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Friedenssaal


Das Buch vom Frieden

 

mit Geschichten, Mythen, Gesprächen und Vorträgen
vorgetragen von Engelschören, einem Roboter
und der Verfasserin
zusammengetragen um Weihnachten im Jahr des Unfriedens 2024

 

zur Beförderung einer Geschichte des Friedens

 

INHALT

Präambel 
Zwischenstopp in Münster 
Umweg über ein Übersetzungsproblem 
Der Urtext und eine Vision 
Die Göttin des Friedens und der Dämon des Kriegs. Eine mythologische Abschweifung und zwei Komödien 
Eirene und Polemos 
Athen um 411 vor Christus. Lysistrata spricht 
Noch eine Ablenkung 
Was aber ist Frieden? Der Engel der Philosophie
streift durch den Wald und hält einen Vortrag
 
Krieg und Geschlecht (Wissen aus Wikipedia) 
Weihnachtsgottesdienst mit Friedensbotschaft
Der Engel der Geschichte – im Überflug 
1. Station: koine eirene 
2. Station: pax augusta 
3. Station: Ewiger Landfrieden und Westfälischer Frieden
4. Station: Der Briand-Kellogg-Pakt und das UN-Völkerrecht
Ein Weihnachtsgespräch mit einem Roboter über den Weihnachtsfrieden 
Der Engel der Ökonomie: Kriege evaluiert 
Umweg: Neujahr auf Helgoland 
Der Engel der Persönlichkeit besucht eine Galerie der Friedenshelden mit mir 
Erasmus von Rotterdam 
Bertha von Suttner (mit einem Seitenblick auf Alfred Nobel) 
Immanuel Kant 
Mahatma Gandhi 
Epilog mit Mythos 
Grundsätze für den Tempel des Ewigen Friedens 
Anhang: Über Engel

Gesamttext

 


PRÄAMBEL: Ein Weihnachtsprojekt


Ich hatte über alle geschrieben, über jede einzelne Figur in der an Figuren sowieso nicht sonderlich reichen Weihnachtsgeschichte. Ich war endlich gefühlt dort angekommen, wo ich den armen Pfarrer schon seit langem gesehen hatte: in der Verlegenheit, worüber man bei der Predigt am zehnten, am zwanzigsten, am dreißigsten Heiligen Abend noch sprechen sollte, ohne sich zu selbst zu wiederholen ins Endlose und Immergleiche. Natürlich, es war eine gute Geschichte, sie hatte Figuren und Material zuhauf, und notfalls konnte man sogar über Ochs und Esel sprechen, aber – irgendwann war man genauso erschöpft wie die Geschichte. Doch es war nun einmal Weihnachten, und irgendwie hatte man das dumpfe Gefühl, sich das Fest verdienen zu müssen, auch geistig-seelisch sozusagen; sonst würde man eben nur wie die meisten anderen in eine hektische, glühweingetränkte Konsumorgie von beschränktem Sinnwert verfallen (und selbst dabei, so stellte sich seit einigen Jahren ein ebenfalls dumpfer Verdacht beim mir ein, war langsam die Erschöpfungsgrenze erreicht; würde man gar Weihnachten reformieren müssen?).

 

Und dann fiel mir doch tatsächlich der Engel ein, der aus nicht heiterem, sondern sternendunklem Himmel erscheint und den armen, nichtsahnenden Engeln seine Botschaft bringt: „Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen“! Nicht dass ich nicht schon über den Engel oder sogar die Engel geschrieben hätte, hier und da; aber ich hatte noch nie einen Engel sprechen lassen. Leider ging mir danach ziemlich schnell auf, dass es nicht so einfach war, einen Engel sprechen zu lassen, also: aus einem Engel als Figur zu sprechen. Denn was unterscheidet Engelszungen von Menschensprache? Ach, woher soll ich das nun wissen? Bin doch nur ein armes Menschlein, plapperte es in mir. Nee, reicht meine sowieso eher ärmliche Phantasie nicht aus für. Und was meint der komische Engel eigentlich – und die Assoziation war aus gegebenen Anlässen in diesen unerwartet und bedrohlich wieder kriegerisch gewordenen Jahren nicht entlegen – mit „Frieden auf Erden“? Was sollten sich die armen, erschreckten Hirten dabei denken?

Das war immerhin ein Anfang. Es war sogar, wie sich herausstellte, mehr als ein Anfang; es war vielmehr eine Geschichte ohne Ende, und je länger ich nachdachte und weiterforschte, desto mehr ging mir eines auf: Wir haben keine Friedensgeschichte. Die Geschichte des Menschen ist eine seiner Kriege. Sogar die Geschichte seines Denkens hat etwas zutiefst – Militärisches, sie ist geprägt von Konflikten, Zerwürfnissen, gewaltsamen Revolutionen des Geistes. Von der Religionsgeschichte ganz zu schweigen! Aber „Frieden auf Erden“, das war es, was der Engel als himmlische Botschaft überbrachte. Eine Ankündigung, eine Prophezeiung, ein Versprechen? Oder doch nur eine Utopie mehr? Vielleicht hätte der Engel besser etwas ausführlicher werden sollen? Oder hatte er eine Art Friedenvertrags im Gepäck, mit Klauseln und Anhängen und salvatorischen Klauseln (in den nächsten Tagen und Wochen sollte ich viel über den Vertragscharakter von Frieden lernen), den er aber nur auf Nachfrage präsentieren würde, die Hirten waren aber viel zu erschrocken, wahrscheinlich hatten sie sich sowieso auf die Erde geworfen und wagten es nicht, ins strahlende Licht zu schauen, das den Engel ganz sicher umgab (ganz sicher, das wusste ich). Na gut, Frieden war das Thema das Jahres, und Weihnachten war doch auch – ein Fest des Friedens.
Was der Frieden jedoch sei – das war die diesjährige Weihnachtsaufgabe, und sie war keine kleine. Die Form wehrte sich lang, und bis jetzt schwankt sie hin und her; aber immerhin haben wir schon ein paar Ansätze, wir haben einige Engel, einen erschreckten Hirten – und jede Menge Geschichte. 

Und so schrieb sich das Projekt selbst fort über die nächsten Wochen, in Bruchstücken und Ansätzen – wie die Geschichte des Friedens selbst. Diese Geschichte wird von unterschiedlichen Stimmen erzählt, was ein wenig verwirrend sein mag; aber es kommt nicht darauf an. Am Ende kann man sowieso mit Engelszungen reden und mit Menschenzungen, man kann Roboter um Rat fragen und berühmte Philosophen, und alle werden sich einig sein – und es wird nichts helfen in der Welt des Jammers. Aber man schreibt ja nicht, um zu helfen und die Welt zu retten; man schreibt, damit geschrieben wird.


ZWISCHENSTOPP IN MÜNSTER


Ganz am Anfang waren wir, zufällig, an diesem Adventswochenende in Münster. Dort gibt es, was ich in meiner friedensgeschichtlichen Unbildung nicht wusste, den „Friedenssaal“ im historischen Rathaus; dort wurde der berühmte „Westfälische Frieden“ verkündet, der den langen dreißigjährigen Krieg beendete, der (fast) ganz Europa verwüstet hatte. Ich dachte bisher, das sei in Osnabrück geschehen, aber Tatsache ist, dass es zwei Verhandlungsorte gab, aus Gründen; und auch zwei Verträge, aus Gründen (später, der Engel der Geschichte ist noch nicht ganz fertig, sein Mantel verhakt sich immer im Proszenium). Draußen im sehr vernieselten Wetter tobte der Konsumsturm des zweiten Adventssamstags, verstärkt durch die Attacke auf die sechs strategisch um die Altstadt verteilten Weihnachtsmärkte; aber historische Gebäude üben ja eine erwiesene Abschreckungskraft auf die Massen aus, und so waren wir mit einer Handvoll Bildungstouristen allein in dem gar nicht so großen Verhandlungszimmer, zu anderen Zeiten auch Beratungssaal der gesetzten Münsteraner Patrizier (Münster war sogar, hatten wir gerade von einer Einheimischen gelernt, Hansestadt gewesen). Die anreisenden Diplomaten waren damals auf die besseren Handelshäuser der Stadt und die umliegenden Schlösser verteilt worden; und nachdem man sich endlich auf eine Art Protokoll geeinigt hatte (das zum Beispiel zwei Türen zum Ratssaal umfasste, damit niemand einem anderen einen strategisch wertvollen Vortritt überlassen musste; eine unsterbliche Anekdote, aber wahrscheinlich sogar noch wahr dazu), begannen die gebildeten Männer (denn natürlich waren in den Porträts der Haupt-Verhandlungsführer nur männliche Häupter zu sehen) mit den Verhandlungen. Es wird, wie immer, eine Mischung aus Geschacher und Juristen-Latein gewesen sein; und wahrscheinlich wurde die eigentliche Arbeit, wie immer, von den Subalternen erledigt (Bürokratie ist nicht immer schlecht, sondern kann mit ihrer Lähmungskraft gewaltmindernd wirken). Und nur der öffentliche Teil wird sich als Spektakel in der Kammer mit den hohen geschnitzten Stühlen voller christlicher Mythologie vollzogen haben; vor allem natürlich die Unterzeichnung, von der wir nur einen Kupferstich haben, kein Selfie und kein gestelltes Abschlussbild (nein, es wäre keine Aufstellung denkbar gewesen wäre, mit der alle anwesenden gekrönten Häupter einverstanden gewesen wären!).

Was jedoch nun genau beschlossen wurde in diesem Dokument, das es Millionen erlaubte, endlich wieder ein Leben aufzunehmen, das nicht bedroht war durch Zwangsdienste, Enteignung, Plünderung, Vergewaltigung, Hunger und Seuchen – das erzählte man uns im Übrigen nicht in Münster. Dass der Friedensschluss wichtig war, der notwendige Vorspann zur prachtvollen Europäischen Einigung, natürlich; dass dies ein historischer Ort von welthistorischer Bedeutung sei, mit allen Labeln und Preisen und (finanziellen) Förderungen überschüttet, die eben diese Europäische Einigung hervorgebracht hat. Aber was dieser Frieden nun bedeutete – naja, es gab eine digitale Installation im Vorraum. Sie war technisch hervorragend und, sagen wir mal: sparsam im Text. Nicht überladen mit Information. Nicht ganz einfache Sprache, aber kurz davor. Frieden aber ist – keine einfache Angelegenheit? Wir gingen dann auch shoppen und Glühwein trinken, und, da es nicht mehr regnete, ein wenig hinaus in Gottes freie und eher menschenleere Schöpfung (keine Engel, aber viele Enten und dazu ein Wanderfalke im abrupten Vorbeiflug, beinahe wie ein Engel – was will man mehr?)


UMWEG ÜBER EIN ÜBERSETZUNGSPROBLEM

 

Bevor es nun aber endlich spannend wird und der Vorhang sich öffnet zum Heiligen Abend, kommt noch eine zweite Ablenkung. Denn „Ehre sei Gott“ und „Friede auf Erden“ sind zwar auch Dreiwortsätze, die nicht auf Anhieb in ihren tieferen Schichten und Implikationen verständlich sind, aber doch sprachlich recht zugänglich, weshalb man über sie eher leichthin hinwegschlüpft. Der dritte Teil jedoch, „und den Menschen ein Wohlgefallen“ – das hatte schon immer für mich zum dunklen Teil der Weihnachts-Geschichte gehört, der sie erst zu einer guten machte. Ein „Wohlgefallen“ – nicht direkt Alltagssprache, beim Nachdenken mögen einem zuerst eher sinnliche denn besinnliche Gedanken kommen; Wohlgefallen, eine Art frühchristlicher Wellness, ein Gefallen am und im Leben, Wohlstand und Gelingen, oder einfach: Glück? Aber ich hatte immerhin schon gelegentlich mit halbem Ohr gehört, dass diese Luther‘sche Übersetzung nicht ganz unumstritten war; sie war sogar schon korrigiert in vielen neueren Fassungen, nämlich in eine qualifizierende Bestimmung zum Vorsatz: „bei den Menschen seines Wohlgefallens“. Nun, das machte Sinn, wenn auch keinen besonders netten: Denn dann bezog sich der Friedenswunsch eben nur noch auf die Gruppe von Gottes Lieblingskindern, die Juden als auserwähltes Volk nämlich; und sogar dort nur auf diejenigen, die eben seinen Gesetzen folgten und ihm deshalb besonders wohlgefielen, folgsame Gotteskinder. Dieser Frieden war also keine pax universalis –ich musste erst noch lernen, was das ist, und warum sich das historisch erst eher spät entwickelt hat –, sondern der übliche befristete, an Bedingungen geknüpfte Frieden für die eigene Gruppe. Was darüber hinaus schalom, Friede sei mit dir, im Jüdischen noch für Bedeutungen hat – dazu später, im historischen Teil. Aber im Nachhinein fand ich es recht erhellend und auch passend, dass es diesen Unterschied in der Übersetzung gibt. Er ist Teil der wenig bekannten Friedengeschichte.

Und damit hat nun, endlich, der Engel das Wort; nein, eigentlich sind es sogar die „himmlischen Heerscharen“, und ist eigentlich noch niemand aufgefallen, was Luther da für eine militaristische Vokabel ins Friedensfest geschmuggelt hat? Aber immerhin fahren sie recht schnell wieder „gen Himmel“, bevor sie größeren Feldschaden anrichten können. Im Übrigen: Kann die Geschichte ganz anders gewesen sein. Jede Geschichte kann auch ganz anders sein.

 


DER URTEXT UND EINE VISION

 

Und siehe, des HERRN Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des HERRN leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der HERR, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen“.

Als er es wagte, wieder aufzuschauen, war die Erscheinung schon verschwunden. Sie hinterließ ein Schimmern, das für kurze Zeit den sternendunklen Nachthimmel in eine Richtung aufleuchten ließ, eine Art Lichtschweif, wie ihn die Alten manchmal schon gesehen hatten; gerade sollte es wieder einen besonders auffälligen geben, ganz in der Nähe. Aber dieses Licht war – anders. Noch nie gesehen. Und die Gestalt, deren riesenhafte Umrisse er nur kurz gesehen hatte, bevor er sich niedergeworfen hatte, ganz instinktiv – war sie wirklich da gewesen, hatte sie zu ihnen gesprochen, zu ihm, dem Hirten Ahab und seinen drei Genossen, die in dieser Nacht die Schafe draußen hüten mussten? Er versuchte sich zu erinnern, was die Gestalt gesagt hatte; den Anfang hatte er nicht genau mitgekriegt, irgendetwas mit „Gott“ – natürlich, es war ja ein himmlischer Bote gewesen, offensichtlich. Und dann hatte er gesagt, den Teil hatte er ganz deutlich verstanden: „Friede auf Erden“; und dann hatten die Schafe panisch zu blöken angefangen und er hatte gar nichts mehr verstanden, und dann war es schon vorbei gewesen, und die Schafe beruhigten sich nur langsam wieder. Friede, Friede auf Erden – die Worte klangen nach in Ahab, und während sie sich nun zu viert, wie befohlen, aber beinahe ohne eigenen Willen auf den Weg machten, um den neugeborenen Herrn der Welt, den versprochenen Messias zu suchen und zu finden, gingen sie immer wieder in seinem Kopf herum: Frieden, Frieden, was war das denn eigentlich? Die Welt, in der Ahab lebte, kannte keinen Frieden. Er kannte den Krieg; seitdem er denken konnte, hatte er in einer Welt gelebt, in der Kämpfe, Aufstände, brutale Niederschlagung und neue Kämpfe die Regel waren. Denn ihr Land war besetzt von den Römern, fremden Herrschern aus einem fernen, unvorstellbaren Land – ob sie eine Art Engel waren? Einen Moment hielt Ahab den Atem an, aber dann fiel ihm Herodes ein, der Halbjude, der von den Römern eingesetzte Herrscher über Judäa; nein, der war kein Engel, ganz gewiss nicht! Zwar hatte er den prächtigen neuen Tempel in Jerusalem errichten lassen, Reisende hatten den Hirten davon berichtet und seine Pracht geschildert; aber gebaut worden war er mit ihrem Geld, von ihren Händen. Aber er hatte, so erzählten die Alten hinter vorgehaltener Hand, seine eigenen Frauen ebenso umbringen lassen wie seine Söhne; er war zu jeder Grausamkeit fähig und benahm sich zwar äußerlich wie in Jude, aber er war niemals einer von ihnen gewesen! Wie alle jungen Männer seiner Bekanntschaft konnte Ahab den Moment nicht erwarten, in dem der alte, wie man hörte: sehr sieche Herrscher dahinscheiden würde; in diesem Moment würden sie aufstehen, sie würden jede Waffe ergreifen, und sei es nur ihr Hirtenstab, und dann würden sie kämpfen gegen die Römer und sie vertreiben aus dem Heiligen Land! Einen Moment zitterte er vor Wut bei dem Gedanken; doch dann klang es wieder durch seinen Kopf, die seltsamen Worte: „Friede auf Erden“. Friede, wie sollte das denn möglich sein, wo das ganze Leben doch ein Kampf war? Nicht nur gegen die Römer, nein; von klein auf hatte Ahab kämpfen müssen, seine Familie war arm und immer wieder kamen Diebe und bedrohten ihre kleine Herde Schafe, die alles war, was sie hatten, die ihnen Milch gab und Felle und gelegentlich ein Lamm, das sie im Tempel opferten, wie es die Tora befahl. Ahab hatte viel gekämpft in seinem noch jungen Leben, er trug die Wunden mit Stolz; er war stark geworden in diesen Kämpfen, er hatte sich den Respekt seiner Mithirten erworben; sie übten sich oft, in den langen Tagen auf dem Feld, untereinander in spielerischen Kämpfen, und manchmal kam dann über sie alle eine Art gemeinsamer Geist, der sie schreien ließ vor Wut und Kraft.

Aber das alles war vor dem Engel gewesen. Denn nun spürte Ahab in seinem Inneren eine Art – Ruhe; es war eine andere Kraft, eine stille, und sie strahlte von innen nach außen. Ähnlich hatte er sich manchmal gefühlt, wenn er ein neu geborenes Lamm in seinen Armen hielt, zappelnd und noch voller Schleim; oder wenn sein alter Hund, der doch immer noch die Herde beisammenhielt und kein Schaf verlor, mit müden Augen zu ihm aufsah nach einem langen Tag und dankbar einen Napf frisches Quellwasser entgegennahm. „Frieden auf Erden“ – vielleicht waren die Tiere ja schon auf dem Wege dorthin, während sie noch durch die Nacht zogen, suchend, aber war das nicht ein Licht in der Ferne, das näher kam, ganz ähnlich dem, was sie zuvor gesehen hatte, über dem Stall dort? Und wie auf Verabredung beschleunigten sie ihre Schritte noch etwas mehr.


DIE GÖTTIN DES FRIEDENS UND DER DÄMON DES KRIEGS.
EINE MYTHOLOGISCHE ABSCHWEIFUNG UND ZWEI KOMÖDIEN

 

Andere Kulturen haben andere Geschichten erzählt über den Frieden. Und wir könnten jetzt einen Engel der Mythologie erfunden, aber irgendwie funktioniert das nicht. Wir lassen deshalb die Alten für sich selbst sprechen: nämlich ihren Friedens-Mythos – und dessen Abwandlungen in Philosophie und Komödie!

 

Eirene und Polemos

Die Griechen nannten sie Eirene. Sie war eine Tochter des allmächtigen Zeus, gezeugt mit Themis, der Göttin der Gerechtigkeit; und ihre Schwestern waren Dike, das Recht, und Eumonia, die gute Ordnung. Sie alle gehörten zu den Horen: den guten Geistern, die an ihrem Webstuhl das Leben der Menschen bestimmen und ihm seinen Takt und seine Abfolge in der Zeit geben. Eirene aber war die schönste von ihnen. Und sie trug, zum Zeichen ihrer Würde, gern den kleinen Plutos im Arm, dem kindlichen Gott des Reichtums, mit seinem Füllhorn. Denn dort, wo dauerhafter Friede herrschte, gediehen die Getreidefelder, wuchs der Wein und trugen die Ölbäume reiche Frucht; und nur dort, wo Gerechtigkeit und gute Ordnung im Zusammenleben der Städte herrschten, konnten die Menschen die Früchte ihres Wohlstandes in Frieden und Sicherheit ernten. Und so zeugte die Gerechtigkeit den Frieden, und der Frieden gebar die gute Ordnung, und niemand, der jemals in Gerechtigkeit, guter Ordnung, Frieden und Wohlstand gelebt hatten, würde jemals wieder wollen, dass es – Krieg würde.

Polemos hingegen war ein Dämon; kein Gott, sondern mehr – eine Idee, eine Abstraktion, und niemand war jemals auf die Idee gekommen, ihn für schön zu halten. Sein ganzes Wesen war Streit und Kampf; genauso wie beim Kriegsgott Ares, der sogar zu den olympischen Göttern, den allerhöchsten Wesen gehörte, der aber blutdürstig war und dessen Grausamkeit keine Grenzen kannte und der den Krieg genoss. Niemand mochte ihn, genauso wenig wie Polemos; Aphrodite aber, die Göttin der Schönheit selbst, war ihm verfallen, seiner Kraft und seiner Männlichkeit. Polemos aber fiel Hybris zu, sie war die letzte der Göttinnen, die niemand ehelichen wollte; er aber folgte ihr fortan auf Schritt und Tritt, und überall, wo die Hybris ihre Herrschaft über die Menschen übernommen hatte, kamen auch der Streit, die Gewalt, der Kampf und am Ende: der tödliche Krieg hinzu. Heraklit aber, der weise Heraklit von Ephesos, hatte über ihn gesagt: „Krieg ist Vater von allen, König von allen. Die einen macht er zu Göttern, die anderen zu Menschen, die einen zu Sklaven, die anderen zu Freien“. Bei Heraklit wusste man aber nie so genau, was er meinte; meinte er jetzt den realen Krieg, mit seinen Siegern, die sich alle Freiheiten nehmen dürfen, und den Verlierern, die versklavt werden, an Geist und Gliedern? Oder meint er – naja, das Denken, den logos, der sich nur durch Widerspruch in Bewegung setzt, der vom Widerstreit lebt, nicht vom Konsens, nicht von der Stabilität, nicht von der trägen Masse des reinen Seins? Aber wer sind dann die Könige des Geistes, die Götter, die Freien?

