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Im Zug

LEIDENSGESCHICHTEN

Die beiden Männer im morgendlichen Pendlerzug nach Stuttgart hätten man auf den ersten Blick für Schwaben halten können. Sie wirkten wohlgepflegt und bodenständig, der eine war etwas jünger, der andere schon über das mittlere Alter heraus. Beim zweiten Blick waren ihre Gesten allerdings zu lebhaft; und natürlich sprachen sie, wenn man genau hinhörte, kein vernuscheltes Schwäbisch, sondern ein guttural rollendes Arabisch. Aber nur zwischendurch, denn die meiste Zeit wiederholten sie sich gegen-seitig Floskeln in kaum akzentuiertem Deutsch: »Wie geht es Ihnen heute?« »Was fehlt Ihnen?« »Wie kann ich Ihnen helfen?« »Was hat Ihr Hausarzt gesagt?« Ich schaute derweil in mein Smartphone und las auf Al Jazeera die neuesten Katastrophennachrichten aus der arabischen Welt. Plötzlich wendet sich der jüngere von beiden sehr freundlich an mich, »Entschuldigung«, sagt er, »ich habe eine Frage, vielleicht können Sie uns helfen?« Ich hoffe inständig, dass es nicht um eine medizinische Fachfrage handelt; aber nein, es geht um eine grammatische Frage, und woher soll er wissen, dass er sie sogar einer Fachfrau vorlegte, einer Germanistin nämlich, auch wenn sie es eher mit der deutschen Literatur als der Sprache zu tun hat, aber diese Feinheiten verstehen schließlich auch die wenigsten Deutschen. Die Frage ist, wie er nun sehr kompakt erläutert: Sage man richtig, man leide ›unter‹ oder man leide ›an‹ Kopfschmerzen? Bekanntlich führen gerade die einfachsten grammatischen Fragen dazu, dass sich im Gehirn ein großes Loch statt einer Antwort bildet, sobald man anfängt darüber nachzudenken. »Gute Frage«, sage ich also, auf Zeit spielend, und gebe dann die wenig hilfreiche Antwort: »Ich glaube, es geht beides!« Beide gucken unglücklich und murmeln, Deutsch sei aber wirklich schwierig. Der Jüngere jedoch lässt nicht nach, sondern sucht und findet sehr schnell ein zweites Beispiel: Ob man auch ›an‹ oder ›unter‹ Diabetes leiden könnte? »Nee«, sage ich, »eher nicht; man leidet eher an Diabetes«. Und dann, nach einer bemerkenswert kurzen Denkpause, sagen wir beide das Gleiche, wenn auch in etwas unterschiedlicher Formulierung: »Also leidet man ›an‹ einer Krankheit, aber ›unter‹ Schmerzen!« »Ja!«, sage ich, und wir freuen uns beide spontan: Wir haben zusammen nachgedacht und sind zu einem übereinstimmenden Ergebnis gekommen, das nicht wenig Sprachgefühl und Verständnis demonstriert, und wann passiert das schon, selbst unter Sprach- und Bundesgenossen. Er sah auch nicht so aus, als ob er an einem Flüchtlingsschicksal leide, auf den ersten Blick jedenfalls; aber wahrscheinlich leidet er, wenn keiner schaut, unter ihm.


DIE STIMME DER VERNUNFT

Der Regionalexpress war wieder einmal viel zu voll, und nur wenige Gespräche stachen aus dem grimmig schweigenden Pendler-Unmut hervor. In einer Vierer-Sitzgruppe am Fenster saß ein junger Mann, man war sich nicht ganz sicher, ob er noch Gymnasiast oder schon Student war. Er trug ein kariertes Hemd und Jeans, seine Haltung war etwas ungelenk, und er zappelte ganz leicht mit einem Bein – kein Tick, nur eine Spur zu viel Anspannung und Ungeduld, und bevor er noch den Mund öffnete, hätte man wetten könne, dass er ein wenig zu klug war, als für ihn gut sein konnte. Als er dann unvermittelt in eine Tirade über die Fehler beim Bau des Hauptstadtflughafens ausbrach, zu der sein Zuhörer schräg gegenüber nur dann und wann zustimmend nicken konnte, fielen oft Formulierungen wie: Man hätte! Man sollte wirklich! Die einzig vernünftige Lösung wäre gewesen! Ja, das wäre wirklich das einzig Vernünftige gewesen, echote sein Zuhörer etwas hilflos. In Cannstatt stiegen die beiden dann aus, und bevor sich die grimmige Stille wieder über das Großraumabteil senken konnte, platzte es aus einer lebenslustig aussehenden Rothaarigen mittleren Alters mit gelbem Reisekoffer heraus: Das glaube sie einfach nicht! Das könne doch nicht wahr sein! Offenbar wisse der junge Mann ja alles besser. Na, da könne man dem späteren Arbeitgeber ja nur viel Spaß wünschen mit so einem! Könne man denn nicht einfach über ganz normale Themen reden, so im Zug, wenn alle zuhören, ob sie wollen oder nicht? Alle hörten zu, der Nachbar nickte verständnisvoll. Sie war ja nicht böse dabei, sondern eben eine lustige Person, die sicher gern über ganz normale Themen mit ihren gelegentlichen Mitreisenden sprach, wenn die Stimmung besser war als heute. Sie konnte nur offensichtlich diesen altklugen Typ nicht ab, der sich einfach so zur Stimme der Vernunft gemacht hatte und mit der ganzen Weisheit seiner achtzehneinhalb Jahre die Architekten, Bauherren und Politiker der Hauptstadt abkanzelte. Allerdings war das, was er gesagt hatte, bei näherem Nachdenken ganz vernünftig gewesen; sicherlich, ein wenig jugendlicher Größenwahn klang mit, aber er hatte die verfahrene Situation selbst ana-lysiert und sich ein Urteil gebildet, das nach gesundem common sense klang. Eigentlich war sogar ein origineller Gedanke dabei gewesen: Man solle doch, so meinte er, diejenigen, die es beim ersten Mal verbockt hätten, durchaus noch ein zweites Mal zum Zuge kommen lassen; die wüssten wenigstens schon, welche Fehler man wirklich vermeiden sollte! Das war viel Weisheit für achtzehneinhalb Jahre – aber dann doch nicht genug, um zu wissen, dass man die Stimme der Vernunft nicht ungestraft erheben soll in einem überfüllten Regionalexpress, ohne gefragt worden zu sein.


DIE FAHRT NACH HIMMELSLEITER

Es war am nicht mehr ganz frühen Morgen, die Pendlerwelle war schon durch, und der Fahrkartenautomat verlangte wieder ein-mal, man solle passend bezahlen. Während ich noch das Kleingeld für das Ticket nach Stuttgart zusammensuche, kriecht mir von links hinten ein dezenter Alkoholgeruch über die Schulter. Er gehört zu einem nicht unsympathisch wirkenden älteren Mann mit einem lustigen Vollbart, er sieht etwas obdachlos aus, und er fragt mich freundlich, wie der Automat denn funktioniere. Wo er denn hinwolle, frage ich zurück, und er antwortet: »nach Himmelsleiter«. Es ist nur ein dezenter Alkoholgeruch, also gebe ich folgsam auf der Tastatur ein: H - I - M -, und schon erscheint ›Himmelsleiter‹. »Wo ist das denn?«, frage ich belustigt und werde belehrt, es sei bei Zuffenhausen. Und er habe nur 2,80 Euro, aber das würde doch sicherlich reichen? »Sicherlich nicht«, sage ich, drücke auf die Taste und als Fahrpreis erscheinen 5,80 Euro. »Oh«, sagt er betreten. Wie weit käme er denn wohl mit 2,80 Euro? Bis Esslingen vielleicht, schätze ich; auch ganz schön, aber natürlich nicht Himmelsleiter. Da könne er ja von hier aus hinlaufen, sagt er empört. Ich kratze weiter mein Kleingeld zusammen, wundersamer Weise sind es gerade drei Euro, die ich ihm in die Hand drücke und sage: »Für eine Fahrkarte. Nach Himmelsleiter. Gute Fahrt!« Er schaut gerührt, faltet sanft die Hände vor der Brust, verbeugt sich leicht und sagt ganz leise: »Danke, Schwester!« Ich habe nicht zurückgeschaut, ob er die Fahrkarte gekauft hat, der verspätete Regionalexpress fuhr auch gerade ein. Aber jeder sollte sich eine Fahrkarte nach Himmelsleiter kaufen können. Nach Esslingen kann man immer noch zu Fuß gehen.


ZIVILISATION IST NICHT IMMER NETT

Der ICE war ziemlich voll, obwohl es Mittwoch war. Schulklassen nach Berlin, wagenweise durchnummeriert. In einem Abteil waren noch zwei freie Plätze; vier Frauen saßen dort, mittleren Alters, gut gepflegt, zurückhaltend gekleidet, zwei waren Ärztinnen auf einem Weg zu einer großen Fachtagung in Berlin, eine Lehrerin, noch eine Wissenschaftlerin. Sie lasen, unterhielten sich leise und schoben rücksichtsvoll ihre Sachen zusammen und ihre Beine unter die Sessel, als die ältere Frau, leicht schnaufend unter ihrer Korpulenz, mit ihrer abgeschabten Reisetasche sich hineindrängte: Sie habe den Platz reserviert, den freien dort am Fenster, es klang berlinerisch gefärbt. Sie stand ein wenig zu lange im Weg, während eine der anderen Frauen einen Platz für die alte Reisetasche auf der Gepäckablage freimachte und sie hinauf bugsierte. Als sie dann endlich auf ihrem reservierten Platz saß, sagte sie in die Runde: »Sie wissen ja nicht, was ich erlebt habe, auf der Herfahrt, fragen sie bloß nicht!« Die vier jüngeren Frauen guckten flüchtig hoch, um sich dann umso tiefer in ihre Bücher und Unterlagen zu verkriechen, in der sehr richtigen Befürchtung, auch ohne Frage würden sie wohl eine Antwort bekommen. Tatsächlich, nach einer etwas zu langen Pause, kam die Geschichte: Sie sei ja nicht der Typ, der sich aufregte und beschwerte, nee, sie janz jewiss nicht! (in immer energischerem Berlinerisch), aber da sei doch eine Mutter gewesen, mit drei Kindern, die habe das ganze Abteil für sich haben wollen! Und dabei habe sie selbst doch schon Monate, Mo-na-te! vorher reserviert gehabt. Niemand sah hoch. Natürlich hörten alle zu, was sollte man denn tun? Aber sie habe einen Schaffner geholt, der habe die Frau mit den Kindern dann weggeschickt, noch nicht einmal einen richtigen Fahrschein habe die gehabt! Nach einer weiteren viel zu langen Pause murmelte die Lehrerin, die es als erste nicht mehr aushielt: Ja, so etwas kommt vor. Die anderen hielten sich an ihren Büchern und Tagungsprogrammen fest, sehr zivilisiert, und schwiegen hochdeutsch. Sie waren kluge Frauen und wussten, dass jede Antwort mit Sicherheit einen weiteren berlinerischen Redeschwall ausgelöst hätte, und für einige von ihnen war die Fahrt noch lang. Natürlich hatte die Frau Recht, was sollte man schon sagen; und natürlich sind Bahnfahrten mit drei Kindern, ob mit oder ohne Fahrkarte, für keinen ein Vergnügen. Aber auch nicht mit korpulenten Berlinerinnen, die sich ja nicht beschweren wollen. Das Schweigen wurde schwer und lastete auf dem Abteil bis zur nächsten Station, als die ersten erleichtert ausstiegen. Zivilisation ist nicht immer nett.

VON VÄTERN, MÜTTERN UND PATZIGEN PATENTANTEN

Der ICE war, mal wieder, vor der Einfahrt nach Stuttgart stehengeblieben. Die Menschen stauten sich schon mit ihrem Gepäck in den Gängen, etwas ungeduldig von einem Fuß auf den anderen tretend, und aus dem Familienabteil quollen Kleinkinder, vier Stück, mit zwei Müttern dazu. Und irgendwie war man nun ausgerechnet in dieser Warteposition vor aller Ohren auf die Frage gekommen, warum die zwei Kinder, die zu der einen, jün-geren Mutter gehörten, verschiedene Väter hätten. Denn das hätten sie, gab sie fröhlich zu, das eine sei der Uwe und das andere der Klaus, und die beiden Blondschöpfe nickten von unten dazu. Eines der Kinder aus der anderen Familie fragt leicht verunsichert, wie das denn möglich sei, man könne doch nicht zwei Papas haben! Oh doch, erläuterte die junge Mutter leichtherzig, das sei sozusagen das normalste der Welt. Erst habe sie nämlich den Uwe gemocht und mit ihm den einen Blondschopf bekommen, und dann sei sie mit dem Uwe nicht mehr so gut klarge-kommen, man habe sich einfach nicht mehr richtig verstanden, und dann sei eben der Klaus gekommen und sie habe mit ihm das zweite Kind gemacht, beide Blondschöpfe nickten wieder cool dazu. Ach so, sagte das andere Kind, etwas verunsichert, und man konnte sehen, wie es in seinem unschuldigen Kopf arbeitete: Das Ganze war also in etwa so, wie wenn man sich ein falsches Kleid kaufte, und dann trug man es einen Tag, und am nächsten mochte man es halt nicht mehr und kaufte sich ein neues. Oder ein neues Spiel, heute noch das Tollste für immer und morgen der Schrott von gestern. So war das also mit den Vätern auch, heute hießen sie Uwe, und morgen Klaus, und wie es im Einzelnen dabei zugehen mochte, darüber dachte man besser nicht lange nach; man hatte ja auch gerade selbst die BFF gewechselt, es hatte kurz ein wenig weh getan, und dann war es vorbei. Wer brauchte schon Väter, wenn man heute einen Uwe und morgen einen Klaus (und übermorgen eine Samenbank) haben konnte? Väter, waren das nicht sowieso diese Männer-Monster (die man neuerdings auch ›toxisch‹ nannte), die seit Anfang der Dinge meinten, über Frauen und Kinder herrschen zu können? Die ewig zu viel arbeiteten, ihre eigene Familie überhaupt nicht kannten und die man eigentlich nur brauchte, wenn die Mama meinte, allein nicht energisch schimpfen zu können: Das sag ich aber deinem Vater, du! Ach, wenn das alles nur so einfach wäre. Ist es aber nicht. Selten hatte mir das Patriarchat so leidgetan.

Im Regionalexpress eine Stunde später saß ein Mädchen in einem orangefarbenen Tüllkleid, sie mochte etwa neun oder zehn Jahre alt sein. Sie war mit zwei anderen Frauen zusammen unterwegs. Neben ihr saß ein gefühlt 17jähriges Mädchen, wohl ihre Schwester, die dritte im Bunde war eine etwas fülligere Frau mittleren Alters, eine Art Patentante, und man war in Stuttgart zusammen shoppen gewesen. Die Mutter war jedenfalls nicht dabei, das ergab sich aus dem Handy-Gespräch, das die Kleine mit dem Tüllkleid den Tränen nah gerade führte: Sie sei nämlich in Stuttgart mit dem neuen Kleid in einen Brunnen gefallen, berichtete sie, alles sei pietschnass, auch die Schuhe, und sie fühle sich so – die Patin nahm ihr das Handy ruppig aus der Hand. Sie solle nicht so heulen, das interessiere die Mama doch gar nicht, schließlich sei man zusammen in Stuttgart gewesen und habe ein tolles Kleid gekauft, sie persönlich habe es ihr gekauft, es sei ein sehr ordentliches Kleid und nicht billig gewesen, da gebe es doch wohl keinen Grund zum Heulen? Das Tüllkleid schluchzte trotzdem noch ein wenig. Es sah, um ehrlich zu sein, nicht so aus, als wollte es ein Tüllkleid tragen; bei genauerem Hinsehen sah man vielmehr, dass die Patin schon immer von genau diesem Tüllkleid geträumt hatte, schon seit sie ein Kind war, und es hatte sich niemals ergeben, sie war wahrscheinlich schon damals auf der pummeligen und burschikosen Seite gewesen, keine Traumprinzessin. Das Kleid war aber wirklich feucht, die Schuhe auch, es fühlte sich wahrscheinlich einfach Scheiße an, damit jetzt in einem überhitzten Regionalexpress zu sitzen, und nachher würde noch die Mama schimpfen … Jetzt begann auf einmal auch noch die ältere Schwester zu heulen, entweder es waren Hormone oder das Elend der Welt in überhitzten Regionalzügen oder Neid auf das Tüllkleid, wer weiß das schon! (die Schwester übrigens hätte das Tüllkleid tragen können und wollen, ganz sicher, sie war der Typ Märchenprinzessin mit Wespentaille, wenn auch vielleicht etwas erbsenhaft). Jedenfalls saß sie nun still schluchzend neben dem Tüllkleid. Das Tüllkleid hinge-gen hatte aufgehört zu schluchzen, und dann sagte es ganz sanft und sehr erwachsen und nicht ein Spürchen patzig zu seiner großen Schwester: »Es tut mir ganz arg leid, wenn ich etwas gesagt habe, dass dich verletzt hat« (sie sagte es wirklich hochdeutsch und ausformuliert und völlig dialektfrei und noch nicht einmal wehleidig)! »Sag mir doch bitte, was habe ich denn Falsches gesagt?« Die ältere Schwester schluchzte in ihr perfektes Dekolleté über dem engen ärmellosen T-Shirt. Vorher hatte man übrigens darüber diskutiert, dass sie nun bald von zuhause wegziehen würde, und das Tüllkleid hatte erstaunt gefragt, warum die Schwester denn von der Mama weggehen wolle? Daraufhin hatte sie einen vereinten Vortrag von Schwester und Patin darüber erhalten, dass das der natürliche Gang der Dinge sei und dass ganz sicher auch sie selbst, wenn sie denn alt genug sei – wie alt, fragte das Tüllkleid wieder sehr sachlich? – ach, alt genug eben, dann würde auch sie ausziehen wollen, und ganz bestimmt, wenn sie erst einmal einen Mann habe, der wolle doch sicher nicht mit ihr bei ihrer Mama wohnen! Das Tüllkleid versuchte sich das wohl vorzustellen, fragte auch noch mal wegen des Alters und des Mannes nach, aber irgendwie schien es ihr nicht recht einzuleuchten; der Eindruck verdichtete sich, dass sie jetzt wirklich sehr gern zu ihrer Mama zurück nach Hause wollte, Tüllkleid hin oder her, und ein Tag war genau das Maß Trennung von der Mama gewesen, das sie sich vorstellen konnte. Vielleicht war das auch eher der Grund für das leise Weinen gewesen, und das Tüllkleid und die Brunnenkatastrophe waren nur ein Auslöser? Und konnte es denn wirklich sein, dass die Schwester und die Tante gar nichts davon verstanden hatten, sondern immer nur von tollen Kleidern und dem nächsten Shopping und Ausziehen und Selbständig-Sein und einen Mann finden redeten, Dinge, die so weit an ihr vorbeigingen wie der Mond und orangefarbene Tüllkleider? Sie wollte zu ihrer Mama und ein trockenes Kleid, das hätte sie sehr schön gefunden, sie hatte auch ein wenig Hunger. Aber nun weinte die ältere Schwester immer noch, sie hatte kein Wort auf die doch sehr höfliche und mitfühlende Frage gesagt, sondern nur still weiter geweint. Da griff das Tüllkleid zur letzten Waffe: »Soll ich mal einen Witz erzählen«, fragte sie? Und als sie, wie zu erwarten, keine Antwort bekam, begann sie Witze zu erzählen. Sie konnte das nicht besonders gut, es waren auch keine besonders guten Witze, die Pointen waren entweder schwerverständlich oder unterwegs verlorengegangen, und niemand lachte. Was nur dazu führte, dass sie immer mehr, immer schneller Witze erzählte, sie kullerten geradezu aus ihr heraus. Man musste doch auf die Großen aufpassen, mit ihren komischen Ideen und ihren komischen Problemen, dachte sie wahrscheinlich, sie sah ein wenig klüger aus als die Erbenprinzessin und die Möchtegern-Prinzessinnen-Tante. Man musste sie halt ein Kleid für einen kaufen lassen, auch wenn man es wirklich nicht mochte und es kratzte, vor allem, wenn es nass war. Und dann wollte man eigentlich nur noch heim und seine Ruhe, aber dann musste man sie auch noch trösten für irgendetwas, das offensichtlich ganz grundlegend falsch gelaufen war. Wahrscheinlich war man halt schuld, was sollte man schon machen, einer musste ja schuld sein, einer musste die Verantwortung übernehmen über einen so gut gemeinten und am Ende völlig verkorksten Tag (dabei waren sie doch gar nicht in den Brunnen gefallen, sie, das Kind, war in den Brunnen gefallen!). Also wer, wenn nicht sie? War sie nicht immer schuld, wenn die Großen mal wieder ein Problem hatten? Und schnell erzählte sie noch einen Witz.

