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Kindheits-Gedichte 

  • Vor-Garten
  • Vom Puzzeln
  • Tabula rasa
  • Murmeln


Vor-Garten


Man kannte keinen Namen.
Wollte ihn nicht wissen.
Man wusste nur:
Dies ist ein Gelb, so strahlend wie die Sonne
selbst. Und seine Strahlen
konnte man zählen: einzeln,
und nicht wissen wollen
wie viele genau. Und Weiche ohnegleichen,
in schlanken Gliedern, viele
(ungezählt) im Kreis geordnet, der
die Sonne war: mit Sonnenflecken,
Sommersprossen, leuchtend ganz von innen,
vor einem Grün, das weder tief war
noch bedeutete: nur Hintergrund allein
für dieses Gelb, und rauer Stengel
seinem runden Strahlen.
Hinter dem Haus aber
begann der große Garten:
Gemüse (mit Namen). Früchte,
die man nicht essen durfte,
nur heimlich, lange
vor der Reife,
im Übergang von hellem Grün zu hellem Rot,
mit Arbeit jeden Tag aufs Neue.
Vor-Garten aber: kleines Reich
jenseits des Wissens und des Wollens
aller Großen,
gut versteckt im Offenen,
geordnet in sehr kleinen Kreisen und Quadraten,
umhegt von weißen Latten hin zur grauen Straße,
die hinaus führte (wohin? Ins später).
Nie wieder wird der Flieder riechen
wie damals: als man ihn nicht kannte.

Vom Puzzeln

Am Anfang ist da nur
ein leerer Raum. Sind Farben. Formen.
Man sieht sie nur. Man kann sich nicht bewegen.
Sobald man krabbeln kann,
findet man Teile.
Kann man sie essen?
Sind sie warm?
Auf jeden Fall will man sie haben.
Meins! Alles Meins!
Was sie bedeuten, fragt man nicht.
(Man hat noch keine Wörter.
Das kommt später)
Es können Bilder sein.
Ein Baum. Ein Haus. Ein Auto.
Ein Mensch.
(Groß oder klein. Mehr ist nicht interessant)
Erst nach und nach erkennt man wieder.
Ein Baum (nur größer).
Ein Haus (mit Fenstern).
Ein Auto (rot statt blau).
Ein Mensch (er lächelt. Oder nicht).
Die Welt wird größer. Man kann nun schon laufen,
und jeden Tag erobert man ein Stückchen mehr vom Raum.
Die Teile werden mehr, so schnell, so viel,
man muss jetzt unterscheiden.
(Man hat keine Wahl)
Einige Teile mag man sehr.
Ein neuer Kuchen. Buntstifte, ein Malbuch,
leere Flächen, die man füllen kann mit Farben.
(Das Auto ist jetzt grün.
Der Baum hat Blütenblätter.
Das Haus bekommt ein Dach. Mit Schornstein!)
Selbst gemalte Teile.
Am schwersten sind die Menschen.
Die Arme und die Beine Striche.
Ein runder Bauch. Die Haare stehen komisch ab.
Die Frau hat lange Haare. Alle lächeln.
Sogar die Sonne.
Und zum Geburtstag kommt dann irgendwann
das erste Puzzle. Sehr wenig Teile, alle groß,
ein Bild dazu: So sieht die Welt aus!
Setze sie zusammen!
Such die geraden Teile!
Nun die Ecken! Sortier die Farben! Denke nach!
Die Teile sehen seltsam aus,
so einzeln,
mit ihren Ärmchen, Beinchen, Köpfen.
Doch wenn sie zueinander passen,
sich ineinanderfügen, ganz ohne Lücke,
die Arme ineinanderschlingen,
dann ist das schön.
Und Stück für Stück baut man sich eine Welt.
(Aber sie bleibt zerbrechlich. Am nächsten Tag
hat sie die kleine Schwester schon zerrupft).
Morgen wieder, sagen die Eltern.