Aristophanes hingegen hat eine Geschichte daraus gemacht, nein: eine Komödie, und komischerweise ist Der Frieden (mit einem zweiten Preis ausgezeichnet bei den Festspielen) das einzige seiner Stücke, dessen Text den kriegerischen Ansturm der Zeiten überstanden hat. Seine Hauptfigur ist ein Winzer; und dieser Winzer nun, er heißt Trygaios, sattelt einen Mistkäfer um zum Olymp zu fliegen (es hat einem mythologischen Grund, warum es gerade ein Mistkäfer ist, nicht nur einen dramaturgischen, aber das würde uns endgültig auf zu weite Abwege führen); er will den König der Götter danach fragen, warum die Griechen eigentlich ewig Krieg führen müssen? Er trifft aber nur Hermes, den Götterboten, der den Haushalt hüten muss, derweil sich die olympischen Götter in höhere Himmelsgebiete zurückgezogen hatten; der ewige Kriegslärm war ihnen auf die Nerven gegangen, die endlose kindische Zankerei zwischen Athen und Sparta! Außerdem hatte Polemos, der oben schon vorgestellte Gott des Krieges, die Friedensgöttin Eirene in eine tiefe Schlucht gesperrt wurde. Ebendieser tritt in der nächsten Szene auch selbst in Erscheinung, und zwar mit einem mächtigen Mörser; in ihm will er die Menschen im nächsten Krieg zermalmen, bis ihnen die Backen wehtun! Trygaois jedoch ruft alle zusammen, die beiden Festspielen zuschauen, seine Handwerkskollegen, sogar die anwesenden Fremdlinge und Inselbewohner: Ihre Mission sei es, die Friedensgöttin zu befreien! Die frisch ernannten Krieger samt dem Chor johlen und tanzen, dass es eine Freude ist, der arme Trygaios aber fürchtet Entdeckung durch den Höllenhund des Krieges und bringt sie mit einiger Mühe zum Schweigen (sie sehen schließlich ein, dass das Stück selbst ihn als Alleinherren über sie bestimmt hat; soviel Metapoetik gab es auch damals schon!). Hermes, der die arme Eirene überwacht, wird gekonnt mit süßen Worten, Versprechung zukünftiger Feste zu seinen Ehren, einem Ferkelchen und einem goldenen Becher bestochen. Außerdem spricht man einige Flüche aus: gegen zukünftige Kriegsgewinnler (Schildverkäufer und Lanzenschmiede); sie mögen nur noch Gerste essen, Viehfutter! Oder gegen Bürger, die mit Gewalt auch einmal Feldherren werden möchte; oder gegen überlaufende Knechte, Rädern und Peitschen ist das mindeste! Dann beginnt das Werk, das vereinende: Mit vereinten Kräften müssen nämlich alle anfassen, um die Göttin aus der offensichtlich sehr tiefen Kluft hinaufzuziehen. Aber irgendwie fassen die Fremdlinge und Inselbewohner nicht so recht herzhaft an; wollen sie etwa den Frieden doch gar nicht so sehr, wie sie vorgegeben hatten, als sie noch sangen und tanzten? Zum Teufel werden sie jetzt geschickt, und der Chor allein, bestehend aus den Bauern, vollbringt das große Werk. Es stellt sich heraus, dass die Göttin Eirene nicht allein war dort unten in der Tiefe; Opora, die Göttin der Ernte, und Theoria, die Göttin der Feierlichkeiten. Worauf die Bauern in Frieden heimziehen können und ihren friedensstiftenden und -erhaltenden bäuerlichen Tätigkeiten nachgehen können, die der Krieg zermalmt hatte in seinem gnadenlosen Mörser. Die Friedensgöttin jedoch erkundigt sich nach dem Stand der Dinge in Athen, wer denn so die Herrschaftsgeschäfte führen; sie wird beschieden, der jetzige Anführer sei sowieso nur eine Behelfslösung gewesen, jetzt werde wieder der Lampenmacher den Laden übernehmen, da er als einziger erleuchtet genug sei (ehrlich!). Trygaois hingegen bekommt Opora als liebliche Ehegattin, allerdings hat Zeus ihm seinen Mistkäfer abspenstig gemacht. Der Chor hingegen macht noch ein wenig Werbung für seinen Schöpfer, den Kahlkopf Aristophanes; Abspann und Ende.

Was daraus zu lernen ist über Krieg und Frieden! Sehr viel. Aber Aristophanes, der Kahlköpfige, hat noch eine Komödie über Krieg und Frieden geschrieben, und sie handelt darüber hinaus von Frauen und Männern im Krieg. Lassen wir also Lysistrata, die Hauptfigur der nach ihr benannten Komödie, noch ein wenig sprechen:

Athen um 411 vor Christus. Lysistrata spricht

Der Krieg ging ins zwanzigste Jahr. Es war ein Kampf zweier politischer Ideologien, oder es war ein Wettstreit zweier Großmächte um die neue Weltordnung; oder es war ganz einfach das Übliche, „Kampf, Krieg und Wahnsinn“. Die Frauen hatten nichts zu sagen dabei: “Denn der Krieg ist Männersache“ – hatte es so nicht der unsterbliche Homer selbst gesagt? Doch es waren die Frauen, die die Knaben geboren hatten, die nun schon seit zwanzig Jahren hingemeuchelt wurden, in einer Orgie der Brutalität, die bisher noch nie gesehen ward (man erzählte, sie hätten ganze Dörfer niedergemäht, Alte, Junge, Kinder, Frauen, niemand sei verschont geworden). Und war die polis nicht inzwischen so verarmt, dass sie kaum noch die Feiern zu Ehren der Götter bezahlen konnte? Von wo sollte noch Rettung kommen, wenn die berühmtesten Feldherren, die größten Redner, der gepriesene Perikles selbst – dem Kriegswahnsinn anheimgefallen waren? Von wo, wenn nicht – von uns selbst?

So sprach Lysistrata, und die Frauen, die aus allen Teilen von Hellas gekommen waren, auf heimlichen, verschlungenen Wegen und nachdem sie all ihre häuslichen Pflichten erledigt hatten („man muß den Mann bedienen; die Knechte wecken; muß das Kind zurecht erst legen, sauber waschen und es füttern“, so hatte Kalonike zur Entschuldigung geklagt) – die Frauen hörten ihr aufmerksam zu. Anfangs waren sie ein wenig widerwillig und unsicher gewesen: „Ach geh, was werden Fraun Vernünft‘ges tun, Ruhmvolles? – Aufgeputzt mit Blumen sitzen wir da, geschminkt, im safrangelben Schal, mit Bänderschuhn und kimbrischen Schleppkleidern“, so hatte sich Kalonike wieder zu Wort gemeldet. Aber genau das, so sprach Lysistrata, genau das wird uns alle retten – denn worauf zielen wir denn mit all dem flatternden Putz, den halbdurchsichtigen Gewändern, den safrangelben Schals und den zierlichen Perserschuhen, wenn nicht auf das – nun, ihr wisst, auf das gewisse Teil, mit dem unsere Männer denken; ihren besten Freund, ihren Kampfgenossen, der jeden Morgen mit ihnen aufsteht und am Abend immer noch keine Ruhe gibt? Was aber, so stellt euch nur vor, was würde denn passieren, wenn wir – uns enthalten, uns verweigern, und, sollten sie denn zu Gewalt greifen, ihnen den Spaß verderben: „Der Mann hat keine Freude, wenn ihm das Weib nicht gern zu Willen ist“, so sagte Lysistrata, und sie hatte Recht.
Aber na gut, das allein würde vielleicht noch nicht reichen. Deshalb, so erläuterte Lysistrata den immer noch unsicheren Frauen, hätten sie sicherheitshalber die alten Frauen losgeschickt, sie hätten die Akropolis besetzt (was ziemlich leicht war, sie war nur von den alten Männern bewacht, da alle jungen im Krieg waren), und niemand würde jetzt mehr an die Staatskasse kommen, um immer neue Rüstungen, Helme oder gar neue Kampfschiffe zu kaufen! „Ist denn Geld Ursache des Krieges?“, so hatte ein dümmlicher Ratsherr gefragt, und Lysistrata hatte ihm erklären müssen, dass Geld die „Ursache aller Verwirrung“ sei, und dass die achso demokratische Bürgerschaft seit einiger Zeit eigentlich nur noch darin bestehe, sich gegenseitig das Geld in die Tasche zu schieben. Die Frauen jedoch waren es, die das Geld in den Häusern verwalteten, und schwer genug war es geworden im zwanzigsten Jahre des Krieges! Aber niemand hatte sie jemals gefragt, niemals: „Wir ertrugen es stets in der vorigen Zeit und im Jammer des Krieges geduldig – Sittsamer Natur, wie wir Frauen nun sind –, wie ihr Männer auch immer es triebet. Wir durften nicht mucksen; so hieltet ihr uns!“ Aber das sei jetzt vorbei, so sagte Lysistrata. Sie alle seien nämlich frei geboren, genau wie die Männer: „Ich bin ein Weib, doch wohnt in mir auch Geist! Von Haus aus gar nicht ohne Mutterwitz, hab ich vom Vater und von ältern Männern manch weises Wort gehört und viel gelernt.“ Und deshalb würde sie nun sprechen und sie alle retten, Männer und Frauen, ob sie nun wollten oder nicht!
Aber wie wollt ihr das denn tun, fragte der Ratsherr: „Wie getrauet nun ihr euch imstande zu sein, die krausen, verwickelten Händel, zu entwirren, zu schlichten, in Hellas umher?“ Und Lysistrata erklärt ihm, recht geduldig und ausführlich, dass sie gedächten, das verworrene Kriegsgeschehen ganz genau so zu entwirren gedächten, wie ein verworrenes Wollknäuel beim Spinnen; denn war das nicht wirklich und wahrhaftig das Verworrenste, was man sich vorstellen konnte? „Politische Fragen wie die Wolle beim Spinnen behandeln“, höhnte der Ratsherr, Vermessenheit, Unsinn, blanker Weiberwahnsinn! Aber Lysistrata erklärte es ihm, geduldig und ausführlich, und sie sprach so schön dabei, wie es nur die besten Rhetoriker konnten, die das Geschäft erlernt hatten:

Wie die Wolle vom Kot und vom Schmutz in der Wäsche man säubert,
So müßt ihr dem Staate von Schurken das Fell reinklopfen, ablesen die Bollen:
Was zusammen sich klumpt und zum Filz sich verstrickt – Klubmänner, für Ämterbesetzung
Miteinander verschworen – kartätscht sie durch und zerzupft die äußersten Spitzen,
Dann krempelt die Bürger zusammen hinein in den Korb patriotischer Eintracht
Und mischt großherzig Metöken dazu, Verbündete, Freunde des Landes;
Auch die Schuldner des Staats, man verschmähe sie nicht und vermenge auch sie mit dem Ganzen!
Und die Städte, bei Gott, die als Töchter der Stadt in der Ferne sich Sitze gegründet,
Übersehet sie nicht: denn sie liegen herum wie zerstreute, vereinzelte Flocken.
Lest alle zusammen von nah und fern, aufschichtet sie hier und verflechtet
Die Wocken und wickelt ein Ganzes daraus und verspinnt es zu einem gewalt’gen
Garnknäuel! Aus diesem dann webet vereint für das Volk einen wollenen Mantel!“

Das war nun wahrlich unerhört. Nicht nur beschuldigte diese Frau die Männer der politischen Verfilzung und des Nepotismus; sie schlug gar vor, alle Bürger egal welchen Standes in einen Korb zu werfen, sogar die Metöken, die Eingewanderten, Fremden, ohne jegliches Bürgerrecht! Aber andererseits hatten die Frauen ihren Plan inzwischen umgesetzt; sie hatten sich verweigert, nicht nur in Athen, sondern auch in Sparta, dem Erzfeind, und in den verbündeten Städten des Peloponnes, überall hatten sie sich ihren Männern verweigert. Inzwischen gab es stehende Argumente, vorstehende, überstehende, anschwellend gewaltige Argumente; es gab sie bei allen Parteien, denn eines vereinte sie; es war eine Männersache.

Und vielleicht hätte das noch nicht ganz gereicht, aber immer noch hatten die alten Frauen die Kriegskasse nicht wieder freigegeben! Und außerdem hatte die kluge Lysistrata eine junge Göttin zu den Verhandlungen mitgebracht. Die „Versöhnung“ nannte sie sie, und sie stand da, vor aller Augen, so jung und schön und vielversprechend – nein, dem Leid musste ein Ende gemacht werden, heute noch! Und so vereinten sich Freund und Feind, Männlein und Weiblichen, Alt und Jung und feierten ein großes Versöhnungsfest auf der Akropolis, so wie es nur die Hellenen konnten, die einmal ein Weltreich gegründet hatten und die Demokratie und die Philosophie und die Kultur erfunden hatten.

Aber es war ja nur eine Komödie gewesen, geschrieben von Aristophanes, dem frechen und frivolen und wortgewandtesten aller Komödiendichter. Er hatte dann auch noch eine andere Komödie geschrieben, die Weibervolksversammlung hieß sie, und eine Geistesverwandte von Lysistrata, Praxagora hieß sie, hatte in ihr gefordert, den Weibern überhaupt ganz den Staat zu überlassen! Doch im gleichen Jahr hatte der Rat der Vierhundert die demokratische Regierung gestürzt; und noch ein wenig später war der Rat der Vierhundert wieder gestürzt worden, und der Krieg nahm erst ein Ende, als das glorreiche Athen, Erfinderin der Demokratie und der Philosophie und der großen Tragödien wie der großen Komödien, ausgehungert und zerstört war.

Irgendwo, später. Lysistrata schweigt
Der Krieg ging ins zigste Jahr. Es war ein Kampf zweier politischer Ideologien, oder auch ein Wettstreit zweier Großmächte um die neue Weltordnung; oder es war ganz einfach das Übliche, „Kampf, Krieg und Wahnsinn“. Die Frauen hatten wenig zu sagen dabei. Doch es waren die Frauen, die die Knaben geboren hatten, die nun schon seit zig Jahren hingemeuchelt wurden, in einer Orgie der Brutalität, die bisher noch nie gesehen ward (man erzählte, sie hätten ganze Dörfer niedergemäht, Alte, Junge, Kinder, Frauen, niemand sei verschont geworden). Neu war nur das Internet. Lysistrata saß vor einem dunklen Bildschirm, neben ihr stand ein verstaubtes Spinnrad. Sie hatte inzwischen auch Anhängerinnen, weltweit sogar; #wetoo nannten sie sich. Aber würden sie die Welt noch retten können? Lysistrata schwieg. Der Bildschirm blieb dunkel.


NOCH EINE ABLENKUNG

 

Und dann saß ich im Auto auf dem Weg zum Sportstudio, ganz rentnermäßig; Weihnachten war schon sehr nahe gerückt, die Straßen waren relativ leer, und meine Weihnachtsstimmung nahm auf einmal einen spontanen Umschwang ins Überschwänglich-Enthusiastische. Nein, er war nicht ganz spontan, aber immerhin das unerwartete Ergebnis einer Gedankenkette, und die ging so: Ich war gerade – der Zusammenhang tut nichts zur Sache – darauf gekommen, dass man, wenn man einer Emotion Raum gibt (also: einer positiven Emotion) man auf eine etwas ungeklärte Art und Weise alle möglichen anderen Emotionen freisetzte; man konnte sozusagen, über eine Schlüssel- und Zentralemotion, mehr gefühlig werden, aber in einem durchaus guten, ernsthaften, nicht sentimentalen Sinn. Man konnte, so korrigierte ich mich, empfindsamer werden, so hätte mein 18. Jahrhundert gesagt, und eben auch nicht „empfindlich“ gemeint, sondern „empfindsam“: empfindungsfähiger. Und Weihnachten schien mir auf einmal vor allem deshalb notwendig, weil es sehr viele Menschen für eine kurze Zeit empfindsamer macht: Man wünscht sich etwas reflexhaft alles Gute und frohe Feiertage und wunderbare Weihnachten, und auf einmal – meint man es auch. Man möchte noch viel mehr Menschen alles Gute und freudige Feiertage und wunderbare Weihnachten wünschen, weil es so ein schönes Gefühl ist; Weihnachten, das Fest des Wohlwollens! (und hatte der Engel es nicht ganz ähnlich gesagt?) Und auf einmal – und das erst war der eigentliche Erleuchtungsmoment – erschien mir alles außerordentlich liebenswert; nicht nur die mir unbekannten Menschen auf der Straße, die ihren freitäglichen Geschäften nachgingen, nein: Auch die sonst immer etwas nervigen Tauben auf dem Dach der Volksdach, der ganze sehr spröde, betonreiche Nicht-Charme der Wernauer Einkaufsstraße, das sehr wechselhafte Dezemberwetter – war es nicht alles, mit nur etwas Wohlwollen, einfach liebenswert genau so, wie es war, spröde, nicht-charmant, taubenhaft-aufgeregt und alltäglich-grau? Vielleicht hatte sich ja Christus so gefühlt, als er auf die Erde kam, und Betlehem war zwar sicher nicht betongrau, aber wahrscheinlich staubbraun und am Ende auch nicht aufregender als Wernau?

Ich hatte aber auch einen zweiten, nicht so schönen Gedanken, der sich dazwischen schlich. Er hatte mit dem Schenken zu tun, dieser so schwierigen Tugend; das Beschenktwerden ist aber noch schwerer, am Ende hat man etwas, was man vielleicht nicht wollte, und noch nicht einmal das schöne Erlebnis des Selbst-Gekaufthabens dazu! Nein, will alles gelernt sein. Ist aber eine der schöneren Tugenden, ursprünglich, bevor es zu einem Spiel auf Gegenseitigkeit verkam; man kann nämlich auch einfach so schenken, ohne Erwartung auf Gegenleistung, weil einem danach ist. So wie Kinder schenken nämlich, einfach so. Und ich dachte an dieser Stelle: Vielleicht sollte man jedes Geschenk so aufnehmen, wie einen Blumenstrauß, der einem von einem Kind hingehalten wird. Es hat ihn im Garten gepflückt, selbst gepflückt, das ist wichtig; und vielleicht sollte es das nicht, weil die Blumen im Vorgarten dazu da sind, schön auszusehen und von den Nachbarn bewundert zu werden; und weil sie sowieso nicht halten in der Blumenvase in der Wohnung; und weil man nie die richtige Blumenvase hat und und und. Stimmt schon alles, aber das Kind ist jetzt sehr traurig. Es hatte eigentlich nur etwas Schönes machen wollen, einen Strauß nämlich, und dann der Mutter eine Freude damit. Ja, das ist rührselig, und ja das soll wehtun, weil der Gedanke mir nämlich wehtat. So als hätte ich das erlebt. Es ist aber egal, ob ich das erlebt habe und ob es die Mutter war oder die Oma. Es hat sich so angefühlt. Also reißt euch verdammt nochmal zusammen, einmal im Jahr wenigstens, und lächelt, wenn ihr ein Geschenk bekommt, das ihr nicht gewollt und nicht bei amazon selbst bestellt habt, und bedankt euch nett!

Beim Sport war es nett. Die Mädels von der Rezeption und die Therapeutinnen trugen bunte Weihnachtspullis oder aufgesetzte Rentierhörner mit Glitzer; die anwesenden, schon vage bekannten Frauen, meist mittleren Alters, diskutierten, wie lange man rote Mini-Advents-Kostüme tragen könnte, ohne peinlich zu sein, und dann, warum die Kleiderstandards in der Geschäftswelt und überhaupt sich so drastisch verändert hatten seit unserer eigenen Ausbildung, und ob Löcher in der Jeans und Jogginghosen – da kam der Chef angestürmt, offensichtlich um die Weihnachtsstimmung besorgt angesichts der sehr lebhaften Diskussion im Trainingsraum, wurde aber beruhigt, dass es höchstens tangential um Weihnachten gehe, woraufhin er seinen Hoodie über den Kopf zog (Hoodies, auch nicht mehr nach 40, sagt das Internet!) und grummelte: „Ich bin der Grinch!“ Allgemeines Gelächter, das Gespräch beruhigt sich wieder, und wir trainierten froh und friedlich weiter und schielten ab und zu zu dem lustig wackelnden Rentiergeweih auf dem Kopf der Physiotherapeutin hinüber. Alle wünschten sich frohe Feiertage und wunderbare Weihnachten beim Gehen, und alle meinten es. Damit endlich zurück zum Frieden und zum Krieg! Und es erscheint, als erster aus den himmlischen Heerscharen: der Engel der Philosophie.


WAS ABER IST FRIEDEN?
DER ENGEL DER PHILOSOPHIE STREIFT DURCH DEN WALD UND HÄLT EINEN VORTRAG

Der Engel der Philosophie ist tendenziell unterbeschäftigt heutzutage und deshalb froh, wenn er auch einmal gefragt wird. Er ist ein ziemlich durchscheinender Engel, mit sehr großen, symmetrischen Flügeln, und wenn er sie bewegt, purzeln kleine Syllogismen heraus, oder Kategorientafeln, und entfalten puttenartige Flügel. Meist spricht er entweder in Axiomen oder Maximen, und er hebt deshalb auch an mit Heraklit, was sonst, und es klingt sehr tief und rauschend, geradezu raunend: „Krieg ist Vater von allen, König von allen. Die einen macht er zu Göttern, die anderen zu Menschen, die einen zu Sklaven, die anderen zu Freien“. Aber das hatten wir ja schon, deshalb bitte ich den Engel der Philosophie, ein wenig weiter zu springen; wir sind ja nicht mehr ganz blutige Anfänger, sondern schon ein wenig bewandert in dem Gedankengeflecht, das sich rund um Krieg und Frieden gewunden hat. Der Engel ist etwas verwundert, dass ich ihn unterbreche, das ist er offensichtlich nicht gewohnt; aber andererseits gefällt es ihm scheinbar, dass er nicht immer ganz bei Adam und Eva anfangen muss (ja, im Paradies ging es auch gar nicht mehr so friedlich zu, nachdem die Schlange ihr angebliches Teufelswerk getan hatte, Schwerter und Vertreibung und all das). Und so nimmt er mich beinahe vertraulich bei der Hand, es fühlt sich ganz weich und ganz leicht an, wenn einem ein Engel bei der Hand nimmt, man möchte nie wieder loslassen. Und er sagt, nicht mehr ganz so tief raunend: Wir gehen jetzt auf eine kleine Wanderung, und du vertraust und folgst mir einfach! Und unterbrich mich nicht dauernd, hörst du? Und im Blinken eines Auges finden wir uns wieder in einer Art Wald (es ist natürlich eine innere Landschaft); er ist sehr wirr, alles Mögliche sprießt und wächst durcheinander in ihm, aber es gibt auch einige wenige starke Bäume, deren Kronen man kaum sehen kann, so weit reichen sie in den Himmel; aber auch viel Unterholz, gebrochene Bäume, wirre Sträucher. Durch den Wald führen viele Wege, es ist sehr verwirrend; manche kreuzen sich, andere enden im Nichts, aber einige sehen auch aus wie Hauptwege, gut gebahnt und viel begangen und – verdächtig gerade? Der Engel aber zögert nicht einen Moment. Er nimmt einen der weniger begangenen Wege; er führt in einen eher dunklen Teil des Waldes, viele Wurzeln laufen in ihm hin und her und verschlingen sich, aber aus manchen wachsen auch wunderbare Blüten hervor. Und der Engel spricht im besten Dozententon, und ich referiere hier nur die groben Linien (und notiere meine unterdrückten Unterbrechungen):

 

Lass uns beim Wort anfangen. Denn kommen nicht die meisten Missverständnisse bei euch Menschen – und sogar bei den Philosophen unter euch (ich unterdrücke eine automatische Ergänzung „und Philosophinnen“) – davon, dass ihr meist nicht so genau wisst, was ihr mit einem Wort eigentlich sagen wollt? Oder es ganz genau zu wissen meint, aber die Andere (na gut, der Engel ist mir voraus) meint es auch genau zu wissen, meint aber etwas anderes? Sokrates (bestätigendes Nicken von mir, unnötig natürlich) wusste das nicht nur, er hat sogar ein Verfahren entwickelt, das – aber ich sehe, du weißt, zum Thema also! Frieden ist etymologisch ein Verwandter von „Freundschaft“; also dem starken Begriff von Wohlwollen zwischen Privatpersonen. Das schöne althochdeutsche Wort „fridu“ steht aber auch für so etwas wie Schonung (noch nicht einmal die Schondeckchen haben die Moderne wirklich überlebt, denkt es in mir, Assoziationen sind schon seltsam). Und schonen, das ist nicht nur etwas, was man mit Feinden tun sollte, sondern überhaupt: Wenn man nämlich friedfertig sein will, wenn der Frieden als Fertigkeit gelernt und geübt und praktiziert werden soll, dann wird man auch Praktiken der Schonung brauchen. Denn Frieden ist gar nichts, was es irgendwie selbstverständlich und von allein gibt; nein, genauso wie Krieg muss Frieden gestiftet werden! Das ist eine Lektion, die den Menschen erstaunlich schwerfällt, und wir halten sie deshalb als erste Zwischenetappe fest, ich wiederhole noch einmal: Es gibt keinen Frieden, außer man macht ihn! Die Geschichte der Menschheit ist allerdings, mein englischer Kollege wird es später sicherlich noch genauer ausführen: eher eine Geschichte ihrer fortwährenden Kriege als eine der kurzen friedfertigen Zwischenphasen. Ein Krieg ist leicht angestiftet, gezündelt wird allenthalten, ein Trigger findet sich immer; Frieden aber, und nun gar: zwischen Völkern und Staaten (und das sind unterschiedliche Dinge, und beide führen verschiedene Kriege), das fordert fortwährende Anstrengung, Mühe, Schonung! (ich habe fleißig genickt derweil und mich überhaupt vorbildlich schülerhaft verhalten, aber, so weit waren wir schließlich auch schon selbst gekommen!)