ERZIEHUNG IN ZÜGEN. VON RÜLPSERN, MEHDORN UND HARTZ IV

Nun bin ich schon ziemlich lang nicht mehr Zug gefahren, aber eines zumindest ist genauso geblieben: Man kann immer noch die wunderbarsten Erziehungsstudien in Zügen machen; noch dazu in überfüllten Zügen an überhitzten Wochenenden, wo die Nerven noch etwas blanker liegen als sonst schon.

Der erste Teil dieser Geschichte spielt in einer S-Bahn im Großraum Frankfurt; sie war gestapelt voll, unter anderem mit Fahr-rädern, Kinderwägen und sonstigen Gefährten, die das Ein- und Aussteigen wirklich nicht einfacher machen. Mir war gerade noch rechtzeitig eingefallen, dass mein Erste-Klasse-Upgrade für den ICE logischerweise das – einzige, winzige – Erste-Klasse-Abteil in S-Bahnen umfasst, das wie gewöhnlich vorn an der Zugspitze zu finden war. Dort also glücklich angekommen, teilte ich mir den sparsam bemessenen Platz mit zwei weiteren Früh- oder Schon-Rentnerinnen, jedenfalls solange, bis sich die Tür öffnete und ein Mann mittleren Alters, leger, aber nicht ungepflegt im Äußeren, hineinstürmte mit seinem Sohn; einem niedlichen Knaben mit einer Struwwelmähne und einem schelmischen Blick. Der Vater stieß als erstes einen laut vernehmlichen Stoßseufzer, zudem in unverkennbar österreichischem Dialekt aus, und zwar ungefähr so lautend, dass wenn jetzt jemand von diesen Deutschen Bahn – und das „Deutschen“ betont er sehr – ein Problem damit hätte, dass sie sich in die Erste Klasse setzten, nach all dem, was man heute mal wieder erlebt hätte, dann – der Satz blieb unausge-sprochen, aber der Tenor war klar. Nun teilten wir alle das Gefühl und sympathisierten durchaus; und obwohl der Mann ein T-Shirt mit einem dummen Spruch bedruckt trug, wirkte er zivilisiert genug, dass er wir ihm – und vor allem dem niedlichen Söhnlein – das Eindringen in unsere Frührentnerinnen-Enklave vergönnten. Sie ließen sich also nieder, und der Vater äußerte mehrfach gegenüber Sohni, dass er jetzt einfach fertig mit den Nerven sei, hier seit etwas zum Trinken (offenbar selbstgebrauter Früchtetee, den er selbst für außerordentlich wohlgeraten erklär-te), und nun – nun, fragte Sohni durchaus interessiert, warum das denn nun alles so schlimm sei mit der Deutschen Bahn, und in Österreich sei das doch irgendwie anders? Vater beschied ihn, dass es in Österreich die ÖBB gebe und noch diese oder jene Privatbahn, wie auch immer, aber eigentlich würde die ÖBB im Großen und Ganzen wirklich gut funktionierten; ja, das könne man durchaus so sagen! Auch damit hatte er, meiner Erfahrung nach, durchaus Recht; die grenznahen österreichischen Züge fuhren meist sauber, pünktlich und irgendwie auch mit einem angenehmen Vibe. Woraufhin Sohni mit einer gewissen Pfiffigkeit fragte, warum denn dann die österreichische Bahn nicht einfach die deutsche kaufte? Nun, das war eine Idee, die man auch hätte diskutieren können, und nicht ohne Verdienst; aber der Vater wollte lieber eine Schulddebatte führen. Er setzte nämlich zu einem längeren Vortrag darüber an, wie ein gewisser Herr Mehdorn – der danach auch noch den Berliner Flughafen ruiniert habe! – die Deutsche Bahn, einst ein stolzes und ebenfalls durch-aus funktionierendes Unternehmen, vor die Wand gefahren habe, über Jahrzehnte hinweg, indem man an allem gespart habe, um das Unternehmen an die Börse bringen zu können, und das würde sich nun rächen; nun habe man weder ein privatwirtschaftliches Unternehmen noch ein Staatsunternehmen, sondern eine Mischung mit jeweils dem schlechtesten beider Welten. In dem Vortrag – den ich hier gerafft wiedergebe, er wurde auch mehrmals mit kleinere Variationen wiederholt, und er ist ja nicht ganz falsch – kamen viele schwierige Wörter vor, und ich war mir auch nicht sicher, ob Sohni schon eine präzisere Idee von „Börse“ hatte; oder ob jetzt ein "Mehdorn" für immer als eine Art besonderer Dämon in seinem Kindergedächtnis wohnen sollte, der blühende Unternehmen zerstört. Aber dass Eltern über die Köpfe ihrer Kinder hinweg reden, ist nun nicht direkt neu, immerhin redete er überhaupt mit seinem Sohn – und zum restlichen Abteil, das zum Mithören verurteilt war, – und er gab auch insgesamt ziemlich wörtlich die medial abgesegnete Erklärung wieder für die Katastrophe, die seit einiger Zeit über Deutschlands Gleisanlagen und Bahnhöfe hereingebrochen ist (das Ganze ist allerdings doch ein wenig komplizierter). Nein, was ich besonders lustig fand, war, dass ihm dann immer wieder auffiel, dass er etwas gesagt haben könnte, was Sohni irgendwie – nun, nicht etwa nicht hätte verstehen können, sondern, viel schlimmer: hätte politisch falsch auffassen können! Deshalb schloss er jeweils nach Abschluss der Mehdorn-Tirade und einer kleinen, nicht unsympathischen Denkpause in deutlich gemäßigterem Ton einige Sätze darüber an, dass er durchaus der Ansicht sei, dass die Öffentliche Hand die Aufgaben der Daseinsvorsorge wie den Öffentlichen Nahverkehr bezahlen sollte, und zwar ordentlich; nein, das gehöre geradezu zu ihren Kernaufgaben. Auch das nicht falsch, im Gegenteil, aber woher sollte das arme Kind eigentlich wissen, was eine „Öffentliche Hand“ ist? Vor meinem inneren Auge sah ich eine gespenstische Hand, wie sie immer tiefer und tiefer in einen Säckel greift, ganz öffentlich, und alle schauen zu, und dann flugs! fahren die Busse und Züge wieder pünktlich und sauber und mit einem netten Vibe, ganz wie in Österreich! Also jedenfalls dann, wenn man auch – das war das zweite Credo, was an dieser Stelle mehrfach, ich bin geneigt eine Plattitüde zu benutzen: gebetsmühlenartig wiederholt wurde: endlich kompetente Leute einstellen würde! Nun ist der Wunderglaube an „kompetente Leute“ zwar genau das, was Mehdorn und Konsorten hervorgebracht hat, aber wie auch immer – was würde das Kind nun von dieser Lektion mitnehmen?

Diese Frage beschäftigte mich, während wir in Bad Vilbel stehen blieben, weil ein anderer Zug überholen sollte; offensichtlich war es der Zug, in dem Vater und Sohn eigentlich hätten sitzen sollen, aber jemand in Frankfurt hatte ihnen wohl unsinnigerweise geraten, die S-Bahn zu nehmen. Das verbesserte Vaters Laune nicht direkt, Sohni aber hatte inzwischen Spaß daran gefunden, zu rülpsen (hatte der Früchtetee aus dunklen Gründen Kohlen-säure?). Vater verbot ihm zu rülpsen und wies anschließend da-rauf hin, dass er soeben ganz leise gerülpst habe, das gehe doch; Sohni rülpste laut, um zu zeigen, dass es auch anders gehe, und Vater bat recht herzlich darum, jetzt nicht alle Rülpsvarianten vorzuführen, er sagte es aber so, dass das Wort „rülpsen“ gefühlt zehnmal im Satz vorkam, weil es nämlich großen Spaß macht das Wort „rülpsen“ zu sagen. Sohni rülpste ganz leise und schlug dann vor, Karten zu spielen. Sie spielten eine Art Auto-Quartett, das haben wir damals beim Bahn- oder Autofahren auch häufig gemacht; aber Vater musste aus lauter schlechter Laune gnadenlos gewinnen, was nicht so schwer war, weil Sohni wohl noch nicht recht verstanden hatte, wann ein Auto eher schwer ist oder her schnell oder viel Hubraum hat, sondern eher willkürlich etwas erbärmliche Zahlen nannte und immer verlor. Aber dafür hatte er ja gelernt, dass es eine Öffentliche Hand gab, und eine Börse, an die man „gehen“ konnte, und dass die Österreichische Bundesbahn einfach besser ist als die Deutsche Bahn; vielleicht würde man ja demnächst mal eine Art Bahn-Weltmeisterschaft machen, und dann würden die Österreicher aber gewinnen!

Der zweite Teil der Geschichte ist ganz kurz. Es war in Stuttgart, ich musste umsteigen, auf dem überfüllten und sowieso chronisch baustellengeschädigten Hauptbahnhof war ein Wolkenbruch niedergegangen, überall standen tiefe Pfützen, und die Leute drängten sich noch mehr als in Frankfurt vor dem Regionalexpress nach Tübingen, der mal wieder eher als Viertel- denn als Vollzug einfuhr. Ich ging schnurstracks in die – ebenso sparsam bemessene – Erste Klasse, der ganze Zug war aus dunklen Gründen auf Kühltruhe eingestellt, und holte meinen Pullover raus. Erst blieb ich allein, dann kam eine Durchsage einer freundlichen Zugbegleiterin, die angesichts der außergewöhnlich hohen Zahl von Passagieren die Erste Klasse für alle freigab. Natürlich kamen nur die durch, die sowieso schon ganz vorn standen, und das war nun eine Hartz-IV-Familie wie aus dem Bilderbuch; zwei Genera-tionen, es war nicht genau klar, welche der kleineren Kinder zu welchen Vätern oder Müttern gehörten; aber das Zentrum waren Mutter und Tochter, beide ziemlich jung, schwarz gekleidet, durchnässt und ausgiebig tätowiert. Die Kinder benahmen sich eigentlich fast ordentlich dafür, wie elend das Wetter war und dass sie wahrscheinlich einen anstrengenden Shopping-Tag hinter sich hatten; aber die Unterhaltung war doch etwas befremdlich darauf ausgerichtet, wie man die zukünftige Wohnsituation am besten darauf einrichten sollte, um möglichst viel Geld vom Staat zu bekommen. Zum Glück habe ich ja keine Vorurteile, sonst hätte ich aus ihnen womöglich mal wieder Urteile machen können. Und immerhin musste ich mir hier keine väterlichen Vorträge über das unternehmerische Versagen der Deutschen Bahn anhören. Ein kleines Rülpskonzert zwischendurch wäre aber eigentlich ganz lustig gewesen.

ODE AN DIE ROLLTREPPE

Seit ungefähr einem Jahr ist die Rolltreppe an Gleis 2 im Freiburger Hauptbahnhof kaputt. Das klingt nun wie ein völlig belangloses Detail, oder die Einleitung zu einer Jammertirade über den beklagenswerten Infrastruktur-Zustand der reichen Republik. Aber ich finde es wirklich, wirklich blöd, dass die Rolltreppe an Gleis 2 kaputt ist. Neulich habe ich an einer der sich virusartig in Bahnhöfen ausbreitenden Infoscreens mit Pseudo-Informationen gelesen, dass es – nun, ich glaube es waren um die 35.000 Rolltreppen in der Republik gibt, und ich habe spontan gedacht: Wie uninteressant, von mildem Interesse wäre es allenfalls, wie viele von ihnen kaputt sind, und von unvergleichlich größerem, warum die in Freiburg an Gleis 2 nicht endlich repariert wird!

Nun mag die kaputte Rolltreppe an Gleis 2 im Freiburger Hauptbahnhof (der im Übrigen lieblich auf den Schwarzwald schauen lässt und schon ein wenig in die Schweiz hinein und nach Frankreich hinüber winkt) tatsächlich ein Symptom für ein tieferliegendes technisches oder monetäres Problem sein, das will ich gar nicht verleugnen. Meine persönliche Trauer hängt aber damit zusammen, dass ich so schrecklich gern Rolltreppe fahre. Schon als Kind bin ich schrecklich gern Rolltreppe gefahren, ich habe mich zwar davor gefürchtet (ja, ich war eine Memme. Ja, ich bin immer noch eine Memme, aber zum Glück nur in wirklich unwichtigen Dingen!), man musste ja die richtige Stufe erwischen beim Draufsteigen und dann, viel schwieriger noch, rechtzeitig einen großen Schritt machen, um heil wieder auf festen, sicheren Boden zu kommen – und einmal habe ich, in meiner großen, großen Ängstlichkeit, mich an dem Mantel meiner Mama festgeklammert auf der Treppe, und als ich oben heil gelandet war, stellte es sich heraus, dass es gar nicht meine Mama war, aber das ist eine völlig andere und unkorrelierte Geschichte – jedenfalls: Rolltreppe fahren ist einfach wunderbar! Aufzüge, ach, Aufzüge sind total blöd, enge, abgeschlossene Kästen, keine Luft bekommt man, sie ruckeln beim Anfahren, nichts sieht man, außer es sind Glaskabinen, dann sieht man zu viel und bekommt Angst – nein, Aufzüge mögen eine praktische Notwendigkeit haben, aber keinen Lustgewinn. Rolltreppen hingegen – das sanfte Dahingetragenwerden, leise und langsam gleitet die Welt vorbei, wie auf Kufen (vor allem bei waagerechten Rolltreppen in Flughäfen, die wahre fliegende Teppiche sind), und man fühlt sich so getragen, so verwöhnt, so milde befördert, es ist eine wahre Lust. Und dann ist sie schon wieder vorbei. Genau so muss das sein.

Und so konnte man früher in Freiburg aus einem ICE fallen, der mäßig bequeme Sitzplätze hat und manchmal sogar eine halbwegs erträgliche Raumtemperatur, aber man ist so froh, endlich wieder aus einem dieser Käfige zu sein, die unser modernes Leben bestimmen, und frische Luft zu atmen, und es war so ein erhebendes Gefühl, sich dann nicht mühsam mit Gepäck beladen eine Treppe hinaufquälen zu müssen, sondern – ein kleiner Schritt, und die Rolltreppe nahm einen auf und surrte sanft, und oben blickte man auf den leicht im Nebel versinkenden Schwarzwald hinter der Stadt. Seit einem Jahr aber nicht mehr, mühsam muss man Stufe um Stufe ersteigen, während die Rolltreppe neben einem geradezu jungfräulich unbewegt daliegt, als sei sie nur ein Versprechen, das niemals eingelöst werden wird. Vielleicht ist das doch eine Metapher für unsere Zeit? Wenn ich das nächste Mal Rolltreppe fahre, werde ich darüber nachdenken. Im Aufzug reicht es höchstens für einen kargen Aphorismus (Das Leben ist wie ein Aufzug. Zuviel Zwischenhalte und immer wieder bleibt man stecken).

PAUSENLOS

Erst dachte ich mir nichts dabei. Vor mir in der etwas länglichen Schlange bei Coffee Friends stand ein Mann, ziemlich robuster Typ, groß und breitschultrig, nicht direkt die geschniegelte Business-Variante, eher ehemaliger Boxer und nun Promoter, und er sprach in sein Handy (also, nicht in sein Handy, sondern ins Nichts vor seinem Mund, was ich immer noch, nach all den Jahren, verwirrend finde, dass man einfach vor sich hinblabbernd über die Straße läuft, vorzugsweise aber durch Bahnhöfe, und Selbstgespräche führt). Nach einer Minute fiel mir auf, dass er relativ laut und sehr schnell sprach, auch ohne jedes Zögern oder »Äh« und »Mmh«; es war, als würde er einen inneren Monolog ablesen, der vorformuliert in seiner Kehle lag und sich nun in einer nicht enden wollenden Schlange aus seinem Mund hinaus abwickelte. Nach zwei Minuten fiel mir auf, dass der Monolog keinerlei Pausen hatte; er sprach und sprach, immer im gleichen, äußerst selbstgewissen, geradezu geglätteten Tonfall, der über-haupt keinen Raum ließ für eine Pause oder einen winzigen Einspruch; die Worte plätscherten ganz dicht hinaus, eines am anderen, und manchmal ließ eines aufhorchen, KI kam vor – bitte? dieser Typ sprach über KI? –, dann seltsame Zahlen, die jemand investieren sollten, es waren, ich schwankte ein wenig angesichts der Größenordnung gegen das Kuchenbufett, in dem sehr still und verlockend kleine wohlgeformte Törtchen saßen und warteten, neben wohlgerundeten Cookies und fettig-gekrümmten Croissants, aber alle ganz still und in sich gekehrt – also es waren Milliarden. Keine Ahnung, um was es ging. Die Kaffeeschlange bewegte sich nur langsam, und der Wortausbruch nahm kein Ende. Ich hatte genug Zeit zum Nachdenken. Erst dachte ich, bösartige Krypto-Feministin, die ich bin: Das machen echt nur Männer. Empathiegeschädigt, konstitutionell; die einfache Überlegung, dass die ganze Welt im Pseudo-Geplapper versinken würde, wenn jeder seine Umgebung derart ungefiltert und lautstark verpestete, geht einfach völlig über ihren Horizont, der genau so weit reicht wie ein gewisser Körperteil – aber an dieser Stelle rief ich mich, mildherzige Überzeugungs-Aufklärerin, die ich auch bin, zur Ordnung: Bleiben wir mal sachlich. Entweder also, dachte ich, sagt er etwas Wichtiges, immerhin benutzt er große Wörter und Zahlen, und sie fallen gar nicht auf im Strom; aber dann, so dachte ich, wie sollte denn der arme Gesprächspartner damit umgehen, wenn lauter wichtige Dinge so ungebremst und ungefiltert auf ihn einströmten, kein einziges »Äh« oder »Mmh«, nicht einmal ein: »Verstehst du?« Oder gar: »Meinst du nicht auch?« Nein, es war gar nicht vorstellbar, dass am anderen Ende der viel zu geduldigen Leitung ein armer Mensch saß (eine Frau gar?) und diese Informationsmasse verarbeiten konnte. Oder, dachte ich weiter, er plappert einfach nur Blödsinn, nicht gedacht, ungefiltert, einen endlosen Plattitüdenstrom, der sich nur um sich selbst drehte und gelegentlich kleine eddies bildet, vielleicht aber auch am Ende einen riesigen Mahlstrom, in dem der Redende selbst samt all dem abgesonderten bullshit – aber jetzt war er immerhin an der Reihe zu bestellen, und ich war schon ganz gespannt. Er holte er einen Moment Luft – und ich dachte, jetzt bestellt er bestimmt irgendetwas ganz Tolles, nicht einen kleinen Cappuccino wie all wir Normal-Kaffeetrinker hier, vielleicht mit einem Croissant dazu, wenn es hoch kam, und natürlich hatte ich recht, klischeehörig und vorurteilsbeladen wie ich bin: Es wurde ein Karamell-Latte mit irgendwas, ein kleines Kunstwerk, das die arme Barista beinahe zwei Minuten kostete, aber während er nun wieder ungebremst sich in seinen Redestrom stürzte, malte sie Schoko-Kringel auf das süße Kunstwerk, das war schön anzusehen, geradezu besinnlich. Dann wanderte der Redestrom auf seinen zwei robusten Beinen samt Karamell-Latte zu seinen Koffern am anderen Ende des Coffee-Shops, und nun hörte man es ein wenig aus der Ferne weiter strömen, in völlig ungebremstem Tempo und mit der gleichen Intonationsin-tensität. Als er endlich sein Zeug zusammenpackte und ging (das Tablett aber natürlich auf dem Tisch stehen ließ), immer noch sprechend, hatte ich eine Vision: Urplötzlich würde ein gerechter und strafender Gottes (es täte auch einer der unteren in der Götterhierarchie, eigentlich wäre mir das sogar lieber gewesen) einen Blitzschlag auf ihn abfeuern; und er würde, endlich, verstummen und dann, ganz langsam, zerbröseln. Aus seinem plötzlich still-stehenden Mund würde nur noch Staub herauskommen, und dann würde der Staub sein Gesicht überziehen und von da aus dann nach unten wandern, und am Ende würde ein einsames Häuflein Asche auf dem recht sauberen Bahnhofsboden in Karlsruhe liegen, ein dunkelhäutiger Arbeiter würde in seiner orangen Leuchtweste auftauchen und die Asche sehr langsam auffegen, und er würde ein Liedchen dabei pfeifen, vielleicht: ›Wenn ich einmal reich wär‹? Aber die Welt ist nicht gerecht, und wenn sie es jemals war, hat irgendjemand so lange dahergeplappert, bis es alle vergessen hatten und eigentlich nur noch einen kleinen Cappuccino wollten und himmlische Ruhe (bis auf ein gelegentlich knisterndes Croissant).