Morgen! Morgen ist eine andre Welt!
Die Puzzles werden größer.
Man kann ja auch schon zählen,
hundert, tausend, zehntausend,
und eine Million hat gar sechs Nullen!
Ein Haufen kleiner bunter wirrer Teile.
Ärmchen zuhauf, die keiner zählen kann.
Man versucht sie zu sortieren, wie man es gelernt hat:
Das Segelschiff hat man sofort, die Masten, Segeln, Flag-gen,
bunte Piraten. Eins mit einer kleinen Katze.
Aber das Meer! Endloses tiefes Blau, nur dann und wann
sind kleine Wellen sichtbar. Weiße Ränder.
Und erst der Himmel! keine Wolken,
keine Grenzen, hellblaue Teile, zahllos.
Bald ist man erschöpft.
Schließlich ist man noch klein.
(Die Welt hat viel zu wenig Ecken)
Ein wenig später lernt man sie selbst kennen.
Die Welt. Das Original.
Man kommt herum. Man sieht
die Burgen, Schlösser, Segelschiffe, Städte,
die man gebaut hat, Stück für Stück.
In Echt. Einiges enttäuscht,
anderes überwältigt. Aber
der Rahmen fehlt. Die Bilder sind
verwischt von Lärm, von Menschenmassen und Gefüh-len.
Die Füße tun weh.
Man ist allein, oder man ist nicht allein genug.
Die Sonne lächelt wieder nicht. Oder zu viel.
Die Teile wechseln ständig ihre Position.
Wo sind die Ecken? Wo die Kanten?
Man versucht sie festzuhalten.
Ein Foto, noch eines.
Vielleicht, dass man sie dann zerschneiden kann.
Und neu zusammensetzen, ganz in Ruhe.
So sammelt man nun Teile Welt.
Für später einmal.
Sammelt Dinge, Bilder, Menschen.
Gefühle, Wissen, Erinnerungen.
Bücher. Kleider. Städte.
Tage. Nächte. Jahre.
Ein Rahmen wird sich finden.
Vorerst genügt ein Speicher.
Und heimlich, in der Mitte irgendwann,
versucht man schon einmal,
ob sich das Puzzle vielleicht lösen lässt.
Passen die Teile eigentlich zusammen?
Fügen sie sich, so dicht und fest,
so dass man plötzlich dann erkennt:
Das ist es? Das bin ich?
Doch immer fehlt noch etwas. Lücken bleiben.
Man kann den Rahmen kleiner machen – oder weitersu-chen.
Neue Teile. Andere. Mehr Himmel, vielleicht,
aber auch mit Wolken.
Und unerwartet findet man ein Stückchen.
Es lag ganz in der Nähe. Man muss nur hinschauen
Und noch eines. Sehr klein und unauffällig.
(wie konnte man es nur übersehen?)
Doch Sehen, so versteht man jetzt erst,
ist eine schwere Kunst.
Ein jeder meint die Burg zu sehen, das Schloss, das Se-gelschiff,
– und sieht doch nur ein vorgestanztes Puzzle,
auf dem die Sonne immer lacht.
Es ist schon fertig. Es braucht uns nicht mehr.
Und wir haben nur uns gesehen. Die ganze Zeit.
Die Welt war nur ein Rahmen für unser Ich
mit allen seinen Teilen, Fetzen, unverstanden.
Seltsame Teile waren das, verworren, selten passend,
mal viel zu viele, mal viel zu wenig.
(Was hätte man gegeben für die Lösung!)
Und hatte man ein Bild gefunden, ein Vorbild,
nach dem man sich hätte erbauen können –
dann passte es am Ende doch nicht.
Die Stücke knirschten, wenn man sie zusammenschob.
Die Ärmchen brachen ab. Die Köpfe knickten ein.
Das tat weh.
So sammelt man erneut. Ein wenig klüger diesmal.
Hellsichtig. Nicht mehr alles, nein,
die kleinen Teile. Verstreut am Wege,
den man jeden Tag entlang geht.