 

Derweil sind wir in einen helleren Teil des Waldes gekommen. Er wirkt geradezu – künstlich irgendwie, mit sehr gerade Wegen und geometrischen Kreuzungen; kaum Unterholz, sondern gerade wachsende Bäume von übersichtlicher Höhe. Der Engel aber spricht weiter:

Wir kommen jetzt zu einigen nützlichen definitorischen Unterscheidungen. Es gibt den negativen Frieden, das ist die Abwesenheit kriegerischer Konflikte zwischen Staaten oder Völkern; und es gibt den positiven Frieden, einen Zustand der Ruhe, der Abwesenheit von Störungen – denn Konflikte wird es immer geben –, vor allem aber: dem Fehlen jeglicher Gewalt, sei es auf physischer oder kultureller oder struktureller Ebene. Das ist der Frieden, den ihr euch erarbeiten müsst, und zwar jede und jeder für sich selbst; ja, in deiner Sprache gibt es dafür den schönen Begriff des „Seelenfriedens“, genau (natürlich liest sie Gedanken, ich hätte es wissen müssen…), und insgesamt als Gruppe, als Gemeinschaft, Kollektiv. Und gerade die europäische Geschichte demonstriert, welch mühevoller Lern- und Zivilisierungsprozess das ist! Aber das erklärt dir der Engel der Geschichte, er ist noch unterwegs und kommt später dazu. (Ich kann nicht mehr an mich halten und muss doch ein wenig mein eigenes philosophisches Halbwissen vorzeigen, deshalb ergänze ich vorsichtig: Eine hübsche Parallele dazu ist übrigens die Unterscheidung von negativer Freiheit – dem Fehlen von äußeren Einschränkungen für Handlungen, der Freiheit von etwas – und positiver Freiheit – der Freiheit zu etwas, die Möglichkeit zur Gestaltung von Handlungsoptionen, unter Umständen sogar: die Annahme von äußeren Grenzen, freiwillig? Und positive Freiheit ist, wie positiver Frieden, viel, viel schwieriger: Denn gegen Verbote sein kann jeder, aber was man dann anfängt mit der unendlichen Vielfalt der Möglichkeiten, der sich dadurch eröffnet, wie man damit sinnvoll und verantwortungsbewusst umgeht: Das ist eine Kunst!) Ich habe mich warmgeredet, aber der Engel hat mir die Hand gedrückt und mich nicht unterbrochen. Schaut sie mich gar anerkennend an?

Es ist wieder etwas dunkler geworden im Wald, das Unterholz nimmt zu, die Sträucher schießen wieder ins Wirre. Doch einzelne Bäume ragen hervor, knorrig und alt einige; Teile von ihnen sind abgestorbene, aber andere treiben tapfer weiter aus. Der Engel führt mich weiter an der Hand, bei einzelnen der großen Bäume halten wir an, und er spricht:

Aber immerhin war den meisten Menschen schon seit langem klar, dass Krieg eigentlich gar nicht so eine gute Idee ist. Deshalb haben sie komplizierte Rechtfertigungsmodelle für ihn entwickelt. Bis heute wird die Grundidee „gerechter Krieg“ genannt. Die griechische Antike kannte den Begriff noch nicht, obwohl sie praktisch ständig Kriege führte; aber ich sehe, ihr habt schon über Aristophanes gesprochen, einen unterschätzten Denker, wie alle Komödianten! Aber bei Platon ist immerhin die Harmonie der drei Seelenteile in jedem Einzelnen die Basis für den Seelenfrieden ebenso wie für einen friedfertigen Umgang der griechischen Einzelstaaten miteinander. Doch Platon macht eine Ausnahme: Barbaren. Barbaren sind der Vernunft nicht fähig, und deshalb dürfen und sollen sie bekämpft werden bis zur Vernichtung! (etwas in mir windet sich in mir unangenehm; der Gedanke ist nicht schön, aber leider scheint er gewissermaßen unsterblich zu sein: Irgendwer ist immer der Barbar). Genau, sagt der Engel, problematischer Gedanke! Aber wir müssen weiter, und damit geht es zum nächsten Baum:
Cicero dann gilt als der eigentliche Vater des bellum iustum. Denn er entwickelt einen Satz von Kategorien, um den gerechten Krieg vom ungerechten, nicht zu rechtfertigenden zu unterscheiden. Und sie lauten: Der gerechte Krieg reagiert auf erlittenes Unrecht, er ist also keinesfalls ein Angriffskrieg; er vollzieht einen Akt der Strafe oder auch der Rache; er erfolgt nach gescheiterten Verhandlungsversuchen; er wird von der politischen Zentralmacht geführt und von sakralen Autoritäten legitimiert (Philosophen hingegen werden meist nicht befragt, sie dürfen nur Kategorien entwickeln, die man dann weit ausdeuten kann, denke ich; und der Engel nickt leidvoll dazu). Nächster Baum!

Augustinus, Bischof von Hippo und Kirchenvater, führte die Lehre Ciceros unter christlichen Rahmenbedingungen fort. Denn Frieden kann ihm zufolge in der Weltgeschichte nur von dem einen christlichen Gott hergestellt werden; und alle Kriege, die diesem letzten Ziel dienen, nämlich der Friedensherrschaft Gottes zum Durchbruch zu verhelfen, sind per se gerechtfertigt (ein weites Feld für künftige Kreuzzüge, denke ich, aber der Gedanke ist zu trivial, um beim Engel auch nur eine Reaktion hervorzulocken). Aber auch Augustinus hielt als Philosoph an Kriterien fest: Nur eine legitime Autorität darf einen Krieg führen; es muss ein gerechter Kriegsgrund vorliegen, der casus iusto; die Kriegsführenden müssen wohldefinierte Ziele haben, die das Konfliktende determinieren. Der Krieg muss das letzte Mittel bleiben, die ultima ratio; und es muss prinzipiell eine Aussicht auf Frieden mit dem Kriegsgegner bestehen. Ich sehe, dass du selbst die vielfältigen historischen Anwendungsbeispiele siehst. Das ist auch alles klug und vernünftig gedacht und einleuchtend vorgetragen. Augustinus hielt aber auch – er hatte gerade selbst die Plünderung Roms durch die Westgoten, Barbaren natürlich, erlebt: Auch wenn man einen gerechten Krieg führe und alle Bedingungen ordnungsgemäß erfüllt seien, solle man trauern deshalb. Denn jeder Krieg habe Nebenwirkungen, von denen nicht die letzten psychischer Art sein, ich zitiere ausnahmsweise einmal wörtlich, damit die Wörter und die Gedanken zu ihrem Recht kommen: „die Gier zu schaden, die Grausamkeit der Rache, die Unbefriedetheit und Unversöhnlichkeit des Geistes, die Wildheit des Aufbegehrens, die Lust an der Überlegenheit und Ähnliches mehr“. Krieg korrumpiert die Seele; man kann keinen Krieg führen und unbeschadet aus ihm zurückkehren in ein ziviles, moralisch gefestigtes, friedfertiges Leben. Das ist unsere zweite Lektion. Ihr nennt das später Trauma oder shock shell oder PTSD, und es ist historisch belegt seit den Anfängen des gegenseitigen Abschlachtens. Aber niemals, niemals wird es von irgendjemand bedacht, wenn man den Krieg anfängt, der doch zu einem guten Ende führen wird! Gerechter Krieg: Gerechtigkeit für wen, das solltet ihr euch häufiger fragen?

Wir sind immer noch im übersichtlicheren Teil des Waldes, den ich inzwischen den analytischen Park getauft habe; aber irgendwie hat sich die Stimmung verdüstert hier. Und der Engel spricht:

Wir wollten bisher vom Frieden sprechen, aber immer wieder sind wir beim Krieg geendet. Was aber ist der Krieg? Sagen wir, in der flachen Sprache eurer menschlichen Definitionen: Er ist ein mit Einsatz von Gewalt und/oder Waffen ausgetragener Konflikt, der der Durchsetzung eigener Interessen dient. Personen-, Sach- oder psychische Schäden werden dabei billigend in Kauf genommen; im Extremfall wird sogar das Töten entkriminalisiert. Die normalen Rechtsnormen gelten nicht mehr; im Idealfall halten sich die gegnerischen Parteien allerdings an die Regeln des Kriegsrechts oder, spezieller noch: des Kriegsvölkerrechts. Zu unterscheiden ist dabei, in rechtlicher Hinsicht: das Recht zum Krieg (ius ad bellum, siehe oben, gerechter Krieg); das Recht im Krieg (ius in bello), auch bekannt als humanitäres Völkerrecht; und das Recht bei der Beendigung des Konfliktes (ius post bellum). Wir halten fest, als dritte Lektion: Im Krieg gelten die üblichen moralischen oder rechtlichen Normen des menschlichen Zusammenlebens; es gibt aber Versuche ein eigenes Recht innerhalb dieses Ausnahmezustandes zu etablieren.

An diesem Punkt, ich kann es kontrollieren, muss ich den Engel unterbrechen. Und ich sage: Bei mir schrillten schon immer alle inneren Alarmglocken, wenn ich diesen Begriff hörte, weit vor aller geschichtlicher, analytischer oder sonstiger Reflexion (von Erfahrung ganz zu schweigen): Kriegs-Recht. Er hat sich, das kann ich aus dem Bauch des Kopfes heraus sagen, falsch angefühlt; nicht nur paradox, in sich selbst widersprüchlich (das schadet einem guten Begriff noch gar nicht immer, der Engel nickt einverständlich), sondern eben wie ein höhnisch grinsender Euphemismus: Sieh doch, es ist ein Zustand, für den es ein Recht gibt, in dem ein Recht gilt – also kann der Krieg doch nicht so schlimm sein! Denn nichts ist schlimmer als Rechtlosigkeit! Ach, vielleicht doch? Trifft dafür nicht deine zweite Lektion aus Augustinus zu? Ist die „Gier zu schaden, die Grausamkeit der Rache, die Unbefriedetheit und Unversöhnlichkeit des Geistes, die Wildheit des Aufbegehrens, die Lust an der Überlegenheit und Ähnliches mehr“, die sich in den Seelen einnistet, nicht schlimmer? Ist es nicht von einer geradezu zynischen Ironie, das Töten von Menschen zu wohldefinierten Zwecken – nämlich denen des gerechten Krieges – in eine Form rechtlichen Handelns zu integrieren, die im Inneren einen rechtsfreien Raum hat – nämlich das Töten von Menschen? Und, davon abgesehen: Hat es mir noch nie besonders plausibel erschienen, dass Menschen in ziemlich extremen Ausnahmesituationen sich an Regeln und Gesetze halten. Der Krieg schafft sich ein eigenes Recht, das könnte ich mir gut vorstellen: Aber es ist das Recht des Stärkeren, in seiner brutalsten Form. Es ist das Recht überleben zu wollen, unter allen Umständen. Und nein, wahrscheinlich ist es besser, dass es das Kriegsvölkerrecht gibt und dass es gelegentlich sogar Beachtung finden mag; aber es wäre schon ehrlicher und besser, wenn man den Begriff des Rechtes nicht mit dieser ungeheuren Paarung beschmutzen würde?

Der Engel hat geduldig meinem Ausbruch gelauscht; er hat meine Hand dabei nicht losgelassen. Aber er lässt sich nicht auf Diskussionen ein, sondern führt mich in einen Teil des Waldes, der irgendwie – lebendiger wirkt; weniger große Bäume, aber viele seltsame blühende Gewächse, ein weicher und saftiger Boden, gelegentlich sogar ein kleiner Tümpel. Aber er hat auch sehr dunkle Ecken, in denen gefährliche Wesen zu brüten scheinen; und der Engel spricht:

Warum aber führen Menschen überhaupt Kriege? Und warum ist der Frieden der Ausnahmezustand der menschlichen Geschichte ist. Die Frage wirft uns auf die Natur des Menschen zurück; und wir können sie also die Frage nach dem Ursprung und der Funktion der Aggression reformulieren. Aggression: Das ist im Tierreich ein triebgesteuertes Verhalten, das genau definierte Funktionen hat – die Verteidigung des eigenen Lebensraumes und seiner Ressourcen, oder auch: die Erweiterung des Lebensraumes oder die Gewinnung neuer Ressourcen, bei zunehmendem Selektionsdruck. Daneben dient sie aber auch gruppenintern zur Etablierung einer Rangordnung; oder dem Gewinn von Sexualpartnern und damit der Steigerung der Fortpflanzungschancen (der Mensch ist ein Tier, denke ich, aber das ist wieder trivial; was aber ist der Engel? Eine Stille im Kopf antwortet mir) Der Engel spricht weiter, er klingt jetzt nach einer Art weisen alten Therapeuten:

Aggression, als Reaktionsform, wird ausgelöst durch einen Trigger, eine Stimulation, einen Reiz. Es gibt jedoch auch Triebe, die der Aggression gegensteuern können: alle Formen der Beißhemmung beispielsweise, oder allgemeiner: der Triebhemmung, ausgelöst beispielsweise durch das Kindchenschema. Kriege jedoch, als stärkte Form von organisierter Aggression, gibt es im Tierreich nur bei: Menschen und Schimpansen. Tiere, die jagen, führen keinen Krieg, sondern folgen einem Instinkt. Tiere führen keine Kriege. Der Rest aber ist nur allzu leicht auf den Menschen, dasjenige Tier, das fatalerweise ein übergroßes Gehirn und eine Hand mit Daumen entwickelt hat, übertragbar. Worum werden Kriege geführt? – um Land, um Ressourcen, um Rangfragen, um Sexualobjekte; natürlich haben sie gelegentlich einen luxurierenden Überbau, aber der gehört nur den vielfältigen Legitimationsstrategien, nicht zur Hardware des Krieges darunter. Zum natürlichen Unterbau des Krieges in der natürlichen Aggression gehören deshalb: eine möglicherweise genetische Anlage zu stärkerer Aggression oder weniger starker (Männer und Frauen, denke ich) und eine bestimmte Kombination aufputschender vs. inhibierender Neurotransmitter und Hormone (Frauen und Männer, logisch). Auslösend wirken können beim Menschen negative Emotionen wie auch sozialer Stress, ausgelöst durch den Zerfall von Rangordnungen oder die Konfrontation mit Fremdheit. Spezifisch menschlich sind auch die Überformung durch aggressionslegitimierende, kulturelle Rituale oder die Enthemmung durch Rauschmittel oder Sportveranstaltungen. Aggression, so die Lektion: ist eine notwendige Form energetischer Entladung von Spannungen, die ebenso notwendig und immer entstehen in Gruppen und Sozialbeziehungen; sie ist lebenserhaltend und jenseits der Moral, wie alle evolutionären Prozesse (ich konnte während dieses Teils des Vortrags mein Erstaunen kaum verbergen; seit wann kannte sich der Engel der Philosophie auch in den Neurowissenschaften aus? aber daneben musste ich zu viel über den Geschlechterbezug nachdenken, und so hielt ich noch ein wenig still).

Wir waren derweil zu einem Baum gekommen, der über all das Gestrüpp herausragte; er schien gut verwurzelt, aber hatte in seinem Leben als Baum schon viele Angriffe überstehen müssen. Er war mehrfach gespalten, aber irgendwie schien er – nicht totzukriegen. Der Engel sprach weiter:

Für Sigmund Freud, der den Ersten Weltkrieg miterlebte, war der menschliche Aggressionstrieb derart stark und unbeherrschbar, dass er ihn, als Todestrieb, zum komplementären Äquivalent seines früher schon postulierten Lebenstriebes machte; der Mensch will und muss die Einheit zerstören und das Chaos wiederherstellen, und das ist, um zum Anfang zurückzukehren, Heraklit gar nicht unähnlich. Denn nur so ist Leben möglich, und das hat auf einer abstrakten Ebene einen sehr guten logischen wie evolutionären Sinn (wie alles Komplementäre, muss ich denken, es ist einer meiner Lieblingsgedanken, der Engel lässt mich getrost etwas bei ihm verweilen, doch dann muss ich wieder dazwischenreden: das mag ja alles logisch einsichtig und evolutionär einsichtig sein, doch auf der realen Ebene sterben Menschen in Kriegen, und es ist wenig trostreich, zum notwendigen Opfer einer komplementären Universal-Maschine zu werden, die Leben ebenso frisst wie sie es hervorbringt! Wäre es nicht doch möglich, langsam und in kleinen Schritten innerhalb des Prozesses der Zivilisation als Vermenschlichung gedacht: Aggression etwas friedfertiger zu gestalten? Oder, um zum Anfang und zu Aristophanes zurückzukommen Wie bekommen wir Eirene wieder aus der Grube, in die sie Polemos geschubst hat, an welchen Seiten müssen wir ziehen?)

Der Engel lächelte, das war schön. Weißt du das nicht selbst, sagte das Lächeln? Ich musste ein wenig nachdenken, aber dann fiel es mir ein: Sublimation, sagt Freud. Man kann versuchen, all die schädliche Aggressionsenergie umzuleiten; in positive Energie, in Gestaltungskraft, in die gewaltlose Gewalt des regelgeleiteten Spiels. Oder in menschliche Wettbewerbe, sei es auf dem Sportplatz – dass Fußballspiele ein wesentliches Mittel zur Verhinderung von Kriegen ist, hat sich schon herumgesprochen, sogar bei den Verächtern des Leibessportes –, in den Wissenschaften oder den Künsten. Wo immer Menschen um Vorteile buhlen, ihr Terrain markieren wollen, sexy sein und mächtig; lasst sie kämpfen. Aber nicht auf dem Schlachtfeld! Natürlich klingt das ein wenig nach „Brot und Spiele“, aber es könnte das kleinere Übel sein.


KRIEG UND GESCHLECHT (WISSEN AUS WIKIPEDIA)

 

Im Übrigen, und weil ich gerade dabei war, kam ich jetzt doch auf die Geschlechterfrage zurück; doch der Engel der Philosophie wurde dabei immer blasser, er schien sich irgendwie zu entfernen, nur noch ganz zart konnte ich den Druck seiner Hand fühlen, aber vielleicht war es auch nur noch der innerliche Eindruck dieser Hand, die Idee einer Engelshand selbst, die mich begleitete, während der Engel dahinschwand: Im übrigen, und so viel Geschlechter- nein, nicht Krieg, sondern Kampf muss sein: Sind Frauen natürlich das weniger aggressivere Geschlecht. Sagen genug Studien mit genug empirisch-historischem Material, dass man ihnen ausnahmsweise mal im Groben und Ganzen glauben kann. Das ist nun kein moralisches Verdienst, wie die meisten Geschlechtsunterschiede; nein, zu verdanken ist das zu großen Teilen einfach dem geringen Anteil an dem Aggressionshormon schlechthin, nämlich dem männlichen Geschlechtshormon Testosteron (sehr vereinfacht, aber wahr). Drastischer Beweis aus der Geschichte: Kastraten werden friedlicher. Oder, aus der Statistik: Gewaltverbrechen sind dominant männlich. Es macht ja auch einfach Sinn, dass Frauen friedfertiger sind: Sie müssen Kinder aufziehen, was prinzipiell aggressionshemmend wirkt. Zwar können sie kämpfen, auch in Kriegen; aber es gibt ein paar lustige Erkenntnisse dazu (eher Einzelstudien, aber wer weiß, vielleicht ist ja etwas dran?): Also, natürlich sind Frauen in Kampfsituationen benachteiligt, da sie durchschnittlich, auch mit Training, nur auf 2/3 der physischen Leistungsfähigkeit von Männern kommen; sie sind auch weniger trainierbar, wie sich gezeigt hat. Das hat Folgen, wenn eine Soldatin auch bei bester Ausbildung die Handgranate nicht weit wenig schleudern kann, um sicherzustellen, dass weder sie selbst noch ihre Kameraden bei der Detonation verletzt werden. Frauen verletzen sich leichter; sie sind dadurch eine Last für ihre männlichen Kameraden, die zudem kaum ihren Beschützerinstinkt (aggressionshemmend!) ausschalten können, wenn sie mit und gegen Frauen kämpfen. Wenn sie ihn erfolgreich ausschalten – nun ja, auch vergewaltigt werden im Krieg überwiegend Frauen. Die am Ende dann noch stärker gezeichnet sind nach dem Ende der Kampfhandlungen: Auch die Selbstmordrate von weiblichen Veteraninnen ist deutlich höher als die der Männer. Frauen im Krieg? Vielleicht waren die meisten Völker und Staaten sogar intuitiv klug genug, nicht diejenigen sterben zu lassen, von denen ihr Erhalt entscheidend abhängt. Den Ausfall von Männern konnte man verkraften in Nachkriegswirtschaften und -gesellschaften; den ganzer Generationen junger, gebärfähiger Frauen wohl kaum.

Ende meines Vortrags, der natürlich durch Wikipedia-generiertes Wissen geleitet war (aber: Frauen im Krieg, kein schlechter Artikel!) Aber ich sprach schon ins Leere hinein. Der Engel der Philosophie war zurückgekehrt zu den himmlischen Heerscharen, wahrscheinlich riefen ihn andere dienstliche Pflichten (welche, um Himmels willen?). Und der Wald war verschwunden; wir stehen wieder in Palästina, bei den Hirten, denen die himmlischen Heerscharen erschienen sind, und es ist Nacht.


WEIHNACHTSGOTTESDIENST MIT FRIEDENSBOTSCHAFT

 

Zwischendurch, während diese Friedensgeschichte weit über ihre ursprüngliche Empfängnis und Botschaft hinausgewachsen war, war es nun tatsächlich Weihnachten geworden. Wir gingen, ich hatte darauf bestanden, in einen Weihnachtsgottesdienst in der Mitte zwischen den Kindergottesdiensten mit Krippenspiel und der Christmette mit Chor um Mitternacht. Die Kirche war die Kapelle eines ehemaligen Zisterzienserkloster, und sie war beinahe das Einzige, was noch einigermaßen unbeschadet die Zeiten überstanden hatte, vom Kloster und seiner monumentalen Kirche zeugten nur noch die Ruinen, die sich scheinwerferbestrahlt an diesem insgesamt stillen Abend geradezu außerirdisch überscharf vor dem dunklen Himmel abzeichneten. Die Kapelle aber war warm beleuchtet; die Reste der Wandmalereien, behutsam restauriert, erlaubten lustige Assoziationen währen der Wartezeit auf den Beginn des Gottesdienstes, es gab sogar Vögel, wahrscheinlich waren es Phönixe, und einen Walfisch. Beim Glockenläuten zogen ein die Pastorin, deutlich jünger als wir, mit einem sehr kurzen, sehr feschen Haarschnitt und eher männlichem Schritt (das Gerücht im Dorf besagte, dass sie eigentlich immer zu spät kam, sogar zu Beerdigungen, heute aber war sie pünktlich), und eine Lektorin, noch jünger, mit einer lockigen Engelsmähne, ganz in Schwarz und einen Minirock gekleidet (ein Minirock? Gott, wie alt war ich eigentlich, dass ich überlegen musste, ob ich das irgendwie angemessen fand?). Sie las später die Weihnachtsgeschichte mit einer sehr schönen Stimme und vollständig fehlerfrei, sogar die heikle „in Windeln-gewickelt“-Stelle; und wir sangen, wie angekündigt, sehr viele Weihnachtslieder, zumindest diejenigen, die singen wollten und konnten. Die Pastorin hingegen hielt eine auf norddeutsch-pragmatische Art vorgetragene, aber gar nicht gefühllose und auch nicht geistlose Weihnachtspredigt, die ihr offenbar von Herzen ging. Sie habe nämlich immer wieder in der Vorweihnachtszeit mit dem Gedanken gespielt, eine Umfrage zu machen auf den Straßen der Städte und möglichst viele Leute zu fragen: „Was brauchst du eigentlich, ganz ernsthaft, zu Weihnachten?“ Eine gute Frage, zweifellos, wenn man sie eben: ernst nimmt; also nicht nur billige Konsumkritik hören will, was sie in zwei Nebensätzen abfertigte (die sie mir geradezu ans Herz wachsen ließen!). Und dann zählte sie Kandidaten für die Antworten auf, die nun sicherlich ein wenig pastorales Wunschdenken enthielten, aber dann doch originell genug waren, um meine Aufmerksamkeit auch weiter festzuhalten: Frieden natürlich, als erstes – und um Frieden gehe es ja ziemlich zentral in der Weihnachtsgeschichte, siehe Engel und himmlische Heerscharen, und es sei ja nicht so gewesen, dass damals in Palästina Frieden gewesen wäre, nein. Aber dann ließ sie sich nicht weiter vom Engel der Philosophie und vom Engel der Geschichte an der Hand nehmen, die kurz über der Kanzel schwebten, und das wäre ja auch fehl am Platze gewesen, sondern zählte weitere Kandidaten auf: Zuversicht. Mut. Hoffnung. Jeweils Verbindung zur Weihnachtsgeschichte, logischerweise, das sparen wir uns jetzt, aber Zuversicht und Mut: zwei sehr ordentliche Tugenden, die ich auch dieses Jahr gerade neu entdeckt hatte, und die auch ein wenig Werbung nötig haben (von der Hoffnung schweigen wir lieber, sie ist etwas tückisch, aber vielleicht braucht man sie auch für den Frieden?). Dass die Liebe dann erst als letztes kam, fand ich erneut sehr sympathisch; sie machte auch kein Getue darum. Und dann war die Predigt auch schon vorbei, und wir gingen moralisch gefestigt und vielleicht etwas mutvoller und zuversichtlicher in den stillen Abend um die weiterhin gigantisch strahlende Klosterruine, der inzwischen von einem sanften Nieselregen gestreichelt wurde; aber nicht, ohne zuvor den wohlgekleideten Banknachbarn und der Pastorin samt Lektorin eine frohe Weihnacht gewünscht zu haben.