TALKING TO A STRANGER

Es ist eine dieser Situation, die man in unregelmäßigen Abständen erlebt und die schon kurz danach die seltsam diaphane Struktur eines Traumes bekommen: Man hat, ganz zufällig, irgendwo einen fremden Menschen getroffen. Man ist ein Gespräch geraten, kaum weiß man wie, und plötzlich schüttet einem dieser fremde Mensch sein Herz aus. Das ist gar nicht so sentimental gemeint, wie es sich anhört; die Geschichte selbst wird oft, obwohl sie von Tränen und Schluchzen begleitet sein kann, beinahe sachlich wiedergegeben. Es ist, als ob das fremde Gegenüber den Erzählenden auf einmal gerecht werden lässt, weil er ja nicht Position beziehen muss, Stellung nehmen, Partei ergreifen, sich verteidigen, wie vor einem vertrauten Menschen: Einer ist dem Fremden wie die andere, wer wen verlassen oder verraten hat, und vor allem: wer schuld war, kann ihm egal sein – und endlich, endlich, kann man die Geschichte einmal so erzählen, wie sie vielleicht gewesen ist vor der inneren Zensur und der Notwendigkeit zur Selbstverteidigung; so roh, wie man sie erlebt hat und nicht verstanden hat, vielleicht niemals verstehen wird. Und es ist auch gar nicht nötig, dass das fremde Gegenüber irgendetwas sagt, um Gottes willen, es reicht wirklich ein gelegentliches Nicken oder ein behutsames: »ach, das ist aber wirklich schlimm!« Der Redestrom ist sowieso nicht aufzuhalten, wichtig ist nur, dass man ihn nicht unterbricht, eindämmt, lenken, trös-ten will, raten will. Man lässt ihn einfach laufen bis zu seinem bitteren Ende, wenn keine Tränen mehr kommen und der Erzählende verschnieft das angebotene Taschentuch nehmen kann, sich räuspern und sagen: »Danke, entschuldigen Sie, ach, wir sind ja schon da, ich steige dann jetzt aus!« Und man verabschiedet sich kaum, man wird sich nie wiedersehen, aber es ist ein seltsames Band entstanden; es war ganz egal, wer man war, man war ein Mit-Mensch und hatte die Geduld zuzuhören und die Dezenz nicht mitzufühlen und den Takt nicht nachzufragen. Vielleicht war es einfach das, was ein guter Beichtvater früher tat, tun sollte jedenfalls, oder was die moderne Psychotherapie von den Beichtvätern übernommen hat – aber dann doch nicht ganz, denn das Gespräch endet weder mit Bußübungen noch mit Lebenshilferatschlägen. Es endet so abrupt, wie es begonnen hat, zwei Fremde gehen auseinander, einer hat sein Herz ausgeschüttet, und der andere hat es aufgefangen, ein williges Behältnis, mehr nicht. Und später, wenn man die Geschichte längst vergessen hat – man vergisst sie eigentlich sofort wieder, sie ist immer die gleiche und doch immer anders –, erinnert man sich nur noch an das eigentümlich surreale Gefühl eines geliehenen Vertrauens zwischen völlig Fremden; vielleicht noch an den Ort, an einen Geruch, an das Taschentuch, das verschämt den Besitzer wechselte. Wirklich reden, die Wahrheit sagen, kann man nur mit Fremden.

WIR SEHEN UNS BEIM FUSSBALL!

Ganz anders und doch ein wenig ähnlich war es heute Morgen im ICE. Im Speisewagen rotierte ein sehr zuvorkommender Kellner, der sich immer mit »bis gleich« verabschiedete und tatsächlich auch gleich wieder mit dem bestellten Cappuccino dastand und dann gleich wieder mit dem dazu georderten Croissant, er hatte es sogar in Rekordzeit warm gemacht. Am Nebentisch saßen schräg einander gegenüber zwei junge Männer, Anfang 30, smarte Typen, jeder so schlank wie das Notebook auf dem Tisch vor ihm, und sie gerieten irgendwie in ein Gespräch. Es begann ganz unverbindlich damit, dass der eine fragte, wohin der andere dann fahre, und man fand heraus, dass beide in Frankfurt wohnten, aber hier und dort und in Zürich und in Freiburg arbeiteten. Denn eigentlich waren sie beide völlig weltläufig und kamen sehr schnell auf das Thema, wie man am besten sein Geld für sich arbeiten ließe, am Aktienmarkt sowieso, aber nicht in altertümlichen Fonds, sondern in den neuesten Finanzprodukten, die Namen habe ich vergessen, ich war noch ein wenig verblüfft, wie schnell man von einer Standardfrage über das Reiseziel zu Feinheiten der modernen Finanzwelten und ihren ausgetüftelteren Spekulationsobjekten kommen konnte; oh ja, über Geld spricht man offensichtlich in bestimmten Kreisen! Das Gespräch profitierte im Folgenden sehr davon, dass man sich überhaupt in den meisten Dingen einig war, sogar was Frauen anging oder Autos. Man duzte sich inzwischen, der Schwarzwald zog draußen vorbei, reine Spätherbst-Idylle, gelegentlich pickten Störche auf den Feldern. Der eine kam sogar aus dem Schwarzwald, aber natürlich konnte man dorthin nicht zurück, wenn man einmal in Frankfurt lebte und die Welt kannte. Und man geriet, der Cappuccino war kaum angetrunken und die Finanzmärkte durchbewertet, schon auf noch tiefere Lebensfragen: wie man sich sein Leben so einrichte, dass man flexibel bleibe, schließlich könne man ja heute nicht sagen, worauf man in fünf Jahren so Lust habe – was ja alles völlig richtig war, nur etwas atemberaubend beim Zuhören. Der Kellner schwebte vorbei, nahm den krümeligen Croissant-Teller mit, erkundigte sich besorgt, ob man noch etwas brauchte, und sagte nett »bis gleich«. Gleich war aber schon fast in Freiburg, und während ich noch verstohlen überlegte, wie dieses Traumpaar es nun anstellen würden in Kontakt zu bleiben, hörte ich den einen sagen, während er seinen schlanken Koffer hervor-holte: Wir bleiben dann in Kontakt über Whatsapp, und, Fußballgucken, gell? Offensichtlich hatte man noch ein gemeinsames Interesse entdeckt, und zum gemeinsamen Fußballgucken ist niemand zu hip, noch nicht mal junge Börsianer-cum akademischer-Seitenlaufbahn. Ich hätte gern »bis gleich« zu dem Kellner gesagt, aber er war schon wieder unterwegs, abräumen. Wahrscheinlich hatte er auch kein Aktien-Portfolio und lebte nicht in Frankfurt-City in einem Loft, sondern – anderswo, es gibt ja viele Orte, an denen man nicht leben möchte, aber aus irgendeinem Grund muss, und ich möchte jetzt nicht Wanne-Eickel sagen. Aber bestimmt schaut er auch Fußball.

NATÜRLICH IST HEUTE GAR NICHTS MEHR

Der alte Mann steigt am Nachmittag in Gotha ein. Sein schütteres graues Haar ist zu lang und er wirkt unsicher beim Gehen durch den Speisewagen. Als er sich an einen Fensterplatz setzt, scheint es, als habe er sich verirrt oder könne nicht mehr weiter. Die kleine Kellnerin, die heute allein den ICE bewirtschaften muss, kommt erst spät. Ob es die Sauerkrautsuppe noch gebe, will er wissen; sie sagt in ihrem freundlichen ostdeutschen Ton-fall: ja, natürlich. Natürlich, so antwortet er darauf, spontan, aber ohne jede Eile, sei heute gar nichts mehr. Draußen zieht die thüringische Hochebene vorbei, im Spätherbst noch ein wenig trister als sonst. Einzelne Windräder überragen die Dörfer, höher als die alten Dorfkirchen. Einen Tisch weiter diktiert ein anderer, nicht ganz so alter Herr seiner Sekretärin übers Handy ein An-schreiben: »der guten Ordnung halber teilen wir mit, dass die Türen, wie vereinbart, am nächsten Freitag ausgetauscht werden, mit freundlichen Grüßen undsoweiter, Sie wissen schon«. Der Zug ist zehn Minuten zu spät, wie immer. Die Sonne geht unter. Natürlich ist heute gar nichts mehr.

BEDEUTUNGSSCHWERE

Man hört es schon am Tonfall. Er ist immer gleichzeitig ein wenig weichgespült und bedeutungsschwer-tremulierend, er beschaut sich selbst die ganze Zeit beim Reden in einem unsichtbaren Spiegel, der ihm zuflüstert: Oh, wie schön ich reden kann, am liebsten hörte ich mir selbst den ganzen Tag zu, wie ich bedeutungsschwere und tiefsinnige und immer ganz richtige und total super einfühlsame Sachen sage! Es ist eine Form von Feelgood-Bullshit, die man sogar relativ genau beschreiben kann. Jedes einzelne Wort hat einen Index in diesen Gesprächen, der mitgesprochen werden muss: Es ist entweder sentimental-affirmativ oder hypermoralisch-kritisch aufgeladen, und es gibt wenig dazwischen. Jeder einzelne Mensch, der erwähnt wird, wird sorgfältig ins Freund-Feind-Schema eingepasst: ein guter Typ, sie ist echt in Ordnung, ich finde sie/ihn/es ja so spannend! Aber total unmöglich, der Typ. Ich meine, ich habe ja Verständnis, sowieso, für alles, ich urteile ja nicht, aber der/die/das – nee. Geht gar nicht. Die erzählten Geschichten tendieren immer zur Tragik: Ein guter Mensch ist an bösen Menschen, der bösen Gesellschaft, einem ultrabösen Schicksal gescheitert, das besonders die guten und unschuldigen Menschen verfolgt und heimsucht. Es geht viel um Krankheiten, Psychokrisen, Verirrungen in der Liebe; manchmal sogar um Geld. Häufig zehren die Geschichten vom fortgesetzten Hörensagen: Also, ein Freund von mir, du weißt schon, der kennt diese Frau, die jetzt Coaching macht, ja, auch Yoga, so eine Art Coaching-Guru, und die war mit einem zusammen, von dem hat sie sich aber schon lange getrennt, hab ich gehört jedenfalls, aber erzähl es nicht weiter --- Was hingegen nie vorkommt im Feelgood-Bullshit (das teilt es mit dem neuen deutschen Pop seit Nena): Humor; Humor, wenn nicht gar Ironie (allerdings läuft Häme mit unter), erforderte irgendeine Art von Distanz zu sich selbst und ist deshalb völlig ausgeschlossen, wenn man wie fixiert auf den eigenen Bauchnabel starrt, um den sich die ganze Welt dreht. Die Welt ist offensichtlich bevölkert mit dicht vernetzten therapiebedürftigen Mitleidsgestalten und Vollzeit dienstbereiten Therapeuten, und immer sitzen sie im Zug hinter einem. Und leider, leider kann man nicht einfach nicht zuhören. Denn selbst ein wohltrainiertes Gehirn reagiert instinktiv auf den Betroffenheitstonfall, mit dem ja auch ein ernstes Problem signalisiert werden könnte; man kann den Instinkt nicht einfach abschalten, ohne ein wenig mehr zum Unmenschen zu werden.

DAS GULASCH IST WIRKLICH VORZÜGLICH DIESMAL

Ganz anders war es auf der Hinfahrt gewesen. Im Speisesaal am Nebentisch saß dieser Junge, vielleicht war er zwölf oder dreizehn Jahre alt, und er unterhielt sich mit einer Frau mittleren Alters, zu der er offensichtlich nicht gehörte. Er betrieb vielmehr Konversation, das konnte man deutlich sehen, und er machte das geradezu souverän. Er erzählte, dass er zu seinem Vater fahre, nach Wien, und er erwarte sich viel von diesem Besuch; er stelle es sich schön vor dort in Wien. Dann tauchte seine Mutter auf, sie hatte wohl telefoniert, und sie bekamen ein Essen serviert. Der Junge lobt es, sehr wohlwollend: Besonders das Fleisch sei außerordentlich wohlgeraten, besonders das Fleisch; es sei auf jeden Fall viel besser als früher, da habe man ja überhaupt nicht im Speisewagen essen können (man fragte sich unwillkürlich, wann genau ›früher‹ gewesen sein sollte, direkt nach der Einschulung?), ja er würde geradezu sagen, es sei vorzüglich. Er sagte das alles gar nicht altklug oder prahlerisch, das war das Besondere daran; zwar sprach er offensichtlich gern und war die Konversation mit Erwachsenen gewöhnt, aber es hatte etwas Verzweifeltes, was man anfangs eher spürte als verstand. Ich weiß auch nicht mehr genau, wie es geschah, aber man kann darauf zu sprechen am Nachbartisch, dass vor einiger Zeit ein Freund von ihm – nein, ein Bekannter, korrigierte er sich nach einer kurzen Pause – gestorben sei. Die andere Dame schwieg einen Moment pietätvoll, wagte dann aber doch zu fragen, was denn passiert sei? (und man hörte mit: er muss doch jung gewesen sein, ein Kind wie du, wie konnte das passieren?) Er kaute einen Moment länger an seinem Gulaschstück herum, und dann sagte er, sehr sachlich: »Man denkt wohl, dass es ein Suizid war«. Alle, die zufällig zuhörten, also ich auf jeden Fall, verschluckten sich an ihrem Kaffee. Die Mutter kam zur Hilfe, nachdem das Thema nun einmal auf dem Tisch war, gleich neben dem vorzüglichen Gulasch, und berichtete von der Krebserkrankung des Freundes, nein: Bekannten, und seinem längeren Leiden und der Hoffnung auf Besserung und der kurzen Erholung und der Vergeblichkeit. Der Junge kaute weiter an seinem Gulasch und machte kleine sachliche Bemerkungen, dann kam man zum Glück wieder auf Wien zurück und auf die Frage, was man dort machen wollte. Er lobte das Gulasch, als der Kellner den Teller abräumte und beklagte, es seien vielleicht zu wenig Nudeln gewesen. Und aus irgendeinem Grund nahm ihn niemand in den Arm, und man dachte, welch hoher Preis für so viel Sachlichkeit und Vernunft, und hoffentlich findest du in Wien alles, was du dir versprichst. Aber es besteht eine gewisse Gefahr, dass du weiterhin mit Erwachsenen Konversation machen musst, aus schierer Verzweiflung, weil sonst überhaupt niemand hinhört oder gar versteht, und es ist wenigstens ein kleiner Trost, dass du das so gut kannst.

MANCHE LEUTE MÖGEN HALT KEINE KINDER

Der kleine Junge im Regionalexpress will nicht stillsitzen. Er turnt auf seinem Sitz herum, guckt über die Rückenlehne und schmettert den dort Sitzenden ein lautes »Hallo« ins Gesicht. Keine Reaktion. Die Mutter sagt, nicht gerade leise: »Manche Leute mögen halt keine Kinder«. Zwei Minuten später – der Junge will immer noch nicht stillsitzen und turnt auf ihr herum – schnauzt sie ihn an: »Sei endlich still und lass mich in Ruhe!« Er wird still und holt seinen Gameboy heraus. Manche Leute mögen halt keine Kinder. Vor allem die eigenen.

LETZTENS SAH ICH EINEN FISCHREIHER

Das Kind, es war ein Junge von ungefähr sieben oder acht Jahren, sagte »Wie bitte?« Kurz zuvor hatte es schon einen Satz gesagt, der mich aufhorchen ließ, nämlich: »Letztens habe ich einen Fischreiher gesehen«. Seine Mutter ermahnte ihn, nicht so laut zu sprechen, es war aber gar nicht besonders laut gewesen, sondern eben der etwas aufgeregte Tonfall eines sieben- oder achtjährigen Jungen, der immerhin weiß, was ein Fischreiher ist und wie er aussieht und dass es ihn tatsächlich gibt (na gut, er meinte einen Graureiher, aber das lernte ich selbst erst später!). Sonst sagte die Mutter nichts zu dem Fischreiher. Sie sagte auch nichts, als der Junge später, weil er durchaus interessiert zum Zugfenster hinausschaute, sechs Störche sah, einen ganzen Schwarm, oder waren es sogar sieben gewesen? Nicht so laut, mahnte sie wieder. Dass die Mutter reden konnte, und durchaus schnell und viel und nicht besonders leise, zeigte sich, als sie wenig später telefonierte, die Geschichte war im etwas aufgeregten Tonfall einer zu jungen Mutter vorgetragen, die irgendwie nicht Recht bekommen hatte, und sie war ziemlich lang. Danach verfiel sie wieder in tiefes Schweigen und schaute auf ihr Handy, sie schaute sozusagen laut auf ihr Handy, wenn man das sagen kann. Draußen hätten Löwen vorbeiziehen können oder Giraffen, und ihr offensichtlich neugieriger und, wer weiß von wem, wohlerzogener Sohn wäre vor Begeisterung übergelaufen, aber sie hätte ihn wahrscheinlich nur ermahnt, nicht so laut zu sein.

Und ich weiß, dass ich diese Geschichte schon mehrmals erzählt habe, aber sie passiert immer weiter, und es ist ein Wunder, dass Kinder überhaupt noch sprechen lernen, da ihre Eltern offenbar niemals mit ihnen sprechen. Sie haben ja schon alles, was sie zu sagen haben, ihrem Handy gesagt.

BITTE ALLES AUSSTEIGEN!