Für einen großen Himmel
mit Wolken aller Art, mit Regenbögen,
Kondensstreifen sogar (gerade Linien geben Halt).
Mit jeder Farbe, vom Pastell des Morgens bis zum
Leuchtfeuer des Abends. Auch Grautöne.
Für Bäume aller Arten, lebende und tote,
Steine, im Meer und auf dem Felde.
Der Rahmen löst sich auf
(die Welt hat keine Ecken.
Linien schon, endlose Horizonte)
Das Ich braucht keine Grenzen,
wenn man es wachsen lässt
(solang es will und sucht und gerne findet)
aus sich heraus und in die Welt hinein.


Tabula rasa

Ein weißes Blatt.
Ein leerer Tisch.
Tabula rasa.
Ein Neuanfang.
Das wäre schön.
Man wäre unbelastet
von all den Fehlern der Vergangenheit,
reingewaschen
von aller Schuld der Ahnen.
Aufnahmebereit
für alles, was da kommen mag.
Ein jeder gleich.
Ein weißes Blatt.
Ein leerer Tisch.
Doch ähneln sich zwei Blätter je? Ist
ihr Weiß nicht unterschiedlich, so wie
Schnee von Staub?
Sind sie nicht unterschiedlich groß,
und von verschiednem Stoff?
Ähnelt denn je ein Blatt
in der Natur dem anderen?
Gleicht eine Schneeflocke dem Nachbarn?
Sogar das Staubkorn ist einmalig.
Es vergeht nicht.
Es verweht nur.
Schon lang vor unserer Geburt
wird unser Tisch gedeckt,
wird unser Blatt beschrieben.
Vom Urknall an, von allem Anfang an,
mit dem Beginn der Zeit war diese Welt komplett.
Nichts Neues in der Schöpfung, nichts
was dort nicht schon geboren ward.
Die Ursuppe war unser Urahn.
Ungefragt entstand das Leben.
Unvordenklich. Ungeheuer. Unerschöpflich.
Wir selbst sind das Gedächtnis der Atome.
Unser Leben
ist eine Fortsetzung. Gestaltenwandel,
Wiedergeburt, Metempsychose.
Wie man es nennen mag.
Individualität
ist eine Phase.
(Nicht die beste)
Der Tisch war immer schon gedeckt;
nicht immer reichlich, nahrhaft,
(Tischtücher erfand erst der Mensch).
Wir decken ihn nur ab,
damit wir glauben können,
wir seien neu. Ein jeder könne
den eignen Tisch so decken, wie er wolle,
das Blatt beschreiben mit ganz eignen Zeichen.
Ein Irrtum. Geschrieben hat
Evolution, das ganze Buch,
und selten nur war es idyllisch.
Wir schreiben ab und machen Fehler.
Das ist unser Verdienst.
Wenn wir geboren werden,
sind wir uns alle ähnlich.
Sind kleine Monster mit zu großen Augen,
kahlen Köpfen, noch bedeckt vom Schlamm
unserer Geburt, gebunden mit der Nabelschnur
an die, die uns gebar. Uns trug. Uns nährte.
Das eigen Fleisch und Blut.
Wir sind gemacht
aus anderen, aus Eltern, Ahnen,
ob wir es wollen oder nicht.
Wir tragen ihre Fehler, ihre Sünden,
ihr Verdienst. Oft bleibt es lang verdeckt,
und eines Tages schaut man in den Spiegel und erkennt:
Ich bin ja doch die Mutter. Meine Mutter.
Nie wollte ich es sein, habe versucht,
andere Zeichen aufschreiben
auf anderem Papier. Den Tisch zu decken
mit eignem Porzellan, mit andern Speisen.
Und hab es nicht verhindern können.
Nicht nur die Mutter, nein, in diesem
Winkel des Gesichtes, diesen Gesten
wohnt auch mein Vater. Meine Oma,
die ich schon fast vergaß, hat so geschaut,
den strengen Blick, der sich mir eingebohrt hat
damals, als ich noch ein Kind war.
