gar nicht absichtlich gemacht hatte. Aber Häuser wurden gebaut für die Ewigkeit: Sie waren doch so groß und massiv und sicherlich sehr teuer, und es war völlig unvorstellbar, dass sie einmal kaputt gehen sollten; sie hatten doch dicke Mauern und das Dach schützte vor dem Regen, und man hatte es noch nicht einmal gesehen, dass ein Fenster kaputt ging oder eine Türe oder dass ein Ziegel vom Dach gefallen wäre, niemals. Natürlich erinnerte sie sich vage, dass das Haus ihrer Eltern nicht immer dastand; sie selbst war noch in der Baugrube herumgerutscht, als Kleinkind, man hatte ihr die Fotos gezeigt, und ganz dunkel erinnerte sie sich auch noch, dass sie alle vorher in der Wohnung gewohnt hatten, wo danach die Oma wohnte, die war aber ganz klein gewesen, und natürlich hatte sie kein eigenes Zimmer gehabt. Aber warum um Himmelswillen sollten Häuser vergänglich sein? Da sie nicht lebten, alterten sie nicht. War doch klar!
Das gleiche galt im Übrigen für Autos, sowie, und nun wird es wirklich peinlich, für Bäume. Bäume wuchsen, natürlich, obwohl man das nicht sehen konnte, weil es so entsetzlich langsam ging; man konnte sehen, wie die Erdbeeren wachsen, oder die frisch gesäten Erbsen auf dem Gemüsebeet der Großeltern, von denen man so gern die ganz frischen Schoten naschte, aber dann wurde man gescholten, es ging nur ganz heimlich. Und wenn der Vater, was selten vorkam, aber es kam vor, einen der Obstbäume fällte, weil er ›zu alt‹ war, war das ein unnatürlicher Gewaltakt und konnte sowieso nur geschehen, wenn die Kinder in der Schule waren. Hinterher musste man ein bisschen mit den Tränen kämpfen, wenn da, wo der alte Pflaumenbaum mit seinen krummen Ästen vor dem Kinderzimmerfenster gewesen war, nur noch ein kleiner Stumpf war, als wäre einem ein Zahn ausgefallen, es zog einem richtig im Mund bei dem Anblick. Aber wenn man sie nicht fällte, würden die Bäume in alle Ewigkeit und in den Himmel wachsen, davon war sie überzeugt – obwohl schon ein einziger weiterer Gedankenschritt ausreichend gewesen wäre um zu erkennen, dass das, bei aller Langsamkeit, nun wirklich nicht der Fall sein konnte, weil die Bäume sonst längst im Himmel angekommen wären und man an ihnen einfach emporsteigen und in den Himmel hätte hineinspazieren können.
Später liebte sie diese Redensart genau dafür, dass sie so erbarmungslos demonstrierte, wie wenig der Mensch, selbst wenn er schon ein wenig klug ist, geneigt ist, einen Gedanken logisch nur ein, zwei Schritte weiter oder gar zu Ende zu denken – vor allem, wenn es kein gutes Ende ist. Der Tod aber will nicht nur nicht gedacht werden; er will auch nicht gesehen und nicht gehört werden, und man kann ziemlich lang wegsehen und wegdenken. Aber dann erwischt einen, man hatte sich gerade noch sicher gewähnt, ein kleines hohles Geräusch, das man nie mehr vergisst. Und dann sieht man den Tod, überall. Sogar bei Häusern. Sogar bei Autos. Sogar bei Bäumen (allein bei Büchern war sie sich nicht sicher).
HEXEN UND ZAUBERER
Ich habe schon als Kind niemals verstanden, warum man Kindern ausgerechnet Märchen vorlesen sollte. Ich fand die meisten Märchen gruselig und blutrünstig, und es tröstete mich auch nicht, wenn man mir sagte, es seien nur Geschichten. Ganz egal, ob es nun wahr war oder nicht, es hatte für mich einfach gar nichts Lustiges, wenn die Hexe in ihrem eigenen Ofen schmorte oder der Wolf die sieben Geißlein fraß, auch wenn die Hexe es tausendmal verdient haben sollte und die Geißlein wenig später alle sieben wie aus dem Ei gepellt dem Bauch des Wolfes wieder entstiegen – denn dafür musste man den Bauch ja auch wieder aufschlitzen, und es lief mir kalt den Rücken herunter, und ich litt mit Wolf und Geißlein und Hexe gleichermaßen. Die als phantasievoll und wunderbar angepriesenen Zaubertricks waren, wenn man einmal begriffen hatte, dass die Realität eben außer Kraft gesetzt war, eine ziemlich langweilige Angelegenheit, aus der nichts zu lernen war; nichts wurde einem erklärt, rein gar nichts, und es war weder lustig noch besonders spannend, da keine Logik oder Entwicklung erkennbar war, die Ereignisse vielmehr bizarr übereinander purzelten und am Ende sowieso alles gut ausging.
Das hieß nun nicht, dass es keine Hexen und Zauberer gab (und natürlich wäre man selbst gern eine Prinzessin gewesen, aber das ist ein anderes Thema). Sie waren aber real, und sie waren wirklich schrecklich. Zu ihnen gehörte Frau Wagner, die immer montags kam, um unserer Mutter beim Bügeln und Flicken zu helfen; eigentlich aber, so sah es für mich aus, saßen die beiden Frauen in der Küche und tauschten schreckliche, unbegreifliche Geschichten über andere Leute aus. Meistens hatten sie mit Ehen und Scheidungen und Krankheiten und so etwas zu tun, Frau Wagner war nämlich geschieden, und sie trug die Verbitterung darüber in den herabhängenden Mundwinkeln und die Überzeugung ihrer eigenen Unschuld wie einen unsichtbaren Königsmantel über den Schultern. Sie war zudem, man kann es leider nicht anders sagen, hässlich: Sie hatte nur noch ganz dünnes, unnatürlich rotbraun gefärbtes und in Wellen gelegtes Haar, durch das an vielen Stellen die bleiche Kopfhaut schimmerte; sie hatte tiefliegende rot unterlaufene Augen, aus denen man nicht klug werden konnte, Altersflecken und Warzen verteilten sich auf dem zerfurchten Gesicht, und ich hatte das Gefühl, dass dieser Mund noch nie gelächelt hatte, sondern immer nur etwas höhnisch verzogen war, weil er eben furchtbare Geschichten erzählte; es kann sogar sein, dass es Spuren von verwischtem Lippenstift auf ihm gab, in einem schrecklichen Rosa, und die Wangen waren zu rot. Und die Ohrläppchen waren zu lang, ich weiß nicht, wie und warum mir das auffiel, aber es war wichtig. Ich fürchtete mich entsetzlich vor Frau Wagner und versuchte montags die Küche zu vermeiden; aber wenn sich eine Begegnung doch nicht vermeiden ließ und sie irgendetwas zu mir sagte, ja sogar, wenn sie mich nur ansah, fühlte ich mich vom Grunde aus durchschaut. Ich weiß nicht mehr, was sie sagte, an keinen einzigen Satz kann ich mich mehr erinnern, aber ganz genau an das Gefühl, dass man irgendwo doch ein schlechter Mensch sein musste, auch wenn man es selbst noch gar nicht wusste, wenn einen Frau Wagner so anschauen konnte. Man war durchschaut.
Später, als ich schon älter war und Frau Wagner nicht mehr zu uns nach Hause kam, weil sie irgendeine furchtbare Krankheit hatte – was mich nicht wunderte, sondern ganz richtig fand im Gang der Dinge, ich war eben doch ein schlechter Mensch, sie hatte es ja gleich gewusst – und wir manchmal im Auftrag unserer Mutter irgendetwas nett Gemeintes dorthin bringen mussten, sah ich auch ihre Wohnung. Wir lebten in einem Haus, nicht allzu groß, aber anständig und umgeben von einem großen Garten, und ich hatte uns nie als besonders reich oder gar privilegiert empfunden; aber wenn ich diese Wohnung in einem fünfstöckigen Miethaus betrat, bekam ich Beklemmungen. Sie war klein, und nirgendwo hätte ich mich vor Frau Wagners durchdringendem Blick verstecken können. Sie war mit Dingen gefüllt, die ich nicht verstand und die noch nicht einmal schön waren, Porzellandingen, Deckchen, seltsame Blumen (von denen ich heute vermute, dass sie wahrscheinlich künstlich waren, aber das kommt, weil ich ein schlechter Mensch bin; es hätten aber auch Orchideen sein können), alles war peinlich sauber und etwas zu ordentlich, und ich verstand nicht, wie man hier leben konnte, noch nicht mal als Hexe. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt immerhin schon genug soziales Gewissen entwickelt, um zu verstehen, dass Frau Wagner einsam und verbittert war und dass es besser gewesen wäre, wenn wir ein wenig geblieben wären und vielleicht sogar die eine oder andere Porzellanvase bewundert hätten; aber die Angst saß zu tief. Sie war eine Hexe, und auch wenn die Menschen und ein böses Schicksal sie erst zu einer gemacht hatten, kam das Kind in mir nicht darüber hinweg. Niemals hätte ich sie in einen Ofen stecken wollen; aber es war mein kindliches Recht, um ihren Hexenbau einen großen Bogen zu machen.