So schallte es schon aus den Lautsprechern der Deutsche Bahn AG, als sie noch einfach Deutsche Bundesbahn hieß und keiner an Börsengänge dachte, als man die Fenster in den Abteilen noch öffnen konnte und die dunkelgrünen abgewetzten Ledersitze heimelig nach Rauch und Schweißfüßen rochen. Das war eine erstaunlich inklusive Ansage, und man imaginierte kleinere Hau-stiere, vielleicht das eine oder andere Huhn oder sogar ein niedliches Ferkel auf der Fahrt zum Markt (vielleicht erklärte das auch den Geruch). An englischsprachige Durchsagen dachte noch kein Mensch, und dass man sich bei seinen Fahrgästen bedanken sollte, wäre dem guten alten Staatsunternehmen auch nicht in den Sinn gekommen; schließlich brachte man die Leute von A nach B, und das mit heutzutage ebenfalls vergessener Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit, sollten sie sich doch bedanken! Heute muss nicht mehr »alles« aussteigen (nur dann und wann macht ein älterer Zugbegleiter noch diese Durchsage, und man wird gleich nostalgisch), aber der gute alte Befehlston ist erhalten geblieben: »Fahrgäste alle aussteigen!« ist der Standardtext im Regionalverkehr, das Ausrufungszeichen spricht die Computerstimme durchaus mit. Ab und zu regt sich dann in einem ein kleiner Widerstandsteufel und sagt: Steig doch mal nicht aus! Sei kein Befehlsempfänger! Zeig dem doofen Automaten, dass du einen freien Willen hast, und bleib sitzen! Schließlich sind wenigstens die Sitze viel bequemer geworden, und manchmal funktioniert die Klimaanlage ja auch im mittleren Bereich zwischen Kühlschrank und Sauna. Aber schon steigt alles um einen herum aus, noch nicht einmal ein vergessener Regenschirm bleibt zurück, nur McDonalds-Verpackungen und Bierdosen und Bananenschalen, und der Geruchs-Mix ist auch nicht viel besser.


PERSONALISIERTES VERBITTERUNGSSYNDROM

Es war der Abend des zweiten WM-Auftritts der deutschen Nationalmannschaft, aber irgendwie lag gar nicht so viel Dramatik in der Luft, wie man es hätte erwarten können angesichts des drohenden Ausscheidens des Sommermärchen-Weltmeisters in der Vorrunde. Im Gegenteil, die aufgekratzten Hen Parties in Tüll-Tütüs mischten sich fröhlich mit den Trägern diverser Nationaltrikots, den üblichen Samstagsshoppern und all dem bunten Volk, das eine S-Bahn-Fahrt im Großraum Stuttgart immer wie-der zu einem multikulturellen Erlebnis macht. Das ältere Ehe-paar stach etwas heraus; sie sahen so aus, als wären sie gerade von einem hochkulturellen Ereignis auf der Rückfahrt, nicht einer schnöden Shopping-Tour durch Milaneo und Co., und sie bildeten einen kleinen Ruhepunkt im aufgekratzten Fahrrad-Abteil. Auffällig war nun, dass auf einmal, es waren einige Sitze in der Umgebung frei geworden, die ältere Dame um einen Klappsitz aufrückte, so dass nun ein freier Sitz zwischen ihr und dem Mann war; natürlich verstand man das gut, es ging ein wenig eng zu auf den Klappsitzen, und man konnte die Beine besser ausstrecken, wenn man rechts und links einen freien Platz hatte. Doch offen-sichtlich trieb der Spalt – eine Art Spalt in die Paarkommunikation, oder machte einen sichtbar, der schon länger dagewesen war; denn der ältere Heer, wirklich sehr distinguiert und gut gekleidet, machte eine etwas resignierte Bemerkung darüber, dass er ja eigentlich zwei wichtige Geschichten zu erzählen habe, aber vielleicht sei es ja doch nicht der rechte Zeitpunkt – und quer durch das Abteil kommunizierte sich zu mir herüber, klar und deutlich: Frag doch endlich, jetzt frag doch endlich! Nun gut, mit einiger Verspätung schien diese unausgesprochene Aufforderung auch die ältere Dame zu erreichen, von der man schon irgendwie geahnt hatte, dass es nicht die Ehefrau war, irgendwas in der Körpersprache war nicht die eines alten Ehepaares, jedes Pferd konnte das merken – sie nahm sich also zusammen, rückte wieder zurück und sagte, ja, wenn er vielleicht etwas stärker zur Seite rücken könnte, und sie ihre Beine – ja, so sei es schon viel besser, und er solle doch bitte erzählen! 

Und der ältere Herr begann seine Geschichte. Es war eine gute Geschichte, und er erzählte sie gut, und ich ertappte mich dabei, dass ich dachte, erzähl doch ein bisschen schneller, ich will den Schluss noch mitkriegen, bevor ich aussteige. Die Geschichte hatte aber einige Umwege, und das erst machte sie zu einer guten Geschichte, denn man sah das Ende gar nicht von weitem schon kommen, sondern sie schlug einige unerwartete Haken. Es begann also damit, dass er, aus welchen Gründen auch immer, ich konnte auch nicht alles verstehen von meinem Lauschposten und über das S-Bahn-Vorspiel-Handy-Gebrabbel hinweg, bei einer Gerichtsverhandlung gewesen war. Verhandelt wurde irgendein tragisches Schicksal, jemand hatte ungerechtfertigterweise einige Jahre im Gefängnis verbringen müssen für etwas, was er nicht getan hatte, aufgrund einer Aussage von einer Frau, die sich als nicht ganz richtig herausgestellt hatte, wie auch immer: Darum ging es gar nicht. Die ältere Frau neben ihm schaute ihn nicht an, während er erzählte, sie schaute hierhin und dorthin, wie jemand halt schaut, wenn man eine Geschichte wirklich nicht interessant findet und hofft, es möge bald vorbeigehen. Ihr Nicht-Ehemann war jetzt gerade bei dem Teil, wo der beauftragte psychiatrische Gutachter auftrat, der nun dem zu Unrecht Verurteilten ein – und das erst ließ mich endgültig aufhorchen, vorher hatte ich auch nur etwas konfus gelauscht – ›personalisiertes Verbitterungssyndrom‹ bescheinigte. Verstehst du, sagte der Mann, das ist eine – Art Krankheit, das hat der Psychiater gesagt, eine ganz natürliche Reaktion eigentlich, man fixiert all das Unrecht, das man erlebt hat, auf diese eine Person, die ganz allein und für immer und in alle Ewigkeit daran schuld ist! Ich fand das span-nend, neue Wörter finde ich sowieso spannend, und wenn sie noch so lang und kompliziert sind, umso mehr!

Personalisiertes Verbitterungssyndrom, ich ließ es mir im Geiste auf der Zunge zergehen; seine Nicht-Ehefrau aber blickte auf den träge dahin-fließenden Neckar, die satt grünenden Esslinger Weinberge vor dem Hengstenberg-Neubau, die Türme des Altbacher Kraftwerks im klaren Abendhimmel; gelegentlich nickte sie etwas mit dem Kopfe, wie ein gutes Pferd. Nun habe er aber, und hier nahm die Geschichte in geradezu eleganter Parallele zur Altbacher Kurve die unerwartete Wende, beschlossen, sich sein Leben nicht von einem personalisierten Verbitterungssyndrom vermiesen zu lassen. Und er sagte, das erst machte die Geschichte gut, das ganz ohne empörtes Ausrufungszeichen, er sagte es ganz sachlich, als würde er gutachterlich vor einem Gericht sprechen; das Gericht schaute aber hierhin und dorthin und auf die Plochinger Vororte in ihrer ganzen bürgerlichen Langweiligkeit. Er sei deshalb weiterhin nicht einverstanden mit dem, was ihm passiert sei (und ich liebte ihn in diesem Moment geradezu dafür, dass er nicht sagte, welch schreckliches Unrecht ihm, ihm ganz allein widerfahren war; denn wer kann dieser Versuchung schon widerstehen, die Geschichte seines Unrechts immer und immer wieder zu erzählen, das Unrecht ist schon lange begraben und vermodert, aber wird erzählerisch einbalsamiert wie eine ägyptische Mumie, für alle Ewigkeit). Aber er habe beschlossen, kein personalisiertes Verbitterungssyndrom zu entwickeln; er wolle nämlich frei sein für sein Leben, sein eigenes Leben, mit – und nun schaute er zu seiner Nicht-Ehefrau hinüber, die jedoch immer noch geistig abwesend schien, mit ihr, natürlich, worauf er immerhin ein schwaches Kopfnicken erntete, – aber in diesem Moment fuhr die S-Bahn endgültig in Plochingen ein, und ich konnte nur noch darüber spekulieren, ob er sich nicht sein ganz persönliches personifiziertes Verbitterungssyndrom schon eingehandelt hatte, es saß nämlich neben ihm in der S-Bahn und hörte nicht zu, wie er ihm sein Leben und seine Liebe erklärte, auf eine rührend sachliche, ziemlich kluge und gar nicht verbitterte Art und Weise.

DAS BÖSE UNTER DER KAPUZE

Es war am Nachmittag nach einem gewöhnlichen Arbeitstag, der Herbst war trüb eingetroffen und die Gesichter in der Regionalbahn schauten – auch trübe irgendwie, ermattet, viele wirkten sogar zu müde, um in ihr Handy zu schauen. Wir fuhren durch das, was früher einmal Mitteldeutschland hieß und heute eine Art mit Windparks übersäte und mit Dörfern verstreut besiedelte große Ebene in der Mitte von Deutschland ist, da, wo früher einmal die Mauer entlanglief. In der Ferne stieg der Harz auf, der beinahe wie ein ordentliches Gebirge wirkte, wir fuhren an einem verwilderten Flusstal entlang, unbegradigt, das mit seinen kleinen Sümpfen und den gelben Weiden beinahe romantisch hätte sein können, es war uns aber nicht nach Romantik, eher nach Alkohol. An einer der viel zu vielen Stationen mit den seltsamen Namen stieg eine Gruppe männlicher Jugendlicher ein, drei waren es. Sie hatten diesen komischen, Lässigkeit und Männlichkeit simulierenden wollenden Gang, der sehr befördert wird durch zerfetzte Jeans, die in den Kniekehlen hängen. Sie heißen, das habe ich soeben recherchiert, weil ich es schon immer mal wissen wollte, Baggy oder auch Saggy Pants; die Mode geht, so belehrt uns Wikipedia, auf die Praxis in amerikanischen Gefängnissen zurück, Inhaftierten die Hosengürtel abzunehmen, da sie sich mit diesen entweder bei Schlägereien gegenseitig verletzen oder in der Zelle aufhängen können. Wie man aus dieser doch ein wenig menschenunwürdigen Behandlungsweise eine Mode machen konnte – nun, dafür muss man wohl ein amerikanischer Gangsta-Rapper sein, also wenigstens innerlich, und keine deutsche sehr in die Jahre gekommene höhere Tochter.

Das lenkt aber nur von der Geschichte ab, die ich eigentlich erzählen will und die ein wenig – Widerstand leistet. Es ist keine schöne Geschichte, es ist keine traurige Geschichte, es ist eine – aber ich rede weiter drumherum. Es ist eine Geschichte. Also, aus irgendeinem Grund blickte ich genauer auf das Trio, das jetzt vor der Toilette herumlümmelte, ich hatte auch keine Lust mehr, auf mein Handy zu schauen und die Romantik vor dem Fenster war wieder durch weite leere Felder mit Windradparks ersetzt worden. Und ich bekam einen kleinen Schock. Bis jetzt kann ich nicht erklären, was genau passiert war, nur vage beschreiben, was ich sah: Das war vor allem der eine Jugendliche, er war offensichtlich der Anführer, um ihn kreisten die beiden anderen in einer deutlich unterwürfigen Körpersprache. Er hatte Krücken bei sich – aber irgendwie verstand man nicht genau, wofür, es sah irgendwie falsch aus, und die Krücken wirkten beinahe wie – Waffen? Dann aber wurde der Blick nach oben gezogen, dort, wo sich unter dem genre-typischen Hoodie ein Gesicht befinden sollte, wie abgeschirmt auch immer – aber es war irgendwie kein richtiges Gesicht, es hatte wohl alles, was da sein sollte, aber irgendwie falsch und verzerrt; es wirkte eher wie eine tiefe Höhle, in die man dunkel gezogen wurde und dahinter – Nein, ich verstand es nicht. Ich versuchte noch einmal zu schauen, aber es war immer noch genauso falsch und bedrohlich und schockierend, und ich weiß nicht, ob mir an dieser Stelle der ziemlich plakative, aber leider vollständig so empfundene Satz durch den Kopf schoss: So sieht das Böse also aus! Ich guckte weg. Ich guckte aus Verzweiflung auf mein Handy und auf die Windparks, auf die müden Mitreisenden, die noch nichts gemerkt hatten von der Gefahr – oder hatten sie doch? War es nicht merklich stiller geworden, oder hatte ich mir das nur eingebildet? Das Trio begann durch den Zug zu streifen, das hatte ich erwartet, und ich war erleichtert, dass ich die Höhle unter dem Hoodie nicht mehr sehen musste, die Krücken nicht mehr, die sinnlos daneben schlenkerten, als würden sie sich über das echte Leid der Welt nur lustig machen, die ganze, seltsam schiefe Gestalt in den schlackernden Hosen und mit dem schlürfenden Gang.

Dann passierte etwas, und bis jetzt weiß ich nicht, wie das alles zusammenhing. Der Zug machte nämlich, mitten auf der Strecke, einen lauten Schlag; es hörte sich an, als hätten wir etwas überfahren, ich hatte einmal in einer Regionalbahn gesessen, die eine Kuh überfahren hatte, das war ganz ähnlich gewesen. Alle guckten befremdet auf, aber der Zug fuhr weiter. Wird schon nichts gewesen sein! Dachte ich auch, und war eher froh, dass es nicht eine der vielen anderen möglichen Krisenszenarios im Zuginneren war, die ich mir in meinem verwirrten Kopf schon ausgedacht hatte. Das Trio war weiter hinten geblieben, kam dann irgendwann wieder vor und lagerte sich wieder vor der Toilette ab. Ich musste eigentlich aufs Klo, traute mich aber nicht hinzugehen. Zwischendurch versuchte ich mehrere Male einen genaueren Blick unter das Hoodie zu werfen, weil ich mir dumm und hysterisch vorkam, aber es war immer das Gleiche: ein schiefer Ausdruck von Falschheit und Verkehrtheit, über den ich nicht hinwegkam, mit allem Verstand und aller Reflexion nicht.

Dann blieb die Regionalbahn an einem Vorortbahnhof von Halle, unserem Zielbahnhof, stehen, und erfahrene Bahnfahrer wissen, dass das kein gutes Zeichen ist; wir waren bisher auch bedenklich pünktlich gewesen. Nach einigen Minuten kam der Zugführer, öffnete sich eine der Türen und ging draußen an dem Zug entlang. Hatten wir vielleicht doch – etwas überfahren, weiter wollte ich auch nicht denken? Aber der Zugführer kehrte zurück, und nichts passierte. Nach einigen weiteren Minuten kam eine Durchsage, wegen einer Weichenstörung hätten wir keine Ein-fahrt in den Hauptbahnhof, die Weiterfahrt würde sich deshalb etwas verzögern. Nach gar nicht so langer Zeit ging es tatsächlich weiter, wir fuhren mit der üblichen Verspätung in Halle ein, und der Anschluss war natürlich weg. In dem Ärger darüber hatte ich das Trio schon ganz vergessen, aber dann sah ich die gut ausgerüsteten Polizisten am Bahnhof stehen. Ein junger Mann, der kurz vor mir ausgestiegen war, unterhielt sich aufgeregt mit ihnen und zeigte dann auf das Trio, das schon die Treppe hinunterschlurfte; die Polizisten forderten sie energisch zum Stehenbleiben auf und liefen ihnen hinterher. Ich weiß nicht, was dann passiert ist, ich musste nach dem nächsten Anschlusszug schauen und noch ein kleines Abendessen kaufen. Und schließlich würde sich die Polizei um das Böse kümmern, das war irgendwie beruhigend. 

Was genau das Böse nun war, welches Ungemach es über die Regionalbahn gebracht hatte, ich weiß ich bis heute nicht. Aber ich weiß, dass ich mein persönliches Böses getroffen habe, in einer Regionalbahn zwischen Halberstadt und Halle, es trug Baggy/Saggy-pants und ein Hoodie und fake-Krücken, es hatte ein Loch da, wo ein Gesicht hätte sein sollen, und mein Körper reagierte ohne jede Kontrolle des Verstandes darauf. Ich kam mich darüber schämen, aber das ändert nichts. Das Böse ist real, und es hat kein Gesicht.

DIE WEISSE STRASSENBAHN

Ich habe heute eine weiße Straßenbahn gesehen. Sie war nur weiß, ohne jeden Aufdruck, keine schreienden Aufschriften, keine grellbunten Bilder. Sie war so schön, mir blieb der Atem einen Moment stehen. Beinahe elegant bewegte sie sich durch den um sie her wuselnden Verkehr und erzeugte eine Art Lücke in der Wahrnehmung, so als habe man einen schwarzen Schwan gesehen oder ein weißes Reh: Und auf einmal sieht man viel besser, was das eigentlich ist, ein Schwan, ein Reh, oder eben: eine Straßenbahn. Und dann hatte ich eine Vision: Auf einmal verschwindet alle Werbung, überall. Zuerst lösen sich die großen Werbetafeln an den Straßen auf, zurück bleiben nur Rahmen, durch die man beim Vorbeifahren in die Landschaft schauen kann; lauter kleine Gemälde ziehen nun vorbei, und sie sehen anders aus je nach Wetter und Stimmung und Licht. Dann ver-schwinden die Schilder auf den Läden und von den Kaufhäusern, und ihre Schaufenster leeren sich von Geisterhand. Sie werden jetzt für Ausstellungen benutzt, für kleine oder große Kunstwerke von jedermann; Kindergartengruppen gestalten sie abwechselnd mit Seniorenkränzchen, manchmal wird auch spontan ein Thea-terstück aufgeführt. Im gleichen Moment sind auch alle Markenlogos auf Pullovern, Schuhen und Handtaschen weg, und man fragt sich verwundert, wie es eigentlich passieren konnte, dass man sich selbst zu einer wandelnden Plakatsäule gemacht hat und das auch noch schön fand? Die großen shopping malls werden zu Tauschbörsen, jeder bringt das mit, was er nicht mehr brauchen kann oder woran er sich satt gesehen hat, und jeder kann mit-nehmen, was er mag oder braucht oder einfach haben möchte. Es gibt dort auch gemütliche Ecken, wo man lesen oder Musik hören oder einfach nur ausruhen kann, unbelästigt vom ständigen Terror des Kaufmich-Kaufmich-Kaufmich! Im Fernsehen werden in den Werbepausen wieder die Mainzelmännchen gesendet, abwechselnd mit dem Sandmännchen und der Sendung mit der Maus. Im Radio gibt es vor den Nachrichten eine Besinnungs-pause, in der einfache Geräusche zu hören sind – ein Windesrauschen, ein Regengetröpfel, ein Glockenklang, sie reinigen das Ohr vom universalen Geplapper des Größer-Billiger-Mehr, damit es wieder hören kann, ohne ständig weghören zu müssen. Ja, sogar das große weite Internet ist von einer Minute auf die andere zu einer werbefreien Zone geworden; niemand bombardiert einen mehr mit Spam, niemand macht einem unaufgefordert Vorschläge, was man noch alles kaufen könnte, weil andere Leute es auch gekauft haben und damit achso glücklich sind, Autos, Fernreisen, Frauen, Nachthemden, Hundefutter - - - da fährt die nächste Straßenbahn vorbei. Sie wirbt für den Europapark Rust, mit kreischenden Menschen in seltsamen Schleudermaschinen und einem viel zu blauen Himmel über künstlichen Landschaften und Sonderpreisen und Sensationen in reißerischen Wortblasen. Der Traum ist aus.