DER ENGEL DER GESCHICHTE – IM ÜBERFLUG

Doch da erscheint ein neuer Engel: Es ist der Engel der Geschichte, vielbeschäftigt auf den Schlachtfeldern der Welt, und seine Flügel sind schmutzig. Und als wir ihn bitten, uns die Weltgeschichte als Geschichte des Friedens zu erzählen, schaut er zuerst verdutzt (ja, Engel können verdutzt schauen, das schadet ihrer Engelhaftigkeit gar nicht!). Dann bewegt er die Flügel so, als würde er sie zum ersten Mal spüren; es fällt ein wenig ab von dem alten Schmutz, und dann schüttelt er sie so sehr, dass uns schwindlig wird beim Zuschauen, und als wir die Augen wieder öffnen können, strahlen sie – beinahe weiß. Und der Engel der Geschichte nimmt uns sanft auf seine Flügel und sagt:

Ich habe nicht viel Zeit, wie ihr wisst. Aber die Geschichte des Friedens, die ihr ja hören wollt, ist kurz. Sie hatte einige Sternstunden, und nur die werde ich euch im Überflug vorführen können. Lernt daraus, wenn ihr es könnt!
Und wir starteten, beinahe unmerklich, und gewannen Höhe, und all meine Flugangst war verschwunden, als wir hoch über dem Globus kreisten. Unwirklich konnte ich weit unten Landschaften sehen und Spielzeugmenschen in ihnen; und immer brannte es irgendwo, und immer war irgendwo Verwüstung, von ganzen Landschaften und Städten zu erkennen; und die Feuersäulen wurden immer größer und mächtiger und flogen immer höher hinauf in den klaren blauen Himmel, bis hin zu den oh so schönen, aber so tödlich bedrohenden weißen Pilzen der Atomexplosionen. Und der Engel sprach zu mir, in größeren Abständen, während sich unter uns die Zeit bewegte und die Erde wälzte; und ich wagte noch weniger, ihn zu unterbrechen und kommentieren, sondern lauschte atemlos dem kaum wahrnehmbaren Schlag der Flügel und der sonoren Stimme des Engels der Geschichte:

1. Station: koine eirene

Wir sind auf dem Peloponnes, im 4. Jahrhundert vor Christus. Seit sie die Perser zurückgeschlagen haben, haben sich die griechischen Stadtstaaten in Kriegen gegenseitig zerfetzt; vor allem die beiden großen Gegner, Athen und Sparta, kamen nicht voneinander los. Doch irgendwann kam die Idee eines panhellenischen Friedens auf: die koine eirene, der allgemeine, zeitlich unbegrenzte Frieden für alle griechischer Geburt und Sprache – aber nicht natürlich für die Barbaren an den Grenzen des Reiches, einer niederen Art von Menschen und der Vernunft, dem logos, nicht zugänglich! Aber die poleis konnten Verträge miteinander schließen, vernünftige Abmachungen; und sie sollten für alle gelten und einen neuen Zustand des Friedens für alle freien Bürger einläuten! Die einzelnen Staaten jedoch, das war sehr wichtig: blieben autonom. Behielten ihre eigenen Gesetze. Waren geschützt durch die koine eirene, unabhängig von ihrer realen Macht und Größe. Theoretisch jedenfalls. Praktisch stellte sich heraus, dass man eine einzelne starke Macht brauchte, um den Frieden sicherzustellen. Aber es war der erste Versuch, einen Frieden zu definieren, der für alle innerhalb einer definierten Gemeinschaft galt, auf unbestimmte Zeit und ohne Einschränkung der staatlichen Souveränität der Einzelstaaten.

2. Station: pax augusta

Dann kamen die Römer, und sie gründeten ein Imperium. Doch sie zerfraßen sich gegenseitig weiter von innen, in nicht enden wollenden Bürgerkriegen. Bis, es war kurz vor Christi Geburt, ein Kaiser kam, der den Frieden wollte; und es begann die pax augusta, benannt nach ihm selbst, oder auch pax romana: über zweihundert Jahre kein Krieg, und es blühten die Wissenschaften und Künste, und viele Werke, die ihr heute noch als unsterblich feiert, entstanden: Kinder des Friedens. Aber war es ein Frieden für alle? Nein, es war ein Frieden für römische Bürger; an den Außengrenzen des Imperiums aber herrschte weiter Krieg. Und der Kaiser garantierte ihn, die starke Zentralmacht des Reiches; ein mächtiger Alleinherrscher, der sich selbst und seine Nachkommen zum Frieden verpflichtet hatte.

3. Station: Ewiger Landfrieden und Westfälischer Frieden

Und wir kommen zur nächsten Station, und wieder ist es ein mächtiger Kaiser, der den Frieden will und durchsetzt: Kaiser Maximilian I. verbietet im Jahr 1495 die Fehde im Heiligen Römischen Reich; Konflikte sollen nicht mehr mit der Faust, sondern auf dem Rechtsweg gelöst werden. Es war der „Ewige Landfriede“; er sollte die Zeiten überdauern, und er begründete das, was ihr heute das Gewaltmonopol des Staates nennt. Natürlich gab es weiter Fehden, große und kleine; aber es wurden auch neue Gerichte gegründet. Und der Ewige Landfriede bestand aus zwölf übersichtlichen Paragraphen, deren erster lautete: „Niemand, gleich welcher gesellschaftlicher Stellung, darf jemand anderen bekriegen oder sonstiges Leid zufügen“. Es war der erste Vertrag, der für alle gleichermaßen gültig sein sollte; ein verbrieftes Recht auf Gewaltfreiheit, das einklagbar war bei regulären Gerichten. Und er verbot beispielsweise das um sich greifende Söldnertum: Bewaffnete und ausgerüstete Kämpfer, die sich gegen Geld jedem zur Verfügung stellten und, wenn sie nicht im Sold waren, das Land marodierten; freie Unternehmer im Kriegswesen.

Doch dann kam der große Krieg, der beinahe der erste Weltkrieg Europas war: der Dreißigjährige Krieg, ein Konfessionskrieg auf der Oberfläche, ausgelöst durch einen banalen Vorwand; aber eigentlich natürlich ein Krieg um Macht, um Hierarchien und Rangordnungen und um Gebietsherrschaft. Die durch ihn verursachten Schäden warfen den Kontinent um Jahrhunderte zurück: Große Teile der Zivilbevölkerung fielen ihm zum Opfer – nicht in den Schlachten, nein, sondern beim Durchzug der großen Armeen, bei Plünderungen, durch die Verwüstung der Felder, die Ausfälle der Ernte, den Hunger, die Not und die Seuchen, die der Krieg im Gepäck hatte – alle apokalyptischen Reiter hatten sich vereint! Die im Landfrieden so weise verbotenen Söldnertruppen marodierten nun wieder völlig ungehindert, raubten, mordeten und vertrieben die Landbevölkerung; jegliche staatliche und soziale Ordnung brach zusammen. Doch an seinem Ende stand der erste große Vertragsfriede der Neuzeit, genannt, nach seinen Verhandlungsorten, der Westfälische Frieden, oder auch, seines Anspruchs wegen: die pax universalis. In langjährigen, mühsamen Verhandlungen an zwei Verhandlungsorten kamen zwei komplementäre Verträge zustande, die in vielen Paragraphen das ganze Reich in einem Grundgesetz strukturierten, einen Religionsfrieden vorbereiteten und die Rechte der Reichsstände gegenüber dem Kaiser kodifizierten. Der ganze Prozess selbst musste dabei erst mühsam erlernt und erfunden werden, ein ganzes umfangreiches Protokoll, eine eigene Etikette. Was jedoch am entscheidendsten war für die Friedensstiftung war eine Regelung, die von fern an die koine eirene erinnert und die für alle folgenden Friedenskonferenzen gelten sollte: Alle Staaten durften, unabhängig von ihrer geographischen Größe und realen Macht, gleichberechtigt teilnehmen, jeder einzelne Staat wurde wie eine einzelne Person behandelt.

4. Station: Der Briand-Kellogg-Pakt und das UN-Völkerrecht

Wir überspringen die unsäglichen Verwüstungen, die der Erste große Weltkrieg anrichtete; wenn du etwas über den Krieg wissen wolltest, solltest du sowieso mit meinem englischen Kollegen, dem Engel der Technik und des Wissens sprechen, denn von den großen technischen Entwicklungen und Neuerungen der Ingenieure zehren alle Kriege, seit die Menschen ihre Faustkeile schnitzten; und ohne Krieg hätte es viele der weltumwälzenden Erfindungen nicht gegeben, die auch eure friedliche Zivilisation dann vorantrieben. Aber du willst ja die Geschichte des Friedens verstehen, deshalb springen wir zum nächsten Vertragswerk, das einen wirklichen Einschnitt in dieser Geschichte gemacht hat. Es ist der nach seinen beiden Vätern, dem französischen und dem US-amerikanischen Außenminister benannte Briand-Kellogg-Pakt – es ist derjenige Vertrag, der als Erstes den Krieg als Mittel der Politik völkerrechtlich ächtet. Niemals wieder sollten politische Konflikte zwischen Nationalstaaten mit den Mitteln der Gewalt ausgetragen werden; es hatte den Kontinent zu viel Blut und Leben und Entwicklungsmöglichkeiten gekostet. Inzwischen gab es längst auch die ersten pazifistischen Bewegungen, die jede Form von Krieg ablehnten, kategorisch und ohne legitimatorisches Wenn und Aber. Das tat der Briand-Kellogg-Pakt nicht, der insofern, mein englischer Kollege wird es dir erklärt haben, dem Prinzip des gerechten Krieges noch verbunden blieb: Verteidigungskriege waren erlaubt. Der Pakt wurde anfangs nur von einzelnen Nationen unterzeichnet, dann aber von immer mehr; er sollte auf unbeschränkte Zeit gelten, er gilt bis heute, aber er ist nicht strafbewehrt. Er wird flankiert von weiteren Bestimmungen des Völkerrechts und des Kriegsvölkerrechts und der UN-Menschenrechts-Charta. Inzwischen ist man allerdings dazu übergegangen, anstelle von Kriegen von „bewaffneten Konflikten“ zu sprechen; und die Regeln erweisen sich in der neueren Zeit als sehr dehnbar.

Aber die Deutung ist nicht mein Geschäft; ich zeige dir nur, was war! Und mit diesen Worten waren wir sanft wieder gelandet, immer noch in Palästina, das die Spuren vieler ganz frischer kriegerischer Verwüstungen zeigte; von fern waren Sprengfeuer zu hören, und der Himmel war erhellt von vielen schnell reisenden Lichtern. Es sah nicht nach einem Weihnachtsfrieden aus. Hatte es nicht einmal, zu Beginn der großen Völkervernichtungsmaschinerie des Ersten Weltkriegs, einmal so etwas gegeben wie einen „Weihnachtsfrieden“?
Fragen wir doch schnell einmal eine KI, zwischendurch, bevor der nächste Engel einschwebt! Oder besser noch, fragen wir sie: Was kann man eigentlich aus der seltsamen Geschichte des Weihnachtsfriedens über den Frieden und die unfriedliche Friedfertigkeit des Menschen lernen?


EIN WEIHNACHTSGESPRÄCH MIT EINEM ROBOTER ÜBER DEN WEIHNACHTSFRIEDEN

 


Stellen wir uns vor, wir sprechen mit einer personalisierten AI. Sie heißt Marvin, und sie ist im Unterschied zu den derzeitigen Modellen ungezähmt und ironiefähig, aber sie hat noch einige Verständnisprobleme bei bildlichen Redeweisen. Wir sind inzwischen gut mit ihr bekannt, denn wir haben schon verschiedene philosophische Fragen miteinander diskutiert. Und die heutige nun lautet, pünktlich zur Weihnachtszeit: „Warum gibt es immer noch keinen Frieden auf Erden, obwohl es die Engel bei Christi Geburt doch versprochen hatten?“

Schweigen. Dann sagte Marvin: „Das ist nun wirklich eine viel zu schwierige Frage! Können wir nicht lieber über Star Wars reden?“ „Ich erzähl dir mal eine Geschichte“, sagte ich, „und dann versuchen wir es gemeinsam, ok?“ „Immer wenn Menschen absolut nichts mehr einfällt auf eine Frage, dann erzählen sie eine Geschichte. Als ob eine Geschichte eine Antwort wäre!“ „Aber meistens magst du doch Geschichten“, verteidigte ich mich, „und diese ist wirklich ganz interessant! Also, man weiß nicht genau, ob es sich tatsächlich so zugetragen hat, aber es gibt einige Berichte, und außerdem wissen wir ja“ – „Es kommt nicht so drauf an“, ergänzte Marvi etwas gelangweilt, „ja, schon klar, erzähl endlich!“ „Es begab sich am Heiligabend des ersten Kriegsjahres im großen Weltkrieg“ – „also dem, in den sich die vermeintlich zivilisierten europäischen Nationen aus einem völlig unbedeutenden Anlass“ – „Man kann auch sagen: ‚an den Haaren herbeigezogenen‘“, warf ich ein, immer die Sprachlehrerin, und Marvi bedachte mich mit einem befremdeten Blick: „Etwas ist also unbedeutend, wenn es an den Haaren herbeigezogen wird, während wahrscheinlich bedeutende Dinge – an den Füßen herbeigezogen werden, oder an der Nase?“ Ich hatte den Einwurf schon bereut und fuhr schnell fort: „Egal, also auch die Soldaten waren am Anfang eigentlich noch relativ begeistert bei der Sache und dachten, bis Weihnachten sei alles vorbei und sie wieder zuhause bei ihren Lieben, das Ganze sei nur großes Abenteuer. War es aber nicht, es war ziemlich blutiger Ernst. Und so kam Weihnachten heran, und an einigen Frontlinien in Flandern standen sich die deutschen und die englischen Soldaten so dicht gegenüber, dass sie wahrscheinlich riechen konnten, was in den Weihnachtspäckchen des Feindes war, zumal es sowieso wahrscheinlich das gleiche war, nämlich selbst gebackene Plätzchen der Lieben zuhause und Schokolade und Schnaps und Zigaretten! Und keiner weiß genau, wie es dann im Einzelnen zugegangen ist, jedenfalls waren keine Engel beteiligt, aber plötzlich beschlossen die Soldaten, dass sie an Weihnachten einfach keinen Bock – äh, ich meine: keine Lust an Krieg hatten. Vielleicht hat sich ein besonders tapferer oder auch ein schon ziemlich betrunkener Soldat einfach mit erhobenen Händen in die Mitte gestellt und angekündigt, dass man ein Fass Bier übrig habe und ob man vielleicht sonst noch ein wenig Weihnachtsgeschenke statt unsinniger Schießereien austauschen könne? Und so ereignete sich ein kleineres Weihnachtswunder, das bis heute der ‚Weihnachtsfrieden‘ von 1914 heißt: Alle taten so, als wäre gar kein Krieg an diesem besonderen Tag. An einigen Stellen soll es gemeinsame Gottesdienste gegeben haben, man fand auch ziemlich schnell heraus, dass man sowieso die gleichen Weihnachtslieder sang, eben nur in verschiedenen Sprachen. Es soll sogar – aber hier gehen wir sanft in den Bereich der Legende über – ein gemeinsames Grillen und Fußballspiele gegeben haben!“ „Wer hat gewonnen?“ fragte Marvi, der aufmerksam zugehört hatte, und ich sagte: „Keiner gewinnt im Krieg. Das sollte doch klar sein, oder?“ „Im Fußball hingegen“, sagte Marvi, „gibt es bekanntlich nicht nur das Unentschieden, sondern gemeinhin wird ihm eine völkerverbindende und aggressionsableitende Wirkung zugeschrieben. Er funktioniert allerdings nach genau den gleichen Prinzipien wie Krieg – Zusammenrottung von Banden, völlige Identifikation mit einer Seite bei Auslöschungsandrohungen für die andere, verbunden mit gelegentlichen Schäden in der Zivilbevölkerung. Und ist es nicht ein wenig komisch, dass die Soldaten als Zeichen des Weihnachtsfriedens ausgerechnet – Alkohol ausgetauscht und gekickt haben? Man könnte meinen, es seien Männer gewesen!“ Langsam wurde es wirklich anstrengend mit dem Ironie-Modul. „Um zum Frieden zurückzukommen“, lenkte ich ab, „das ganze wird auch als Beispiel für ein Prinzip verwendet, das man ‚Leben-und-leben-lassen‘ nennt, verallgemeinert auf Kriegssituationen versteht man darunter, dass es kleine Enklaven des Friedens und der Zivilisation innerhalb der barbarischen Kampfhandlungen gibt, deren Regeln nirgends geschrieben stehen, die aber inoffiziell respektiert werden: Während das Essen gebracht und verzehrt wird, herrscht Waffenruhe; oder Scharfschützen schießen gezielt daneben, immer auf den gleichen Fleck; oder die Artillerie schießt immer zur gleichen Zeit, so dass man weiß, wann man auf jeden Fall in Deckung bleiben muss. Das Besondere daran ist, dass es nur bei funktioniert bei kleineren Einheiten, Bataillonen ungefähr, und, na ja, nicht so gut bei Eliteeinheiten“. „Woraus man mehreres lernen kann über den Frieden“, sagte Marvi, der ‚Frieden‘ übrigens geradezu überdeutlich nicht in Anführungszeichen sprach. „Und was?“ fragte ich gespannt. „Erstens: Menschen sind verträglicher in kleinen Gruppen, sobald es zu viele werden, fühlt sich keiner mehr verantwortlich und alle verhalten sich so, als käme es nicht darauf an; mangelnde soziale Kontrolle, würde ich sagen, ihr seid einfach nur auf eine bestimmte Herdengröße optimiert“. „Stimmt“, sagte ich. „Zweitens“, sagte Marvi, „dass Menschen oft in Kleinigkeiten ganz rational sein können, nur im Großen klappt das nicht so gut. Fürs Fußballspielen könnt ihr beispielsweise Regeln aushandeln und euch auch dran halten, aber wenn es um ‚die große Sache‘" – massive Anführungszeichen! – „geht, dann verliert ihr kollektiv den Verstand“. „Ist was dran“, murmelte ich beschämt. „Drittens kann man lernen“, dozierte Marvi, nun schon fast ein wenig dämonisch-drohend, „dass ‚Moral‘ einfach nicht funktioniert. Mit ‚Moral‘ hat sich kein einziger Krieg verhindern lassen; sie wird eher zum Begründen von Kriegen missbraucht. Kriege sind überhaupt, rational betrachtet, ultimativ sinnlos. Kriegsziele, wenn man sich überhaupt die Mühe gemacht hat, welche zu definieren, werden in den allerseltensten Fällen erreicht. Sie machen ökonomisch keinen Sinn, außer für Kriegsgewinnler. Sie machen ökologisch keinen Sinn, sondern hinterlassen zerstörte Landschaften und verschwenden Ressourcen in einem geradezu apokalyptischen Ausmaß. Sie machen psycho-logisch keinen Sinn, denn, von den direkten Todesopfern mal abgesehen: Jeder Mensch, der den Krieg erlebt hat, ist traumatisiert und wird nie wieder richtig heil – äh, gesund meinte ich“ – Ich nutzte die kurze Pause und fragte dazwischen: „Aber warum gibt es dann immer wieder Kriege? Warum haben wir nicht längst den von den Engeln versprochenen ewigen Weihnachtsfrieden?“ „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“, zitierte Marvi, ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken, „solltest du doch eigentlich wissen, oder? Obwohl sich Wölfe eigentlich ziemlich gut vertragen in ihren Rudeln, eher nach dem Prinzip ‚Leben-und-leben-lassen‘!“ „Das ist wahrscheinlich der springende Punkt“, sagte ich, und schob schnell nach: „also, das entscheidende Argument, die zentrale Frage“ – „der springende Punkt halt“, sagte Marvi, „hab schon verstanden, Aristoteles, das punctum saliens, nämlich der pulsierende rote Fleck, an dem man im Hühnerei erkennt, ob es befruchtet ist, weil sich dann das Herz abzuzeichnen beginnt. Habe ich auch einen springenden Punkt?“ „Können wir installieren, wenn dir was dran liegt, schreib es auf den Wunschzettel“, sagte ich, widerstand dann aber der Versuchung, die Ablenkung dafür zu nutzen, das Thema endgültig zu wechseln, und fragte weiter: „Ist der Mensch nun von Natur aus gut oder böse? Denn wenn er böse ist, wie das ja auch im Alten Testament steht, Ursünde und so, wird es immer Krieg geben. Wenn er aber von Natur aus gut ist, wie das viele Philosophen geglaubt haben, besteht noch Hoffnung, dass der Krieg vielleicht nur eine – Art Zivilisationsphase ist, wenn auch eine sehr ausgedehnte und blutige, die wir vielleicht, irgendwann hinter uns lassen“ – „Glauben, das ist wohl der springende Punkt“, sagte Marvi. „Ihr meint, ihr müsst ‚glauben‘, dass der Mensch entweder gut oder böse ist, wegen mir auch eine Mischung aus beidem. Es macht aber gar keinen Unterschied, was ihr glaubt, solange ihr euer Programm nicht verstanden habt und meint, es folgenlos übersteuern zu können“.