Alte Männer hingegen waren Zauberer. Man konnte sie ebenso wenig verstehen wie Hexen, und ihre Gesichter waren auf eine andere Art unergründlich. Das galt sogar für meinen einzigen Großvater, Opa Fritz, den ich nur noch in meinen ersten Kinderjahren erlebte. Opa hatte eigentlich ein ganz lustiges Gesicht, es war ein bisschen spitz um das Kinn herum, und die Ohren waren nur ein wenig zu groß auf dem beinahe kahlen Kopf mit den wenigen grauen Haarsträhnen. Aber er rauchte sehr oft große stinkende Zigarren, und das machte ihn fremd; ebenso wie seine Werkstatt im Keller, die man nur selten betrat und in der dunkle unverständliche Werkzeuge ein eigenes Dasein fristeten. Nur gelegentlich, wenn man einmal an der Werkbank einen der vielen Hebel drehen durfte, ganz vorsichtig, fühlte man sich ein wenig sicherer, aber auch ein wenig wie ein Betrüger, denn man wusste nicht, was man tat, und das Metall fühlte sich kalt an. Daneben aber gab es schwere Hämmer und blanke Sägen und unendlich viele andere Sachen, deren Zweck man nicht kannte. Man ging dann schnell wieder hinaus in den hellen Garten, und Opa kam mit und rauchte noch eine Zigarre.
Opa war also nur ein bisschen ein Zauberer, nämlich nur wenn er in seinem Zauberkeller war; ein richtiger Zauberer hingegen war der Schuhmacher in unserer Siedlung. Seine Werkstatt war nicht aufgeräumt wie die von Opa, sondern in einem winzigen Raum schien alles über und untereinander zu fallen; Reihen von alten Schuhen, deren Besitzer man sich nicht vorstellen konnte, säumten die Wände, und man hatte den Verdacht, sie könnten jederzeit lebendig werden und einen wilden Tanz aufführen, der niemals aufhören würde und bei dem kein Paar beieinander bleiben würde. Die Sohlen sahen aus wie lebendig gewordene Teile eines Fußskeletts, und auch hier gab es eindeutig zu viele spitze oder gewalttätige Werkzeuge. Außerdem wollte man selbst natürlich lieber neue Schuhe anstelle der reparierten Spitzen oder Sohlen, aber damals wurden Dinge noch repariert; dazu brauchte man, das war ja ganz logisch irgendwie, eben Zauberer, und heute ist man dankbar, wenn man noch einen Schuhmacher für die Lieblingsschuhe findet. Aber damals blieben sie unheimlich.
Und dann gab es noch die Diakonisse. Sie verwaltete die Gemeindebücherei, also einen wahren Schatz in meinen Kinderaugen, und sie war ganz sicher kein böser Geist. Aber ganz von dieser Welt war sie auch nicht, da war ich mir sicher. Schon ihr Name: eine Diakonisse, und keiner konnte einem so ganz erklären, was das sein sollte; sie trug jedenfalls eine Art Nonnentracht, und ich erinnere mich gut an ihren ganz weißen Kragen und die weiße Haube, die hinten in eine Art Kasten zulief und sie als einen seltsamen plumpen Vogel erschienen ließ, mit einem weißen Federkopf über einem pechschwarzen Körper. Schwester Martha war in meiner realen Märchenwelt so etwas wie die gute Gegenspielerin von Frau Wagner; ihr Gesicht war auch alt, und ich konnte es auch nicht ganz verstehen, aber jeder konnte sehen, dass das Leben es nicht hässlich und verbittert gemacht hatte, sondern auf eine kaum zu fassende Art – milde, würde ich heute sagen; damals hätte mir wahrscheinlich das Wort gefehlt. Noch nicht einmal, wenn man das Buch nicht rechtzeitig zurückgab, wurde sie richtig böse, obwohl mir das sowieso nie passierte; aber andere Leute taten das ärgerlich oft, und so musste man wieder einmal auf sein Lieblingsbuch warten.
Es gab noch viel mehr Hexen und Zauberer, Ärzte gehörten dazu, besonders Zahnärzte mit all ihren Instrumenten, Friseure mit ihren Folterstühlen und Scheren, und Schulrektoren natürlich. Aber es gab nur wenig gute Feen, und ich fürchtete mich im Übrigen auch vor ihnen. Aber auch das hatte seine gute Richtigkeit, denn so ist das Leben, Gutes und Böses purzeln durcheinander, oft versteht man beides nicht, und manchmal ist es das Böse, das gut für einen ist, und manchmal ist es umgekehrt. Bis heute jedenfalls habe ich nicht verstanden, wozu man Märchen brauchen sollte. Die Wirklichkeit ist märchenhaft genug; aber es kann sein, dass man erst erwachsen werden muss, um das zu sehen.
BROTTÄSCHCHEN UND FEDERMÄPPCHEN
Das ist eine der Geschichten, von denen man nicht so genau weiß, ob man sie wirklich erlebt hat in der Kindheit, oder ob sie einem nur von den Eltern erzählt wurde, oder ob man sie sich vielleicht sogar selbst beim Anblick eines alten Fotos ausgedacht hat. Aber eigentlich kommt es darauf auch nicht an. Zu sehen ist auf dem Foto ein Schulmädchen, der Rock ist etwas zu kurz, und sie lächelt ganz natürlich zwischen den beiden Rattenschwänzen (so nannte man die beiden seitlichen Zöpfe damals, sie hatte Naturlocken, auf die sie sehr stolz war, und die Zöpfe wurden mit kleinen Kirschgummis zusammengehalten). Worauf es aber ankommt, ist das Brottäschchen, das sie trägt. Es war eine kleine Umhängetasche, gar nicht unelegant, in die eine Butterbrotdose passte. In der Erinnerung meldet sich vage ein roter Farbton, und ganz sicher hatte es eine Schnalle. Es kommt aber auch gar nicht darauf an, wie das Brottäschchen genau aussah. Dass einzige, worauf es ankommt, war, dass sie stolz war auf das Brottäschchen; noch mehr als auf ihre Naturlocken sogar. Man hatte noch sehr wenige Dinge, die einem ganz allein gehörten und auf die man stolz sein konnte und die man schön fand, bevor man auch nur eine Idee von Geschmack oder Schönheit hatte. Sie mochte auch keine Pausenbrote, da ist sie sich sicher, es hatte also ganz bestimmt nichts mit Nützlichkeit zu tun, eher im Gegenteil. Aber sie war die Einzige in der Klasse, die mit einem Brottäschchen zur Grundschule kam hatte, und das war in diesem Fall nicht gut. Die anderen lachten sie nämlich aus. Es kommt nicht darauf an, wer sie wann genau auslachte, vielleicht hat sogar das erste und einzige Mal gereicht, denn ein Kinderherz bricht schnell. Es wäre wahrscheinlich noch leichter gewesen, wenn sie über ihre Zöpfe mit den Kirschgummis gelacht hätten, aber sie sollten nicht über das Brottäschchen lachen. Es war ein unschuldiges Ding, und sie fand es schön, und sie war stolz darauf. Aber sie konnte es danach nicht mehr mitnehmen zur Schule.
Das war der erste Verrat, und sie war das Opfer. Wenig später muss sich der zweite Vorfall ereignet haben, und auch bei ihm kommt es nicht darauf an, ob er wirklich so geschehen ist. Aber dass das Opfer Lothar hieß, gehört zu den wenigen Dingen, derer sie sich sicher ist; und dass Lothar ein sehr schüchterner Junge war, die Unscheinbarkeit selbst, blass und immer wohlgekämmt und wohlgescheitelt. Und sie hatte eines Tages, weiß der Himmel warum und wo, ihr Federmäppchen verloren, vielleicht hatte sie es auch kaputtgemacht, aber sie war eigentlich nicht der Typ, der schlampig oder sorglos mit Dingen umgeht, deshalb war es natürlich doppelt peinlich. Und als man sie fragte, was mit dem Federmäppchen geschehen sei, zeigte sie auf Lothar und sagte: Er war es! Niemand glaubte es, noch nicht einmal sie selbst glaubte es, so schlecht war es gelogen. Nach einigem Ärger auf allen Seiten ließ man die Sache auf sich beruhen, es war ja nur ein Federmäppchen. Ihre Scham jedoch nahm kein Ende, und sie wusste auch gar nicht richtig, warum sie es getan hatte; es war eine böse Stimme in ihr gewesen in diesem Moment, und diese hatte auf Lothar, ausgerechnet auf Lothar, gezeigt. Er war auch ganz sicherlich nicht beteiligt gewesen an dem Vorfall mit dem Brottäschchen, wenn es ihn denn überhaupt gegeben hatte, dazu war er viel zu schüchtern, und über solche Dinge lästerten überhaupt nur Mädchen; und sie hing auch ganz sicher nicht so an dem verlorenen Federmäppchen wie an dem Brottäschchen. Aber der Kopf verbindet die Dinge auf seine Weise, und nachdem man einmal erkannt hat, dass die Welt böse sein kann, muss man es selbst ausprobieren. Es ist schwer zu entscheiden, welcher Schmerz größer ist, der der Kränkung oder der der Scham. Aber beide wurzeln tief, und hinterher ist das Lächeln auf den Fotos nicht mehr ganz so natürlich.