Im Ausland

TOT IN VENEDIG

Immerhin, es war Venedig. Man muss dazu sagen, dass diese Geschichte weit vor den Zeiten spielt, in denen das Internet, die social media und das Billigfliegen die Welt zu einem globalen Dorf gemacht haben, in dem die ersten internationalen Austauschprogramme wahrscheinlich demnächst im Kindergarten starten und die Weltjugend – zumindest ihr polyglotter, überprivilegierter Teil – Thailand besser kennt als die Ostseeküste. Nein, wir, irgendwo zwischen 20 und 25 Jahren, wenig begütert und noch weniger polyglott, konnten immerhin als Bahnkinder umsonst bis Italien fahren und hatten sehr mühevoll ein kleines, vor allem von langbeinigen Schnaken bewohntes Zimmer jenseits von Mestre gefunden, auf dem schmutzig-prosaischen Festland also, wo Raffinerie-Türme statt gotischer Palazzi die Silhouette prägten. Man fuhr dann morgens mit der Regionalbahn über den Damm nach Venedig, das sich mit Parkhäusern ankündigte; aber sobald man dem Hauptbahnhof entstieg, begrüßte einen der Canale Grande mit all seiner Pracht, wenn auch mit einem etwas gewöhnungsbedürftigen Geruch. Da wir keinen Stadtplan hatten (zu teuer), verliefen wir uns ständig auf dem Weg zum Markusplatz; immer wieder lockten kleine Gassen, aber wenn man der Verlockung folgte, endete man immer in einer Sackgasse, vor einem minderen Kanal, und nur die Gondeln trieben melancholisch und ein wenig höhnisch vorbei. Aber dann ging man eben zurück, es war ja auch eigentlich egal; irgendwo in der Mitte schlängelte sich der Canale Grande wieder, mit Touristenströmen und der Herrlichkeit der Palazzi und dem inzwischen schon gewohnten Geruch. Die Gondeln, von denen wir natürlich nur träumen konnten, drängten sich mit den Vaporettos, und dafür, dass das die schönsten Busse vor der schönsten Kulisse der Welt waren, waren sie sogar ziemlich billig, und man konnte mit ihnen zum Lido fahren und wieder zurück.

Teuer hingegen war auch sonst alles. Noch nicht einmal eine Pizza hätten wir uns leisten können; und als wir, wegen des völligen Fehlens öffentlicher Toiletten, in einer abgelegenen Bar eine Coca Cola für fünf Deutsche Mark (so lang ist die Geschichte schon her!) bestellen mussten, um dann hastig die schmuddeligen Toiletten aufzusuchen, tat das schon ziemlich weh – wir mochten noch nicht einmal Cola, sie war nur am billigsten. Aber der Tag war lang, und der Mensch hat Bedürfnisse, auch wenn er kein Geld hat. Immerhin, es gab auch Märkte mit wunderlichem Getier und reifen Früchten; und wir gönnten uns Kirschen, Ciliegie, prallrot, vielleicht fünfhundert Gramm, vielleicht auch nur zweihundert, so weit reichte unser Italienisch gerade: »duecento grammi per favore!« Die Kerne spuckten wir in den Canale Grande, ein kleiner Akt des Übermuts. Aber von Kirschen allein kann man auch nicht leben, und irgendetwas hätten wir schon gern auf unser trockenes Weißbrot gelegt. Und da kam dieser kleine Laden gerade recht, ebenfalls an einem die minderen Kanäle gelegen, er verkaufte Käse. Wahrscheinlich haben wir uns nicht gleich hineingetraut, ihn etwas aus der Ferne umkreist, dann immer näher – und irgendwann war der Hunger groß genug, und wir öffneten zaghaft die Ladentür, vielleicht roch es verlockend, vielleicht auch nicht, wir merkten es jedenfalls ganz sicher nicht, weil wir viel zu nervös waren. Wir konzentrierten uns auf die kleinen Preisschilder, suchten gezielt das billigste Produkt und kramten dann hastig unser Brocken-Italienisch wieder aus: »Duecento grammi de« – und dann zeigten wir mit der weltweit verständlichen Geste des »das da!« auf das Preisschild. Der Patrone schaut ungläubig. Aus seiner wortreichen Antwort und Mimik war deutlich zu entnehmen, dass er nachfragte, ob das wirklich unser Ernst sei, duecento grammi? Wir nickten, zunehmend verzweifelt. »Bene«, sagte er achselzuckend und packte eine gräulich aussehende Masse in eine Papiertüte, der Vorgang war nicht ganz einfach. Touristen, dachte er wahrscheinlich. Was soll man schon sagen, Barbaren alle.
Wir verließen den Laden sehr schnell und suchten uns ein stilles Plätzchen zum Auspacken. Das Päckchen enthielt eine bröckelige Substanz mit einem eigenartig vertrauten Geruch, der uns im Moment jedoch entfallen war. Wir waren ratlos. Wir hatten nicht einmal ein Messer, wie sollten wir das Zeug auf unser Weißbrot kriegen? Barbaren, die Italiener. Doch langsam arbeitete sich der Geruch aus dem Hinterstübchen unseres Bewusstseins immer weiter nach vorn, bis wir endlich die Sackgasse erkannten, in die wir dieses Mal geraten waren: Hefe. Es war Hefe, was auch immer das auf Italienisch heißen mochte. Lose verkaufte Hefe. Zweifellos unessbar in rohem Zustand. Wir begannen hysterisch zu kichern. Wir rechneten aus, wie viele Brote man damit backen könnte, hätte man denn einen Ofen; oder Kuchen, Hefekuchen, so wie ihn unsere Oma immer am Freitagnachmittag fürs Wochenende gebacken hatte, und man musste nur ans Küchenfenster im Erdgeschoss klopfen und bekam ein ganz frisches Stück, das natürlich unendlich viel besser roch als unsere rohe Hefe, die sich krümelig in der Papiertüte breit machte. Und wie sollten wir das Zeug bloß loswerden? Öffentliche Mülleimer gab es damals ebenso wenig in Venedig wie öffentliche Toiletten, und wir konnte sie doch nicht einfach in den Canale Grande schmeißen, so wie wir leichtfertig die Kirschkerne hineingespuckt hatten! Wahrscheinlich würde der unförmige Hefekloß noch nicht mal versinken, sondern sich klebrig ausbreiten, eine undefinierbare Masse, die sich mit anderen undefinierbaren und unaussprechlichen Massen verbinden würde und an eine der glänzenden schwarzen Gondeln heften, wie eine bösartig mutierte Qualle, und dort wachsen und wachsen; und der Gondoliere würde sein Ruder nur noch mit großer Mühe wieder aus ihrem Schlinggriff befreien können, und sein böser Blick würde unweigerlich uns treffen, uns, die Barbaren, und wir wären tot in Venedig.

Vielleicht haben wir die Tüte aus reiner Verzweiflung zurückgetragen bis zum Hauptbahnhof, der schon genug mit dem Festland verbunden war, um sowohl öffentliche Toiletten als auch öffentliche Mülleimer aufzuweisen. Dass dann die Ferrovia Italia streikte und kein einziger Zug mehr zum Festland fuhr (und natürlich gab es keinen Schienenersatzverkehr, das Wort war damals wahrscheinlich noch nicht einmal erfunden, und wenn doch, dann hätte man es sicherlich wörtlich ins Italienische übernommen, la Schienen-Ersatz-Verkehr), zu unserem schnakenbesetzten Appartement bei Mestre, ist eine andere Geschichte. Aber immerhin, es war Venedig.

NEAPEL SEHEN UND SHOPPEN

Er wurde es nicht müde uns zu warnen. Wir waren zu diesem Zeitpunkt bereits gemeinsam durch Rom gelaufen, er hatte uns die beste Eisdiele und den allerbesten Schuhmacher gezeigt, und den Petersdom und das Pantheon, und weil es August war und alle Römer in Urlaub waren, mussten wir uns nicht mal vor den Mofas fürchten. Wir hatten zusammen, diesen Morgen noch, den Vesuv bezwungen, gemeinsam mit Scharen weiterer schlecht beschuhter und gut behüteter Touristen; es war ein freundlich-warmer Sommermorgen, und der schwarze Krater wirkt eher wie eine große Sandgrube, in die man leider nicht hinunterrutschen durfte. In der unwirklich blauen Bucht unter uns erstreckten sich, auf einer leichten Dunsthülle schwebend, Neapel und seine Vorstädte; dort ahnte man Pompeji, auf der anderen Seite Herculaneum, und nur der in langen Studienreisen verfeinerten, mit italienisch ausholender Gestik untermalten Redekunst unseres Reiseleiters (und vielen lehrreichen arte-Dokumentationen) war es zu verdanken, dass wir auch das Grauen ahnen konnten, das rasende Tempo der Lavamassen, den Geruch, die Schreie, die plötzlich eintretende Stille. Und nun rief Neapel; Neapel sehen und sterben, murmelten die Gebildeten unter uns vor sich hin, aber eigentlich wollten wir nicht sterben, sondern Pizza essen. Unser Bus setzte uns am Hafen ab, wo die zwei vor Anker liegenden blendendweißen Kreuzfahrtschiffe merkwürdig mit den sonnendurchglühten Rot und Ockertönen der Stadt kontrastieren; die Kreuzfahrer waren aber offenbar schon auf dem Marsch durch Pompeji, und Neapel war menschenleer wie Rom in der Mittagshitze. Auf der weiten Piazza del Plebisciti waren wir allein mit den Tauben, und nun wurden wir nochmals ernsthaft instruiert: Zusammen bleiben! Die Fotoapparate, wenn sie denn schon sein mussten, dicht am Körper, wie alle Wertsachen! Und nicht abschweifen, auch wenn die Gässchen noch so idyllisch lockten! Dies sei Neapel, und wenn wir auch mit ziemlicher Sicherheit nicht sterben würden, so könnten wir doch mit durchaus hoher Wahrscheinlichkeit beklaut werden. Also, im Chor bitte: Zusammenbleiben!

Wir trabten, eine etwas verängstige Herde, unserem tapferen Hirten hinterher, der uns wie immer in makelloser italienischer Statura führte; allein sein Profil hatte etwas nicht ganz Klassisch-Römisches, sondern wirkte eher silenenhaft, verschmitzt satyrisch. Wir alle waren ihm schon verfallen, seiner perfekten Haltung wie seiner scharfen Zunge; unsere urdeutsche Fixierung auf Socken und Sandalen wurde jeden Morgen aufs Neue bespottet, aber nur dann und wann wagte einer der Jüngeren vielleicht, ganz mutig das Hemd nicht in die Hose zu stecken. Und so tauchten wir ein in die neapolitanische Altstadt: Die Gassen wurden immer enger, die Häuser mit ihrem gefährlich abblätternden Putz schienen allein durch Wäscheleinen stabilisiert und berührten sich oben beinahe. Wenig Licht fiel hindurch und erhellte dann und wann einen Kleinwagen, der sich in die enge, schnurgerade Spaccanapoli gezwängt hatte, die Neapel in zwei Hälften teilt; eine Schlucht, die von den Hügeln aus unverkennbar einen Schnitt durch die Altstadt legt, und in deren Grund wir uns nun ausweichend an die verdächtig aussehenden Hauswände drücken mussten, um hupende Fiats mit wenig vertrauenerweckenden Insassen passieren zu lassen. Wir sahen Heiligenbilder, kaputte Motorräder, Müll; tiefschwarz gewandete Mammas auf bröckeligen Altanen, Straßenhändler, dunkle Läden, die sich in eine unendliche Tiefe erstreckten und bis oben hin vollgestapelt waren mit Dingen, Müll. Wir sahen, mitten darin, ein Kloster mit Orangenhain und natürlich die Straße der Krippen, in der das ganze Jahr über all das Sammelsurium verkauft wird, das zu einer typischen neapolitanischen Krippe gehört, darunter Pizzabäcker, Straßenhändler, wahrscheinlich auch Mofas und Taschendiebe und Müll. Und wir blieben zusammen, eine kleine Herde, die durch einen sehr fremden Kosmos stolperte und an einem heißen Augustmittag mit Figuren überladene Krippenszenarios fotografierte, die eher an eine von einem leicht Verrückten inszenierte Modelleisenbahn mit Wasserfall erinnerten als an eine Weihnachtsgeschichte im fernen Judäa.

Vollzählig und glücklicherweise noch im Besitz aller Wertgegenstände tauchten wir etwas erleichtert am anderen Ende wieder aus der Spaccanapoli auf und waren nun, endlich, bereit für den Höhepunkt: die neapolitanische Pizza, hier, an ihrem Erfindungs- und Ursprungsort; Neapel sehen und Pizza essen, darauf waren wir vorbereitet worden, wir kannten die Geschichte, wie die Margherita zu Ehren der gleichnamigen Königin erfunden worden war, in ihrem uritalienischen Dreiklang des Rots der Tomaten, des schneeweißen Büffel-Mozzarella und des duftigen grünen Basilikums – dazu das Mysterium der Hefe, ganz genau zwischen locker und knusprig, so, wie es eben nur in Neapel zelebriert werden konnte, und nicht in Nürnberg, New York oder Neuseeland und schon gar nicht in der heimischen Pizzeria oder aus einer Tiefkühlpappe. Doch da ereignete sich das Unvorhergesehene, das Unvorhersehbare, das Sakrileg: Ein kleiner Teil der Gruppe – es waren einige der Jüngeren – kündigte an, sich von der Herde trennen und lieber shoppen gehen zu wollen. Shopping?! Unser Hirte war nicht nur verstimmt, er war fassungslos. Socken in Sandalen, das mochte noch angehen, zumal man ja wirklich nicht wusste, was unter den Socken versteckt war; aber Shopping statt neapolitanischer Pizza? Seine Statur litt. Aber er fasste sich mühsam wieder und gab bündige Instruktionen: Zusammenbleiben, unbedingt, jetzt erst recht! Die Hauptstraße niemals verlassen, da gäbe es sowieso keine Shops in den Gässchen! Den Rucksack körpernah! Und genau eine Stunde, capisci? Die Abtrünnigen setzten sich etwas unsicher in Bewegung, der Rest setzte sich auf weiße Plastikstühle; die Pizzeria sah noch etwas unbelebt aus. »Shopping!«, murmelte er, immer wieder. Die Pizza ließ auf sich warten, aber schließlich war das hier kein Schnellimbiss oder Pizza-takeaway, sondern Neapel an einem mäßig heißen Montagmorgen im August, und die Kellner mussten erst ein wenig überredet werden, ihren Ofen anzuwerfen. Als dann unsere Pizza kam – stillschweigend hatte man sich auf Margherita, das Original geeinigt –, bissen alle herzhaft zu. In Sekundenschnelle waren wir bekehrt: Alles war, wie es sein sollte, und niemals mehr würden wir in unserer heimischen Pizzeria eine Pizza Hawai bestellen, ohne uns in Grund und Boden zu schämen, niemals mehr der Dr.Oetker-Werbung oder einer anderen internationalen Pizza-Mafia und ihren Papppizzas mit schmierigen Kuh-Mozzarella auf den Leim gehen!

Pünktlich nach einer Stunde – immerhin waren sie Deutsche und trugen Socken in den Sandalen – tauchten die Shopper wieder auf. Sie schleppten Plastiktüten, die internationalen Trophäen des globalen Schnäppchenjägers, die Tüten trugen vertraute Logos der globalen Großkonzerne, die Jäger sahen aber nicht wirklich glücklich aus. Aber immerhin, so vermittelte ihre trotzige Haltung, würden sie etwas Handfestes mittragen aus Neapel, und wenn es nur gefälschte Markenprodukte aus Asien waren! Wir aber, wir Bekehrten, wir hatten die einzige, die wahre, die platonische Ur-Idee der Pizza schlechthin gegessen, und zwar restlos aufgegessen; nicht eine Kante war übriggeblieben. Die Plastiktische hatten ein wenig geklebt, und das grobe Porzellan hatte einen leicht gräulichen Schimmer, aber kam es darauf denn an? Die Pizza war uns in Fleisch und Blut übergegangen; ein einfaches Mittagsmahl, gemeinsam genossen, während die Verräter ihre Silberlinge vergeudeten. Und ihre T-Shirts würden schon längst zu Fetzen zerfallen sein, während wir, in der heimischen Pizzeria oder zuhause, der Ur-Pizza gedenken würden, voller Inbrunst und Ehrfurcht und Sehnsucht, ihrem unvergleichlichen Dreiklang aus tiefroten Tomaten, schneeweißem Büffelmozzarella und duftiggrünem Basilikum in der Nase und den Geschmack von Italien, Vesuv und Sommer auf der Zunge, für jetzt und immerdar. ›Neapel sehen und shoppen‹ hingegen hat sich bis heute nicht als Logo etablieren können.

NICHTS ZU SEHEN IN TROJA

Die Busfahrt war sehr lang, und es war sehr heiß draußen. Wir waren zwar schon in aller Frühe vom Hotel gestartet, aber der Weg nach Troja durchs Landesinnere war weit und die Straßen waren noch nicht gut ausgebaut; es gebe aber, so erzählte uns unser türkischer Reiseleiter, ein neues Modernisierungsprogramm, alle großen Überlandstraßen in der Türkei würden nämlich vierspurig ausgebaut werden in den nächsten Jahren (die Geschichte spielt vor sehr langer Zeit, ante Erdogan). Die sehr vermischten deutschen Touristen, die den großen Bus über die Sitzreihen versprengt bevölkerten, blickten skeptisch; sie hatten auch schon gelernt, dass man in der Türkei mit fünfzig Jahren in Rente gehen konnte, und das klang alles ein wenig zu paradiesisch – wenn die Hitze nicht gewesen wäre. Die Klimaanlage kam einfach nicht gegen die über vierzig Grad Außentemperaturen an, aber wenigstens hatte der türkische Busfahrer vorausschauend seinen Kühlschrank bis zum Rand mit kleinen Plastik-Wasserflaschen gefüllt, an denen wir hingen wie an einem Tropf. Derweil unterhielt uns unser Reiseleiter tapfer weiter, während die Stunden sich zogen und die Temperatur weiter anstieg: Wir alle hätten ja sicherlich in der Schule die ganzen Geschichten gehört von Troja. Wir nickten brav und ließen sie uns trotzdem noch einmal erzählen, die Fahrt war lang und die Landschaft trostlos von der Sonne verbrannt. Das Besondere aber an dem realen Troja sei, so betonte unser Führer gleich zur Einleitung, dass es dort leider heute gar nichts zu sehen gebe. Er sage es uns lieber gleich, damit wir nicht enttäuscht seien; wo wir doch alle die großen Geschichten kennen würden und auf das Pferd neugierig seien oder wenigstens ein paar Reste von der alten Herrlichkeit Trojas und dem erbitterten zehnjährigen Kampf sehen wollten – aber nein, er müsse uns die Wahrheit sagen: Nichts, oder wenigstens fast nichts sei davon geblieben. Der Kampf müsse in unserem Kopf stattfinden, da die Realität leider nichts hergebe. Natürlich, man habe ausgegraben, wieder und wieder, von Troja I bis zu Troja X, aber es sei halt nicht viel mehr zu finden gewesen. Draußen zogen weiter türkische Kleinstädte mit öden Neubausiedlungen vorbei, wir konnten auch nur ahnen, wie stark die Mittagshitze inzwischen brannte; die meisten dösten längst vor sich hin; aber zwischendurch versäumte es unser Reiseleiter nicht, uns gelegentlich darauf hinzuweisen, dass in Troja immer noch nichts zu sehen sei. Nur damit wir gewarnt seien.

Als wir am späteren Nachmittag immer noch bei Bruthitze und mit steifen Beinen den Bus verließen, in dem sich die leeren Wasserflaschen türmten, stellte sich heraus, dass die Strategie des Reiseleiters geradezu des listenreichen Odysseus würdig war: Wir erwarteten einfach gar nichts mehr – und waren deshalb geradezu entzückt über jeden Stein, der mit viel Phantasie und gutem Willen ein wenig antik aussah und eine Säule ahnen ließ; wir malten uns aufs schönste aus, wie die Griechen über sanfte Schrotthügel anstürmten, vom Meer her, das da vorn in weiter Ferne liegen sollte, irgendwo; und wir hätten auch Helena in jedem Weibe gesehen, wenn wir denn überhaupt eines gesehen hätten; wir waren aber ziemlich allein in der Anlage – es gab schließlich nicht viel zu sehen, wie wir nun aus eigener Anschauung kennerhaft bestätigen konnten. Und als wir dann noch einen mit einem geometrischen Punktmuster versehenen quaderförmigen Stein fanden, sechs Punkte in wohlgeordneten Dreierreihen, freuten wir uns geradezu kindisch, dass wir das Ur-LEGO entdeckt hatten! Immerhin gab es auch ein rekonstruiertes Holzpferd am Eingang, wenn man tapfer war, konnte man sogar in seinen überhitzten Bauch klettern. Zudem hatten, um die Wahrheit zu sagen, die meisten nicht gerade präzise Erinnerungen an die Eroberung von Troja; Homer ist keine einfache Lektüre, allenfalls hatte der eine oder die andere den neuen Film mit Brad Pitt gesehen, aber der war nun leider auch nicht in Troja geblieben.