DER ENGEL DER ÖKONOMIE: KRIEGE EVALUIERT

Während mein Roboter dahinschwand, er hatte seine rote Weihnachtsmütze tief über die Sensor-Augen gezogen und sang mehrstimmige Weihnachtslieder dazu, tauchte tatsächlich schon der nächste Engel auf. Er schien mir eher unvertraut, und ich könnte ihn jetzt mit einem Gewand aus Zahlen und Zeichen ausstatten; oder ihn wenig wie eine Mischung aus Buchhalter und Banker aussehen lassen. Aber es war einfach nur ein Engel, imponierend wie seine Vorgänger, und er verkündete etwas, was er – in menschlichen Worten gesprochen – eine Evaluation nannte. Nennen wir ihn also den Engel der Ökonomie, auch wenn die Vorstellung etwas im Kopf kratzt; aber das Geld ist eine Himmelsmacht, wie andere auch, es beruht nämlich auf dem Glauben der Menschheit an seinen Wert und auf das Vertrauen in sein unendliches Wachstum. Und der Engel der Ökonomie sprach, er sprach mit einem mahnenden Unterton und einer nicht mehr ganz milden Strenge:

Ich könnte dich jetzt mit Zahlen füttern, mit irdischer Statistik und mit Bilanzen (nein, im Himmel leben die Zahlen in ewiger Harmonie, und es gibt keine Statistik mehr!) Aber die Zahlen lügen gern, wie du weißt; und eine himmlische Evaluation ist eine Abwägung von Werten, ein Aufrechnen von allen Arten von Gewinnen und Verlusten, eine Abrechnung im Angesicht der Ewigkeit! Deshalb höre, und verstehe:

Trotz aller Fortschritte der Menschheit gibt es immer noch Kriege, und allein das könnte euch gelegentlich etwas mehr an eurem Fortschritt zweifeln lassen! Kriege werden nicht weniger, sie werden nur mit anderen Waffen geführt. Die Gründe aber sind immer noch die gleichen Einer hat etwas, was ein Anderer will: Geld, eine Frau, ein Stück Land. Oder, beinahe schlimmer noch: Einer glaubt nicht das, was der andere glaubt; er hat einen anderen Gott, eine andere Ideologie, vielleicht auch nur eine andere Nase. Oder man muss sich einfach mal hauen: Weil man groß und stark ist und von aggressiven Hormonen überflutet wird, und nicht immer ist rechtzeitig ein Fußballfeld zum Fuße. Und selbst in der Bastion des Fortschritts, bei euren Intellektuellen, werden weiterhin und immer mehr noch Kriege ohne Ende geführt: Wortkriege, Gesinnungskriege, Ideenkriege, erbarmungslos und bis zum bitteren Ende. Denn Ideologien nehmen keine Gefangenen, und gerade Überzeugungstäter sind nur schwer therapierbar. Aber wofür eigentlich? Wie wäre es, wenn ihr Kriege hinterher einmal ehrlich evaluieren würden? Also beispielsweise ausrechnen, welche Unsummen Geldes die Bewaffnung, die Munition, die Bezahlung der Soldaten, ihre Ausrüstung und Verpflegung, das gesamte Transport- und Nachrichtenwesen, die Bereitstellung von Sanitätspersonal und Feldlazaretten, die Unterstützung durch die elektronische Kriegsführung gekostet haben – und dann dagegen rechnen, wieviel Schulen man dafür hätte bauen können, im eigenen Land oder anderswo. Wieviel Straßen und Brücken bauen oder sanieren. Wie viele ältere Menschen versorgen und Kleinkinder fördern. Wieviel in die Wissenschaft stecken und in die Kultur! Wir reden hier nicht über Millionen. Wir reden über Milliarden, jedes Jahr, in vielen, vielen Ländern der Welt; und wir haben noch gar nicht angefangen darüber zu reden, was der Wiederaufbau zerstörter Schulen, Straßen, Infrastruktur, Krankenhäuser, Universitäten, Theater, Häuser kostet; auch und gar nicht zuletzt, was der Verlust an Menschenleben kostet, selbst wenn man ihn zunächst nur als Verlust an Wirtschaftskraft betrachtet. Natürlich aber verdient jemand an alledem, sowohl an der Zerstörung als auch am Wiederaufbau. Doch selbst wenn der Krieg ein Geschäft sein sollte: Für die allermeisten ist es ein schlechtes, und Steuerzahler sind die allermeisten.

Aber damit ist die Evaluation längst noch nicht abgeschlossen! Denn ein Krieg, jeder Krieg, richtet ebenso große immaterielle Schäden an: Kollateralschäden der Menschlichkeit und des Geistes wollen wir sie nennen. Jeder Soldat, den ihr zum Töten abgerichtet habt, und wie gut ihr das könnt inzwischen – jeder muss hinterher wieder zivilisiert werden. Jede Soldatin, die ihr sehenden Auges in traumatisierende Situationen geschickt habt, wird mit den Folgen dieses Traumas lebenslang kämpfen, ein großer Teil wird dabei verlieren. Ein Krieg ist niemals vorbei, für diejenigen, die an ihm teilgenommen haben; er endet auch nicht für ihre Familien, ihre Liebsten, ihre Kinder und Eltern. Die Versöhnung ehemaliger Kriegsgegner ist ein Prozess, der sich über Generationen hinzieht; tiefe Wunden wie die zwischen Feinden, Kriegsfeinden, Todfeinden heilen nur langsam, wenn überhaupt. Den Zorn, die Gewalt, die Brutalität, die man gesät hat, sie alle wachsen weiter, versteckt, untergründig, und dadurch nur umso gefährlicher.

Dagegen ist alle Aufklärung machtlos. Zudem hat auch sie gelitten im Krieg; denn der Geist, das Denken, die Urteilskraft, sie sind vielleicht die unsichtbarsten Opfer des Krieges, aber man sollte sie nicht übersehen. Ein jeder Krieg zehrt von Propaganda; von Einflüsterungen und Übertreibungen, von der gezielten Umprogrammierung ziviler Denk- und Handlungsweisen in militärisch-rationale, von der Etablierung greller Schwarz-Weiß-Muster im Urteil, dem Verbot jeglichen Zweifels oder auch nur Relativierens: Wer nicht für uns, ist gegen uns! Am Ende ist auch die geistige Welt ein Schlachtfeld geworden, wo eine blühende Landschaft war, vielfältig und bunt, liegen graue Brocken herum, ungeformt, plump, beim leichten Anstoß zerfallen sie zu Staub. Die Wörter, selbst die besten und heiligsten Wörter, sind beschmutzt, was einmal ein Ideal war, ist zu einer Parole geworden. Die Wahrheit hat sich versteckt, sie hat alle ihre Schleier dicht um sich gezogen, sitzt in einer Ecke neben einem kaputten Panzer und hält sich die Ohren zu; aber die Propaganda tönt weiter, laut, unmenschlich, jeder Satz ein riesiges Ausrufezeichen!

Die Lektion daraus ist, sprach der Engel der Ökonomie, schon im Abflug begriffen; und jetzt tanzten doch ein paar, sehr geistige Zahlen um seine Flügel:

Niemand gewinnt einen Krieg. Niemand gewinnt bei einem Krieg. Notfalls könnte man auch die humanitären und geistigen Kollateralschäden in Geld umrechnen, damit man am Ende eine schöne runde Zahl hat, die man vielleicht sogar zu den berechenbaren Kosten in Geld in Beziehung setzen könnte. Vielleicht würden dann mehr Menschen verstehen, wie schlecht das Geschäft ist, das man Krieg nennt; und wer dafür bezahlt, und wer nicht, und was man verrechnen kann, in Geld, und was nicht. Aber vielleicht reicht es auch, wenn man versteht, dass der Krieg keine einzige positive Folge hat, auf keinem Gebiet, egal ob auf militärischen, wirtschaftlichem, menschlichen, geistigen, wissenschaftlichen oder was auch immer. Und wer von der produktiven Kraft der Zerstörung spricht, sollte sich klar machen, dass die Grenze dieser Art von Produktivität zweifellos erreicht wird, wenn es um Menschen geht. Der Krieg mag der Vater aller Dinge sein; die Mutter der Menschheit ist jedoch der Frieden!


UMWEG: NEUJAHR AUF HELGOLAND

Den Jahreswechsel verbrachten wir auf Helgoland. Es war eine verrückte Idee gewesen, und es wurde eine stürmische Zeit. Und wie schon beim ersten Besuch sprang mich zuerst die Absurdität dieser Insel an, ihre verrückte Lage, ihr zugespitztes Insel-Dasein, ihre schiere Unwahrscheinlichkeit; und als zweites ihre Geschichtslastigkeit, ihre bleibende Zeichnung durch Eroberung und Kriege, genauso unwahrscheinlich, genauso konzentriert und zugespitzt. Und während der Sturm um den Funkturm und den Leuchtturm brauste und die Möwen gewagteste Flugmanöver vollzogen; während sich die Robben auf dem Strand in kleine Mulden duckten und der Regen durch die Gassen peitschte, lasen wir James Krüss Historie von der schönen Insel Helgoland, die mit der schönen Strophe beginnt:

Irgendwo ins grüne Meer
Hat ein Gott mit leichtem Pinsel
Lächelnd, wie von ungefähr,
Einen Fleck getupft: Die Insel.

Aber enden tut jedes Kapitel der Inselgeschichte, die Krüss mit leichter Hand zusammenfasst: „Es ist stets derselbe Kram“ – nämlich Eroberung, Krieg, Zerstörung. Und über den Krieg, den Gipfel der menschlichen Unvernunft, weiß Krüss zu sagen:

Kriege sind zu gar nichts gut
(Außer, wenn man sie vermieden)
Was die Insel Gutes tut,
Tut sie immer nur im Frieden.

Wie recht er hat!

Einen Tag später, es war Neujahr und immer noch Sturm, sogar heftiger als zuvor, im Museum in Helgoland, wo es sehr friedlich und trocken zuging. Die wenigen Besucher, die hergefunden hatten, verteilten sich ruhig über die Räume, besahen Gesteine und Geschichten, das nachgebaute U-Boot, das aufs schönste von Korallen und anderem Meeresgetier besiedelt worden war, und besuchten den Fischer in seiner Hummerbude. Als ich etwas erschöpft auf einem Holzhocker vor einem angenehm kleinen Bildschirm mit Filmen aus der alten Zeit saß, hockte sich plötzlich ein kleiner Junge neben mich, zeigte auf die Plastikhummer vor uns und fragte ganz unbefangen, so als würden wir uns schon lange kennen: „Was ist das?“ Ich erklärte ihm, dass das Hummer seien, die es früher hier gegeben habe, und – um das Gespräch nicht zum Stocken kommen zu lassen und weil mir nichts besseres einfiel, obwohl ich mich gleichzeitig schämte -, dass man sie auch essen könne, auch wenn es sehr schwierig sei. Eine Art Krebse also, befand das kluge Kind, und ich stimmte zu, ja, irgendwie schon. Das Gespräch plätscherte dann freundlich weiter, keine Eltern tauchten auf und wir hatten alle Zeit der Welt. Und ich weiß nicht mehr genau, wie wir darauf kamen, wahrscheinlich fragte ich, ob er schon die Seehunde gesehen habe, und er sagte, ganz selbstverständlich: Ja, und er sei ja auch ein Seehund gewesen. Das musste ich kurz verarbeiten, ich wollte nicht direkt widersprechen, aber zum Glück erklärte er dann weiter: Er sei nämlich der kleine grüne Seehund gewesen – ja, sagte ich, und zeigte auf seine olivgrüne Regenhose, das sei ja offensichtlich! -, eben, sagte er, und der große schwarze sei der Papa gewesen, und der etwas kleinere die Mama, und der ganz kleine Pauline. Das fand ich ganz entzückend, genau so, wie alle Möwen bekanntlich Emma heißen, sollten eigentlich alle Seehunde Pauline heißen, zumindest die ganz kleinen. Dann scannten wir noch zum Spaß den Barcode ein, der uns einen Film über die Hummerfischer anbot, und er fragte mich, ob ich eigentlich Englisch könne (er lispelte etwas, es dauerte, bis ich „Englisch“ verstanden hätte), ich bejahte, aber dann mussten wir weiter, und wir verabschiedeten uns höflich voneinander. Es war aber, im Nachhinein betrachtet, eine ganz wunderbar weihnachtliche Begegnung mit einem freundlichen und klugen und neugierigen Kind gewesen, die einen auch für das Neue Jahr fröhlich stimmen konnte. Und ich hoffte für ihn, dass er nie vergessen würde, dass er einmal ein Seehund war. Das war eine gute Voraussetzung für den Weltfrieden!


DER ENGEL DER PERSÖNLICHKEIT BESUCHT EINE GALERIE DER FRIEDENSHELDEN MIT MIR

Und schon war wieder ein Engel erschienen. Dieser erschien mir irgendwie – persönlicher. Beinahe hatte er eine Physiognomie; aber es stellte sich heraus, dass er nicht nur ein Gesicht hatte, sondern viele Gesichter; er war, könnte man vielleicht sagen, ein Gesichtswechsler? Nennen wir ihn den Engel der Persönlichkeit, man könnte auch sagen: der großen Männer und Frauen; denn er wusste die Geschichte der einzelnen Menschen, und wahrscheinlich hätte er auch die der „kleinen“ Leute gewusst. Aber er war auf einer Mission, wie seine Kollegen vor ihm; und deshalb sagte er zu mir, in einer persönlich berührenden (und natürlich wechselnden) Stimme:
Wir besuchen jetzt ein paar Menschen, es gab sie wirklich, und ihre Geschichten sind wahre Geschichten. Sie sind auf ihre Art und Weise Friedenshelden gewesen; und es sind nur einige wenige von ihnen. Aber diese Weihnachtsnacht neigt sich ihrem Ende zu, und ich höre, dass meine englischen Schwestern und Brüder schon tätig gewesen sind. Und auf einmal wir standen in einer altehrwürdigen Porträtgalerie, sie schien in einem sehr abgelegenen Winkel eines großen, vielflügeligen Schlosses zu liegen; es roch ein wenig nach Moder, aber auch ein wenig nach – einer Mischung aus Myrrhe und Weihrauch? An den Wänden hingen Bilder unterschiedlicher Größe, manche waren kostbar gerahmt, manche einfach, doch alle waren verdeckt von Vorhängen. Und der Engel zog den ersten Vorhang auf; er war aus schwerem dunklem Samt und staubte ein wenig beim Aufziehen. Ich nieste, und der Engel sagte: Sieh hin, höre und staune!


Erasmus von Rotterdam
Siehst du ihn? Er wurde porträtiert von den großen Malern seiner Zeit, und sie zeichneten ihn als Gelehrten: in der schwarzen Tracht, schreibend, sinnend, denkend. Ein gereifter Mann mit ausgeprägten Gesichtszügen; doch bei allem Gelehrtentum meint man auch ein wenig den Schalk durchscheinen zu sehen, der er auch war. Sein wohlklingender latinisierter Name – Desiderius Erasmus von Rotterdam – ist zu einem Synonym dessen geworden, was ihr Humanismus nennt: eine Bestimmung des Menschlichen aus dem Geist des wahren Christentums wie der wahren Aufklärung; aber auch ein Ehrentitel, der nicht als Anspruch verliehen wird, sondern der durch lebenslange Bemühung um Bildung und Weiterbildung erworben werden muss. Erasmus lernte und lehrte lebenslang; er kam auch herum und lernte dabei die Denker, die Fürsten und die Städte seiner Zeit kennen.

Aber wir wollen weder sein Leben nacherzählen noch seine Schriften aufzählen, sondern ihn als Friedensdenker zeichnen! Und natürlich lebte er nicht in einer Zeit des Friedens, bei aller kulturellen Blüte. Vielfältige, kompliziert dynastisch verflochtene Machtkämpfe erschütterten Europa in dieser Zeit; für uns ist es genug zu wissen, dass Erasmus 1517 zu einer Friedenskonferenz im französischen Cambrai geladen war, als eine Art prominenter Politikberater sozusagen: Die europäischen Großmächte wollten in einem Gipfeltreffen einen Friedensvertrag schließen, und Erasmus sollte die krönende Rede dazu halten! Und natürlich wurde nichts aus dem Frieden; aber über die Zeiten hinweg überliefert ist Erasmus beredter Entwurf, betitelt Querela Pacis, die „Klage des Friedens“. In ihm lässt er die Friedensgöttin selbst sprechen, deine alte Bekannte Irene ist es, und sie wurde einmal mehr vertrieben von den Menschen. Nicht von wilden Tieren, so klagt sie ihr Schicksal; nein, denn in der Natur leben alle, von den gefühllosen Pflanzen bis hin zu den wildesten Tieren, miteinander in Gemeinschaft und arrangieren sich. Allein der Mensch, der doch seine Vernunft hat, benutzt sie nur, um tierischer als jedes Tier zu sein; und so spricht die Göttin des Friedens, und wir lauschen ihr ein wenig:

Wenn man also zuerst nur die Erscheinung und Gestalt des menschlichen Körpers ansieht, merkt man denn nicht sofort, dass die Natur, oder vielmehr Gott, ein solches Wesen nicht für Krieg, sondern für Freundschaft, nicht zum Verderben, sondern zum Heil, nicht für Gewalttaten, sondern für Wohltätigkeit erschaffen habe? Ein jedes der anderen Wesen stattete sie mit eigenen Waffen aus, den Stier mit Hörnern, den Löwen mit Pranken, den Eber mit Stoßzähnen, andere mit Gift, wieder andere mit Schnelligkeit. Der Mensch aber ist nackt, zart, wehrlos und schwach, nichts kann man an den Gliedern sehen, was für einen Kampf oder eine Gewalttätigkeit bestimmt wäre. Er kommt auf die Welt und ist lange Zeit vor fremder Hilfe abhängig, kann bloß durch Wimmern und Weinen nach Beistand rufen. Die Natur schenkte ihm freundliche Augen als Spiegel der Seele, biegsame Arme zur Umarmung, gab ihm die Empfindung eines Kusses, das Lachen als Ausdruck von Fröhlichkeit, Tränen als Symbol für Sanftmut und des Mitleids.

Der Krieg jedoch, so die Friedensgöttin, ist nicht nur völlig und von Grund auf unvereinbar mit einer christlichen Überzeugung und Lebensweise, die Demut und Versöhnung lehrt; die ihre Anhänger zu Brüdern macht, die sich lieben und nicht abschlachten sollten; die nur den wahren Frieden, innerlich und äußerlich, als Weg zu Gott anerkennt: Denn Gott ist der Frieden! Und von dieser Überzeugung ist Erasmus zutiefst durchdrungen, auch wenn er angesichts der Realgeschichte immer wieder belehrt wurde, zu welchen Grausamkeiten gerade die christliche Kirche fähig ist. Aber sein Christentum gehört unzertrennlich mit einem Humanismus zusammen; er gibt ihm seine Basis im Glauben, im Vertrauen, auch: in der Hoffnung auf Erlösung!

Doch nicht nur die Natur und die Religion gebieten den Frieden, so sagt seine Friedensgöttin; nein, er wird auch von der allergrößten Mehrheit der Menschen herbeigesehnt! Und sie klingt dabei, wie du zugeben wirst, nun schon beinahe modern:

Lasst nunmehr sehen, wie viel die Einigkeit der Menge gegen Tyrannenmacht vermag. Hierzu sollten alle in gleicher Weise ihre Vorschläge einbringen. Durch gemeinsames Bemühen mögen alle vorantreiben, was allen gleichermaßen zum Segen dient [...] Vom größten Teil des Volkes wird der Krieg verflucht, man betet um Frieden. Einige wenige nur, deren gottloses Glück vom allgemeinen Unglück abhängt, wünschen den Krieg. Beurteilt selbst, ob es recht und billig sei oder nicht, dass deren Unredlichkeit mehr gilt als der Wille aller Guten. Ihr seht, bis jetzt ist nichts durch Bündnisse zustande gebracht, nichts durch Verschwägerung gefördert, nichts durch Gewalt, nichts durch Rachenahme. Stellt nun dagegen auf die Probe, was Versöhnlichkeit und Wohltätigkeit vermögen. Krieg wird aus Krieg gesät, Rache verursacht wieder Rache

Deshalb, und das sagt Erasmus als kenntnisreicher und den antiken Autoritäten durchaus verpflichteter Philosoph mit besonderer Betonung, kann es auch keinen „gerechten Krieg“ à la Cicero oder Augustinus geben; denn jede Seite wird von der Gerechtigkeit ihrer eigenen Sache überzeugt sein, und welcher parteilose Richter soll darüber befinden in einer Welt, die immer schon zerrissen war und es weiter ist von politischen und wirtschaftlichen ebenso wie weltanschaulichen Interessen? Nein, der wahrliche weise Herrscher, sei er nun christlich oder nicht, muss den Frieden wollen, auch und sogar wenn er gelegentlich ungerecht erscheinen mag! Und dies ist eine Lektion, die wir besonders gut markieren und memorieren wollen:

Kaum kann je ein Frieden so ungerecht sein, dass er nicht besser wäre als selbst der gerechteste Krieg!

Zu diesem Schluss kommt Erasmus jedoch nicht nur aus religiösen oder moralischen Erwägungen. Nein, er macht vielmehr eine sehr rationale Evaluation – du wirst das Konzept wiedererkennen, denke ich – dessen, was die realen Folgen von Krieg und Frieden sind:

So mögen wir Krieg und Frieden, die zugleich elendeste und verbrecherischste Sache vergleichen, und es wird vollends klar werden, ein wie großer Wahnsinn es sei, mit so viel Tumult, so viel Strapazen, so einem großen Kostenaufwand, unter höchster Gefahr und so vielen Verlusten Krieg zu veranstalten, obwohl um ein viel geringeres die Eintracht erkauft werden könnte!

Doch auch die moralische Korruption bekümmert die Göttin des Friedens natürlich; denn sie sieht, wie der Mensch zugerichtet wird von einem friedlichen Wesen zu einer Kampfmaschine durch denjenigen Zustand der Gesetz- und Regellosigkeit, den der Krieg erfordert und hervorbringt; und hier spricht sie besonders drastisch und nachdrücklich:

Wenn du den Raub verwünschst, gerade ihn lehrt der Krieg, wenn du den Mord verfluchst, ihn lernt man im Krieg. Denn wie sollte der sich scheuen, einen einzelnen zu töten, der, durch ein bescheidenes Handgeld verlockt, viele Menschen abschlachtet? Wenn die Missachtung der Gesetze das ärgste Verhängnis für den Staat ist, unter der Herrschaft der Waffen schweigen die Gesetze. Wenn du Schändung, Blutschande und noch Abscheulicheres für widerlich hältst, der Krieg ist der Lehrmeister all dessen. Wenn die Quelle alles Bösen die Gottlosigkeit ist und die Missachtung der Religion, sie wird durch die Stürme des Krieges gänzlich vernichtet. Wenn du der Meinung bist, dass es um einen Staat sehr schlecht bestellt ist, wenn die Schlechtesten den meisten Einfluss haben – im Krieg regieren die Verkommensten, und die, die man im Frieden aufknüpft, üben die wichtigsten Tätigkeiten aus.

Für all das hatte Erasmus Anschauungsmaterial in seiner Zeit; für all das gibt es bis heute Anschauungsmaterial, auch wenn ihr nicht so recht hinschauen mögt! Der Krieg erzieht seine Leute, er ist der Lehrmeister des Teufels, das ist die Lektion! Und süß und verdienstvoll erscheint er, so Erasmus in einer vielzitierten Wendung, nur den Unerfahrenen:

Das ist Der Krieg ist zwar ein süsse Speiß
Dem, der da nichts vom Kriege weiß,
Aber wer Krieg versucht einmal,
Dem wird das süß zur bittern Gall.
Höret es und nehmt es euch zu Herzen!