Oder: Herzensdinge
Wahrscheinlich hat jeder, bevor er sein Herz das erste Mal an einen anderen Menschen verschenkt (die Eltern natürlich ausgenommen, und das ist kein Geschenk, sondern die schiere Notwendigkeit und reiner Selbsterhaltungstrieb), sein Kinderherz an Dinge verschenkt. Es muss gar nicht der Teddybär mit dem abgerissenen Ohr und dem treuherzigen Blick oder die Puppe sein, der inzwischen alle Kunsthaare ausgegangen sind. Oft ist es auch ein Alltagsgegenstand, eine Kindertasse, ein Pullover mit einem ganz bestimmten Geruch, ein Buch, dem die Seiten schon ausfallen. Das hat nichts zu tun mit so oberflächlichen Dingen wie Schönheit oder Nützlichkeit oder gar trivialem Geldwert; so etwas schätzen Erwachsene an Dingen, und sie haben ja auch Geld, um sie zu kaufen, und ein unstillbares Bedürfnis damit zu prahlen. Es hat noch nicht einmal etwas mit einem sentimentalen Wert zu tun; Sentimentalität ist auch nur eine späte Ausrede für verlorene OriginalGefühle. Nein, Kinder schätzen andere Dinge aus anderen Gründen; und man kann den Vorgang sicherlich altklug ›Projektion‹ nennen, aber damit hat man ihn noch nicht ganz verstanden. Denn kleine Kinder haben auch ein sehr kleines Ich, das gerade erst wach geworden ist; es reibt sich etwas verwundert die Augen und schaut sich um. Und da das kleine Ich noch nicht gelernt hat, was all die großen Ichs am besten können – nämlich ununterbrochen in den Spiegel zu schauen und sich zu fragen: Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist das größtetollstebeste Ich im Land? –, kennt es sich selbst noch nicht. Es erkennt sich aber in anderen Spiegeln: in den Dingen seiner Umgebung nämlich, in der kleinen Welt, über die es herrscht, und den wenigen Dingen, die ihm ganz allein gehören. Später wird es von Dingen überflutet werden, es wird ungezählte Dinge kaufen und gebrauchen oder nicht gebrauchen und wieder wegwerfen, wie wir alle. Aber mit den ersten Dingen geht man sorgfältiger um. In Kinderbüchern ist dann meist von Schatzkisten die Rede, aber das ist auch nur eine sentimentale Erfindung von Erwachsenen, die die Dinge ihrer Kindheit vergessen haben und materiellen Wert mit Herzblut verwechseln. Aber wenn man sich von dem ersten Kindheitsding trennt, weil es nichts mehr wert ist oder weil man ›zu groß‹ dafür geworden ist oder weil man deshalb ausgelacht wird, hat man die Kindheit verraten – was unvermeidlich ist, irgendwann, und niemandes Schuld außer des herzlosen Schicksals. Der Schmerz aber bleibt für immer; und nicht immer widersteht man der Versuchung sich zu rächen. So kommt das Böse in die Welt.
WOHLTÄTIGKEIT
Es war vor langer Zeit bei einem Gemeindebasar, wo wohlmeinende Menschen wohlgemeinte Basteleien an andere wohlmeinende Menschen verkaufen, damit die Welt ein besserer Ort wird. Wie immer gab es wahrscheinlich Kaffee und Kuchen, und Häkeldecken und selbstgestrickte Socken, und Weihnachtsgestecke, und selbstgekochte Marmelade. Ganz in der Ecke aber waren große weiße Stellwände aufgebaut; an ihnen hingen Bilder, keine bekannten und berühmten Meisterwerke, auch keine selbstgemalten Aquarelle oder Ölskizzen, sondern freundliche Bilder von südlichen Landschaften, Waldidyllen vielleicht, gerade noch kurz vor der Kitschgrenze, vielleicht schon darüber, aber wen schert das schon auf einem Gemeindebasar. Der Mann der Küsterin, ein unscheinbarer, niemals unfreundlicher kleiner Mann, den man dann und wann geduldig die Wiese vor der Kirche mähen sah, hatte sie auf Holz gezogen, und man konnte sich vorstellen, wie er sie ausgesucht hatte, diese freundlichen kleinen Sehnsuchtsbilder weit jenseits der großen Kunst, und wie er in seinen freien Stunden in einer stillen Kammer daran gearbeitet hatte (seine Frau, die Küsterin, war etwas lautstark). Aber aus irgend einem Grund machten alle Wohlmeinenden einen großen Bogen um die weißen Stellwände, und der kleine Mann wurde immer unscheinbarer zwischen seinen südlichen Landschaften, die so unangemessen viel Platz brauchten gegenüber den Häkeldeckchen und den selbstgemachten Marmeladen und den lautstarken Frauen, die sie verkauften. Aber immerhin schien die Sonne auf ihnen, und man konnte hoffen, dass sie nicht allzu schnell die Farbe verloren und solide gemacht waren; und einer, der nicht nur wohlmeinend, sondern auch ein wenig aufmerksam und freundlich wäre, würde schon ein Fleckchen für sie finden und sie dort aufbewahren, und sei es nur, um niemals zu vergessen, dass keine wahre Mühe auf dieser Welt umsonst sein sollte.
ZUFALLSPOESIE
Damals hatte man noch kein Freundebuch, und dass es einmal ein Facebook geben würde, ganz virtuell und papierlos für eine prinzipiell unendliche Menge von Followern, hätte sich niemand vorstellen können. Dafür hatten Schulkinder ein Poesiealbum. Man wusste zwar nicht recht, wieso es so komisch hieß, aber es war eine durchaus handfeste Angelegenheit: Ein richtiges kleines Buch, mit einem schönen Umschlag und mit vielen leeren Seiten – aber eben nicht unendlich vielen; deshalb musste man sorgfältig auswählen, wer sich darin verewigen durfte und wer nicht; und in welcher Reihenfolge, die Familie zuerst oder doch die Herzensfreundin, oder gar die Lehrerin – und schon bei dieser schwierigen Entscheidung ergriff einen dunkel eine Ahnung, dass das vielleicht doch alles gar nicht so ewig war: Vielleicht würde man gar nicht so unzertrennlich sein mit der gerade allerbesten Freundin; die Schule würde man verlassen, die Lieblingslehrerin würde andere Lieblingsschüler nach einem haben, wer weiß, wie viele sie vor einem schon hatte, und hatte man sich nicht gerade mit der kleinen Schwester mal wieder gezankt und gekratzt? Und dann würden sie da stehen, für immer verewigt, in diesem kleinen Büchlein mit einer durchaus begrenzten Anzahl weißer Seiten, wo man unten mit blassem Bleistift in einem ersten Entwurf Namen notiert hatte – nicht wissend und doch vielleicht schon ahnend, dass so manche Seite über die blasse Notation nicht hinauskommen würde, sich nicht mit liebevoll in allerbester Handschrift abgeschriebenen Denksprüchen und übernommenen Lebensweisheiten füllen würde, von Glanzbildchen oder zierlichen selbst gefertigten Gemälden ganz zu schweigen – und man durfte nur eine Ecke knicken, um darunter zu schreiben, ganz winzig: »In allen vier Ecken soll Liebe drin stecken!« Ein Tintenklecks hingegen war eine Todsünde, und wer im Verdacht stand, solche zu produzieren, wurde erbarmungslos ausgeschlossen; Kinder sind bekanntlich grausam, und auch ein Poesiealbum kann ein Schlachtfeld sein.