An meinem eigenen Kind seh‘ ich es schon:
Er wird so werden, wie ich war. Keine Kopie,
(noch nicht einmal Kopien sind identisch)
aber ähnlich. Ein wenig Neues
fügt man selbst hinzu. Manchmal nur Flicken.
Variationen. Shades of White.
Der Tisch ist immer schon gedeckt.
Die Philosophen, früher, wenn sie
Tabula rasa sagten, meinten
einen andern Tisch: Er stand im Kopf.
Von Gott gezimmert.
Beschrieben mit ehernen Gesetzen, Tafeln:
Gott ist groß. Der Herrscher kommt von Gott.
Der Mensch ist klein. Ein Sünder, immerdar.
Erlösungsbedürftig.
Die Religion war fest verdrahtet. Anders
konnte man nicht denken.
Gott war ein Fakt; wer ihn nicht glaubt,
ein Monster. Freak of nature.
Die Tafeln sind zerbrochen, es war mühsam.
Doch ist der Tisch deshalb nun gänzlich ungedeckt?
Werden uns nicht
Ideen aufgetischt, kaum dass wir laufen können?
Wir glauben sie, was bleibt uns übrig,
wir würden sonst verhungern:
Der Mensch ist frei.
Alle haben die gleichen Rechte.
Wir leben selbstbestimmt. Individualität
ist machbar. Du bist einzigartig.
Was immer du auch tust, sei ganz du selbst.
Wer liebt, der wird geliebt.
Liebe ist einzigartig. Menschlich.
Kein andres Wesen hat sie.
Wir wählen unsre Herrscher selbst.
Der Mensch ist frei. Er kann sich entscheiden
zum Guten und zum Bösen.
Das nennt man Moral.
Kein andres Wesen hat sie.
Wir haben Verantwortung
für unsre Welt. Der Mensch beherrscht die Welt.
Mit Wissenschaft, mit Technik.
Alles wird gut.
Denn alles andere
wäre undenkbar.
Schau nur, der Tisch ist reich gedeckt,
weil du ein Mensch bist.
Greif nur zu!
Und man greift zu.
Man deckt sich seinen Tisch,
beschreibt sein Blatt, greift wieder zu,
und glaubt daran: Alles wird gut.
Doch wenn wir glauben: Jetzt,
endlich, ist es mein eigner Tisch, mein eignes Blatt –
fällt etwas um. Unter den Tisch.
Die Suppe schmeckt heute nicht.
Der Fisch ist schon verdorben.
Die Schokolade, es ist viel zu viel,
schnell, räumt ihn ab, den Tisch.
Ich kann es nicht mehr sehen!
Gebt mir einfache Kost. Diät.
Einfache Früchte, selbstgezogen.
(Doch sogar sie sind schon verdorben,
mit synthetischen Geschmacksverstärkern)
Warum habt ihr mich überfüllt
mit Dingen und Ideen, die nicht halten,
was sie versprochen haben?
Warum habt ihr mich vollgestopft
mit Geschichten, Märchen, Utopien,
die nicht von dieser Welt sind
und den Blick verstellen,
auf sie, auf diese Welt?
Jetzt gehen die Geschichten nicht mehr auf.
Waren sie von Anfang an schon falsch erzählt?
(Sie wollten nur dein Bestes)
Dein Bestes? Wessen Bestes?
Zwangsbeschriftung,
Zwangsbeglückung,
Zwangsernährung.
Der Tisch ist niemals ungedeckt.
Tabula rasa: Deck ihn ab.
Mach den Tisch ungedeckt.
Zerreiß das Tischtuch.
Und wenn du kannst, dann zeig es deinem Kinde:
Wie man den Tisch selbst deckt.
(nicht, was darauf gehört)
Wie man Geschichten selbst schreibt.
(nicht, was darin steht)
Lass es frei.
Gebunden bleibt es sowieso.