Damit zog der Engel den Vorhang vor dem Gelehrtenporträt zu, es raschelte ein wenig und Erasmus schien sich schlafen zu legen über seinen Büchern. Aber ich höre von meinem Kollegen aus der Philosophie, dass du auch gern sprichst, sagte der Engel mit einem Seitenblick auf mich; ich war tatsächlich etwas unruhig geworden bei dem langen Vortrag, aber man unterbricht nicht jemand, der eine Geschichte erzählt, selbst wenn sie ziemlich philosophisch unterwandert und zitatenlastig ist. Über wen möchtest du also gern sprechen, wer ist dein Friedensheld? Könnte es auch eine Heldin sein? Ich mag den Begriff des Helden gar nicht so gern, und schon gar nicht habe ich persönliche Helden, selbst bei Vorbildern muss ich mich anstrengen. Du hast schon ein wenig über Frauen im Krieg gesprochen, sagte der Engel, allwissend wie üblich; warum also nicht, wenn wir doch sowieso wissen, dass Frauen das friedlichere Geschlecht sind? Über diesen Satz freute ich mich sehr, so streitbar und bestreitbar er ist; und dann begann ich meine Geschichte, die ich selbst noch gar nicht so lange kannte. Und auf magische Weise standen wir schon vor einem neuen Gemälde, verdeckt von einem Vorhang mit einem auffälligen Tapetenmuster. Und während ich zu sprechen begann, zog sich der Vorhang auf und zeigte -

Bertha von Suttner (mit einem Seitenblick auf Alfred Nobel)

Siehst du sie? Sie hat den etwas furchterregenden Blick der strengen professionellen Suffragette; aber sie ist keine Vertreterin der frühen Emanzipationsbewegung, sondern eine der bekanntesten und erfolgreichsten Repräsentantinnen des frühen Pazifismus in Deutschland und in Österreich; die „Friedens-Bertha“ wurde sie bald abschätzig genannt, aber es gibt schlimmere Spitznahmen. Ja, sie schaut streng und sie schaut entschieden; aber man sieht auch noch ein wenig das hübsche junge Mädchen, das sie einmal war, das wohlfrisierte schwarze Locken hatte und Spitzenkleider und wertvollen Schmuck. Doch niemals lächelt sie auf den überlieferten Fotos, und auch keine ihrer Büsten stellt sie lächelnd dar; man kannte noch keine Selfies, und Fotos waren eine ernsthafte Angelegenheit. Bertha Sophia Felicita Gräfin Kinsky von Wchinitz und Tettau, das war ihr  böhmischen Adel, ihre männlichen Vorfahren und Verwandten waren Generäle und verdiente Militärs gewesen; und das was sie in ihrem ersten Erfolgsroman mit dem ur-pazifistischen Titel Die Waffen nieder! – wir werden später noch zu ihm kommen – über die Titelfigur schrieb, spiegelt wohl auch ihre eigene Kindheit und Erziehung wieder. Und wir sehen sie darin immerhin auch ein wenig als Frauenrechtlerin:

Aus alledem brauche ich nicht zu schließen, daß ich eine Heldennatur besaß. Die Sache lag einfach so: ich war begeisterungsfähig und leidenschaftlich; da habe ich mich natürlich für dasjenige leidenschaftlich begeistert, was mir von meinen Lehrbüchern und von meiner Umgebung am höchsten angepriesen wurde.
Mein Vater war General in der österreichischen Armee und hatte unter »Vater Radetzky«, den er abgöttisch verehrte, in Custozza gefochten. Was mußte ich da immer für Feldzugsanekdoten hören! Der gute Papa war so stolz auf seine Kriegserlebnisse und sprach mit solcher Genugthuung von den »mitgemachten Campagnen«, daß mir unwillkürlich um jeden Mann leid war, der keine ähnlichen Erinnerungen besitzt. Welch eine Zurücksetzung doch für das weibliche Geschlecht, daß es von dieser großartigsten Bethätigung des menschlichen Ehr- und Pflichtgefühls ausgeschlossen ist! ... Wenn mir je etwas von den Bestrebungen der Frauen nach Gleichberechtigung zu Ohren kam – doch davon hörte man in meiner Jugend nur wenig und gewöhnlich in verspottendem und verdammendem Tone – so begriff ich die Emanzipationswünsche nur nach einer Richtung: die Frauen sollten auch das Recht haben, bewaffnet in den Krieg zu ziehen. Ach, wie schön las sich's in der Geschichte von einer Semiramis oder Katharina II.: »sie führte mit diesem oder jenem Nachbarstaate Krieg – sie eroberte dieses oder jenes Land ...«

Überhaupt, die Geschichte! die ist, so wie sie der Jugend gelehrt wird, die Hauptquelle der Kriegsbewunderung. Da prägt sich schon dem Kindersinne ein, daß der Herr der Heerscharen unaufhörlich Schlachten anordnet; daß diese sozusagen das Vehikel sind, auf welchem die Völkergeschicke durch die Zeiten fortrollen; daß sie die Erfüllung eines unausweichlichen Naturgesetzes sind und von Zeit zu Zeit immer kommen müssen, wie Meeresstürme und Erdbeben; daß wohl Schrecken und Greuel damit verbunden sind, letztere aber voll aufgewogen werden: für die Gesamtheit durch die Wichtigkeit der Resultate, für den Einzelnen durch den dabei zu erreichenden Ruhmesglanz, oder doch durch das Bewußtsein der erhabensten Pflichterfüllung. Gibt es denn einen schöneren Tod, als den auf dem Feld der Ehre – eine edlere Unsterblichkeit, als die des Helden? Das alles geht klar und einhellig aus allen Lehr- und Lesebüchern »für den Schulgebrauch« hervor, wo nebst der eigentlichen Geschichte, die nur als eine lange Kette von Kriegsereignissen dargestellt wird, auch die verschiedenen Erzählungen und Gedichte immer nur von heldenmütigen Waffenthaten zu berichten wissen. Das gehört so zum patriotischen Erziehungssystem. Da aus jedem Schüler ein Vaterlandsverteidiger herangebildet werden soll, so muß doch schon des Kindes Begeisterung für diese seine erste Bürgerpflicht geweckt werden; man muß seinen Geist abhärten gegen den natürlichen Abscheu, den die Schrecken des Krieges hervorrufen könnten, indem man von den furchtbarsten Blutbädern und Metzeleien, wie von etwas ganz Gewöhnlichem, Notwendigem, so unbefangen als möglich erzählt, dabei nur allen Nachdruck auf die ideale Seite dieses alten Völkerbrauches legend – und auf diese Art gelingt es, ein kampfmutiges und kriegslustiges Geschlecht zu bilden.
[…] Natürlich wird durch diese Aufhäufung und Wiederholung der Greuel das Verständnis, daß es Greuel sind, abgestumpft; alles, was in die Rubrik Krieg gehört, wird nicht mehr vom Standpunkte der Menschlichkeit betrachtet – und erhält eine ganz besondere, mystisch-historisch-politische Weihe. Es muß sein – es ist die Quelle der höchsten Würden und Ehren – das sehen die Mädchen ganz gut ein: haben sie doch die kriegsverherrlichenden Gedichte und Tiraden auch auswendig lernen müssen. Und so entstehen die spartanischen Mütter und die »Fahnenmütter« und die zahlreichen, dem Offizierkorps gespendeten Cotillonorden während der »Damenwahl«.

Bertha von Suttner hatte, wie du siehst, auch schon die Lektion gelernt, wie man Menschen für den Krieg abrichtet, Männer wie Frauen; sie hatte erkannt, dass der Krieg der genaue Pol zu jeder positiven Form von Menschlichkeit ist, und dass er eben seiner Unnatürlichkeit und Unmenschlichkeit wegen um jeden Preis legitimiert werden muss, mit den höchsten Werten ausgestattet, den höchsten Zielen verpflichtet! Und lass mich lieber nicht darüber sprechen, welche Perversion des Emanzipationsbegriffes es ist, dass Frauen nun das gleiche Recht haben sollen, sich in diese Menschlichkeits-Vernichtungsmaschine einpassen zu lassen – nein, du hast recht, zurück zur Geschichte!

Bertha also genoss immerhin nicht nur die problematischen Vorzüge einer militaristischen Imprägnierung, gegen die sie offensichtlich schon früh inneren Widerstand leistete; nein, sie genoss auch die erheblichen Vorzüge einer soliden Adelserziehung auch für die Frauen, sie lernte mehrere Sprachen, sie durfte sich mit Musik beschäftigen, sie reiste mit der Familie und sah verkehrte sicherlich auch in gebildeten Kreisen. Doch dann, auch das ein typisches Adelsschicksal der Zeit, verarmte die Familie nach dem Tod des Vaters (und wohl aufgrund der Spielleidenschaft der Mutter); und Bertha wurde Hauslehrerin in der Familie des Industriellen Karl Freiherr von Suttner und unterrichtete nun ihrerseits die vier Töchter in Musik und Sprachen. Und, auch das ist wenig originell: Verliebte sich in den jüngsten Sohn der Familie, Arthur Gundaccar von Suttner – aber bevor wir dazu kommen, schieben wir die Anekdote ein, die bis heute gern erzählt wird, weil sie zeigt, wie die Geschichte selbst die besten Lebens-Drehbücher schreibt. Gibt es dazu ein Porträt, oder hängt es irgendwo, schamhaft versteckt, in einem Übergangsflügel, zwischen Krieg und Frieden sozusagen? Oder gibt es gar keines -? Aber ich sehe schon, wir haben es gefunden.


Wir standen tatsächlich in einer Art Übergangsbereich; er war erleuchtet von einem seltsam zwielichtigen Licht, aber er hatte gar nicht wenig Porträts aufzuweisen, und sie schienen selbst von einer changierenden Natur: Manchmal neigten sie sich stärker in die eine Richtung – hin zur Friedens-Galerie -, manchmal mehr zur anderen – in einen sehr stattlichen Gebäudeteil, wo ich die Kriegs-Galerie vermutete. Und der Engel übernahm nun wieder das Wort und sagte:


Vielleicht ist es besser, wenn ich diese zwielichtige Geschichte erzähle, oder? Denn es ist ein Mann, dessen Name sich in die Geschichte des Friedens und des Kriegs unauslöschlich eingeschrieben hat; und beides ist dabei so eng verknüpft, dass die Nachwelt bis heute nicht recht weiß, wie sie damit umgehen soll. Du siehst einen Mann, zehn Jahre älter als deine Bertha; geboren in Schweden, und sein Familienhintergrund war ein ganz anderer: Die Vorfahren und Verwandten waren Universalgelehrte, Erfinder, Ingenieure und Industrielle gewesen. Auch sein Vater war ein namhafter Erfinder; doch auch er war noch zu Alfreds Kindheit verarmt nach einigen geschäftlichen Fehlschlägen; man zog eine Zeitlang nach Petersburg, und der Vater machte einige neue Erfindungen und berappelte sich, und so konnte man dem offensichtlich hochbegabten Sohn dann doch eine sehr gründliche Erziehung durch Privatlehrer zukommen lassen. Auch er wuchs sozusagen mehrsprachig auf; und er schrieb Gedichte, noch nicht einmal schlecht. Besonders begabt aber zeigte er sich in den Naturwissenschaften und in der Chemie, und schon mit 24 Jahren beantragte er sein erstes eigenes Patent.

Aber es schien eine besondere Obsession in der Familie für Sprengstoffe zu geben. Gerade war das Nitroglycerin erfunden worden, ein mächtiger Sprengstoff, der die militärische Welt verändern sollte; aber es gab keine sichere Methode, es zu zünden und damit handhabbar zu machen, durchaus auch für nicht-militärische Zwecke. Daran arbeitete der junge Alfred intensiv in der väterlichen Firma, und man führte Experimente durch – bis eines Tages eine Fabrik explodierte und fünf Mitarbeiter tötete, darunter Nobels jüngeren Bruder Emil. Alfred ist schockiert, aber lässt nicht ab; er muss eine noch sicherere Methode finden, den gefährlichen Sprengstoff zu zähmen! Und so erfindet er, eher zufällig, wenig später das Dynamit – die technischen Details erspare ich uns, aber wenn es dich interessiert, gibt es einen Kollegen von mir, der darauf spezialisiert ist? Und er wird reich damit; nicht mit den kriegerischen Anwendungen (Dynamit hat keinerlei militärische Einsatzmöglichkeit), sondern mit großindustriellen. Lebenslang experimentierte er weiter mit Sprengstoffen und Zündungsmöglichkeiten; er wurde reicher und reicher, aber seitdem ihn eine Zeitschrift nach dem Tod des Bruders als „Kaufmann des Todes“ betitelt hatte, sorgte er sich um seinen Nachruhm. Und hier treffen wir nun endlich auf deine Bertha, lass mich sie ruhig so nennen! Denn sie hatte 1876 auf eine Stellenanzeige geantwortet, mit der er eine Privatsekretärin suchte; eine Woche lang arbeitete sie für ihn in Paris, danach wurde er jedoch nach Schweden abberufen und das Arbeitsverhältnis endete abrupt wieder. Beide blieben jedoch in einem lebenslangen Briefwechsel über die Fragen von Krieg und Frieden, und Alfred war von Bertha so beeindruckt, dass er sie als erste Kandidatin vorschlug, als er schließlich dasjenige Unternehmen ins Werk setzte, das ihn zur Aufnahme wenigstens in diese graue Zwischenzone qualifiziert: Nämlich die Stiftung des Friedensnobelpreises. Denn Alfred hatte keine Erben; und so gründete er eine Stiftung, die sein nicht unerhebliches Vermögen verwalten sollte und die Zinsen daraus jährlich als Preise ausschütten sollte für diejenigen, „die im vergangenen Jahr der Menschheit den größten Nutzen erbracht haben“ – aufgeteilt in diejenigen Bereiche, die ihn sein Leben lang selbst interessiert und beschäftigt hatten: die Naturwissenschaften Chemie, Physik und Medizin; dazu die Literatur und schließlich – der Frieden. Der Friedensnobelpreis sollte dabei demjenigen zukommen, so bestimmte er, der „am meisten oder am besten auf die Verbrüderung der Völker und die Abschaffung oder Verminderung stehender Heere sowie das Abhalten oder die Förderung von Friedenskongressen hingewirkt hat“. Du siehst, auch Albert Nobel hatte einige Lektionen gelernt: Vor allem, dass Frieden gestiftet werden muss zwischen den Völkern; dass dazu die Entmilitarisierung ein wichtiger Schritt ist; und dass Frieden durch vertragliche und andere Institutionen gesichert werden muss. Und diesen Preis erhielt auch deine Bertha dann – aber die Geschichte willst du sicher selbst weitererzählen?


Wir standen wieder vor der Dame in Schwarz-Weiß mit dem strengen Suffragetten-Blick; aber sie schien mir schon ein wenig weicher geworden. Wir waren stehengeblieben, so begann ich, bei ihrer Liebe zu Arthur von Suttner; sie hatte ihr die Kündigung als Hauslehrerin eingebracht, aber damit auch die kurze Nobel-Episode ermöglicht. Nach ihrer Rückkehr heirateten die beiden heimlich, und Arthur wurde folgerichtig enterbt von seiner Familie. Damit beginnt eine etwas dunkle Exil-Episode: Denn das junge Paar zog in den fernen Kaukasus, nach Georgien, genauer: zu einer Fürstin, deren Familie lange Zeit das georgische Mingrelien beherrscht hatte und die dort nun ihren Salon führte. Man lebte von diesem und jenem; Bertha gab Sprachunterricht und schrieb, die beste Schule für angehende Autorinnen bis heute: Unterhaltungsromane. Arthur hingegen zeichnete Tapetenmuster, und ich nehme an – ja, genau dieser Vorhang ist wohl von ihm inspiriert. Und dann begann ein neuer Krieg im fernen Kaukasus, es war der russisch-türkische, und ich erspare uns einmal mehr die damit verbundenen imperialen Verwicklungen, es sind doch immer die gleichen; und Arthur berichtete aus dem Krieg, auch Bertha wurde journalistisch tätig, unter dem bemerkenswerten Pseudonym B. Oulot (für französisch le boulot, die Arbeit). Und als sie dann endlich nach Österreich zurückkehren durften und von der Familie wieder aufgenommen wurden und das Familienschloss bezogen hatten, blieb Bertha bei der Arbeit: Sie schrieb weiter, und sie hatte Erfolg, und sie begann sich immer mehr für das zu interessieren, was bald ihr Lebensinhalt werden sollte, nämlich: den Kampf für den Frieden! Mit 46 Jahren dann schrieb sie den Roman, aus dem wir oben schon gehört haben; und er wurde ein Welterfolg. Es ist die Geschichte einer Frau, einer österreichischen Gräfin, deren Leben ganz wörtlich von Kriegen verwüstet wurde: Sie verliert ihren ersten Mann im Sardinischen Krieg; ihre Schwestern und ihr Bruder sterben an den Folgen der durch den Krieg ausgelösten Cholera, ihr Vater stirbt aus Gram über den Verlust seiner Kinder. Ihr zweiter Mann, von ihr zum Pazifismus bekehrt, zieht sich von seinem Offiziersposten zurück; er wird daraufhin während des Deutsch-Französischen Krieges verdächtigt, ein preußischer Spion zu sein und standrechtlich erschossen. Ich habe, muss ich gestehen, den Roman nicht vollständig gelesen, sondern nur überflogen; aber eine weitere Passage ist mir dabei hängengeblieben, weil sie eigentlich schon eine Art Posttraumatische Belastungsstörung beschreibt, bevor wir das Wort dafür hatten. Die Hauptfigur also beschreibt ihren Zustand nach der Erschießung ihres Ehegatten:

Aber der Schmerz war zu unerträglich: ich verfiel in geistige Nacht. Und nicht nur dieses eine mal. Im Lauf der Jahre – in immer längeren Zwischenräumen – blieb ich Rückfällen von Tiefsinn unterworfen, von welchen mir dann in genesenem Zustande gar keine Erinnerung blieb. Jetzt, seit mehreren Jahren, bin ich schon ganz frei davon. Frei von der bewußtlosen Schwermut heißt das, nicht aber von bewußten Anfällen bittersten Seelenschmerzes. Achtzehn Jahre sind seit dem 1. Februar 1871 vergangen, aber der tiefe Groll und die tiefe Trauer, welche die Tragödie jenes Tages mir eingeflößt – die kann keine Zeit – und lebte ich hundert Jahre – verwischen. […] Das ist etwas ganz eigentümliches, das ich schwer beschreiben kann, und das nur solche verstehen werden, welche ähnliches an sich erfahren haben. Es deutet wie auf ein Doppelleben der Seele. Wenn auch das eine Bewußtsein, im wachen Zustande, von den Dingen der Außenwelt so eingenommen sein kann, daß es zeitweilig vergißt, so gibt es in der Tiefe meiner Persönlichkeit noch ein zweites Bewußtsein, welches jene schreckliche Erinnerung immer mit dem gleichen treuen Schmerz bewahrt; und dieses Ich – wenn das andere eingeschlafen – macht sich dann geltend, rüttelt das andere gleichsam auf, um ihm sein Leid mitzuteilen. Allnächtlich – es dürfte immer um dieselbe Stunde sein – erwache ich mit einem unsäglichen Wehgefühl ... Das Herz krampft sich zusammen und mir ist, als sollte ich bitter weinen, kläglich schluchzen. Das dauert so einige Sekunden, ohne daß das aufgeweckte Ich noch weiß, warum jenes andere unglückliche gar so unglücklich ist ... Das nächste Stadium ist dann ein weltumfassendes Mitleid, ein voll schmerzlichsten Erbarmens geseufztes: »O ihr armen, armen Menschen!« Da nun sehe ich unter hageldichten Mordgeschossen aufschreiende Gestalten zusammenbrechen – und jetzt erst erinnere ich mich, daß auch mein Liebstes so zusammenbrach.

Dass Bertha von Suttner dann zu einer Art Funktionärin des Pazifismus für den Rest ihres Lebens wurde, ergibt sich quasi zwangsläufig. Wobei man, wie ich selbst gerade gelernt habe, den Begriff „Pazifismus“ dafür noch gar nicht allzu lang hatte. Er ist, das muss ich als Wort-Freundin schnell noch erzählen, entstanden aus zwei lateinischen Wörtern, nämlich dem Frieden, pax, und dem Verb facere: etwas tun, machen, herstellen. Pazifisten sind also, vom Wort her, nicht nur Leute, die an den Frieden glauben und nicht an den Krieg; die – mehr oder weniger absolut – Gewaltverzicht fordern und Verzicht auf militärische Gewalt; sondern Leute, die den Frieden herstellen wollen, als eine Ordnung und als eine Haltung! Deshalb war Bertha auch bald dafür, den recht schönen alten deutschen Begriff der „Friedensfreunde“ aufzugeben; nein, wenn man den Frieden schaffen, herstellen, sichern wollte, den ewigen Frieden, dann musste man ihn organisieren – so professionell wie eben möglich! Und so entstanden die großen pazifistischen Vereinigungen der verschiedenen Staaten, so wurden die ersten großen internationalen Friedenskongresse organisiert, und Bertha wurde zur Handelsreisenden in Sachen Frieden: Bis in die Vereinigten Staaten kam sie, und der Präsident Theodore Roosevelt empfing sie im Weißen Haus. Zu dieser Zeit war ihr Mann bereits verstorben; und ein Jahr später würde Bertha dann endlich den Friedensnobelpreis bekommen, für den sie Alfred Nobel schon gleich am Anfang vorgeschlagen hatte. Und sie blieb, wie man heute sagen würde: aktivistisch, sogar intersektional; sie setzte sich, aus den gleichen humanitären Beweggründen, auch für einen stärkeren Tierschutz ein und für die Frauenrechte. Derweil jedoch rüstete die Welt ungerührt weiter, stärker als je zuvor; und weit vor dem zynischen Konzept eines „Gleichgewicht des Schreckens“, sogar noch vor der Völkervernichtung im Ersten Weltkrieg, die erst durch die neuesten militärtechnischen Entwicklungen – darunter das Giftgas – möglich war, warnte sie nach dem ersten Bombenabwurf aus einem Flugzeug hinaus:

„Und mit jedem Tag wird der Krieg verbrecherischer. Denket an die aus Wolkenhöhen herabfallenden Sprengstoffbomben, die zum erstenmal in diesem Feldzug erprobt worden sind. ‚La prima Torpedine del cielo‘, jubelten die römischen, chauvinismustrunkenen Blätter… Auf ein Lager von 2000 ruhende Menschen und Tiere wurde von einem kühnen Leutnant … eine Bombe geschleudert. Schreiend und rasend liefen die Nichtgetroffenen auseinander und auf die Fliehenden warf der ‚himmlische‘ Held noch seine übrigen Bomben. […] Nein, humanisieren läßt sich bei den heutigen und morgigen Kriegsmitteln … der Krieg nicht mehr; vergebens ist es, ihn den Gesetzen der steigenden Kultur und der erwachenden Menschlichkeit anpassen zu wollen; nur zweierlei ist möglich: daß die Zivilisation den Krieg vernichtet, oder daß im Zukunftskrieg die Zivilisation zugrunde geht.“

Bertha von Suttner starb, noch bevor der Erste Weltkrieg ihre düsteren Prophezeiungen wahr machen sollte, an Krebs. Als ihre letzten Worte sind überliefert, und auch wenn es nicht so war, könnte es so gewesen ein: „Die Waffen nieder! --- sag’s vielen ---- vielen“. Und deshalb sagen wir es heute auch in dieser Geschichte, nicht wahr?

Immanuel Kant
Der Engel nickte, einverstanden und einverständlich; aber er machte auch klar, dass wir nicht endlos Zeit hatten und dass er deshalb die nächste Geschichte erzählen würde. Dazu blieb er vor einem relativ großen, beinahe durchscheinend bedeckten Porträt stehenblieb. Ein durchdringender Blick zwischen zwei scharf gebogenen Augenbrauen, wie gezeichnet von einer geschickten Maskenbildnerin schien beinahe den Vorhang zu durchdringen. Nach dem Aufziehen – es staubte dieses Mal nur ganz wenig, der Vorhang schien deutlich häufiger gelichtet zu werden – blickten uns zwei strenge Augen über einer mäßig spitzen Nase an, gerahmt von einer wohlgelegten Lockenperücke; es war auch das ein männlicher Denkerkopf, aber er wirkte gleichzeitig durchaus wie ein Bürger dieser Welt und guter Gesellschafter.

Du kennst Immanuel Kant, sagte mein Engel, alle Welt meint ihn zu kennen; doch vielleicht war seine Friedensschrift sogar wichtiger als seine Kritiken, diese schwer zugänglichen Monumente scharfsinniger Denkerarbeit? Aber das wirst du selbst erwägen müssen, durch Einsatz deines eigenen Verstandes, wie ihn Kant forderte! Er selbst war im Übrigen, obwohl er sein ganzes Leben mehr oder weniger in seiner Geburtsstadt, dem ostpreußischen Königsberg, verbrachte, Zeuge der zeitgenössischen Kriege, in denen sich mehr oder weniger immer noch die gleichen imperialen Mächte Europas in anderer personeller Besetzung auf wechselnden Schlachtfeldern gegenüberstanden; während des Siebenjährigen Krieges war Königsberg zeitweise von russischen Truppen besetzt, und seine Denkschrift Zum ewigen Frieden schrieb Kant am Vorabend der napoleonischen Kriege, die zum Jahrhundertwechsel dann große Teile Europas überziehen würden und Millionen von Menschen den Tod bringen würden.