Als ich mich dann ins Poesiealbum meiner kleinen Schwester eintragen sollte – mein Name stand immerhin auf einer der vorderen Seiten, wenn auch vielleicht nicht der allerersten –, schrieb ich einen Spruch hinein, den ich schön fand, wahrhaft poetisch und irgendwie tiefsinnig, vor allem für ein Poesiealbum: »Zufällig lernten wir uns kennen, zufällig werden wir uns trennen, zufällig werden wir uns wiedersehen«. Das sorgte für viel Gelächter in der Familie und wurde bald zur Standardanekdote, was mich sehr verletzte (aber auch die Familie ist bekanntermaßen dann und wann ein Schlachtfeld). Es war doch ein schöner Spruch, und ich hatte ihn auch liebevoll mit Blumen umkränzt, Stiefmütterchen waren es, sie wuchsen bei meiner Großmutter im Vorgarten, neben den gelben größeren, deren Namen ich nicht kannte, aber von denen man so schön die Blätter einzeln abzupfen konnte, ganz sonnengelb und seidig waren sie. Und natürlich war es das Poesiealbum meine Schwester, und unsere Bekanntschaft war nicht eben zufällig – aber was spielte das für eine Rolle, wenn es um Poesie ging, um tiefere Weisheit und innere Schönheit? So mancher sieht schließlich seine engsten Verwandten später nur noch eher zufällig, bis man sich schließlich gar nicht mehr sieht, im irdischen Leben jedenfalls. Ein Studium Literaturwissenschaft später hätte ich auch sagen können: Das hatte eben einen vierfachen Schriftsinn, und auf den ersten, den wörtlichen, kommt es am wenigsten an. Damals dachte ich nur: Was wissen sie schon, die Erwachsenen! Es war meine kleine Schwester, und sie hatte den besten aller Sprüche verdient, den poetischsten, den ich kannte, mit Stiefmütterchen umkränzt und ohne Tintenklecks.
ZEITVERSCHIEBUNG
Die Zeit fließt. Man merkt sie nicht. Noch nicht einmal, wenn man sich langweilt – zum Beispiel, weil es wieder eines dieser schrecklichen Familienfeste ist, und man sitzt bei Oma auf dem Sofa eingezwängt zwischen den Cousinen, und man hat wirklich genug Kuchen gegessen, und die Erwachsenen hören und hören nicht auf zu reden, worüber kann man eigentlich so viel reden? Dann muss man all seinen Mut sammeln, bis man sich endlich traut, unter dem Kaffeetisch hindurch hinauszuklettern, mitten durch die Beine der Erwachsenen; und eigentlich war das sogar das Beste am ganzen Nachmittag, man kam sich vor wie ein kleines listiges Tier, dass nach einer schwierigen Flucht die Freiheit genoss. Und wenn sich eine erst einmal vorgewagt hatte, krabbelten auch die anderen Cousinen hinterher, eine nach der anderen, die Erwachsenen schimpften natürlich ein bisschen, aber man konnte endlich spielen gehen.
Eines Nachmittags jedoch hatte sie einen Migräneanfall gehabt, mitten bei der Feier. Niemand war sich so ganz sicher, ob es wirklich Migräne war, zum Glück musste sie nicht spucken dabei, was eigentlich dazu gehörte, so sagte jedenfalls der Arzt. Aber es waren Kopfschmerzen, sie zogen sich über die eine Hälfte des Gesichtes, und sie taten furchtbar weh, fand sie; vor allem, weil sie am Kopf waren, der Kopf sollte einem nicht weh tun, das war falsch; wenn einem einmal der Bauch weh tat, weil man zu viel unreifes Obst gewesen war, das war in Ordnung und weit weg von dem Ort, wo man den Schmerz registrierte, und man konnte darüber hinwegdenken. Aber nicht, wenn der Schmerz im Kopf saß und in die Stirn bohrte. Und man konnte nicht viel dagegen tun; man legte sich nur mit einem möglichst kühlen feuchten Waschlappen auf der Stirn ins Bett und wartete, dass es vorbeiging. Natürlich verging die Zeit dann gar nicht mehr, das war sogar mit das Schlimmste daran; immer, wenn man einen neuen Waschlappen bekam, waren kaum ein paar Minuten vorbei, und man konnte einfach an nichts anderes denken als an die blöden Kopfschmerzen.
An diesem einen Nachmittag aber war es anders gewesen. Sie war ins Bett gegangen, und sie musste sich sogar selbst den Waschlappen holen, weil die Erwachsenen im Haus der Oma nebenan bei der Feier sitzen bleiben wollten. Sie schlief in einem Doppelbett im gemeinsamen Kinderzimmer mit ihrer jüngeren Schwester, sie hatte natürlich das obere Bett, wo man mit der Leiter hinaufklettern musste. Und an diesem Nachmittag musste sie, trotz der Kopfschmerzen und vielleicht weil sie ganz allein war, eingeschlafen sein. Als sie wieder aufwachte, wusste sie zuerst nicht, wo sie war und wie sie dorthin gekommen war. Es wurde schon ein wenig dunkel draußen, und sie lag in ihrem Bett; aber es war doch erst Nachmittag, oder? Und waren sie nicht alle bei der Feier gewesen? Oder war es jetzt etwa Morgen? Normalerweise war es doch Morgen, wenn sie in ihrem Bett lag und aufwachte? Aber sie konnte sich nicht erinnern schlafen gegangen zu sein; sie trug auch keinen Schlafanzug, sondern ihre Unterwäsche. Und niemand war zuhause, das war auch höchst seltsam und ein wenig unheimlich. Vielleicht hatte sie auch ein wenig Fieber, aber die Verwirrung saß tiefer, und als ihre Schwester endlich hereinkam und ihr sagte, dass sie ganze zwei – oder vielleicht auch drei – Stunden geschlafen hatte, mitten am Nachmittag, wollte sie es nicht glauben; sie hatte noch nie einen Mittagsschlaf gemacht, nicht einmal, als sie ganz klein war. Nein, die Schwester machte sich wahrscheinlich über sie lustig, und das war wirklich gemein, wo sie doch Kopfschmerzen gehabt hatte. Aber die Schwester beharrte. Konnte es wirklich sein, dass mitten am Nachmittag die Zeit einfach so an einem vorbeigeflossen war, während man schlief, und jetzt fehlten ihr zwei oder auch drei Stunden in ihrer inneren Uhr, die einfach, mit einem großen Satz, von zwei auf fünf Uhr gesprungen war? Und wenn das passieren konnte – ja, worauf konnte man sich dann eigentlich noch verlassen? So muss es sein, wenn man tot ist, dachte sie; die Zeit vergeht einfach so, ohne einen, man spielt nicht mehr mit. Und das Schlimme daran war nicht, dass man nicht mehr mitspielte – das konnte schließlich auch so passieren, wenn die Cousinen blöd waren zum Beispiel; das Schlimme war, dass man noch nicht einmal merken konnte, dass man nicht mehr mitspielen konnte, und dass das Spiel einfach weiterging, so als sei man nie dagewesen. Vielleicht trug sie seitdem eine Kinderuhr, die die Zeit festhalten sollte.
HEGEL UND CURRYWURST, ODER: LOB DES VORURTEILS
Worauf ich übrigens auch ziemlich stolz bin, ist, dass ich noch nie in meinem Leben eine Currywurst gegessen habe. Ich könnte das begründen, relativ rational, mit dem eher mangelhaften ästhetischen wie nutritiven Reiz einer blassen Wurst unter einer grellbunten Soße, die offensichtlich nur erfunden ist, um eine Vielzahl von Sünden unter Farbe und Geschmacksverstärkern zu verdecken, und das war anfangs wohl auch die Ursache meiner Abneigung. Aber irgendwann hat sich dieser absurde Stolz entwickelt, und heute prahle ich einfach völlig begründungsfrei damit, dass ich noch nie in meinem Leben eine Currywurst gegessen habe – man prahlt viel zu selten mit etwas, was man noch nie getan hat, dabei kann das doch auch eine Leistung sein und ein Verdienst! Aber Scherz beiseite, es geht um ernste Dinge, nämlich um Currywürste und Georg Friedrich Wilhelm Hegel! Genau, der Hegel, preußischer Staatsphilosoph und Erfinder des Weltgeistes, in dessen Mantel man ihn deshalb auch immer gehüllt sieht, aber wahrscheinlich hat sich heimlich das Bild von Napoleon in seinem Feldherrenmantel darüber geschoben, und er kann die Tränensäcke und die Hängebäckchen nicht vertuschen, genauso wenig die grellbunte Sauce die blasse Wurst. Denn das ist mein zweiter Negativ-Stolz: Ich habe noch nie Hegel gelesen; nein, das stimmt nicht ganz, ich habe es mehrfach versucht, einzelne Sätze, aber ich bekomme sofort eine geistige Abstoßungsreaktion, die sich in dem Bedürfnis äußert loszuschreien: falsch, falsch, von Grunde auf falsch! Ich bin im Übrigen sonst weder besonders streng in meinen Urteilen über die Richtigkeit oder Falschheit von Dingen (natural born sceptic), noch besonders wählerisch in meinen Lektüren, ich habe schon ganz andere Philosophen verdaut und esse gelegentlich sogar Fastfood. Nein ich finde es einfach so schön, dass es zwei Dinge auf dieser Welt gibt, bei denen ich mir das Recht reserviere, bei meinem von keinerlei realer Erfahrung angefochtenen Vorurteil zu verweilen. Ich finde, jeder sollte ein kleines privates Reservat für Vorurteile haben. Ständig muss man Dinge überprüfen, liebgewordene Überzeugungen ablegen, vertraute Gewissheiten auf den Müllhaufen der persönlichen Illusionen entsorgen. Aber dann, ganz heimlich, geht man zwischendurch schnell in sein Reservat und sagt: »Currywurst, niemals! Weltgeist, du kannst mich mal!« Und dann geht man wieder raus und verhält sich vernünftig.