Unser türkischer Reiseleiter aber wurde während all der Zeit nicht müde, uns zu loben, unsere Disziplin und unsere Pünktlichkeit vor allem, die sich so wohltuend von der italienischer Reisegruppen abhebe – wenn die erst mal beim Essen säßen, würden sie nie mehr aufstehen, die Deutschen hingegen: immer fünf Minuten vor der Zeit! Wir schämten uns leise unserer Sekundärtugenden, aber das war noch nicht das Schlimmste. Noch schlimmer wurde es, wenn er an unsere Bildung appellierte. Die Gruppe war ungefähr so ein gemischter Haufen wie die homerischen Helden, die sich damals aus ganz Griechenland kommend vor Troja versammelt hatten; und der Bus war unser Holzpferd, in dessen Bauch wir sicher waren. Draußen jedoch lauerten die Hitze und die Bildung. In Ephesos zum Beispiel, wo wir wiederum bei über vierzig Grad unter dem einzigen kargen Olivenbaum, der einen Hauch von Schatten zwischen den Ruinen spendete (wenigstens gab es hier reichlich davon), zusammengedrängt waren, eine blasse Schafherde mit bunten Sonnenhüten – hier in Ephesos also, so verkündete der Reiseleiter stolz, habe der Apostel Paulus seine berühmten Briefe geschrieben. Er erntete verständnislose Blicke von seinen Schäfchen. Die Briefe an die Epheser natürlich, wir wüssten schon. Große Teile der Reisegruppe wussten nichts, oder wenigstens deutlich weniger noch als über Troja, und diesmal nickten sie nicht brav und schafsartig, warum auch immer, sondern wurden ein wenig aufmüpfig: Sie waren ehemalige Bürger der DDR, und Bibellektüre stand noch weniger als Homer auf ihrem Lehrplan, woher sollten sie so etwas also wissen? Und so kam es, dass ein sehr freundlicher, umfassend gebildeter, liberal muslimischer, grauhaariger türkischer Reiseleiter seiner deutschen Reisegruppe, kaum fünfhundert Meter entfernt von der imposanten Fassade der berühmten Bibliothek von Ephesos (es war aber nur eine Fassade übrig, die leeren Fenster schauten ins Nichts, auf das Meer, das damals noch dort war und sich jetzt auch zurückgezogen hatte), eine Einführung in die Grundlagen der christlichen Religion erteilte, die reges Interesse fand; und wenn der Apostel Paulus jetzt noch ein Pferd dagelassen hätte, wären wahrscheinlich die Ersten vom Atheismus zum Christentum konvertiert. So aber war es ein Märchen mehr von vielen, über eine Religion aus einer fernen Zeit in einem fernen Land, das keinen Schatten kannte, aber monumentale Bibliotheken und Theater baute und einen zehnjährigen Krieg um eine schöne Frau führte.

Der Reiseleiter wurde es im Übrigen auch nicht müde, uns die Vorzüge des Kemalismus zu predigen; kaum sah man eine verschleierte Frau auf der Straße, so wies er darauf hin, dass das alles Touristinnen sein, aus Kuwait wahrscheinlich. Türkische Frauen müssten keine Schleier tragen. Natürlich könne man auch Alkohol trinken, zu medizinischen Zwecken nämlich, das erlaube der Koran selbstverständlich. Und wenn er uns von Kemal Atatürk persönlich erzählte, so als sei er ein alter lieber Bekannter von ihm gewesen, kam ein besonders weicher Ton in seine sowieso schon weiche Stimme. Aber er führte uns auch in eine kleinere Moschee, wo der Imam – eine alter lieber Bekannter von ihm – die erste Sure des Koran für uns rezitierte; die Frauen unserer Gruppe trugen schmucke Kopftücher und fühlten sich nicht unterdrückt. Und als wir dann in Istanbul über den Bosporus fuhren, an einem frischen und klaren Morgen auf einer schaukelnden Barkasse, und sich am europäischen und am asiatischen Ufer die Sultans-Paläste neben den Hochhäusern entfalteten und die ersten Fischer am Ufer ihre Angeln auswarfen, waren wir endgültig diesem Land verfallen, das so charmant die Kontinente und die Religionen verband. Keiner von uns ahnte, dass kaum zehn Jahre später ein neuer Herrscher aufstehen würde, um dem Kemalismus endgültig ein Ende zu bereiten; und wenn ich an unseren Reiseleiter zurückdenke, der so viel Geduld mit den ungebildeten, aber pünktlichen Deutschen hatte und so melancholisch aus seinen alten weisen Augen schaute, dann fürchte ich sehr um ihn.

DRACHEN UND STRUKLJI: EIN LOB AUF LJUBLJANA

Eigentlich wusste ich gar nichts über Ljubljana – außer dass, es war in den 80er-Jahren bei einem Besuch in Kalifornien, ein Student in einer WG, wo wir zu Gast waren, gesagt hatte, Ljubljana sei die schönste Stadt der Welt (er kam natürlich von dort)! Ich hatte das unter diverse Seltsamkeiten, die ich (noch) nicht verstand, verbucht, aber irgendwie hatte sich der ja durchaus auch phonetisch interessante Name in meinem Kopf festgesetzt: Ljubl-jana, man stolpert ein bisschen darüber, aber warum eigentlich nicht? Und als es deshalb fast am Wege lag, buchte ich ein Hotel; ich war erfreut über die sehr zivilen Hotelpreise und buchte das (wie immer: zweit-)beste Hotel am Platze, es war ein sehr schöner historischer Jugendstilbau mit dem nicht gerade bescheidenen Namen „Union Grand Central“. Und so fuhren wir, an einem sehr ruhigen und sonnigen Sonntag Ende Juni, auf einer angenehm großen und ruhigen Straße von der Autobahn kommend (man kann das Permit für die slowenischen Autobahnen online erstehen, während man über die Grenze fährt, ist das nicht völlig grandios und in Deutschland undenkbar?) in die angenehm ruhige Innenstadt von Ljubljana ein; und fanden nach einigen Mühen mit dem Einbahnstraßensystem unser Hotel, zentral gelegen, in dem auch schon der Dalai Lama und Umberto Eco nebst diversen königlichen Hoheiten logiert hatten.

In der angenehm ruhigen Hotel-Lobby buchte uns ein hochkompetenter, sehr ansehnlicher junger Mann ein. Als wir fragten, ganz umsichtige Touristen, ob wir für den Abend eine Reservation für das (im Internet sehr bepriesene und relativ hochpreisige) Restaurant bräuchten, sagte er ohne das geringste Zögern: Nein, das bräuchten wir eigentlich nicht. Aber wenn wir daran interessiert wären, könne er uns einige Lokale in der Nähe empfehlen, die sehr gute Küche, auch regionale, zu sehr vernünftigen Preisen anbieten würden. Wir ließen uns die Tipps dankbar auf dem Stadtplan einzeichnen, verzichteten auf die Reservierung, und wir wunderten uns ein klein wenig. Ach, es war irgendwie, sollte sich herausstellen: ganz typisch für die Stadt! Denn Ljubljana schließt man eigentlich sofort ins Herz: Es ist hinreißend schön, wie Wien, aber ohne die etwas anstrengenden Wiener; es ist charmant, wie Prag, aber ohne die Massen an Touristen. Es ist nicht protzreich, aber auch nicht mitleiderregend verfallen. Es hat viel Kunst im öffentlichen Raum, aber sie ist humorvoll und selbst-ironisch. Das Stadttier im Wappen ist ein Drachen, man sieht ihn überall, aber sein Urbild ziert vierfach die Drachenbrücke: Zwar blecken die vier Drachen furchterregend die Zähne; aber sie haben Engels-Flügel und wirken überhaupt eher niedlich; so als hätten sie sich eher zufällig auf der Brücke niedergelassen, weil es nun so gut passte und weil Ljubljana eben – die schönste Stadt der Welt ist!

Wir begannen also Ljubljana zu entdecken an diesem angenehm ruhigen Sonntag (immerhin war Fußball-EM, aber sogar die abendlichen kleinen Public Viewings waren sehr zivilisierte Angelegenheit). Wir schlenderten durch die Innenstadt, vorbei an auf ziemlich engem Raum konzentrierten kulturellen nationalen Institutionen wie der Oper oder dem Nationalmuseum, in Richtung Tivoli-Park. In der Unterführung unter der Bahnstrecke, die Ljubljana nicht so schön durchschneidet (aber noch nicht einmal das stört); spielte ein Trio ziemlich guten Jazz; die Musiker sahen etwas zerlumpt und etwas irre aus, aber sie konnten ihr Ding, und viele Leute blieben stehen, setzten sich oder gaben sogar im Vorbeigehen Geld. Im Park gab es ruhige Wege, alte Bäume, gepflegte Staudenbeete, lustige Statuen (ein Hundepaar auf dem repräsentativen Aufgang zum Schloss, wo man traditionell zwei Löwen erwartet hätte, wenn schon keine Adler oder Drachen); es gab Fische im Teich und einen Graureiher dazu. Sonntagsspaziergänger, Radfahrer, Jogger. Und wieder ein Güterzug, die Adria mit ihren Häfen ist nicht weit hinter den Bergen. Zurück auf der anderen Seite der Bahnlinie entdeckten wir zufällig die bunten Buddy-Bären auf dem Republik-Platz; einem Platz, wie geschaffen für einen Kreis von 150 bunten Bären, mit seinem eher befremdlichen postsozialistischen Ambiente voller staatlicher Ambition: an der einen Seite das (eher bescheidene) Parlamentsgebäude, an einer anderen ein pompöses Revolutionsdenkmal, dazu das schrecklich in die Jahre gekommene Kultur- und Kongresszent-rum. Nein, das wäre alles schon schwer erträglich gewesen ohne die bunten Bären; und ohne den letzten verbliebenen Revolutionär, der mit prophetisch erhobener Stimme – und in für uns völlig unverständlichem Slowenisch – irgendeine vage kommunistisch inspirierte Ansprache hielt (wir verstanden Fetzen wie „Che Guevara“). So aber – Ljubljana, wie es leibt und lebt: ironisch, selbstkritisch, bunt, unambitiös. Sogar die einzige Polizistin, die vor dem Parlament einsam wachen musste, sah eher nach einem sehr freundlichen Drachen aus.

Abends waren wir in einem der empfohlenen Restaurants; es lag etwas abseits, aber mit einem guten Blick auf Puppentheater und Seilbahn hinauf zur Burg, und es hatte slowenische Küche – das, was man gern „bodenständig“ nennt, also: fleischlastig, kohlenhydratereich, eher wenig interessiert an Gemüse. Aber, und das lernten wir nun als Spezialität kennen und schätzen: Sie können Strudel, Strudel aller Arten, sie heißen „Struklji“, und sie kommen mit allen nur denkbaren Füllungen, süß und salzig. Ein Struklji kann eine Mahlzeit für sich sein (meistens reicht er), aber auch eine Beilage; und er ist, das macht ihn zu einer angenehmen Mehlspeise, eigentlich nicht schwer. Wir tranken Bier dazu, die lokale Marke führt natürlich den Drachen im Bild und heißt, wie unser Hotel: „Union“. Aber dann wollten wir, zu unserer Nach-speise und zum Puppen-Spiel auf dem Puppentheater um 20 Uhr, einen Wein. Auf der Karte fand ich neben den Hausweinen einen Namen, von dem ich noch nie gehört hatte, natürlich wussten wir auch nicht, wie man ihn ausspricht: Cvicek. Wir fragten bei der Kellnerin nach, sie war hochkompetent, jung und hübsch, genau wie unser Hotelangestellter; und sie erklärte uns freundlich und bestimmt, es handele sich um eine Mischung aus roten und weißen Trauben (es ist tatsächlich genauso abenteuerlich, wie es sich anhört), und, nun ja, es sei nicht jedermanns Sache. Sie zum Beispiel möge ihn eigentlich nicht. Das klang experimentell genug, um es auszuprobieren, und, ja, sie hat Recht: Man mag ihn nicht direkt gleich. Aber, mit ein wenig Gewöhnung – ist er, zumindest, eigenwillig. Er versucht nicht, einen „guten“ Wein zu imitieren, sondern er ist – was er ist. Das Gleiche passierte uns übrigens, als wir ein slowenisches Olivenöl kaufen wollten. Die Verkäuferin (ja, genau die gleichen Adjektive zur Personenbeschreibung bitte ergänzen!) wies uns darauf hin, dieses eine Öl sei – nun ja, besonders charakteristisch für Slowenien. Denn es habe Bitterstoffe, die zu schmecken sein, und das sei nun eben die Sache in einem Land, das nicht direkt freundlich für den Olivenanbau sei (sie sagte es ziemlich wörtlich so): Es behielte halt Bitterstoffe, und das müsste man mögen. Wir probierten, und sie hatte recht. Dieses Mal kauften wir das nicht so bittere Öl, aber trotzdem: Das ist Slowenien!

Wir aßen Strudel, süß und salzig. Wir liefen durch die Stadt, über die vielen Brücken, den Fluss entlang mit seiner französischen Anmutung von Bistros und Antiquariaten: wir liefen durch die Gassen mit den kleinen Boutiquen neben den Touristenfallen; wir bestaunten die Kunst am Wege und gerieten bei-nahe ins Schlendern (etwas, was wir uns als Touristen eher selten gelingt). Auf der Burg über der Stadt trafen sich bei einem morgendlichen Regenschauer Touristen aus aller Herren und Damen Länder; das Café war überfordert vom plötzlichen Besucheransturm, aber der Schrift-Künstler in der Kapelle, der uns einen kleinen Geburtstagsgruß malte und ungebeten zwei weitere dazu gab (dulce et utile; amor vincit omnia, es leben die Klassiker, und eine sehr slowenische Mischung an Merksätzen!), war mehr als freundlich. Zudem wies er uns ungebeten darauf hin, dass mor-gen der Nationalfeiertag anstünde – alle Geschäfte würden geschlossen sein, wir sollten also all das, was wir kaufen wollten, heute kaufen! Ein guter Tipp, und er erklärte einiges. Zum Beispiel den Auftrieb auf dem Kongressplatzvor der Universität. Es spricht nämlich auch sehr für Ljubljana, dass eines seiner größten und repräsentativsten Gebäude – das Universitätshauptgebäude ist (na gut, es war früher der Sitz des Landtags); es steht geradezu im Herzen der Stadt, und nur wenige Straßenzüge weiter ist die ebenfalls sehr repräsentative und architektonisch außerordentlich gelungene National- und Universitätsbibliothek, in deren sehr heilig anmutenden Hallen man sich recht ordentlich in Bücher vergraben möchte. Das ist übrigens eines der Hauptwerke des Architekten Joze Plecnik, der den städtebaulichen Plan für Ljubljana entworfen (er trainierte in Wien und Prag für das damalige Laibach) und in den Jahren zwischen den Weltkriegen durchgeführt hat; was ihm nicht nur eine Aufnahme in das Weltkulturerbe unter dem Titel „am Menschen orientierte Städtegestaltung“ einbrachte, sondern auch nicht unwesentlich dazu beitrug, Ljubljana zur schönsten Stadt der Welt zu machen. Und er war Slowene, geboren sogar in Ljubljana!

Ach, die kleinen Nationen; sie haben es gleichzeitig schwer und leicht. Schwer, weil sie klein sind: politisch unbedeutend, von größeren Mächten hin- und hergeschubst und untereinander verteilt, häufig auch geistig und intellektuell dominiert von den größeren Strömungen ihrer Zeit (die Balkanstaaten sind beredte Beispiele dafür; und Österreichs Imperialismus, vor der eigenen Haustür, auch noch nicht recht kritisch gewürdigt). Aber sie haben es auch leicht: Unbeschwert dürfen sie sich auf ihre nationale Eigenart, auf ihre Identität, beinahe: auf ihre Stammesherkunft berufen. Denn unter der Fahne des Eigenen, des Anderen und Eigenwilligen haben sie sich am Leben erhalten, ihre Besonderheit gepflegt, und sei es nur in Äußerlichkeiten, Trachten, Dialekt, einer sympathischen Neigung zu Selbstkritik und Strudel. Oder in Nationalfeiertagen. Denn auf dem Kongressplatz wird nun die große Bühne aufgebaut und der rote Teppich aus-gerollt; und in einer Seitenstraße sammeln sich am Vorabend die herausgeputzten Paradetruppen und rücken sich gegenseitig die Schirmmützen zurecht. Der zum Gelegenheits-Anarchismus neigende Pazifist in mir möchte sie gern mit den bunten Buddy-Bären mischen (der slowenische trägt übrigens Strukjlis, wenn auch nur auf der Rückseite), aber gönnen wir kleinen Ländern ihre Militärparaden! Beim Festakt, als er abends mit einiger Ver-pätung dann endlich beginnt, wird sogar ein Salut geschossen; die Besucher allerdings wirken wenig begeistert, als ihnen beim Einlass Papierfähnchen in den Landesfahnen in die Hand gedrückt werden. Derweil läuft einige Straßen weiter das Public Viewing, und in den zahllosen, gut gefüllten Restaurants und Bars freuen sich die Gäste wahrscheinlich über den bevorstehenden freien Tag, ob mit oder ohne Fähnchen.

Als wir am nächsten Tag mit Olivenöl, slowenischem Käse und Schokoladen-Drachen im Gepäck durch angenehm ruhige Straßen die Stadt hinaus zur Autobahn fahren, begrüßt uns dort die Anzeige „Happy National Day!“ Kein Fähnchen, wir winken trotz-dem zum Abschied, bekehrt durch die slowenische Leichtigkeit des „dulce et utile“. Habe ich schon gesagt, dass auf einem der städtebaulichen wichtigsten, interessantesten, bedeutungsheischendsten Plätze der Stadt – ein Loch in der Mitte ist? Also, es ist der kreisrunde Platz vor den „drei Brücken“ (einer nun wirklich singulären Konstruktion, um die Kurve des Flußlaufes an dieser Stelle zu überbrücken); die eine Achse führt den Blick direkt hinauf zur Burg, die andere hin zu unserem Hotel, dem Grand Hotel Union und einer Straße, die gesäumt ist mit den prächtigsten Jugendstilbauten, die die Stadt zu bieten hat. Um den kreisrunden Platz reihen sich das Kaufhaus „Galerija Emporium“, die Franziskanerkirche Maria Verkündigung und weitere Jugendstil-Perlen; und beinahe in der Mitte steht die Statue des slowenischen Dichters, nach dem der Platz auch benannt ist, nämlich France Preseren (sein Schicksal liest sich ein wenig kafka-esk auf Wikipedia, erfolgloser Rechtsanwalt, schuftete sich ab in seinem Brotberuf, verliebte sich erfolglos, blieb literarisch ungewürdigt zu Lebzeiten, stirbt zu früh an Leberzirrhose; aber man muss nehmen was man hat, wenn man einen Nationaldichter sucht in einer kleinen Nation!). In der Mitte des Preseren Trg jedoch, gekennzeichnet durch einen aufgemalten Kreis mit Segmentstücken – sprüht ein feiner Nebel aus dem Boden, gespeist aus Ljubljanas eigenem Wasser. Man sieht ihn kaum, aber wenn der Wind aus der richtigen Richtung weht und man in geringem Abstand vorbeigeht, wird man benebelt. Einfach so. Wahrscheinlich weil es dulce et utile (ein Synonym für „angenehm“, im übrigen) ist an einem warmen Sommerabend in Ljubljana, der schönsten Stadt der Welt!