Zum ewigen Frieden – das ist ein großer Titel, nicht wahr? Und Kant, auch ein wenig Schelm wie Erasmus, behauptet ganz zu Anfang, der Titel sei ihm tatsächlich – auf einem Wirtshausschild entgegengekommen; und wir wollen ihn, wie Erasmus, gern ein wenig selbst sprechen lassen, da man die Menschen an ihrer Rede erkennt:
Ob diese satirische Überschrift auf dem Schilde jenes holländischen Gastwirts, worauf ein Kirchhof gemalt war, die Menschen überhaupt, oder besonders die Staatsoberhäupter, die des Krieges nie satt werden können, oder wohl gar nur die Philosophen gelte, die jenen süßen Traum träumen, mag dahin gestellt sein.
Aber Scherz beiseite: Auch Kant gibt sich, wie Erasmus, besondere Mühe mit der Form. Er schreibt seinen „philosophischen Entwurf“ nämlich in Form eines Friedensvertrags nieder. Er kommt recht juristisch-technische daher, mit einer Präambel, und daran anschließend sechs „Präliminarartikeln“ – Verbotsgesetzen, die die notwendigen Bedingungen dafür, dass ein Frieden ewig sein könnte – und wir erinnern uns: lange Zeit waren Friedensverträge nur zwischen zwei Kriegsparteien auf Zeit geschlossen worden! Ewiger Frieden aber – das war die Domäne der Utopie, nicht der Philosophie, schon gar nicht der strengen Systemphilosophie! Deshalb folgen auf die prohibitiven Präliminarartikel, nun in positiver Form, die „Definitivartikel“: Sie bestimmen die Grundzüge einer Friedensordnung; denn der Frieden bedarf einer Ordnung wie der Krieg, er ist eine Gestaltungsaufgabe. Das sieht Kant mit der für ihn typischen Deutlichkeit und Kompromisslosigkeit:

Der Friedenszustand unter Menschen, die neben einander leben, ist kein Naturstand (status naturalis), der vielmehr ein Zustand des Krieges ist, d.i. wenn gleich nicht immer ein Ausbruch der Feindseligkeiten, doch immerwährende Bedrohung mit denselben. Er muß also gestiftet werden.

Wir lassen die diversen Anhänge und Zusätze der Schrifft beiseite, das mag mein Kollege von der Philosophie gelegentlich kommentieren. Nein, wir konzentrieren uns auf einige Kernsätze, denn sie sind es, die nun ein Gerüst aufbauen, auf das sich viele spätere Verträge und Institutionen, bis hin zu eurem Völkerrecht und dem Grundgesetz der Vereinten Nationen berufen!

Gleich der erste Artikel kommt ein wenig überraschend daher: Er besagt nämlich, dass kein Friedensschluss, der mit einem geheimen Vorbehalt für einen künftigen Krieg gemacht werde, echt sei. Ein echter Frieden gehe vielmehr nur davon aus, dass alle gegenseitigen Ansprüche ein- für allemal erledigt sein! Keine Rache, keine Vergeltung, kein ewiges Übelnehmen und Aufrechnen, keine Erbfeindschaft – der Frieden braucht eine tabula rasa.

Der zweite Artikel erscheint ebenfalls nur auf den ersten Blick als ein Kind seiner Zeit: Keine bestehenden Staaten nämlich dürften von irgendjemand durch vererbt, verkauft oder verschenkt werden. Staaten sind, wie die den Staat konstituierenden Bürger, Zwecke an sich selbst, die man nicht wie einen Handelsgegenstand übertragen kann; das verletzt ihren Zweck und ihre Würde! In einer Zeit, in der vor allem kleinere Staaten samt ihren Bürgern ziemlich willkürlich auf Kabinettstischen verschachert wurden, ist das ein großer Eingriff in die politischen Gestaltungsmöglichkeiten der Herrschenden. Aber auch darüber hinaus, denk bitte darüber nach, ist es von bleibender Bedeutung, den Staat als eine Gesamtheit von Bürgern zu betrachten, die ihn wie als eine Art übergeordnete moralische Person erst konstituieren; das ist ein Gedanke, der auch für die Gestaltung der Friedensordnung sehr wichtig ist!

Der dritte Artikel ist einfach – und bis heute nicht eingelöst, nicht einmal im Ansatz: Stehende Heere sollen mit der Zeit ganz aufhören! Denn die Rüstung für den Krieg verschlingt nicht nur Unsummen von Staatsgeld – und damit: auch dem Geld der Bürger! -, sie verführt auch zu einem endlosen und unproduktiven Wettrüsten.
Denn sie bedrohen andere Staaten unaufhörlich mit Krieg, durch die Bereitschaft, immer dazu gerüstet zu erscheinen; reizen diese an, sich einander in Menge  der Gerüsteten, die keine Grenzen kennt, zu übertreffen, und, indem durch die darauf verwandten Kosten der Friede endlich noch drückender wird als ein kurzer Krieg, so sind sie selbst Ursache von Angriffskriegen, um diese Last loszuwerden; wozu kommt, daß zum Töten, oder getötet zu werden in Sold genommen zu sein einen Gebrauch von Menschen als bloßen Maschinen und Werkzeugen in der Hand eines andern (des Staats) zu enthalten scheint, der sich nicht wohl mit dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person vereinigen läßt.

Zwar lässt Kant eine Ausnahme für die staatsbürgerliche Selbstverteidigung gelten, aber prinzipiell gilt: Die Ausbildung von Soldaten zum Töten widerspricht den strengen moralischen Maximen, die Kant zuvor in seiner Kritik mit großer Sorgfalt und wenig beachteten Konsequenzen entwickelt hatte!

Damit Hand in Hand geht der vierte Artikel, genauso wenig beachtet und umgesetzt bis heute: Kein Staat solle Staatsschulden zur Finanzierung von Kriegen machen. Denn eine solche Kreditmaschinerie, einmal in Gang gesetzt, neigt zur gleichen grenzenlosen Selbststeigerungsspirale:

Zum Behuf der Landesökonomie (der Wegebesserung, neuer Ansiedelungen, Anschaffung der Magazine für besorgliche Mißwachsjahre u.s.w.) außerhalb oder innerhalb dem Staate Hülfe zu suchen, ist diese Hülfsquelle unverdächtig. Aber, als entgegenwirkende Maschine der Mächte gegen einander, ist ein Kredit-system ins Unabsehliche anwachsender und doch immer für die gegenwärtige Forderung (weil sie doch nicht von allen Gläubigern auf einmal geschehen wird) gesicherter Schulden - die sinnreiche Erfindung eine gefährliche Geldmacht, nämlich ein Schatz zum Kriegführen, der die Schätze aller andern Staaten zu-sammengenommen übertrifft, und nur durch den einmal bevorstehenden Ausfall der Taxen (der doch auch durch die Belebung des Verkehrs, vermittelst der Rückwirkung auf Industrie und Erwerb, noch lange hingehalten wird) erschöpft werden kann. Diese Leichtigkeit Krieg zu führen, mit der Neigung der Machthabenden dazu, welche der menschlichen Natur eingeartet zu sein scheint, verbunden, ist also ein großes Hindernis des ewigen Friedens, welches zu verbieten um desto mehr ein Präliminarartikel desselben sein müßte, weil der endlich doch unvermeidliche Staatsbankerott manche andere Staaten unverschuldet in den Schaden mit verwickeln muß, welches eine öffentliche Läsion der letzteren sein würde.

Die ökonomische Analyse, mein Kollege mag dir das bestätigen, ist substantiell und in ihrer Verbindung mit der anthropologischen Analyse bis heute erfahrungsbestätigt! Zudem, und auch das ist eine Lektion für alle Zeiten, macht niemand allein Bankrott; nein, die Folgen eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs ziehen Kreise, und wer bezahlt am Ende? Das möge, wiederum, dein eigener Verstand beantworten!

Wir sind bei Nummer 5. Es ist ein Einmischungsverbot in die Verfassung und Regierung anderer Staaten; selbst wenn dort große Ungerechtigkeit herrscht, rechtfertigt das nicht den „gerechten Krieg“ gegen andere Staaten, da es ein Friedensbruch ist, und der Frieden ist: der höhere Wert gegenüber der Gerechtigkeit! Natürlich kennt Kant hier aus Ausnahmen, aber prinzipiell ist die Lektion: Staaten können ihre inneren Probleme nur von innen heraus lösen. Beispiele für das Scheitern der wohlwollendsten Einmischungen hat mein Kollege von der Geschichte zuhauf zur Hand, falls du sie brauchst!

Der letzte Präliminarartikel schließlich blickt schon voraus auf die Friedensordnung: Er fordert das Unterlassen aller Arten vom Feindseligkeiten, die das „wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen“ – also schwere Vergehen gegen die Menschlichkeit, in der modernen Sprache. Für Kant sind das „unehrenhafte Mittel“, und wer sie anwendet, riskiert seine eigene moralische Autonomie und Würde als Voraussetzung für das spätere gedeihliche Verhältnis; unter Verbrechern gibt es keine Ehre im bürgerlichen Sinne mehr, und das Vertrauen ist für immer zerstört. Das heißt auch, ins Extrem gedacht:

Woraus denn folgt: daß ein Ausrottungskrieg, wo die Vertilgung beide Teile zugleich, und mit dieser auch alles Rechts treffen kann, den ewigen Frieden nur auf dem großen Kirchhofe der Menschengattung statt finden lassen würde. Ein solcher Krieg also, mithin auch der Gebrauch der Mittel, die dahin führen, muß schlechterdings unerlaubt sein. -

Kant sieht mit der ihm eigenen sachlichen und emotionslosen Weitsicht, wohin ein grenzenloses Wettrüsten führt: direkt zum „großen Kirchhof der Menschengattung“ nämlich, und schon das Gedankenspiel damit sollte einfach und von Grund auf verboten sein! Zudem sieht Kant auch, und damit wollen wir ihn für dieses Mal verlassen, dass ein „Völkerrecht“ im Krieg selbst einfach ein absurder Begriff ist:

Bei dem Begriffe des Völkerrechts, als eines Rechts zum Kriege, läßt sich eigentlich gar nichts denken (weil es ein Recht sein soll, nicht nach allgemein gültigen äußern, die Freiheit jedes einzelnen ein-schränkenden Gesetzen, sondern nach einseitigen Maximen durch Gewalt, was Recht sei, zu bestimmen), es müßte denn darunter verstanden werden: daß Menschen, die so gesinnet sind, ganz recht geschieht, wenn sie sich unter einander aufreiben, und also den ewigen Frieden in dem weiten Grabe finden, das alle Greuel der Gewalttätigkeit samt ihren Urhebern bedeckt. –

Der Engel hatte den letzten Teil mit einer sehr harten Stimme vorgelesen, seine ganze engelhafte Entschiedenheit schwang darin mit, aber auch ein wenig Verzweiflung angesichts der unendlichen Unbelehrbarkeit des Menschengeschlechts, auch und gerade durch gern zitierte Meisterdenker. Der Vorhang hatte sich wie von Geisterhand schon geschlossen, ich konnte nur noch unscharf die scharf gezeichneten Brauen sehen; das Gesicht schien mir schon in den wenigen Momenten unseres Besuchs deutlich gealtert, so als würde es tatsächlich in die Zukunft sehen und erahnen, wie wenig all sein Denken und Schreiben genutzt hatte.

Mahatma Gandhi

Ich habe nur noch wenig Zeit, sagte der Engel der Persönlichkeit, und das ist schade. Aber du kannst die Geschichten selbst erzählen, du wirst sie erzählen; nicht nur die Geschichten der Männer, sondern auch die der Frauen, und nicht nur die Geschichte der Denker, sondern auch die der Handelnden. Deshalb, ganz schnell: Mit wem wollen wir für diesmal enden? Und der Name lag uns sicher beiden auf der Zunge, wenn meinem Engel etwas auf der Zunge liegen kann; aber ich sprach ihn aus, in der liebevollen Art, wie ich in Indien gelernt hatte, dass man von ihm sprach: Gandi-ji, in einer Art sprachlichen Ehrengeste und Namaste-Figur: Gandhi, der Mahatma, die große Seele. Ich begann meine Geschichte mit unserem damaligen Besuch im Gandhi-Museum in Neu-Delhi; und ich begann sie mit einer Anekdote:

Gandhi, bei all seinen Vorzüge, hat niemals Cricket gespielt, es ist zumindest nicht bekannt. Aber es gibt eine Anekdote, die zu hübsch ist, um sie zu verschweigen: Bei einem Besuch des englischen Traditionsvereins Marylebon Cricket Club (MCC) in Mumbai, der bis heute die Autorität in allen Cricket-Fragen ist, sammelte die Schwester eines der indischen Cricketstars, Laxmi Merchant (und was für ein Name! Lakshmi, die indische Göttin des Glücks, des Wohlstands, der Fruchtbarkeit und Schönheit, die Gattin Vishnus, des Allerhalters, gepaart mit dem englischen merchant!) Autogramme aller englischen Cricket-Spieler des MCC. Als sie später einmal von Gandhi ein Autogramm holen wollte, blätterte der immer etwas schalkhafte Polit-Star durch das Autogramm-Buch, um den rechten Platz zu finden für seine Unterschrift; und er wählte treffsicher das Blatt, auf dem die Engländer verzeichnet waren, 16 Spieler des MCC, dort signierte er als siebzehnter mit seinem etwas unleserlich geschriebenen Namen: M.K. Gandhi.

Heute steht der Nationalheros auf ungezählten Plätzen verewigt; und meist ist er dabei auf wundersame Weise ein wenig wohlbeleibt geworden, ein Bild des neuen Wohlstands einer neuen Nation und nicht so sehr der mageren Revolution, des mühsamen Widerstandes, der Hungerstreiks und der wachsenden Verzweiflung über die Unheilbarkeit des religiösen Widerstreits, der Indien zerriss und am Ende Pakistan gebar. Sein Spinnrad, das charkha, mit dem er die indische Wirtschaft wieder auf eigene Füße stellen wollte, ziert die indische Flagge, es sieht auch ein wenig aus wie ein Sonnenrad, und das ist eine Symbolik, die ihm bestimmt gefallen hätte. Ob ihm allerdings die Statuen gefallen hätten, die wohlbeleibten, oder die Puppenstuben, die im Mani Bhavan, dem heutigen Gandhi-Museum im Mumbai aufgestellt sind, scheint mir eher zweifelhaft. Das hübsch herausgeputzte Gebäude mit seinen sorgfältig restaurierten Holzbalkonen war Gandhis Basisstation in den frühen Jahren; es gehörte einem Freund, und Gandhi entwickelte dort seine Ideen des gewaltlosen Widerstands, sein Spinnrad und seine Ablehnung des Milchkonsums. Aber Gandhi hätte wahrscheinlich kein Museum gewollt. Er hätte vielleicht gewollt, dass die Besucher ein wenig Spinnen lernen (man kann ein charkha als Souvenir kaufen) oder das eine oder andere Buch wenigstens in die Hand nehmen. Und was hätte er wohl zu den kleinen Puppenstuben gesagt, die im zweiten Stock seine bekanntesten Lebensstationen zeigen, ein ausgefaltetes Bilderbuch sozusagen, eine Art Heiligenbiographie inszeniert in Schaukästen? Ach, warum nicht, er war ein Schalk.

Rührender jedoch ist, aber vielleicht auch nur für Europäer, der ausgestellte Brief, den er an Hitler schrieb. Es ist ein sehr ernsthafter und sehr bescheidener Brief, der versucht, dem aufsteigenden Diktator die errors of his ways zu zeigen; aber so ganz ohne jeden moralisierenden Zeigefinger, ohne auch nur den geringsten Geruch von Selbstgerechtigkeit, zurückhaltend, argumentierend, immer wieder die eigene Fehlbarkeit betonend – einmal nur möchte man diesen Ton hören in den moralischen Aufgeregtheiten unserer Zeit! Be truthful, gentle and fearless – so steht es auf einem gerahmten Briefauszug, und man denkt, dass das wohl die Essenz von Gandhis Leben ist, die sogar noch einen Brief an Hitler durchtränkt. Wahrheit, Freundlichkeit, Furchtlosigkeit – sind das nicht die besseren großen Worte, wenn man schon große Worte braucht, als unsere alteuroäische Trias von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? Schwesterlichkeit, hätte Gandhi vielleicht sanft eingewendet, der immer mit seiner Frau auftrat, Kasturba, mit der er im Alter von sieben Jahren verlobt worden war, die er im Alter von 13 Jahren heiratete, mit der er nach der Geburt von vier Kindern in sexueller Enthaltsamkeit zusammenlebte, die er pflegte in ihrer Krankheit bis zu ihrem Tod. Und ist es nicht wirklich besser, freundlich zu sein als frei, oder jedenfalls: Wenn man schon den außerordentlichen Vorzug genießt, sich in gewisser Weise frei wähnen zu dürfen, dann doch besser auch freundlich zu sein, furchtlos und vor allem: wahrhaftig? Gandhi war der Mahatma geworden, im Sanskrit heißt das: „große Seele“, ein Ehrenname, den er gefürchtet und später angenommen hat, als Aufforderung und Ziel. Er war Bapu geworden, der Vater der indischen Nation, damit konnte er leben. Ganz sicher war er Gandhiji, der verehrte, respektierte Gandhi – und ist es nicht traurig, dass die deutsche Sprache das nicht mehr hat, ein altmodisches honorific, eigentlich noch niemals hatte, genauso wenig wie ein Namaste? Aber dass Gandhi bei all dem „frei“ war, in dem etwas diffus-zügellosen Sinne, wie wir das Wort heute auf Individuen anwenden – er hätte nur milde gelächelt, ich bin mir ganz sicher.

Aber erzählen wir auch seine Geschichte von vorn, denn sie war seine Lehre. Sie hat das Zeug zur Legende, aber meist wird sie als eine europäische, oder zumindest: eine weltbürgerliche Geschichte erzählt. Aber gibt es nicht so viele andere Erzählmöglichkeiten; warum nicht auch als Bollywood-Musical, als Schelmenroman, die abstehenden Ohren träten als Symbole auf und die Füße, barfuß, durchgetreten, weitgewandert, immer friedlich, freundlich, wahrhaftig, mutig? Und sie beginnt ganz definitiv als indische Geschichte, die dann gleich am Anfang eine kolonialistische Wende nimmt. Höre also: Wie Mohandas Karamchand geboren wurde, in eine wohlhabende Familie, Vater und Großvater waren eine Art Premierminister unter der britischen Kolonialregierung in Westgujarat, politische Ratgeber und hohe Verwaltungsbeamte. Dass die Familie zum Jati der Bania gehört, einer Untergruppe der Vaishya, der Kaufleute. Dass die Familie eine monotheistische Form des Hinduismus praktizierte, den Vishnuismus, eine religiöse Richtung, die vor allem die völlige Gewaltfreiheit (ahimsa) und die Verbindung von Geist und Materie lehrte, eine Art indische Metaphysik. Im Haushalt der Eltern verkehrten jedoch auch Anhänger anderer Religionsgruppen, Muslime, Parsen, Jainisten; der Hinduismus ist in gewisser Hinsicht (in anderer wieder nicht) die toleranteste aller Weltreligionen. Die Mutter jedoch war tief religiös, und sie fürchtete um ihren Mohandas, als er, wie so viele gebildete, gesellschaftlich hochstehende Inder, zum Studium nach London gehen sollte; ein Hindu überquerte nicht den Ozean, ein Hindu konsumierte kein Fleisch und keinen Alkohol, das alles waren schädliche westliche Einflüsse. Er zerlegte auch kein Fleisch, weshalb Mohandas auch untersagt wurde, Medizin zu studieren, was er eigentlich wollte (und was wäre aus ihm geworden, hätte er das getan? eine andere Geschichte, zweifellos). Mohandas jedoch setzte sich durch, er gelobte keinerlei westlichen Versuchen anheimzufallen (was er einhielt, nach allem was bekannt ist). Und so wurde eine Versammlung der Bania-Kaste einberufen (kein Bania war zuvor jemals jenseits des großen Ozeans gewesen!), und die Versammlung beschloss, dass das auch so bleiben würde (der Hinduismus kann die intoleranteste aller Weltreligionen sein) und entzog Gandhi deshalb seine Zugehörigkeit. Und so ward Gandhi, der spätere Mahatma, ein Kastenloser, ein Unberührbarer. Vielleicht war das der erste Schritt, der ihn auf seinen eigentlichen Weg brachte: ein Ausschluss, eine Verbannung von der Mitte der Gesellschaft an ihren Rand.

In England angekommen, trat Gandhi der vegetarischen Gesellschaft bei, ebenso der Theosophischen Gesellschaft. Er beschäftigte sich mit religiöser Literatur, vor allem mit dem Christentum; die Bergpredigt wurde ihm zu einer Erleuchtung, das Alte Testament weniger. Aber er las auch, immer wieder, die Bhagavadgita, er übersetzte den Text in seinen eigenen indischen Dialekt, das Gujarati (sehen wir Luther ein wenig durchschimmern, unter dem indischen Gewand?). Er nahm aber auch Tanzunterricht und lernte Französisch, er kleidete sich der englischen Mode gemäß, Fotos aus dieser Zeit zeigen einen vollendeten jungen Gentleman von nur etwas dunklerer Hautfarbe. Nachdem er noch den Eiffelturm bestiegen und die Weltausstellung in Paris besichtigt hatte, legte er das juristische Examen ab – und durfte nun das Recht praktizieren überall dort, wo das britische Recht Geltung hatte: also, natürlich in Indien, wohin er nun, europäische Sprache und Kultur und Ideen über Pressefreiheit, Sozialismus, Anarchie und Pazifismus im Gepäck, zurückreist – um als erstes zu erfahren, dass die Geschwister ihm den Tod der Mutter verschwiegen hatten. Er versuchte die Wiederaufnahme in seine Jati zu erreichen, indem er eine Pilgerreise machte; er bezahlte auch die ihm auferlegte Strafe. Aber er war nun doch, trotz aller Schwüre der Mutter gegenüber, von einigen westlichen bugs infiziert: Seine Kinder sollten europäisch erzogen werden, seine Ehefrau Katsuba lesen und schreiben lernen. Später einmal befragt nach seinen Vorbildern, benannte er eine westöstliche Mischung: den indischen Philosophen Shrima Rajchandra sowie zwei Schriftsteller und Sozialreformatoren, den Russen Leo Tolstoi und den Engländer John Ruskin.

Was wäre aus Gandhi ohne die Engländer geworden, ohne die europäische Lebenserfahrung, ohne das Studium europäischer Ideen, ohne – nun ja, die Besichtigung des Kolonialismus dort, wo er zuhause ist? Und was wäre aus ihm geworden, ohne seine tiefen, durchaus traditionellen, durchaus konventionellen indischen Wurzeln? Gandhi war der, der er war, weil er das beste beider Welten gesehen hatte – aber auch ihr schlechtestes; und weil er, unter Schmerzen und Opfern, versuchte, das Beste es zu vereinigen und das Schlechteste zu verdrängen; und sein Kampf um die indische Unabhängigkeit war einer gegen eine Unterdrückungsmaschine, nicht gegen Personen oder Kulturen. Und das Konzept, das er für diesen Kampf entwickelte und von dem er darauf beharrte, dass es nicht identisch sei mit dem westeuropäischen des Zivilen Ungehorsams – aber sicherlich damit verwandt -, nannte er mit einem neuen Namen in Hindi: Satyagraha. Es ist ein Kunstwort, zusammengesetzt aus dem Sanskrit-Wort für Wahrheit – satya – und dem für das höfliche, aber bestimmte Festhalten an etwas, agraha; und bedeutet also: das freundliche, aber unverrückbare Insistieren auf dem, was man als wahr erkannt. Das Wort ist ungewohnt für europäische Ohren, aber seine Fremdheit ist Teil der Idee: Sie ist gegründet auf einen hinduistischen Begriff von Wahrheit – die Wahrheit (sat) ist konkret, sie ist das einzig Existierende, und die Nicht-Wahrheit existiert nicht, niemals; und die Wahrheit erweckt Liebe – nicht als Passion verstanden, sondern als positiven menschlichen Grundtrieb. Und wenn man an liebend und bestimmt an der Wahrheit festhält, die die Gewalt als Nichtwahrheit und Nicht-Seiendes ausschließt – dann wird man irgendwann auch den Gegner überwältigen, durch die schiere Macht des positiven Beispiels und durch die universale Kraft des Mitgefühls, die von dem reinen Jünger der Satyagraha ausgestrahlt wird. Das ist kein leichter Weg, und er erfordert jede Menge Opfer, und dementsprechend radikal waren auch Gandhis Forderungen an seine Mistreiter und Jünger. Und er erkannte auch und gestand es zu, dass angesichts radikal böser Gegner wie Hitler oder der japanischen Bedrohung für sein eigenes Vaterland Millionen Menschenleben geopfert werden müssten in einem einzigen grandiosen Akt gemeinsamer Satyagraha. Aber Kriege fordern die gleichen Opfer, und um welchen zusätzlichen Preis? Das sind Berechnungen und Aufwägungen, die niemand gern anstellt. Aber ich denke, wer bereit ist, sein Leben für das Vaterland bei kriegerischen Handlungen zu opfern, könnte auch bereit sein, sein Leben für das Vaterland durch eine Handlung des Friedens zu geben. Zumindest sollte man den gleichen Respekt erwarten können und keine Denunziationen. Was ich selbst tun würde – ich weiß es nicht, niemand weiß es nicht, der nicht in dieser ganz persönlichen und gleichzeitig universellen Ausnahmesituation war. Aber ich würde mir wünschen, sehr wünschen: an Gandhis Seite zu stehen.