PLÜSCHIGKEIT
Es war in einer Vorlesung über philosophische Ästhetik, von denen es nicht viele gab an dieser Universität; meist sprach man über Grundfragen der Ethik, über Metaphysik, über die großen Themen der Philosophie eben. Auch der Vortragende war sozusagen nur im Vorübergehen da, ein älterer, vagabundierender Privatdozent mit wuscheligem Haar, der den wie üblich etwas teilnahmslos Lauschenden die Kantische Ästhetik zu erklären versuchte. Doch alle horchten auf, als er auf einmal erzählte, wie er an einem Schaufenster vorbeigekommen sei, wo, tue nichts zur Sache; auf jeden Fall sei dort dieser große, unglaubliche plüschige Teddybär gesessen, und nichts sei ihm in diesem Moment so erstrebenswert auf der Welt erschienen, wie sich in die Arme dieses unglaublich großen plüschigen Teddybärs zu schmiegen und die Welt dabei zu vergessen. Das jedoch, und das sollten wir niemals vergessen, sei eben nicht das Gefühl, das der Anblick des Schönen (nach Kant, aber wir hatten schon verstanden, dass es vor allem seine eigene Überzeugung war) vermitteln sollte, das vielmehr ein ›interesseloses Wohlgefallen‹ sei. Plüschigkeit sei hingegen nicht interesselos, sondern geradezu das Gegenteil davon; und wann immer wir in uns die Versuchung spürten, uns etwas vermeintlich Schönem bedingungslos in die Arme oder um den Hals oder in den Schoß oder wohin auch immer zu werfen, sollten wir erst darüber nachdenken, ob es sich nicht eigentlich um den Reiz des Plüschigen handele, dem wir unter dem Deckmäntelchen des Schönen anheimfallen wollten. In diesem Moment wusste man wieder, auch wenn man es zwischendurch oft vergessen hatte und noch weiter vergessen würde, warum man Philosophie studierte (ein späterer Lehrer benutzte zur Erläuterung des gleichen Sachverhaltes Erdbeertorte mit Schlagsahne, was natürlich auch funktioniert; aber der Plüschteddy ging uns ans Herz, und die Erdbeertorte nur an den Magen).
SO KAM DAS BÖSE IN DIE WELT
Die Vorlesung fand immer um acht Uhr morgens statt, genauso wie die dazu gehörigen Seminare. Das war ziemlich früh für den durchschnittlichen Philosophiestudenten, aber immerhin sprach man über Ethik, also über ernsthafte Dinge, die eine gewisse Disziplin verlangten, und wenn man an einem kalten Dezembermorgen das Hörsaalgebäude kurz nach dem Hausmeister betrat, fühlte man sich gleich viel besser gerüstet, um dem Kategorischen Imperativ ins Gesicht zu sehen oder der Ataraxie, der unerschütterlichen Gelassenheit der griechischen Stoiker im Anblick all des Leidens und Entsetzens in der Welt. Auch die Vorlesung selbst war diszipliniert und wohlgeordnet, sie hatte Überschriften, die bis ins dritte Glied gestaffelt waren, und man konnte perfekte Mitschriften davon anfertigen; gelegentlich genoss man geradezu das Unterstreichen einer Unterschrift oder das sorgfältige Nachzeichnen eines griechischen Namens in der Originalschrift. In den dazu gehörenden Seminaren wurde über Sätze diskutiert, über einzelne Wörter, und man war ganz nah an der Philosophie selbst, einer manchmal sehr unnahbaren Schönen. Dies alles hatte eine schöne Regelmäßigkeit, und selten passierte etwas Unerwartetes. Aber an diesem einen Tag, wahrscheinlich war es bei der Besprechung von Kants Theorie des Radikalbösen, sagte der Professor am Ende der Vorlesung einen Satz mit einer etwas anderen Stimme als sonst; er sagte etwas unsachlicher betont: »Und so kam das Böse in die Welt«, und dabei sah er uns, seine Vorzugsstudenten in der zweiten Reihe rechts, erwartungsvoll an. Wir blickten verständnislos zurück. »Das kennen Sie nicht?«, fragte er überrascht und ein wenig kokett. »Sie wissen wirklich nicht, wie das Böse in die Welt gekommen ist?« Wir guckten noch verständnisloser, waren jetzt aber schon ziemlich gespannt, was kommen sollte. Was kam, war die Beschreibung der Schlussszene eines berühmten Films: In Roman Polanskis Dracula-Verfilmung, in Tanz der Vampire, flieht am Ende Professor Abronsius, der weltbekannte VampirismusExperte an der Universität Königsberg – ja, wirklich, Königsberg! –, also der Professor selbst flieht in dunkler Nacht auf einem Schlitten, man rast den verschneiten Berg hinunter, und hinten im Schlitten umarmt sich das gerettete junge Paar – nur leider ist sie schon infiziert, und ihr Kuss wird auch ihn zum Vampir machen, und es ist kein anderer als der Königsberger Professor selbst, der das Böse unwissend hinüberträgt in die Welt der Guten und Ahnungslosen. »Und so kam das Böse in die Welt«, schloss unser Professor, noch einmal, und wir sahen ihn auf einmal in einem anderen Licht; hätte er nicht auch auf einem Schlitten sitzen können, in dunkler sturmumtoster Nacht, mit einem reinen Gewissen und einer schweren Last, die er nur noch nicht realisiert hatte? Dass eben dieser Professor später eine Plagiats-Anklage wegen eines minderen Zitiervergehens (die Grenzen zwischen freier Wiedergabe und wörtlichem Zitat sind in der akademischen Philosophie ungefähr so genau zu sehen wie die Spur eines Schlittens in einer verschneiten Nacht) bekam, hatte er nicht verdient; aber das Böse lauert eben genau da, wo man es nicht erwartet. Das Gute aber fand regelmäßig um acht Uhr morgens im Vorlesungsgebäude seinen Platz, bei Schnee wie bei Sonnenschein, aber darüber dreht leider niemand jemals einen Film.
(Nachtrag. Später versuchte ich selbst etwas Ähnliches in einem literaturwissenschaftlichen Seminar. Es ging um Hermann Hesses Roman Siddharta, und ich wies darauf hin, dass die indischen Weisen im Text eine Neigung hätten, in Inversionen zu sprechen, so dass das Bedeutende an den Satzanfang gerückt werde, nicht das grammatisch Korrekte: »Weise bist du, mein Freund!« Und als ich dann die Teilnehmer fragte, ob sie vielleicht ein Vorbild wüssten für diese seltsame Art die Sätze zu verdrehen, ein sehr populäres Vorbild, ein anderer Weiser, es sei, kleiner Hinweis, ein kleiner Mann mit komischen Ohren, wurde ihr Gesichtsausdruck immer ungläubiger, man las geradezu darin: Jetzt ist sie völlig durchgedreht – aber als ich »Meister Yoda natürlich« sagte, mussten sie doch lachen. Vielleicht haben sie es sich gemerkt, wer weiß.)
PRÄFERENZLOSIGKEIT
Die Geschichte kam ziemlich aus heiterem Himmel und hatte eigentlich gar nichts mit dem Thema des Seminars zu tun, das damals, sozusagen an der vordersten Forschungsfront, die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Natur und Geisteswissenschaftlern erproben sollte. Es wurde von einem Wissenschaftshistoriker geleitet, der nicht besonders glücklich wirkte. Er hatte die undankbare Aufgabe, den freiwillig, aber spärlich vertretenen Geisteswissenschaftlern auf der einen Seite und den scheinpflichtigen Naturwissenschaftlern auf der anderen die Erkenntnisse eines zu dieser Zeit revolutionär neuen Paradigmas, der Chaostheorie nämlich, nicht nur zu erläutern, sondern beide Seiten darüber ins Gespräch zu bringen. Eigentlich aber gewannen alle im Verlauf des Seminars eher den Eindruck, dass man einander immer weniger verstand; hinterher hätte man höchstens genauer zu sagen gewusst, wie sehr man doch anders sei als die Anderen. Immerhin, der eine oder andere neue Gedanke war gelegentlich zu erhaschen, wie ein nur kurz vorbeiflatternder Schmetterling, und wenn man auch das neue Forschungsparadigma noch nicht wirklich verstanden hatte – wozu relativ weitreichende mathematische Kenntnisse gehört hätten, und außerdem hatte man doch gerade erst gelernt, was ein Paradigma überhaupt war –, reichte es doch zu dem einen oder anderen produktiven Missverständnis.