DER HEILIGE JOSEF UND DIE AKKUAUFLADESTATION

Wir hatten vielleicht ein wenig zu laut gelacht. Wir kamen von einem reichlichen Abendessen, natürlich auch mit alkoholischen Getränken, und nun liefen wir durch den stillen Tiroler Abend; es war kurz vor Mittsommer, und die Berge glänzten noch ein wenig im späten Abendlicht. Unser Ziel war die Josefskapelle, wir hatten sie gesucht und gefunden; der Heilige Josef war in einem schlichten Fresko über dem Eingang abgebildet, unscheinbar wie immer, die ewige undankbare Nebenrolle in dem großen christlichen Mysterienspiel. Auch seine Kapelle war ein unscheinbares Mini-Kirchlein mit kleinem Schiefen Turm und einem schmalen Innenraum. Seltsamerweise war die Tür vergittert, ebenso wie das Fenster, durch das man den geschmückten Altar mit der Marienstatue im Halbdunkel erkennen konnte, Holzbänke, einfache Blumen und Kerzen. An der Holztür war ein Plakat in etwas zu auffälligen Farben angebracht; von weitem sah es so aus, als würde es für die nächste Wochenend-Disco werben, mit AlpenDJ Lederhois’n und seinen wilden Wolpertingern oder einer ähnlichen Attraktion. Aber nein, bei näherer Betrachtung war es eine Ankündigung der nächsten Veranstaltungen in dem Kirchlein; darunter eine ›Bauverhandlung‹, was uns schon stutzen ließ, und eine anderthalbstündige Abendveranstaltung mit dem Titel ›Akku aufladen‹, was uns in völlige Ratlosigkeit stürzte und dann das ein wenig zu laute Gelächter veranlasste– war das Kirchlein eine Art Aufladestation mit freien Steckdosen und WLAN an den Holzbänken? Etwas verspätet kam die himmlische Erleuchtung, für die unsere alkoholumnebelten Hirne etwas länger gebraucht hatten: Es wohl eine bildliche Ausdrucksweise, man sollte seinen inneren Akku aufladen, in der Stille des Kirchleins, unter dem sanften Blick von Josef, dem Schutz der Madonna und beim Flackern ewiger Lichter.

Wir mochten den einen oder anderen respektlosen Scherz darüber gemacht haben, im Übermut, als plötzlich dieser alte Mann vor uns stand, wir hatten ihn nicht einmal kommen sehen. Seine Kleidung war etwas abgerissen, die Jeans zerfranst, ein schäbiges Sakko über einem weißen Hemd, er trug eine abgenutzte Plastiktüte in der Hand, und als er uns ansprach, sah man, dass nur noch ein Zahn im Mund übrig war. Zuerst vermuteten wir alle wohl, obwohl keiner es aussprach, dass er uns anbetteln wollte. Aber dann sahen wir seine schlohweißen Haare, die mit einem kleinen Bart das faltige, wettergebräunte Gesicht umrahmten, und die blitzend hellblauen Augen; und seine Stimme klang leise und angenehm und nur ein wenig dialektal gefärbt, als er uns ansprach: Ob er uns bitte kurz etwas fragen dürfte? Wir wurden stocknüchtern und sehr höflich, ja, natürlich, sehr gern. Ihn würde nämlich interessieren, warum wir eben gelacht hätten; und wenn es wegen der Kapelle gewesen sei, er wies auf den Heiligen Josef, so sehe er nun gar nicht, was daran zu lachen sei? Um Gottes willen, hätten wir wohl am liebsten spontan gesagt, aber das wäre auch irgendwie falsch gewesen, und so versicherten wir schnell, eifrig und hochdeutsch, dass uns das keinesfalls in den Sinn gekommen wäre. Ich suchte fieberhaft nach einer Erklärung für das doch ein wenig zu laute Lachen, mir fiel aber nur ein, nach der ›Bauverhandlung‹ zu fragen; das hätten wir nicht so recht verstanden, ob er uns weiterhelfen könnte? Natürlich, sehr gerne. Es sei nämlich so, erläuterte er bedächtig und seine hellblauen Augen blitzten dazu, dass hier ein neues Bebauungsgebiet entstehen sollte – die Kapelle war von ein wenig grüner Wiese umgeben, am Tag wären im Hintergrund lautlos die Gondeln der Zugspitzbahn über Felsenklüfte geschwebt, und man konnte sehen, dass der eine oder andere Investor an dieser Stelle sicherlich gern noch ein weiteres Vier-Sterne-Wellness-Hotel namens ›Zugspitzblick‹ oder ›Alpenglühen‹ hingestellt hätte, oder wenigstens einen kleinen Ferienwohnungsblock, obwohl an beidem in dem gar nicht so großen Dorf wahrlich kein Mangel war. Aber man wisse nicht wohin mit der Kapelle. Wir nickten verständnisvoll. Es sei auch leider so, fuhr er fort, ermutigt, dass man leider die Kapelle absperren müsse, genauso wie die große Kirche unten im Dorf, und das sei wirklich sehr bedauerlich, dass man Kirchen absperren müsse. Es würden aber viele Menschen hierherkommen, die, nun ja, keinerlei Verständnis für die Religion hätten oder ein ganz anderes jedenfalls als die Menschen hier; und sie würden alles kaputtmachen, zerstören, ja sogar stehlen! Wir versuchten uns vorzustellen, was man in dieser Kapelle hätte stehlen können, die Kunstblumen oder die halb herab gebrannten ewigen Lichter, aber darauf kam es wohl nicht an; es ging ums Prinzip, und wir fragten lieber nicht nach, ob der freundliche Josef mit den blitzblauen Augen und dem einen verbliebenen Zahn respektlos kichernde Touristen wie unsereinen meinte oder Flüchtling aus fernen Ländern mit anderen Göttern. Denn die Religion, so fuhr er fort, sei doch nötig; das würden die Leute eben nicht verstehen; das Volk brauche sie, auch heute, ihre Ordnung, das würde sie ruhig halten.

Das waren nun Sätze, die man besser nicht in einem Internet-Chat schreiben sollte, außer in der richtig gefärbten und gut abgeschlossenen Echokammer; aber irgendwie war ich mir sicher, dass der gute Josef kein brauner Wolf war, dem das Leben die Zähne gezogen hatte. Es war einfach seine Erfahrung, die Erfahrung eines schon um so vieles längeren Lebens als des unseren, die ihn gelehrt hatte, dass die Leute (und vielleicht sogar nicht nur die ›einfachen‹) genau das brauchen in unsicheren Zeiten: die Religion, einen Halt, Ruhe und Ordnung. Eine kleine Kapelle am Wegesrand, unter dem Patronat des unscheinbarsten Helden der christlichen Mysterienspiele: Josef, der immer am Rande steht, zuschaut, die Ruhe in Person. Vielleicht hat er auch damals ein wenig für Ordnung gesorgt, als es Maria alles zu viel wurde mit den Engeln und den verwirrten Hirten und den blöde glotzenden Kühen, und dann kamen auch noch diese Magier aus dem Morgenlande und brachten unnütze Geschenke! Was war er Maria, wenn nicht ein Halt. Und wir wissen noch nicht einmal, ob und wie er alt geworden ist; sein angetrautes Weib ist unter dem Kreuz gestanden, als ihr Sohn daran starb, für viele ist sie danach in den Himmel aufgefahren, aber Josef war nur ein zimmernder Ersatzvater mit wenig Besuchsrecht. Gern hätte ich dem alten Mann noch etwas Ermutigendes gesagt, die Welt ist gar nicht so schlecht, wissen Sie, aber leider ist sie es doch. So konnten wir uns nur etwas zu überschwänglich und hochdeutsch bedanken, und er nickte bedächtig mit dem schlohweißen Kopf und schlurfte die Straße wieder hinunter, mit seiner Plastiktüte in der Hand.

Es bleibt zu hoffen, dass der Heilige Josef ihn schützt und das Kapellchen. Aber wahrscheinlich wird man es unter eine Glasglocke stellen, inmitten einer All-inclusive-Alpenresidenz mit Wasserrutschen und Alpencocktails, und wenn man ein Eurostück einwirft, dreht sich der Heilige Josef im Kreis und spuckt eine Gedenkmünze aus. Für den Halt wird gibt es seniorengerechte Badewannen geben und für die innere Ruhe einen großen Wellness-Bereich mit Meditationsmusik und Weihraucharoma und blinkenden LED-Leuchten. Und Akku-Ladestationen sind natürlich frei, für alle.


DIE AH-SAGER.
EINE GESCHICHTE AUS ARMENIEN
Als erstes warnte unsere armenische Gastgeberin uns vor dem Straßenverkehr. Geht bloß nicht einfach bei Grün los, sagte sie. Da hält sich hier keiner dran! Immer schauen müsst ihr, und dann losgehen, wenn ihr eine Lücke seht, und zwar zügig! Sie bremsen auch nicht! Das Kind schaute verunsichert. Gerade erst hatte man ihm mühsam beigebracht, bei Grün zu gehen und bei Rot zu stehen, da sollte es nun auf einmal alles vergessen. Einfach so. Weil man halt in Armenien war, und nicht mehr in Deutschland, wo alles brav bei Grün stand und bei Rot ging (jedenfalls wenn die Eltern schauten). Zudem waren viele Straßen ziemlich breit in der Hauptstadt der noch nicht seit allzu langer Zeit aus dem Sowjetreich in die Freiheit entlassenen Republik Armenien; und sie waren zwar noch nicht überfüllt, aber doch gut befahren, schnell vor allem; die Minibusse, die Marschrutkas (unwillkürlich musste man an die russischen Puppen denken, die Matrjoschka, und genauso eng war es auch in den kleinen Bussen, einer stand dem anderen auf den Füßen, und wenn man zu groß war, konnte man sich nicht aufrichten während der Fahrt) drängelten sich mit Taxis, den schwarzen Jeeps der sich bereits formierenden kapitalistischen Oberschicht und mehr oder weniger schrottreifen Sowjet-PKWs um die Wette. Es war also gar nicht so einfach, die andere Straßenseite zu erreichen, ein kleiner Adrenalinstoß jedes Mal, aber man gewöhnte sich. Man gewöhnte sich auch, notgedrungen, daran, dass die Bürgersteige trotz strengen Winters nicht geräumt worden waren; an vielen Stellen hatten sich Eis-platten gebildet, die offenbar keinem von den Einheimischen auffielen, aber in den deutschen Besuchern Horrorbilder von gebrochenen Gliedmaßen und armenischen Krankenhäusern auslösten. Immerhin, die großen Straßen waren weitgehend eisfrei, und außerdem hätte auch niemand das Tempo gedrosselt, wenn dem nicht so gewesen wäre.

Ähnlich aufregend war es, wenn man mit einem der vielen Taxis fuhr, das uns für einen für westeuropäische Verhältnisse lächerlichen Preis, die Tausende von Drams flutschten nur so vorbei, quer durch die Metropole in die etwas trostlosen Vorstädte und darüber hinaus transportierte; am besten schloss man die Augen während der Fahrt. Denn dass man überhaupt am Ziel ankam, war sowieso immer fraglich; die Taxifahrer sprachen Armenisch, sicher fließend, und Russisch, vielleicht sogar akzeptabel; aber nicht ein Wort Englisch, von Deutsch ganz zu schweigen, wieso sollten sie auch? Das Armenische aber ist, wie das gesamte Land samt seinen drei Millionen Bewohnern, eine stolze und unabhängige Schöne: Es hat eine eigene Schrift aus vage kyrillisch anmutende Buchstaben mit vielen sanften Rundungen und Häkchen, erfunden von dem großen Mesrop Maschtoz im vierten nachchristlichen Jahrhundert, und es ist bis heute nicht nur Amtssprache, sondern auch ein beliebtes, tausendfach wiederholtes künstlerisches Motiv. Nicht einmal aufgeschriebene Anweisungen konnten also weiterhelfen; und etwas verzweifelt überließen wir uns unserem Schicksal und dem Herrn des Taxis, der nach vielen Anrufen bei seiner Zentrale und wiederholten Gesprächen mit Kollegen, Freunden und Bekannten, notfalls an jeder Straßenecke, dann doch irgendwann zum Ziel fand. Oder zumindest in dessen Nähe.

Es wurde also Gottvertrauen verlangt; und auch davon hatten die Armenier selbst reichlich. Was blieb ihnen auch übrig – einem kleinen Volk, dessen Bevölkerungsmehrheit bis heute in der Diaspora lebt; einem zutiefst religiösen Volk, das einen eigenen Patriarchen hat und als erstes das Christentum zur Staatsreligion machte, aber umgeben ist von Andersgläubigen; einem verzweifelten Volk, dessen heiliger Berg, der große Ararat, sich nicht nur den größten Teil des Jahres hinter Wolken versteckt, sondern auch noch auf dem Gebiet des alten Erbfeindes, der Türkei, angesiedelt ist? Tausendfach lachte der Ararat von den armenischen Kognakflaschen, aber nur allzu selten zierte seine schlichte Linie den Horizont in der Ferne; sogar von Jerewan, der Hauptstadt, hätte man ihn sehen können, wenn man ihn denn hätte sehen können, und jeden Morgen schauten wir aufs Neue hoffnungsvoll aus unserem Hotelfenster: Dunst, Nebel, Sonnenschein, Kälte, aber kein Ararat. Vielleicht war es besser so. So blieb er im Nebel der Urgeschichte, man konnte sich einbilden, die Arche sei im-mer noch auf ihm gestrandet, und jeden Morgen sende Noah eine Taube aus, sie fliegt direkt nach Jerewan und findet den Rückweg nicht, weil sie den Ararat nicht sieht. Aber wer sieht, muss nicht glauben; auf den Glauben jedoch kam es an, und während in Jerewan die Absätze der Frauen immer höher wurden und ihre Röcke immer kürzer, sahen wir in den dunklen Kapellen auf den Dörfern alte Frauen, die genauso rauchgeschwärzt wirkten wie die Wände. Sie verkauften den Besuchern Kerzen, sehr lange schmale honigfarbene Kerzen, die man anzündete, in mit Sand gefüllt quadratische Behälter steckte und ein stilles Bittgebet dazu sprach, vielleicht für die zukünftigen Taxifahrten und Straßenüberquerungen. Doch einmal hatten die reichen Gäste aus dem Westen nur noch 1000-Dram-Scheine, kein Kleingeld, und als das Kind schüchtern der alten Frau den Schein reichte, wurde sie sehr aufgeregt und gab ihm einen gan-zen Armvoll Kerzen und bekreuzigte und bedankte sich, immer wieder. Natürlich steckten wir dann alle Kerzen an, das Kind freute sich und machte ein Muster in der Box, ein symmetrisches natürlich; vielleicht hat es sogar die wenigen Kerzen, die schon brannten, umsortiert, sie standen so unordentlich und durcheinander. Es wurde für kurze Zeit ein wenig wärmer und heller.

Wir lernten glauben. Wir lernten, dass man immer irgendwann ankommt, dann wird man sehr herzlich begrüßt und allen vorgestellt, und man bekommt jede Menge Essen, häufig Süßigkeiten, und dann lernt man wieder neue Menschen kennen, und alle Namen enden auf ›yan‹ und die Sprache scheint aus herzlichen As zu bestehen, wie Armenien und der Ararat, sowohl der Berg als auch der Cognac, und die zweitbekannteste Kognak-Sorte heißt Arma. Das ganze Land war ein Ausdruck permanenten Ah-Sagens, ein Ah der Freude, des Staunens, der Neugier, auch wenn die Schrift optisch ein wenig mehr zum U zu neigen schien und damit noch vage an das alte Königreich Urartu erinnert. Aber die Armenier waren keine Uh-Sager, sie waren Ah-Sager, und sie schauten dem Leben optimistisch und stolz ins Gesicht; sogar nach dem Völkermord, nach den großen Erdbeben und nach der schlimmen Energiekrise, als ihr einziges Atomkraftwerk abgeschaltet worden war und es keinen Strom gab und nur stunden-weise fließendes Wasser, und die Winter waren sicher nicht wärmer damals – selbst damals, so konnte man sich vorstellen, begrüßten sie jeden Tag mit einem freudigen »Ah!« und einem suchenden Blick in Richtung Ararat und mit der Zuversicht, dass ihr Gott es wohlmeine mit den Armeniern, auch wenn sie umgeben waren von Feinden, eingeschlossen von Bergen und weit weg vom Meer.

Wir muddelten uns durch, mit regelmäßigen kleinen Adrenalin-Schocks (Aahhhh!). Wir überlebten den Verkehr, wir aßen, solange wir konnten und dann noch ein wenig mehr. Wir sagten Ah! beim Anblick der alten Klöster mit den Chatschkaren, den uralten Kreuzsteinen, überwachsen von genauso alten Moosen und Flechten und von innen leuchtend in gedämpften Farben; wir sagten Ah! angesichts des heidnischen Sonnentempels von Garni, der im Abendrot beinahe mystisch über den ihn umgebenden Terrassen und Schluchten schwebte; wir sagen Ah!, als man uns eine Planke von der Arche Noah zeigte, und wir sagten Ah!, wenn wir den Ararat einmal mehr nicht sahen. Aber dann begab es ich, es war am vorletzten Tag unseres Aufenthaltes in Armenien, dass wir endlich das berühmte Handschriftenmuseum besichtigen sollten, den mit gleich vier A’s gesegneten Matena-daran. Der streng klassizistische Museumsbau liegt auf einer kleinen Anhöhe, und vor ihm steht gebührend monumental Mesrop Maschtoz; zu seinen Füßen kniet ein Knabe, und der Heilige, der Gelehrte, der Buchstabenmacher weist dem Knaben mit der ei-nen Hand den Weg zum Himmel, und mit der anderen zeigt er auf das armenische Wappen, den stolzen Adler mit dem Schwert. Innen, im Allerheiligsten, werden kostbare illustrierte Handschriften aufbewahrt. Ihre Farben strahlen wie am ersten Tag, und die armenische Schrift mit ihren Häkchen und Kurven enthüllt erst hier ihren wahren Charakter, nämlich den einer Hand-Schrift im wörtlichen Sinne: einer meditativen Übung der Hand im schönen Schreiben, in sanften geregelten Bewegungen, in schwingenden Kurven. Und plötzlich, man hat sich gerade von einem der Manuskripte abgewandt und lässt den Blick schweifen in der Rotunde, plötzlich verspürt man ein seltsames Gefühl. Es ist auf einmal still, kein Laut dringt hinein von der Stadt, vom niemals schweigenden Verkehr, vom Stimmengewirr der fröhlichen Armenier mit ihren vielen hellen As, es ist so still, dass man die Stille zu hören meint. Und man merkt, dass man sich unwillkürlich entspannt hat; man muss nicht mehr aufpassen, ob der große schwarze Jeep jetzt noch rechtzeitig bremst, man muss sich nicht sorgen, ob der Taxifahrer vielleicht doch zur Mafia gehört, man muss sich noch nicht einmal mehr schämen für seinen eigenen Reichtum. Die Ruhe und die Kurven der Schriften sind in einen eingedrungen und kreisen dort weiter, wie sanfte Wellen, die sich ausbreiten, wenn ein Stein ins Wasser fällt; und Armenien ist das Land der Steine, man hat so viele Steine gesehen, dass man meint, es müsste für ein Leben reichen, aber dieser Stein ist tiefer gefallen. Ein Mystiker hätte gesagt: Man ist ins Herz der Welt gelangt. Aber um in diese Tiefe zu kommen, musste man durch all den Lärm, durch all die Regellosigkeit und Sorglosigkeit einer großen Stadt im Umbruch, durch die rauch-geschwärzten Wirrungen eines alten Glaubens und die glitzernden Wirrungen einer sich schon am Horizont abzeichnenden kapitalistischen Heilslehre gehen.