Murmeln

Ganz am Anfang
sind wir umschlossen von der großen Murmel.
Sie versorgt uns, und sie schützt uns.
Doch eines Tages platzt sie, und wir stürzen
in die Welt hinaus. Das Licht ist grell.
Alles ist fremd und kalt und laut.
Zum Glück
kann man sich später nicht erinnern.
Wir wachsen auf, wir lernen schnell, und eines Tages
schenkt man uns dann die ersten Murmeln.
Sie sind aus Glas und haben innen
fremdartig bunte Schlieren, Fahnen, Streifen, Muster.
(Manchmal sieht man noch Atembläschen).
Zerbrechlich
sind sie nicht. Sie klickern, wenn sie aneinander stoßen.
Sie sind viel zu schön zum Spielen!
Jede ist anders, und man will
sie alle haben. Vor allem die der anderen,
die immer, irgendwie, ein bisschen schöner als die eignen sind.
(Willst du mit mir tauschen?)
Wir wachsen weiter, und wir sammeln Murmeln,
geschützt in Säckchen, weich, aus Seide oder Samt,
oder in einer Schatzkiste gehortet, gut versteckt.
Wir lernen, eines Tages, und es tut uns weh,
dass unsere Eltern doch nicht alles wissen.
Dass sie sich irren.
Dass sie nur Menschen sind und keine Götter.
Dass sie seit langem schon einander nicht mehr lieben.
Und dass sie nicht mehr spielen wollen.
Man könnte ihnen eine Murmel schenken, eine
besonders schöne,
aber wer weiß –
vielleicht mögen sie sie nicht?
Vielleicht werden sie sie verlieren.
Vielleicht haben sie selbst,
(und das wäre noch das Beste)
doch noch die eine oder andere versteckt.
Aber man weiß nicht.
Wir lernen weiter, ob wir wollen oder nicht.
Nicht nur die Eltern lügen. Alle lügen. Irgendwann
lügt man dann selbst, das erste Mal,
und das tut weh. Man schämt sich sehr.
Doch es war nötig.
Die Murmeln haben uns nicht mehr geholfen,
sie leuchten auch nicht mehr so hell danach.
Die zweite Lüge
geht schon leichter.
Wir haben selbst entdeckt: Die Welt,
sie ist kein Abenteuerspielplatz.
Und spielen
ist ja schön gewesen, aber man kann
nicht immer spielen
(Geht doch spielen! sagen die Großen, immer noch.
Als ob das so einfach wäre).
Wo sind die Murmeln hingekommen?
Das Säckchen ist schon etwas staubig. Das dunkle Rot
verbleicht. Aber sie sind noch da.
Und schließlich
liegt das ganze Leben vor uns.
Das Beste
liegt noch vor uns
(sagen die Großen. Lügen sie, mal wieder?)
Wir lernen weiter. Nebenher
entdecken wir die Liebe. Wir haben
viel von ihr gehört.
Wie groß sie ist
(die erste wenigstens, so sagen alle),
und dass sie ewig ist
(aber warum hat man dann eine zweite oder dritte?),
und dass sie alle Schmerzen lohnt.
(aber warum muss es erst weh tun?)
Man findet schließlich sogar jemand,
dem man am liebsten seine Murmeln schenken würde. Sogar
die größten, schönsten, die geheimnisvollsten
mit den schillerndsten Schlieren,
mit den glitzerndsten Farben,
den ganzen Beutel voll.
Aber vielleicht mag er sie nicht.
Oder er verliert sie.
Oder er schenkt sie einer anderen,
der zweiten, dritten, vierten.
Vielleicht sollte man, zur Sicherheit,
doch eine selbst behalten. (die schönste?)
Wer weiß, was später kommt. Schließlich
hält nichts ewig.
Wir lernen weiter. Nun im Großen.
Man ist noch jung. Man sammelt seine Ideale
wie die allerschönsten Murmeln,
man poliert sie, in Gedanken und Gesprächen,
man tauscht sie aus mit andern. Man müsste.