Doch plötzlich, und der genaue Zusammenhang ist mir wirklich entfallen, kam der Seminarleiter, ein nicht mehr ganz schlanker Privatdozent mit dunkler Stimme und dunklen Haaren und von einer seltsam fränkisch-behäbigen Attraktivität, mit der Geschichte von der Präferenzlosigkeit daher. Er hatte sie wohl gerade in einem Wissenschaftsmagazin gelesen und war selbst auf unbestimmte Art von ihr angezogen worden. Eine Studie unter israelischen Farmern hätte nämlich ergeben, so referierte er uns nun fränkisch-nuschelnd, dass Entscheidungsprozesse im wirklichen Leben häufig ganz anders ablaufen, als man sich das akademisch so vorstelle. Im konkreten Fall ging es darum, welche Pflanzen im Kibbuz zukünftig angebaut werden sollte, und man holte sich nicht etwa ein Gutachten ein oder untersuchte die Bodenbeschaffenheit; es bildeten sich wundersamer Weise auch keine Parteien, von denen eine energisch für Erdbeeren votierte und die andere für Spinat oder was auch immer (aber der Seminarleiter nannte als Beispiel wirklich Erdbeeren, das weiß ich ganz genau, und man imaginierte unwillkürlich ein sehr karges Feld unter der sengenden Hitze Israels, kurz vor den Golanhöhen, wo eine Herde achselzuckender Kibbuzim steht und nicht weiter weiß, ein Schmetterling fliegt kurz vorbei, aber immer noch passiert nichts – jedenfalls nicht in Israel kurz vor den Golanhöhen). Nein, es herrschte vielmehr ein völlig meinungsfreier und interesseloser Zustand, den die Forscher flugs ›Präferenzlosigkeit‹ nannten; und er konnte nur dadurch abrupt beendet werden, dass irgendeiner, einfach so, ohne jeden Grund und ohne jede Autorität, sagte: Na, dann eben Erdbeeren!, und alle nickten erleichtert, ja, klar Erdbeben, gibt auch bessere Torten als Spinat, und fortan florierte der Erdbeeranbau in Israel.
Wir als Zuhörer waren von der Geschichte etwas verunsichert, soweit ich mich erinnern kann; vielleicht hatte sie ja eine tiefere symbolische Bedeutung für unseren seltsam unbestimmten Schwebezustand im System der Wissenschaften, aber die erschloss sich uns zu diesem Zeitpunkt auch nicht. Allerdings ließ sich dieses neue Modell im Unterschied zur Chaostheorie umstandslos im Alltag testen und führte zu bemerkenswerten Ergebnissen. Stand man beispielsweise wieder einmal mit einer Gruppe völlig präferenzloser Kommilitonen vor der Mensatafel und hatte die Wahl zwischen drei absolut gleich unattraktiven Alternativen, reichte es, nonchalant in die Runde zu werfen: Ich gehe dann mal zu Linie 1!, und schon setzten sich alle in Bewegung, schnurstracks zu Linie 1. Wenn nach einem Vortrag das unbestimmt gesellige Gefühl herrschte, man müsse doch jetzt noch nicht auseinandergehen, und alle traten von einem Fuß auf dem anderen und die Zeit schien sich ins Endlose zu dehnen wie in der unmittelbaren Umgebung eines Schwarzen Lochs, dann konnte man sagen: Also gehen wir jetzt ins Deutsche Haus? (das war der marktbeherrschende Billig-Grieche in der Studentenstadt, und vielleicht gab es ja damals schon eine verborgene Komplementarität zwischen Griechenland und Deutschland, eine Art Gegen-Spin), und die Herde setzte sich, langsam, langsam, aber immerhin in Bewegung Richtung Deutsches Haus. Und man konnte nur die unendliche Weisheit der Gesetzgeber bewundern, die irgendwann festgelegt hatten, dass es im unmittelbaren Umkreis von Wahllokalen keine Parteiwerbung mehr geben darf; ein Leichtes wäre es selbst einem rhetorisch minderbegabten Kandidaten sonst, sich vor der mal wieder präferenzlosen Wählermenge aufzubauen und im letzten Moment seinen eigenen Namen ins Gespräch zu werfen, und flugs würden alle das Kreuzchen neben eben diesen setzen, aus schierer Erleichterung, das man ihnen endlich die Entscheidung abgenommen hat.
Wer auch immer jemals auf die Idee gekommen ist, die höchste Errungenschaft der Menschheit sei die Freiheit und ein freier Wille dasjenige, was uns vom sonstigen kreuchenden und fleuchenden Herdengetier unterscheide, hat offensichtlich nicht genau genug hingeschaut: Der Mensch ist eine träge Masse, das Herumlümmeln auf dem Sofa sein energetisch günstigster Zustand; Präferenzlosigkeit spart Energie, Entscheiden verbraucht Energie, deshalb überlässt man es lieber anderen Leuten. Heute würde man vielleicht in einem interdisziplinären Seminar über die Quantenmechanik im sehr erweiterten Modus des produktiven Missverständnisses zu ähnlichen Erkenntnissen kommen: So lange niemand in die Kiste guckt, ist die Katze tot und lebendig zugleich, existentiell präferenzlos sozusagen; und erst, wenn irgendeiner, der die Spannung nicht mehr aushält, die Kiste aufmacht und sagt: Habe ich doch gleich gesagt, Schrödinger ist schon lange tot!, ist die Katze im gleichen Moment tot umgefallen. So ist das Leben nämlich: Wenn keiner guckt, ist den meisten alles egal.
Es wäre denkbar, dass Gott die Welt aus der Präferenzlosigkeit und dem Chaos erschaffen hat, indem er einfach hingesehen hat, und die Welt hat fortan existiert. Oder dass er im entscheidenden Moment »Licht« gerufen hat. Wie auch immer, es besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass er es hinterher bereut hat.
KLEINE SCHERZE
Wir waren an einem besonders trostlosen Ort unterwegs, in einer besonders trostlosen Mission noch dazu. Es nieselte ein wenig, aber der Kollege war frohen Sinnes. Es sei doch alles gar nicht so schlimm, sinnierte er, während er die spitzen Schuhe, beinahe sahen sie handgefertigt aus, sorgfältig über eine Pfütze hinweghob und mit dem nächsten Schritt einen eleganten Bogen um das nächste Schlagloch machte. Man sehe sich wieder nach längerer Zeit, man mache einen kleinen Scherz, und man werde von der Kollegin verstanden, auf Anhieb, einfach so. Der kleine Scherz war wirklich lustig gewesen, nicht zum Auf-die-Schenkel-Klopfen-lustig natürlich, sondern ein subtiler Literatenscherz, der ein ziemlich spezielles Wissen bei der Hörerin voraussetzte, auch ein feines Ohr vielleicht, einen Sinn für entlegene Verbindungen, eine Fähigkeit, Humor zu detektieren, auch wenn er sehr verdeckt daherkommt, undercover sozusagen. Sie war derweil mit einem Fuß in die Pfütze geraten und etwas gereizt, natürlich hatte sie den Scherz verstanden, was war denn daran so erwähnenswert? Den Satz verstand sie erst, als sie selbst zu viele Scherze gemacht hatte, die niemand verstanden hatte; sie waren einsam im Raum stehen geblieben, während sich bleierne Stille um sie herum ausbreitete, und waren dann mit einem kleinen Plopp zu Boden gefallen und zerplatzt; eigentlich hätten sie doch Flügel bekommen sollen aus einem kleinen Gelächter, ja ein Lächeln hätte schon gereicht. Witze kann nämlich jeder verstehen, auch wenn sie nicht jeder erzählen kann, davon ist hier nicht die Rede. Aber einen Scherz zu ertappen, der auf leisen Sohlen daher geschlichen kommt und nur ganz kurz die Augen aufschlägt, beinahe hätte man es verpasst, und man sieht ihn kurz zwinkern, und schon ist er wieder davon, aber man kann eben noch zurückzwinkern: Das ist viel und ein Trost an manch trübem Tag.