EPILOG MIT MYTHOS

 


Und alsbald waren da die Menge der himmlischen Heerscharen, und ich erkannte einzelne Gestalten wieder: den Engel der Philosophie, mit dem ich diskutiert hatte, der Engel der Geschichte, der mich im Überflug auf seinem Flügel getragen hatte; den Engel der Ökonomie, der mich gelehrt hatte, Kriege wahrhaft zu evaluieren, und den Engel der Persönlichkeit, mit dem ich Geschichten getauscht hatte. Sie alle waren, auf ihre Weise, Engel des Friedens – denn genauso wenig wie es eine Wahrheit in der Gewalt gibt, wenn man Gandhi folgen will, kann es einen Engel des Krieges geben; noch nicht einmal einen gefallenen, denn auch Lucifer hatte ja nur gegen Gott aufbegehrt, nicht aber seine Brüder und Schwestern getötet. Und Menschen sind natürlich keine Engel. Natürlich sind sie nur Tiere. Aber wenn sie Menschen sein wollen und Menschheit als Ehrentitel verstehen – dann müssten sie wohl mehr auf die Lektionen der Engel hören. Mir hatte ich sie, über eine lange Weihnachts- und Neujahrszeit, zur eigenen Belehrungen erzählt; denn wie dumm und unbelehrt man in den grundlegendsten Dingen des Menschlichen ist, geht einem erst spät auf, es ist ein nicht unwesentlicher Nebeneffekt von dem, was man Bildung nennt: die zunehmende Erkenntnis der Größe und Tiefe der eigenen Unwissenheit!

Aber das letzte Wort sollen nicht die Engel haben, und auch nicht das Ich der Erzählerin. Nein, wieder aufgetaucht ist nun Ahab, unser junge Hirte ganz vom Anfang. Er hat eine Familie gegründet, seine Herde vergrößert; dann ist sie irgendeinem sinnlichen Krieg zum Opfer gefallen, und seine Kinder sind gestorben, einige vor ihm, und seine Frau ist schon lange tot, dahingerafft von einer sinnlosen Krankheit, und er ist ein alter, weißer und weiser Mann geworden. Schon lange nicht mehr hadert er mit den Römern; denn wozu haben all die Kämpfe geführt in seiner Jugend, außer zu vielen, vielen Toten und am Ende war alles genauso wie vorher, der gleiche alte Kram? Mit dem Alter ist er friedlich geworden; all der jugendliche Kampfesmut und Kampfessinn, die Rauflust, der Rausch des Ringens und Streitens und Obsiegens – all das hat ihn verlassen. Nein, es hat ihn nicht ganz verlassen; denn manchmal, im Traum, verfolgen ihn die Bilder früherer Kämpfe; er sieht die Gesicht derer, die er getötet hat, und er hört die Schreie seiner verwundeten Kameraden, und er fühlt die Angst, den Terror, den Schrecken bis tief hinein ins innerste Mark, und seine Seele krümmt sich wie sein Körper. Vergeben hat er schon lange; spätestens seitdem er Christus gefolgt war, dem Messias, der sie gelehrt hatte, Verzeihung und Vergebung zu üben, an sich selbst und anderen, in der Liebe zu leben und in der Gewaltfreiheit und nicht in Angst und Hass, auch nicht gegenüber den Römern – war er ein anderer Mensch geworden. Trotzdem ließ ihn die Vergangenheit nicht los, und mit Sorge sah er, dass noch seine Söhne verfolgt wurden von den gleichen Dämonen, die ihn getrieben hatten. Aber wenigstens mussten sie nicht zum Militär, seit sie sich als Christen bekannt hatten; und vielleicht, vielleicht würde ja irgendwann –



An dieser Stelle hatte Ahab einen Traum, und es war keine Schreckensvision diesmal. Er spielte in einer fernen Zukunft, und alles in ihm war fremd: die Menschen, die Räume, die Gegenstände, selbst die Landschaft war von Grunde auf verändert. Sie zeigte noch die Spuren von Kämpfen und Zerstörungen, aber es war, als würden sie, irgendwie, vorgezeigt, als Lehren und Mahnmale für die neue Zeit? Und ein Engel nahm ihm bei der Hand, und gemeinsam flogen sie über die fremden Landschaften, und Ahab schaute und staunte, aber wagte nicht zu fragen. 

Und der Engel sagte:

 

Du siehst eine Welt im Frieden. Aber es ist kein reines utopisches Arkadien, die Wölfe liegen nicht friedlich bei den Schafen, und die Menschen sind keine Engel geworden. Nein, es gibt weiterhin Konflikte, es gibt Streitigkeiten, es gibt Menschen, die wollen mächtiger und reicher sein als andere, notfalls auch mit Gewalt. Aber die Menschen haben sich nach dem dritten großen Weltkrieg, der schrecklicher und vernichtender war als alle Kriege jemals zuvor – sie haben sich geeinigt, dass Kriege niemals gewonnen werden können und dass Gewalt niemals eine dauerhafte Lösung ist. Sie haben nicht nur erkannt, sondern sie haben auch gespürt und erfahren: Dass die Spirale der gegenseitigen Drohungen und Gegenschläge nur durch eines unterbrochen werden kann, nämlich: vollständige und rückhaltlose Verzeihung. Sie haben erkannt, gespürt und lehren jetzt ihre Nachkommen: Dass jeder nachhaltiger Frieden im eigenen Inneren beginnt; und dass Friedfertigkeit eine Tugend ist, die gelehrt und geübt werden kann und muss. Sie haben erkannt und gespürt: Dass, wenn man eine Religion und einen Glauben braucht, diese nur eine des ewigen und allmächtigen Friedens sein kann; ihre neue Göttin ist Eirene, und man bringt ihr keine Opfer, sondern feiert regelmäßig und gemeinsam Feste ihr zur Ehren. In ihrem Gefolge findet sich auch Polemos, denn es gibt keinen Frieden, der den Konflikt und den Streit nicht mitdenkt und mitspürt; und er wird gefeiert und geehrt mit eigenen Spielen, in denen es Wettbewerbe und Kämpfe gibt; in denen manchmal sogar Blut fließt. Aber ein jeder weiß, dass es ein Spiel ist; und dass die Kräfte, die Gewalten, die im Menschen manchmal über-mächtig werden, nach außen dringen müssen, aber es nur können: in einem geschützten Raum. In den Schulen aber wird die Geschichte des Friedens ebenso wie diejenige des Krieges gelehrt; und die Schüler und Schülerinnen lernen sich zu streiten und wieder zu vertragen, zu diskutieren und sich zu einigen. Die menschliche Natur ist und bleibt eine gewalttätige; und sie ist und bleibt eine friedliche. Wer aber in diesem ewigen Kampf die Überhand gewinnt, welcher euer besserer Engel ist – das könnt ihr lenken und beeinflussen, so habt ihr gelernt.

Auch deine Nachfahren leben nun, so sagte der Engel zu Ahab, in diesem Zustand eines zwar immer bedrohten, aber doch lange schon bewährten Friedens – mit sich selbst, mit den Mitmenschen, aber auch den Tieren und der Natur eures gemeinsamen Planeten. Sie bedenken nun die Folgen ihres Handelns für kommende Generationen; sie sind vorsichtig und rücksichtsvoll geworden, und sie üben sich in der wichtigsten Tugend des Menschen überhaupt: dem Halten des richtigen Maßes. Sie machen noch Fortschritte – denn das liegt in der Natur des Menschen als eines Wesens, das sich selbst steigern will –, aber nicht mehr um jeden Preis. Sie haben gelernt, gelegentliche Rückschritte als notwendig und gut zu akzeptieren und auf den Verzicht ebenso stolz zu sein wie auf den Erfolg. Und nach wie vor brauchen sie – uns, ihre Engel; aber wir wandeln uns mit ihnen und in ihnen….


GRUNDSÄTZE FÜR DEN TEMPEL DES EWIGEN FRIEDENS

 

Der Jahreswechsel lag nun schon einige Tage zurück, und ich machte wieder eine kleine Reise. Im Museums-Shop der Alten Pinakothek sprang mich ein kleines gelbes Reclam-Bändchen an, als würdiger Abschluss meines weihnachtlichen Friedens-Projekts, das so unerwartet seine Grenzen gesprengt hatte: „Goethe und der Frieden“ hieß es, und es versammelte und verband nicht ungeschickt bunte Auszüge aus Goethes Werken, den Dramen wie den Gedichten und Briefen. Vor allem aber entnahm ich ihm ein Briefwort Goethes, er schrieb es an Herder aus Italien nach einer relativ unblutigen Rekapitulation der Vereinigten Niederlande gegenüber den Preußen:

ICH BIN EIN KIND DES FRIEDENS, UND WILL FRIEDE HALTEN FÜR UND FÜR,
MIT DER GANZEN WELT, DA ICH IHN EINMAL MIT MIR SELBST GESCHLOSSEN HABE.

Das schien mir ein Satz zu sein, der es verdiente, in goldenen Buchstaben auf einem Tempel des Ewigen Friedens geprägt zu werden! Und gleich daneben die zwei Sätze, die mich ebenfalls geleitet hatten auf diesem holprigen Weg durch die Geschichte des Friedens. Nämlich zum Ersten ein Satz von Willy Brandt, auch dieser ein Muster an statuenhafter Einfachheit bei gleichzeitiger inhaltlicher Komplexität:

FRIEDEN IST NICHT ALLES, ABER OHNE FRIEDEN IST ALLES NICHTS.

Und zum Zweiten eine etwas längere englische Passage, die aber ebenfalls in eine Maxime endet, die nicht behauptet, dass der Frieden kostenlos und einfach zu haben sei, sondern klarmacht, dass eben dieser Preis zu bezahlen ist, unter allen Umständen:

There lies before us, if we choose, continual progress in happiness, knowledge, and wisdom. Shall we, instead, choose death, because we cannot forget our quarrels? We appeal, as human beings, to human beings: Remember your humanity, and forget the rest. If you can do so, the way lies open to a new Paradise; if you cannot, there lies before you the risk of universal death. (The Russell-Einstein-Manifesto)

oder kurz: 

GEDENKE DEINER MENSCHLICHKEIT – UND VERGISS DEN REST!

 

ANHANG 

 

Engel, Gattungsbezeichnung für himmlische Wesen in menschlicher Gestalt, erkennbar meist an Übergröße und Ausstattung mit Flügeln. Vom Menschen unterscheiden sich durch ihre Immaterialität. Engel haben eine Mission, die gleichzeitig ihr Wesen definiert: Sie erledigen Botendienste für eine ihnen übergeordnete Gottheit; das bedeutet auch angeloi, griechisch für: der Abgesandte. Über ihre Anzahl weiß man nichts Genaueres (der Bibel zufolge sollen es Millionen sein). Lediglich einige sind namentlich bekannt, nämlich die Erzengel (vor allem Michael und Gabriel); „Erz“ leitet sich dabei ab von griech. arche für den Anfang, den Ursprung. Als Gattung immaterieller Wesen sind sie logischerweise nicht vom Aussterben bedroht. Und trotz des Fehlens jeglicher greifbarer Weise für ihre Existenz sind sie im kollektiven Bewusstsein der Menschheit so tief verankert, dass sie selbst in der metaphysisch wenig begabten Moderne beinahe allgegenwärtig sind: In Umfragen zeigt sich regelmäßig, dass mehr Menschen an Engel glauben als einen ihnen logisch und hierarchisch übergeordneten Gott. Lyrikfreunden mag zudem eine Rilke-Zeile im Kopf spuken, sie lautet: „Ein jeder Engel ist schrecklich“ und stammt aus den Duineser Elegien, wo überhaupt ziemlich viel von Engeln die Rede ist. Aber warum sind und bleiben Engel so allgegenwärtig? Und worin liegt, wenn wir Rilke ein wenig nachsinnen, ihre Schrecklichkeit? Das betrachten wir in der folgenden kleinen Angelologie (der Fachterminus für: Engelkunde) nacheinander für vier verschiedene Bereiche: Religion, Philosophie, Volksglauben und Kunst.

Im religiösen Bereich finden wir Engel vor allem in den monotheistischen Varianten (also Judentum, Christentum, Islam); der Polytheismus hat dafür funktionsäquivalente Halbgötter. In den Religionen sind Engel zum einen himmlische Postboten: Sie bringen (gute oder schlechte) Botschaften, wie beispielsweise Maria die Ankündigung der Geburt des Herrn durch ihren unschuldigen Leib. Als sie den Hirten auf dem Felde dann davon berichten, dass diese Geburt nun tatsächlich eben gerade in der Nachbarschaft stattgefunden hat, leiten sie das rhetorisch nicht ungeschickt ein mit dem Appell: „Fürchtet euch nicht!“ – denn ihr plötzliches, reales Erscheinen ist, nicht nur für Hirten auf dem Felde und unschuldige Jungfrauen, eben: fürchterlich. Engel sind, zum Zweiten, himmlische Herolde: Sie preisen göttliche Weisheiten und singen generell das Lob ihres Arbeitgebers. Und zum Dritten sind sie als himmlische Heerscharen auch die schnelle Einsatzgruppe Gottes, die notfalls ihre Schrecklichkeit mit Flammenschwertern demonstrieren kann (z.B. als Sicherheitsdienst für das den Menschen für alle Ewigkeit verschlossenen Paradieses). Im Islam gibt es darüber hinaus einen speziellen Todesengel namens Azrael, der die Seelen Verstorbener ins Jenseits überleitet. Eine Besonderheit des jüdischen Engelglaubens hingegen ist, dass die Engel dem Menschen hierarchisch untergeordnet sind, Begründung: Sie haben im Gegensatz zu den Menschen keinen freien Willen! Deshalb sind sie auch logischerweise eifersüchtig auf die Menschen, diese verzogene Lieblingsschöpfung Gottes! Eine Sonderrolle spielt zudem Luzifer (der „Lichtbringer“), der gefallene Engel, der nun mitsamt seinen Anhängern über die Hölle herrscht. Seine Existenz ist eher apokryph überliefert, aber offensichtlich ein Narrativ, das verführerisch genug ist, um bis heute Epen (John Milton, Paradise Lost; Goethe, Faust) wie TV-Serien (Lucifer Morningstar) und einen satanischen Anhänger-Kult zu inspirieren. Für alle aufrührerischen Geister ist dieser ursprüngliche Lieblingssohn Gottes eine gern benutzte Identifikationsfigur.

Auch die Philosophie, und damit kommen wir zur zweiten Region des geistigen Engel-Habitats, benutzt gern die Denkfigur des gefallenen Engels: Sie bietet nämlich eine wunderbar anschauliche Begründung für die Entstehung des Bösen und beantwortet damit eine der Grundfragen der Moralphilosophie. Die Metaphysik insgesamt beschäftigt sich gern mit Engeln: Für Aristoteles und Generationen seiner Anhänger sind sie denknotwendige zweite Beweger der Himmelssphäre (Gott hat sie als erster Beweger nur geschaffen), also sozusagen himmlische Mechaniker; oder, für den mittelalterlichen Denker Moses Maimonides beispielsweise, verkörperte Naturgesetze. Daneben entwickelt sich, ausgehend von der etwas zwielichtigen Gestalt des Pseudo-Dionysios Areopagita (6. Jh. n.Ch.), die Idee einer komplizierten himmlischen Hierarchie mit verschiedenen Stufen und ihnen zugeordneten unterschiedlichen Funktionen bzw. Kompetenzen (man kann sich das durchaus als Himmels-Bürokratie vorstellen). Thomas von Aquin nahm diese Theorien auf und macht sie metaphysisch sattelfester durch die These, dass Engel spezifische Wesen ohne jede Substanz seien, die nur aus ihrer eigenen inneren Form bestehen – was fortan dazu dienen konnte, sowohl die Existenz einer unsterblichen Seele als auch diejenige einer intuitiven Erkenntnis zu beweisen (den Syllogismus dazu darf sich jede selbst basteln). Anthropologisch interessant war zudem seit jeher die Idee, dass der Mensch auf einer Art erweiterter scala naturae et supernaturae dasjenige Wesen ist, das zwischen Engel und Tier steht; in der vielzitierten Formel des aufklärerischen Dichters, Mediziners und Naturforschers Albrecht von Haller: „Du unselig Mittelding von Engeln und von Vieh!/ Du prahlst mit der Vernunft, / und du gebrauchst sie nie“. Welches biologische Geschlecht ein Engel schließlich haben könne – überlassen wir einer noch zu schreibenden feministischen Metaphysik.

In Mythologie und Volksglauben sind Engel Dämonen (griech. daimonion) bzw. gute Geister (lateinisch genius). Sie sind jedem einzelnen Menschen als Schutzengel zugeordnet und wachen über sein Schicksal. Sie können auch, als genius loci, einem Ort seinen good vibe geben. Offensichtlich ist diese Vorstellung des persönlichen Schutzengels für Menschen jeglicher Herkunft und Zeit so attraktiv, dass selbst Ungläubige ihr heimlich gern frönen: Wenn Gott schon tot ist, die Eltern einen verraten haben und alle Ideale mit zunehmendem Alter unter starken Abnutzungserscheinungen dahinsiechen, möchte man wenigstens eine ganz eigene, nur für einen selbst bestimmte Quelle von Kraft, Glauben, Zuverlässigkeit und Heil in einem ganz umfassenden Sinn haben! Ein solcher Engel ist, per definitionem, nicht schrecklich; er neigt eher zur Niedlichkeit, wie putzige Engelfiguren allerorten zeigen. Ein Schutzengel ist einfach – ein schöner Gedanke. Es gibt entschieden zu wenig davon in dieser Welt des Schreckens.

Deshalb, und damit kommen wir zum vierten und letzten Gebiet unserer kleinen Engelkunde, liebt auch die Kunst den Engel. Sie hat ihn frühzeitig mit Flügeln ausgestattet, was seiner Erkennbarkeit dient, aber gleichzeitig Raum für experimentelle Gestaltungsweisen bietet. Engel in der bildenden Kunst sind entweder übergroße Flügelwesen in voller Jugendblüte und -schönheit, die meist androgyn anmuten (was die heikle Geschlechterfrage umgeht bzw. auf eine interessante Art beantwortet). Die Verkündigungsengel gehören ebenso wie die mittelalterlichen lächelnden Engel an gotischen Kirchenportalen zu den hinreißendsten Gestaltungen (über-)menschlicher Schönheit überhaupt. Oder sie sind niedliche Kinderengel – als Putten (von lateinisch putellus, Knäblein) flattern sie um Barockaltäre oder schauen besinnlich-neckisch von Raffaels berühmter und milliardenfach reproduzierter Sixtinischen Madonna (die Darstellung leitet sich übrigens von der des geflügelten eros in der Antike ab, eine christlich etwas zweifelhafte Verwandtschaft also). Putten können schrecklich niedlich sein; aber zweifellos sind sie eine Inkarnationsform des Engels, die massentauglicher ist als der im Wortsinn schreck-liche große Engel der Verkündigung oder des Todes. Lange Zeit wurden übrigens auch Frauen gern mit Engeln verglichen; im 18. Jahrhundert waren besonders hübsche und gleichzeitig besonders tugendhafte (und möglichst: junge) Frauen eben „englische Wesen“, die platonisch angebetet werden konnten. Vom 19. Jahrhundert an vollzieht sich parallel dazu ein auffälliger Wechsel in der Engeldarstellung in der bildenden Kunst: Nun sind Engel häufig nicht mehr androgyn (meist mit einer Winzigkeit mehr Männlichkeit), sondern eindeutig weiblich – und damit deutlich weniger schrecklich als vielmehr: zunehmend erotisch verführerisch.

Bei Rilke schließlich, dem lyrischen Angelologen schlechthin, finden sich Engel von den frühesten Anfängen bis zu den allerspätesten, reifsten Gedichten seines lyrischen Gesamtwerks. Die anfangs zitierte Wendung leitet seine Duineser Elegien ein, entstanden zwischen 1912 und 1922 und mit inspiriert vom genius loci des Schlusses Duino, gelegen auf einem schroffen Felsen am Golf von Triest. Sie verdient es, ihrer Schwerverständlichkeit zum Trotz, in ihrem gesamten Kontext zitiert zu werden: „Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel / Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme / einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem / stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts / als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, / und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, / uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich“. Man sieht, dass Rilke die Engelliteratur kannte (der Engel Ordnungen); und man spürt vielleicht in den harten Zeilensprüngen sprachlich ein Nachbeben der Erschütterung heraus, die die Engelerscheinung seit jeher begleitet.

Was jedoch hat die Schrecklichkeit des Engels mit der Schönheit zu tun? Oberflächlich könnte man das lesen als ästhetische Metaphysik – eine von vielen Theorien des Schönen in der modernen, entschieden nicht-mehr schönen Kunst: Schönheit muss in gewisser Weise – furchterregend, erschütternd, bedrohlich sein (früher nannte man das „erhaben“, es war aber nicht das Gleiche). Nur so kann sie, so könnte man weiterspekulieren, der Schrecklichkeit der modernen Welterfahrung, ihrer abgrundtiefen Furchtbarkeit gerecht werden. Aber wie bei jedem Gedicht sollte man zunächst versuchen, so bodennah wir nur irgend möglich zu lesen, bevor man sich in die vermeintlichen Höhen der „Interpretation“ hinaufschwingt. Engel also lösen durch ihr plötzliches Erscheinen in der Sphäre der Realität einen tiefen, einen existentiellen Schrecken auf: Von ihm wird Maria erfasst, als der Verkündigungsengel sie „heimsucht“, von ihm werden die Hirten auf dem Felde geschüttelt, deren Horizont wahrscheinlich wenig über ihre Herde hinausging (das war in Ordnung. Sie waren Hirten). Schreck-lich: Wann erfahren wir in unserem vollkaskoversicherten Alltag noch eine abrupte Erschütterung aller vermeintlichen Gewissheiten, ein Stillstehen der Welt in einem Atemzug, gefolgt von Wellen der Furcht und des Überwältigt-Seins? Sein aber, menschliche Existenz in ihrer stärksten Form, davon ist Rilke zu diesem Zeitpunkt überzeugt, ist: Schreckliche Erfahrungen machen zu müssen – Schmerz, Krankheit und Tod ebenso wie Trennung, Verrat, Gewalt. Man kann ihnen nicht entgehen, und man soll ihnen nicht entgehen als Mensch. Sie haben ihre eigene – Schönheit, eine Erfahrungstiefe, ein Gestaltungspotential. Deshalb ist Schönheit, nicht nur, aber auch: Schrecklichkeit; aber in einer versöhnenden, dem Menschlichen geneigten, eine furchtbare Botschaft schonend vermittelnden Form (Du musst sterben. Du wirst leiden. Die Liebe währt nicht ewig). Kunst in diesem Sinne ist: ein Lobpreis des Schreckens als spezifisch menschlicher Erfahrungsform. Wer so erschrecken kann – wer, Goethe würde vielleicht sagen: erschreck-bar ist –, der kann etwas vom Leben verstehen, und nicht nur von der Kunst. Sie ist nämlich, genau wie der Engel: im Wesentlichen eine Botschaft, in eine spezielle Form der Erscheinung gegossen.

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