Etwas ändern. Vieles ändern. Das meiste.
Allzu viel ist ungerecht. Wohin man schaut,
sieht man nur Elend, glanzlos, staubig.
Wie soll man sich an seinen Murmeln freuen,
wenn doch die Welt um einen her zerspringt?
Man kann sie spenden. Ein Kind
wird sich darüber freuen. Vielleicht.
Aber vielleicht mag es sie nicht.
Vielleicht hat es Hunger.
Es kennt kein Spielzeug.
Was soll es schon mit Glitzerkram?
Wir sind erwachsen. Endlich!
Das Leben hat begonnen.
Wir haben Geld.
Wir haben Erfolg.
Wir haben ihn verdient.
Wir sind sicher.
Wir können alles kaufen.
Wer braucht schon Murmeln?
Kinderkram. Glitzerndes Nichts.
Ein klackerndes Geräusch,
kitschiger Farbenschleier.
Fast schon vergessen.
Doch das Lernen nimmt kein Ende.
Es zeigt sich: Der Erfolg
ist nicht von Dauer.
Es gibt keine Sicherheit,
niemals.
Und schon gar kein Verdienst.
Der Körper meldet sich zu Wort: Kein treuer Diener,
ein aufsässiger wird er, der immerzu
den Dienst aufkündigt dann, wenn man ihn braucht.
Aber gepflegt sein will er und gehätschelt!
Der Kopf folgt ihm sogleich: Er denkt jetzt,
was er will. Auch Böses.
Er vergisst. Immer noch mehr.
Er entwickelt Macken.
Er eckt an. Er fügt sich nicht mehr.
Er sieht Schlimmes. Überall.
Er meint zu wissen:
Die Welt ist wahrlich nicht zu retten.
Die Menschen sind nicht liebenswert.
Murmeln sind
lächerlich. Zerbrechlich. Bunter Schein
über dem grauen Abgrund. Illusion.
Weg mit den Murmeln! Seht
der Wirklichkeit ins Auge: Dort glitzert nichts.
Allerhöchstens weint sie.
Staubige Tränen. Blutige. Keine bunten!
Im Alter wird man vielleicht weise werden.
Und eines Tages, sehr eventuell,
könnte man sich dann erinnern,
durch einen Sprung des Kopfes mitten in die Kindheit
(die neue Lieblingsübung) –
an seine Murmeln.
Wo ist das Säckchen wohl geblieben?
Es war aus weichem Samt und dunkelrot
(war es das wirklich? man ist nicht mehr sicher)
Und die Murmeln, waren sie nicht bunt und kugelrund?
(die Farben werden einen auch verlassen)
Hatten sie nicht
verwegne Schlieren, Formen, Muster?
Machten sie nicht
ein Klickern und ein Klackern, wenn sie aneinanderstie-ßen?
Ein Ding, so glatt und kühl und rund,
und jedes ganz es selbst. Und keines
wie das andere. Ganz abgeschlossen.
Unzerstörbar. Durchsichtig.
Und doch, zusammen mit den anderen,
eine eigene kleine Welt. Man konnte Gruppen bilden,
Familien, Haufen. Mal so, mal so geordnet.
Dann wieder einzeln und für sich.
Und vielleicht ahnt man dann,
in weiter Ferne,
(aber schon immer näher kommend)
mit altersschwachen Augen,
eine Murmel. Ganz allein.
Sie ist sehr groß und glänzt tiefdunkel.
Ist sie – schwarz? Eine schwarze Murmel?
Alle anderen verblassen vor ihr.
Nach ihr
kommt nichts mehr.
Alles hat ein Ende, verspricht sie.
Auch das Lernen. Auch die Schmerzen. Auch die Welt.
Ich bin
der dunkelste Gedanke.
Ich kann
dich ganz umschließen.
Ich bin ganz Dein.
Mich wirst du nie verlieren.
Siehst du meine Schönheit?