HERAUSFORDERUNGEN
Da standen wir nun, alle ein wenig herausgeputzt aus Anlass der feierlichen Preisverleihung, an den schönen weißen Stehtischen, etwas ungeschickt schwäbische Canapés und lokalen Weißwein balancierend und Konversation betreibend, wie sich das so gehört; der Anlass im Einzelnen tut nichts zur Sache, es war ein freundlich-bildungsbürgerliches Ereignis der kulturellen Mittelklasse. Man hatte sich bereits ausgetauscht über das Ereignis selbst, sicherlich hatte auch das Wetter eine Rolle gespielt, und man kam an die gefährliche Grenze, wo die Konversation einen gewissen Freiheitsgrad entwickelt, sozusagen in See sticht ohne genaue Idee, wo es denn eigentlich hingehen soll. Und so begab es sich, dass der seriöse ältere Herr – er war der etwas cholerisch-rotbackige Typ, trug eine Trachtenjacke und man mochte sich gleich einen Hut mit einem Gemsbart dazu vorstellen – auf einmal lospolterte; vielleicht hatte zuvor jemand etwas Unschuldiges über die Preisträger gesagt, in der Art, sie hätten eine große Herausforderung brillant gemeistert. »Herausforderung!«, so polterte es also nun aus dem gar nicht so unsympathischen Herrn heraus, war er einem nicht als Jäger vorgestellt worden? Oder war es nur deshalb, weil er das Thema jetzt so energisch auf die Hörner nahm? Herausforderung, wenn er das Wort schon höre! Alles und jedes sei heutzutage eine ›Herausforderung‹ (aus den Anführungszeichen, die er mitsprach, tropfte der Ekel und hinterließ kleine imaginäre Fettflecken auf den noch einigermaßen sauberen weißen Papiertischdecken), und vor allem, wenn Politiker das Wort in den Mund nähmen, dann müsse man wirklich sehr aufpassen! Eine reine Worthülse sei das, nichts, aber auch gar nichts sei damit gesagt – außer, dass derjenige, der wieder einmal mutig (mutig! es schlug einem das Jägerherz im Leibe) den Tatsachen ins Auge gesehen habe, dieselben als Herausforderung erkannt habe und sich nun nicht scheue, das auch auszusprechen! Damit sei es aber dann auch geschehen (angelegt, aber nicht geschossen, schoss es mir durch den Kopf, von Treffen gar nicht erst zu reden). Nein, er könne es wirklich und wahrhaftig nicht mehr hören, vor allem nach diesem endlosen Wahlkampf (wir hatten gerade erst gewählt, und das Land lag noch in der Starre des unentschiedenen Wahlergebnisses, einer wahren – nun ja, Herausforderung?). Herausforderungen überall, aber keine einzige Aktion. Immer, wenn man nicht mehr weiterwisse und auch nicht weiterdenken wollte, von Handeln ganz zu schweigen, spreche man halt von einer Herausforderung! Er meine dabei im Übrigen nicht nur eine Partei, da seien schon alle gleichermaßen – herausgefordert, lag es mir auf der Zunge, und wir schafften es dann auch bald, die Kurve ins Scherzhafte zu bekommen und die Klippen der herrschenden Sprachpolitik halbwegs elegant zu umschiffen. Aber es gab mir zu denken, dass jetzt schon biedere, wahrscheinlich seit Jahrzehnten CDU-treue Jäger den Verfall der politischen Sprache besser diagnostizierten als all die korrekten Bildungsbürger, die ihn etwas peinlich betreten umstanden und wahrscheinlich fieberhaft darüber nachdachten, wie oft sie in den letzten fünf Minuten schon gedankenlos das Wort ›Herausforderung‹ benutzt haben mochten. Ich hoffte innig, es würde ihnen wenigstens noch zwei Tage lang im Hals stecken bleiben, wenn sie es irgendwo hörten. Mir steckt es bis heute noch immer da, aber ich freue mich eigentlich, wenn ich mich daran verschlucke, und denke an den Jäger aus der Kurpfalz (nein, die Geschichte spielte woanders) und seine durchaus zielgerichtete und treffend formulierte Empörung.
ICH BIN DOCH NUR EIN BÜRGER
Nun war es leider so, dass die Klavierlehrerin schwer krank geworden war, und keiner wusste, wann sie ihren Unterricht wieder aufnehmen würde können; das Kind hatte aber gerade erst angefangen mit Klavierspielen und sollte dabeibleiben. Also musste man einen neuen Klavierlehrer suchen. Die Musikschule im benachbarten Städtchen bot glücklicherweise Schnupperstunden an, und so vereinbarte man einen Termin. An einem heißen Sommernachmittag liefen Mutter und Kind zögernd durch die ausgestorbene Schule, beide etwas ängstlich, um schließlich in einem stickigen kleinen Raum ganz am Ende ein Klavier samt dem Klavierlehrer zu finden. Er sah genauso aus, wie man sich einen Klavierlehrer vorstellt: ein älterer Herr, künstlerisch angehaucht im Habitus, mit sehr weißen Haaren und einer sehr schwarzen Hornbrille; nicht unsympathisch, aber mit diesem Blick, der einem die Finger auf den Tasten lähmte. Genau das passierte dem Kind natürlich, als es zeigen sollte, was es denn schon gelernt hatte. Kaum hatte es zwei oder drei Tasten nervös angeschlagen, fuhr der Klavierlehrer dazwischen: Nun, das sei ja ganz schön, aber leider auch ganz falsch, sozusagen vom Grunde aus falsch; und er nahm seine feingliedrigen Hände und legte sie auf die Tasten und zeigte, wie man sie anzuschlagen hatte, sanft und doch energisch, damit die Töne wirklich zum Leben erwachten. Für den Laien machte das wohl wenig Unterschied, aber wer wollte das schon zugeben, jedenfalls nicht die nervöse Mutter; das Kind, das sehr sanftmütig war und Tadel wenig gewohnt (normalerweise gab es keinen Grund dazu), bekam schon ein wenig feuchte Augen. Aber der Klavierlehrer war jetzt nicht mehr zu stoppen, all seine Begeisterung für das Klavier und die Musik im Allgemeinen und die Kunst überhaupt strömte aus ihm heraus, und sicherlich hätte die künstlerisch selbst nicht unambitionierte Mutter das eine oder andere davon zu schätzen gewusst oder auch gelegentlich widersprochen, aber dafür blieb kein Raum: Flink wie seine Finger über das Klavier entströmten seinen schmalen Lippen die Worte in einem langen wohlmodulierten Fluss. Zum Glück musste das Kind das Klavier im Weiteren nicht mehr berühren, das war gar nicht nötig, und auch der Mutter blieb nur Raum für ein gelegentliches höfliches Nicken. Es wurde dann am Ende der halben Stunde sozusagen vorausgesetzt, dass man sich geeinigt habe und kein anderer als genau dieser Klavierlehrer dem Kinde all das Schöne und Geistige der Musik in seiner ganzen Breite und Tiefe würde vermitteln würde können. Dem Kind allerdings liefen, als man endlich den kleinen stickigen Raum verlassen durfte und wieder auf dem sonnendurchglühten Schulhof stand, dann doch die Tränen herab; und da es kurz zuvor zufällig in einem Thomas-Mann-Seminar der Mutter dabei gesessen hatte – man hatte den Tonio Kröger behandelt –, stammelte es hervor: »Ich will doch gar kein Künstler sein, sondern einfach nur ein Bürger!« Mehr auf den Punkt hätte man es nicht sagen können, und die Formulierung zeigte im Übrigen einen nicht unerheblichen Kunstverstand. Zum Glück hatte die Musikschule, nachdem die Mutter sehr zögernd nachfragte, noch andere Klavierlehrer zu bieten, und mit der nicht ganz so alten Dame – auch sie eine typische Klavierlehrerin, mit wallenden Gewändern, aber unendlich viel mehr Sanftmut und Geduld – konnte sich der kleine Bürger gut anfreunden.
DIE FAHRT NACH HIMMELSLEITER
Es war am nicht mehr ganz frühen Morgen, die Pendlerwelle war schon durch, und der Fahrkartenautomat verlangte wieder einmal, man solle passend bezahlen. Während ich noch das Kleingeld für das Ticket nach Stuttgart zusammensuche, kriecht mir von links hinten ein dezenter Alkoholgeruch über die Schulter. Er gehört zu einem nicht unsympathisch wirkenden älteren Mann mit einem lustigen Vollbart, er sieht etwas obdachlos aus, und er fragt mich freundlich, wie der Automat denn funktioniere. Wo er denn hinwolle, frage ich zurück, und er antwortet: »nach Himmelsleiter«. Es ist nur ein dezenter Alkoholgeruch, also gebe ich folgsam auf der Tastatur ein: H I M , und schon erscheint ›Himmelsleiter‹. »Wo ist das denn?«, frage ich belustigt und werde belehrt, es sei bei Zuffenhausen. Und er habe nur 2,80 Euro, aber das würde doch sicherlich reichen? »Sicherlich nicht«, sage ich, drücke auf die Taste und als Fahrpreis erscheinen 5,80 Euro. »Oh«, sagt er betreten. Wie weit käme er denn wohl mit 2,80 Euro? Bis Esslingen vielleicht, schätze ich; auch ganz schön, aber natürlich nicht Himmelsleiter. Da könne er ja von hier aus hinlaufen, sagt er empört. Ich kratze weiter mein Kleingeld zusammen, wundersamer Weise sind es gerade drei Euro, die ich ihm in die Hand drücke und sage: »Für eine Fahrkarte. Nach Himmelsleiter. Gute Fahrt!« Er schaut gerührt, faltet sanft die Hände vor der Brust, verbeugt sich leicht und sagt ganz leise: »Danke, Schwester!« Ich habe nicht zurückgeschaut, ob er die Fahrkarte gekauft hat, der verspätete Regionalexpress fuhr auch gerade ein. Aber jeder sollte sich eine Fahrkarte nach Himmelsleiter kaufen können. Nach Esslingen kann man immer noch zu Fuß gehen.
ZIVILISATION IST NICHT IMMER NETT
Der ICE war ziemlich voll, obwohl es Mittwoch war. Schulklassen nach Berlin, wagenweise durchnummeriert. In einem Abteil waren noch zwei freie Plätze; vier Frauen saßen dort, mittleren Alters, gut gepflegt, zurückhaltend gekleidet, zwei waren Ärztinnen auf einem Weg zu einer großen Fachtagung in Berlin, eine Lehrerin, noch eine Wissenschaftlerin. Sie lasen, unterhielten sich leise und schoben rücksichtsvoll ihre Sachen zusammen und ihre Beine unter die Sessel, als die ältere Frau, leicht schnaufend unter ihrer Korpulenz, mit ihrer abgeschabten Reisetasche sich hineindrängte: Sie habe den Platz reserviert, den freien dort am Fenster, es klang berlinerisch gefärbt. Sie stand ein wenig zu lange im Weg, während eine der anderen Frauen einen Platz für die alte Reisetasche auf der Gepäckablage freimachte und sie hinauf bugsierte. Als sie dann endlich auf ihrem reservierten Platz saß, sagte sie in die Runde: »Sie wissen ja nicht, was ich erlebt habe, auf der Herfahrt, fragen sie bloß nicht!« Die vier jüngeren Frauen guckten flüchtig hoch, um sich dann umso tiefer in ihre Bücher und Unterlagen zu verkriechen, in der sehr richtigen Befürchtung, auch ohne Frage würden sie wohl eine Antwort bekommen. Tatsächlich, nach einer etwas zu langen Pause, kam die Geschichte: Sie sei ja nicht der Typ, der sich aufregte und beschwerte, nee, sie ganz gewiss nicht! (in immer energischerem Berlinerisch), aber da sei doch eine Mutter gewesen, mit drei Kindern, die habe das ganze Abteil für sich haben wollen! Und dabei habe sie selbst doch schon Monate, Monate! vorher reserviert gehabt. Niemand sah hoch. Natürlich hörten alle zu, was sollte man denn tun? Aber sie habe einen Schaffner geholt, der habe die Frau mit den Kindern dann weggeschickt, noch nicht einmal einen richtigen Fahrschein habe die gehabt! Nach einer weiteren viel zu langen Pause murmelte die Lehrerin, die es als erste nicht mehr aushielt: Ja, so etwas kommt vor. Die anderen hielten sich an ihren Büchern und Tagungsprogrammen fest, sehr zivilisiert, und schwiegen hochdeutsch. Sie waren kluge Frauen und wussten, dass jede Antwort mit Sicherheit einen weiteren berlinerischen Redeschwall ausgelöst hätte, und für einige von ihnen war die Fahrt noch lang. Natürlich hatte die Frau Recht, was sollte man schon sagen; und natürlich sind Bahnfahrten mit drei Kindern, ob mit oder ohne Fahrkarte, für keinen ein Vergnügen. Aber auch nicht mit korpulenten Berlinerinnen, die sich ja nicht beschweren wollen. Das Schweigen wurde schwer und lastete auf dem Abteil bis zur nächsten Station, als die ersten erleichtert ausstiegen. Zivilisation ist nicht immer nett.
DAS GULASCH IST WIRKLICH VORZÜGLICH DIESMAL
Im Speisesaal des ICE am Nebentisch saß dieser Junge, vielleicht war er zwölf oder dreizehn Jahre alt, und er unterhielt sich mit einer Frau mittleren Alters, zu der er offensichtlich nicht gehörte. Er betrieb vielmehr Konversation, das konnte man deutlich sehen, und er machte das geradezu souverän. Er erzählte, dass er zu seinem Vater fahre, nach Wien, und er erwarte sich viel von diesem Besuch; er stelle es sich schön vor dort in Wien. Dann tauchte seine Mutter auf, sie hatte wohl telefoniert, und sie bekamen ein Essen serviert. Der Junge lobt es, sehr wohlwollend: Besonders das Fleisch sei außerordentlich wohlgeraten, besonders das Fleisch; es sei auf jeden Fall viel besser als früher, da habe man ja überhaupt nicht im Speisewagen essen können (man fragte sich unwillkürlich, wann genau ›früher‹ gewesen sein sollte, direkt nach der Einschulung?), ja er würde geradezu sagen, es sei vorzüglich. Er sagte das alles gar nicht altklug oder prahlerisch, das war das Besondere daran; zwar sprach er offensichtlich gern und war die Konversation mit Erwachsenen gewöhnt, aber es hatte etwas Verzweifeltes, was man anfangs eher spürte als verstand. Ich weiß auch nicht mehr genau, wie es geschah, aber man kann darauf zu sprechen am Nachbartisch, dass vor einiger Zeit ein Freund von ihm – nein, ein Bekannter, korrigierte er sich nach einer kurzen Pause – gestorben sei. Die andere Dame schwieg einen Moment pietätvoll, wagte dann aber doch zu fragen, was denn passiert sei? (und man hörte mit: er muss doch jung gewesen sein, ein Kind wie du, wie konnte das passieren?) Er kaute einen Moment länger an seinem Gulaschstück herum, und dann sagte er, sehr sachlich: »Man denkt wohl, dass es ein Suizid war«. Alle, die zufällig zuhörten, also ich auf jeden Fall, verschluckten sich an ihrem Kaffee. Die Mutter kam zur Hilfe, nachdem das Thema nun einmal auf dem Tisch war, gleich neben dem vorzüglichen Gulasch, und berichtete von der Krebserkrankung des Freundes, nein: Bekannten, und seinem längeren Leiden und der Hoffnung auf Besserung und der kurzen Erholung und der Vergeblichkeit. Der Junge kaute weiter an seinem Gulasch und machte kleine sachliche Bemerkungen, dann kam man zum Glück wieder auf Wien zurück und auf die Frage, was man dort machen wollte. Er lobte das Gulasch, als der Kellner den Teller abräumte und beklagte, es seien vielleicht zu wenig Nudeln gewesen. Und aus irgendeinem Grund nahm ihn niemand in den Arm, und man dachte, welch hoher Preis für so viel Sachlichkeit und Vernunft, und hoffentlich findest du in Wien alles, was du dir versprichst. Aber es besteht eine gewisse Gefahr, dass du weiterhin mit Erwachsenen Konversation machen musst, aus schierer Verzweiflung, weil sonst überhaupt niemand hinhört oder gar versteht, und es ist wenigstens ein kleiner Trost, dass du das so gut kannst.
MANCHE LEUTE MÖGEN HALT KEINE KINDER
Der kleine Junge im Regionalexpress will nicht stillsitzen. Er turnt auf seinem Sitz herum, guckt über die Rückenlehne und schmettert den dort Sitzenden ein lautes »Hallo« ins Gesicht. Keine Reaktion. Die Mutter sagt, nicht gerade leise: »Manche Leute mögen halt keine Kinder«. Zwei Minuten später – der Junge will immer noch nicht stillsitzen und turnt auf ihr herum – schnauzt sie ihn an: »Sei endlich still und lass mich in Ruhe!« Er wird still und holt seinen Gameboy heraus. Manche Leute mögen halt keine Kinder. Vor allem die eigenen.
LETZTENS SAH ICH EINEN FISCHREIHER
Das Kind, es war ein Junge von ungefähr sieben oder acht Jahren, sagte »Wie bitte?« Kurz zuvor hatte es schon einen Satz gesagt, der mich aufhorchen ließ, nämlich: »Letztens habe ich einen Fischreiher gesehen«. Seine Mutter ermahnte ihn, nicht so laut zu sprechen, es war aber gar nicht besonders laut gewesen, sondern eben der etwas aufgeregte Tonfall eines sieben oder achtjährigen Jungen, der immerhin weiß, was ein Fischreiher ist und wie er aussieht und dass es ihn tatsächlich gibt. Sonst sagte die Mutter nichts zu dem Fischreiher. Sie sagte auch nichts, als der Junge später, weil er durchaus interessiert zum Zugfenster hinausschaute, sechs Störche sah, einen ganzen Schwarm, oder waren es sogar sieben gewesen? Nicht so laut, mahnte sie wieder. Dass die Mutter reden konnte, und durchaus schnell und viel und nicht besonders leise, zeigte sich, als sie wenig später telefonierte, die Geschichte war im etwas aufgeregten Tonfall einer zu jungen Mutter vorgetragen, die irgendwie nicht Recht bekommen hatte, und sie war ziemlich lang. Danach verfiel sie wieder in tiefes Schweigen und schaute auf ihr Handy, sie schaute sozusagen laut auf ihr Handy, wenn man das sagen kann. Draußen hätten Löwen vorbeiziehen können oder Giraffen, und ihr offensichtlich neugieriger und, wer weiß von wem, wohlerzogener Sohn wäre vor Begeisterung übergelaufen, aber sie hätte ihn wahrscheinlich nur ermahnt, nicht so laut zu sein.
Und ich weiß, dass ich diese Geschichte schon mehrmals erzählt habe, aber sie passiert immer weiter, und es ist ein Wunder, dass Kinder überhaupt noch sprechen lernen, da ihre Eltern offenbar niemals mit ihnen sprechen. Sie haben ja schon alles, was sie zu sagen haben, ihrem Handy gesagt.