Natürlich kann man im Herzen der Welt nicht bleiben. Draußen kauften wir Konfekt, ›Grand Candy‹ hieß die Marke, und wir dachten, wie passend der Name doch sei: genug As, aber schon die Heilsversprechungen der neuen Zeit, die Alliteration zum Grand Canyon, das Große überhaupt! Ein ›Grand Candy‹-Werbeschild hatte auch in bunten Bonbonfarben über dem Tor des Zoos in Jerewan geprangt. Die wenigen verbliebenen postsow-jetischen Tiere sahen aber nicht so aus, als würden sie verwöhnt; ihre Gehege waren verwildert wie ihr Fell, sogar der große braune Bär wirkte ein wenig mager unter seinem schlotternden braunen Mantel. Und er war einsam. Das konnte man auf den ersten Blick sehen, es war nicht ein verwöhnter deutscher Zoobär, der sich vor der glotzenden Menschenmenge in seine artgemäße Höhle verkriecht und auf seinen gewohnten Wärter und sein tägliches Mahl mit seiner genau berechneten Vitamindosis wartet; es war ein wilder Bär, der vor Einsamkeit zahm geworden war, und nun waren, endlich, vielleicht nach Tagen, nach Wochen des Wartens, lebendige Wesen gekommen. Es war ihm egal, dass es keine Wesen seiner Art waren, und als wir ihn, weil uns nichts Besseres einfiel und es nicht direkt verboten war – nichts war verboten hier, es waren ja auch keine Besucher da, denen man etwas hätte verbieten können – mit Schneebällen bewarfen, um mit ihm zu spielen, da freute er sich. Er versuchte sie zu fangen, er tapste ihnen hinterher, wenn sie ins Wasser fielen, er hätte noch stundenlang weitermachen können. Aber uns war kalt, und wir mussten weiter. Das Herz konnte einem brechen, wenn man ihn trübselig zu seiner Eisscholle zurücktapsen sah. Wahrscheinlich hieß er Armen oder Aram, oder war sie gar eine Bärin, eine Ava? Und er wartete auf seine Rettung, einsam, ausgesetzt, dankbar für Schneebälle in Ermangelung von Brosamen. Ob er immer noch wartet, wissen wir nicht. Aber wenn er ein echter Armenier war, dann wird er die Hoffnung nicht verloren haben; und er wird nach dem Ararat suchen, jeden Morgen aufs Neue, den man von seinem Zooverlies aus niemals sehen kann, oder doch nur mit dem Geiste.

 


Deutschlandreise


VOM NORDEN NACH BONN. EINE BILDUNGSBÜRGERLICHE DEUTSCHLANDREISE

AUF DER MEYER-WERFT: KRANE, KREUZFAHRTEN UND ANDERE METAPHERN

Immerhin hatte ich am Ende – nicht ein neues Wort, aber einen neuen Plural gelernt. „Krane“, sagte Günter, unser gut geschulter norddeutscher „Gästebetreuer“ bei der Tour durch das Besucherzentrum der Meyer-Werft; er sagte es mehrfach, mit einer gewissen Betonung, aber ich war wahrscheinlich die einzige in der nicht ganz kleinen Besuchergruppe, die dabei deutlich ins Grübeln geriet: Klar, es war wirklich nett und vorstellungsfreundlich, dass die kleineren und supergroßen Kräne in der Halle Greifvogel-Namen hatten, vom Kaiseradler – gibt es den wirklich, fragte die immer skeptische und genaue Lea? Oder soll das nur den Kaiser im Symbol mitführen? (ja, gibt es, den ‚Östlichen Kaiseradler‘, in Österreich vor allem, kein Scherz) – bis zum Raufußkauz (ja, gibt es auch). Aber sagte man nicht doch „Kräne“? Ich traute mich nicht, die Frage zu stellen, irgendwie war die Atmosphäre nicht danach und es gab ja wirklich Interessanteres. Spätere Recherchen vor dem Kamin ergaben: Jein; denn „Kräne“ sagen wir Laien so, und das ist auch nicht falsch; aber wenn man vom Fach ist, sagt man „Krane“, es ist also nicht ganz klar, ob wir nicht-maritimen Dilettanten wirklich „Krane“ sagen dürfen – was übrigens, so das Grimmsche Wörterbuch, wahrscheinlich wie alle solchen Fachbegriffe aus dem Nautischen, aus dem Niederländischen kommt, aber vielleicht auch schon von grus, dem lateinischen Kranich, der zwar keinem Meyer-Kran seinen Namen gegeben hat, aber vielleicht doch der Namenspate der römischen Belagerungsmaschinen war? Goethe schrieb im Übrigen noch „Krahnen“; er hatte sie auch gesehen, in Frankfurt auf dem Marktplatz und in Straßburg beim Dombau, immerhin.

Wir waren aber nicht wegen sprachlicher Feinheiten hier, sondern, wie alle anderen auch: um die großen Pötte zu sehen, mit denen die Meyer-Werft, nach kleinen Anfängen mit niedlichen Holzschiffen, berühmt geworden ist. Dafür strömen die Massen nach Papenburg, wenn mal wieder eines vom Stapel läuft: Irgendwie ist schiere Größe doch etwas, dem sich niemand so recht entziehen kann, vor allem wenn der Fluss, auf dem das ganze stattfindet, so niedlich schmal wie die Ems ist, und es millimetergenau zugehen muss beim Lotsen durch die Schleusen und an zu engen Brücken vorbei. Nein, es ist ganz sicher ein erhabenes Ereignis, wenn sich das große Garagentor an Halle 6 öffnet, ganz langsam zur Seite schiebt, und dann – auch der „Gästebetreuer“ sprach gern von „Geburt“ in diesem Zusammen-hang – sich etwas Großes aus dem engen Gehäuse schiebt, die ersten Schritte ins Leben tut, und langsam, ganz langsam Fahrt aufnimmt; es geht noch in die Schule zuerst, auf der engen Ems, es darf nicht gleich hinaus ins volle Leben, und dann wird der Fluss immer breiter, und dann kommt der Dollart, und dort, dort hinten, man kann es von der hohen Brücke aus schon sehen, kommt endlich das Meer, und man kann losschwimmen, in jede Richtung, sich wiegen lassen von den Wellen, die Stürme spüren und die Sonne untergehen sehen auf einer spiegelblanken endlosen Fläche.

Ach, Kreuzfahrt – wer hätte jemals gedacht, dass das alte, nicht ganz stubenreine Wort christlicher Eroberer auf verwegener und nicht wenig brutaler Mission so eine Wiedergeburt erleben würde? Der Heilige Gral, die Heilige Stadt, es ist das Schiff selbst geworden; es ist eine Heilsstätte des nimmer endenden, immer neue Unterhaltung spendenden Konsums; es ist Theater, Marktplatz, Gymnasion in einem, und dort, wo der Tempel war, das Allerheiligste, das nur den Priestern und den Tempeljungfrauen zugänglich war, mit dem ewigen Feuer – ist die hohe Brücke, residiert der Kapitän als Lichtgestalt mit seinem Gefolge, ausgezeichnet durch die immer blütenweiße Uniform und die goldene Streifenzier an der Schulter; er hütet das Lenkrad (das natürlich längst schon keines mehr ist), er herrscht über die Maschinen (nee, eigentlich der Chefingenieur), er entscheidet über Leben und Tod (wenn er nicht gerade Foto-Shooting und Shake-Hands mit den Gästen auf dem Terminplan hat). Die Halle aber, die Werft – das ist der dunkle Bauch mit den geheimnisvollen Apparaten, den Kranen, den Türmen voller seltsamer Schläuche und Geräte, den ganz in weiße Anzüge gehüllten wenigen menschlichen Ge-stalten, die sich auf dem werdenden Riesen bewegen, so, als hätten sie jederzeit eine entscheidende Aufgabe zu erfüllen.

Was sie auch, de facto, haben. Nichts ist zufällig in diesem technischen Monster; jedes Gerät, jedes Material, jeder Mensch ist zu einem bestimmten Zeitpunkt an einer bestimmten Stelle, und das Ganze läuft mit der planmäßigen Präzision einer wohlprogrammierten Monsteruhr, hinter der ein gespenstischer Uhrmacher sitzt. Von der Porsche-Fertigung habe man gelernt, verrät das gar nicht uninformative Jubiläumsbuch; just in time ist der magische Schlüssel, und am Anfang sei das Personal ziemlich unglücklich gewesen mit der neuen Straffheit: Keine Klönpause mehr, weil man erst das Schweißgerät suchen musste, dass man ganz dringend brauchte! Nein, das Fließband rollt erbarmungslos, eine Kabine nach der anderen steht darauf, und nach hundert Metern ist sie nicht mehr ein rohes Behältnis aus vier nackten Wänden, sondern eine wohlausgestattete Wohnhülle, mit Dusche und Wasserhähnen und Fliesen, mit Fernseher und Betten und Schränken, die Lampen am rechten Platz und die Bilder an den Wänden; eine Wabe perfekt wie die andere. Überhaupt, Modularität: Selten hat man ein so großes und so perfekt geschnittenes Puzzle gesehen; aus kleineren Blöcken werden größere Einheiten, und am Ende werden sie, mit Hilfe der großen Krane, aufeinandergesetzt, wie Lego-Steine, mit denen Riesen gespielt haben. Und am Ende steht da ein Palast, Stockwerke hoch, bis beinahe genau unter die Decke reichend; sein Weiß erstrahlt fünffach getüncht, auf dem Schiffsbauch tanzen farbenfrohe Gestalten, und die Schornsteine, selbst wenn man sie gar nicht mehr braucht – sie bleiben, für die Silhouette und das Gefühl, das man nun wahrhaft und wirklich auf einem Schiff ist und nicht nur auf einem aus seltsamen Gründen schwimmenden und trotz seiner Größe und unbestreitbaren Klobigkeit nicht untergehen-den Hochhaus des Meeres.

Die Besucher-Masse aber will Geschichten, eher wenig Technik; und sie bekommt Geschichten. Zum Beispiel eine kleine Lektion über kulturelle Unterschiede: Amerikaner wollen eine automatisierte Monster-Bar, wo man mittels einer Nummer bestellt und ein Roboter dann die Drinks zusammenstellt, nach Wunsch gerührt oder geschüttelt – was zwar ein großer kultureller Verlust ist (wie soll ein Roboter jemals das offene Ohr eines immer hörbereiten Barkeepers ersetzen, sein mitfühlendes Zustimmen, sein einverstehendes Austeilen des nächsten Drinks, die nächtliche Kameraderie?), aber sicher ein kommerziell lohnendes Spektakel. Asiaten wollen Familiengemächer und Familienspeisesäle, für die Großfamilie. Deutsche wollen – Zuverlässigkeit, und immer das Gleiche. Egal was, jeder bekommt, was er will. Gnadenlos, und für Geld. Das Schiff, so sagt auch die firmeneigene Zukunftsstudie des Manta Ray mit ihren Sonnensegeln, ist die Botschaft; eine mittelgroße Stadt, mit eigenen Stadtteilen, einen für die Ruhe und einen für das Halligalli, einen für den Sport und einen für die Wellness und einen für die Bildung, einen für die Foodies und einen für – nee, mehr Beispiele waren es nicht; aber wahrscheinlich gibt es noch eine Kinderstadt oder eine adults only mit dezentem Rotlicht, wer weiß? Das Schiff trägt es und erträgt es, schweigend durchpflügt es die Wellen, auf und nieder, auf und nieder, und der Tag wechselt mit der Nacht, aber auf dem Schiff ist es immer irgendwo Tag und irgendwo Nacht; und an Land haben die Städte endlich wieder ihre Ruhe, in Venedig träumen die Gondolieri (und weinen dann doch heimlich über den Verlust zahlender Kundschaft), in Amsterdam sind die Fahrräder wieder allein an den Grachten, und durch die norwegischen Fjorde springen die Wale, ganz unbeobachtet, trotzdem.

Aber das ist Zukunfts-Schifferklavier, und auf der Meyer Werft bekommt man natürlich auch die Vergangenheit präsentiert; wenn auch eher verknappt und häppchenweise, der heutige Besucher verträgt ja nicht so viel Information auf einmal. Im Einfürungsfilm durfte sich eine Werbeagentur austoben; sie hat erst-mal einen knackigen Titel gefunden, „Symphonie der Meere“, und dann hat sie Streichorchester mit lauter super-sympathischen jungen streichenden Menschen in den Bauch der Werft gesetzt, und sie dürfen jetzt hingebungsvoll aufspielen, während wortlos die Bilder wechseln: Nachdenklich blickende Ingenieure, eine Frau darf auch dabei sein (Frauen sind auf der ganzen Werft ungefähr so selten wie – keine Ahnung, echte Greifvögel vielleicht?, und das ist wahrscheinlich noch nicht einmal böser Wille, sondern der mühsame Gang der Geschlechtergerechtigkeit in Ausbildungsberufen, wenn keine will); sie stehen vor neuester Technik, machen bedeutende Armbewegungen, tragen schicke VR-Brillen und sollen wahrscheinlich die Jüngeren unter uns dazu animieren, jetzt auch endlich mehr technische Berufe zu erlernen anstelle von schicken BA-Studiengängen in Mediendesign (doesn’t work). Die Gründer-Generationen ziehen an uns vorbei, ernst und solide blickende Männer, die Haare ordentlich gekämmt, in strengen Krägen und Anzügen; und tatsächlich erst die letzte Generation, der langjährige Senior, der erst dieser Tage dann doch zurückgetreten ist, darf auf dem Foto ein wenig lächeln. Ach, man könnte eine ganze Abhandlung über die Entwicklung der Porträtfotografie anhand dieser Herrengalerie schreiben!

Aber interessanter sind die Lücken. Natürlich ist Firmengeschichte immer auch fallweise Sozialgeschichte, und immer Wirtschaftsgeschichte mit einem Nebenarm in die Politik. So auch hier: Mit den Schiffen werden die Aufträge größer, und der Betrieb wird größer, und die Gefahren werden größer. Zum Beispiel die, in diverse Weltwirtschaftskrisen oder Pandemien verwickelt und von ihren Mahlströmen mit hinabgerissen zu werden (ach, man weiß gleich wieder, warum Wirtschaftsredakteure so metaphernfreudig sind!); oder in Kriege (wenig Zwangsarbeiter, gar nicht viel aufzuarbeiten, eher Auftragsflaute); oder in den Kolonialismus, wie eigentlich alles. Denn ein Schiff wird einmal, das wird gern als Anekdote vom Gästebetreuer erzählt, von den tüchtigen Ingenieuren erst probeweise zusammengebaut, dann fein säuberlich wieder zerlegt, in Kisten verpackt und nach Afrika verschickt, und zwar samt einer Miniwerft sozusagen; und dort baut man dann die kleine Werft wieder auf, und dann baut man das Schiff wieder zusammen und setzt die endlos vielen Nieten, die der Wikipedia-Artikel zur Liemba erwähnt, für immer. Oder für ziemlich lang zumindest, das Schiff schippert nämlich noch immer, bis heute, und zwar über den Tanganjika-See in Afrika (Trip Advisor erwähnt das Schiff sogar als die Hauptattraktion der Region).

Aber das haben wir erst später gelernt, denn während des Symphonie-Films war das nur eine kleine anekdotische Episode, die jedoch schon einige Fragen aufwarf und im altersschwachen Gedächtnis der Hörerin doppelt verankerte: Warum tut man das mit einem Schiff, und was will man eigentlich mit deutschen Schiffen um die Jahrhundertwende irgendwo in Afrika, und was hat das mit dem Kolonialismus, dem bösen, allgegenwärtigen, der großen Schuld zu – aber da ging der Film schon weiter, doch der Anker saß. Zuhause vor dem Kamin lockerten wir ihn dann, und ach, in welch trübe, aber interessante Gewässer gerieten wir dabei! Also:

Wo in Afrika? Ah ja, am Tanganjika-See. Welcher See, wo in Afrika? Äh, ein ziemlich großer, ziemlich tiefer See, mitten in Afrika (in der ostafrikanischen Grabenspalte, um genau zu sein), er durchschneidet sozusagen Mittelafrika und berührt dabei mehrere afrikanische Länder, die, natürlich, zu dieser Zeit deutsche Kolonien waren (große Vogelvielfalt im Übrigen, warf unsere Vogelkundlerin ein). Und das Schiff wurde wohl zuerst als Zollschiff eingesetzt, bevor es auch mal Flüchtlingsschiff oder Fähre war – also die üblichen Metamorphosen eines solide gebauten Schiffes in einer Region, die bis heute keine eigenen Werften hat und deshalb lieber Schiffe recycelt; ist ja auch nachhaltiger.

Inzwischen aber hatte der Wikipedia-Artikel, schon bei der Suche, so viele interessante Verzweigungen aufgeworfen, dass man gar nicht wusste, in welche Richtung man zuerst weiterschwimmen wollte. Na gut, zuerst die Tanganjika-Bahn, für die Eisenbahnenthusiasten unter uns! Denn die Tanganjika-Bahn wurde, ungefähr um die gleiche Zeit, gebaut von Daressalam am Indischen Ozean bis hin zum Tanganjika-See, 1.200 km mit einer Stationenfolge, die ungefähr so eng getaktet aussieht wie ein großstädtisches S-Bahn-Netz (heute verzeichnet sie vor allem Halte an Sisalplantagen). Fährt bis heute, klar. Ihr Vorgänger war die Usambara-Bahn, wie niedlich. Aber warum, warum nur? Weil jede ordentliche Kolonialmacht eine Bahn bauen muss, sagte der zynische Sohn, ist doch klar! Wohin, wozu – Pippifax! Irgendwas mit Rohstoffen, wahrscheinlich! Was so ziemlich exakt die richtige Antwort ist, weiter bringen einen vertiefte Internet-Recherchen (na gut, drei Minuten verschärftes Googeln und eine ältere Masterarbeit) auch nicht. Was soll man schon machen in Afrika, es gibt noch nicht mal Straßen, und außerdem – ja, das ist der zweite Teil der Antwort, weiß man ja nie, ob man nicht doch irgendwann einmal schnell Truppen transportieren muss, die unverständigen Einheimischen neigen ja zu Aufständen!

Ach, der Kolonialismus. Nicht zum Lachen, oder nur ein bisschen. Denn das ist der nächste Fisch an der Wikipedia-Angel, und die Vogelfreundin kennt auch ihn, denn sie hat sich mal mit Massenhysterien beschäftigt, und die ‚Tanganjika-Lachhysterie‘ ist bis heute eines der klassischen Beispiele. Nicht, dass die Leute so viel zum Lachen gehabt hätten in Mittelafrika in der inzwischen postkolonialistischen Zeit, aber irgendwann begann ein Schulkind damit, und es steckte seine Klassenkameraden an, und nach vier Wochen musste man mehrere Schulen schließen in Tansania, weil es nicht wieder aufhörte und langsam drohte, gesundheitsschädlich zu werden. Betroffen waren vor allem Mädchen und junge Frauen, und nicht selten ging das Lachen auch in Angstzustände über, und ja, eine medizinische Ursache wurde nicht gefunden, man denkt, es war der Unabhängigkeitsstress. Kein weiterer Kommentar.

Wir aber stehen jetzt wieder draußen vor der Meyer-Werft, out of Africa, es ist immer noch grau, wie die ganzen Weihnachtstage schon; Scharen von Krähen haben sich auf den Strommästen versammelt, die auch hiergeblieben sind. Wir gehen über die Brücke vorbei an der großen Halle, die man angeblich – aber wahrscheinlich stimmt das eben so wenig wie bei der großen Chinesischen Mauer – aus dem Weltall sehen kann; das scheint irgendein Menschheitstraum zu sein, visibility, wie man heute so gern und metaphorisch abgeblasst sagt, bis ins Universum, aber eigentlich sollte man wohl besser daran arbeiten, unsichtbarer zu werden. Bauet Werften im Geiste!, hätte Rilke vielleicht gesagt, Ankerplätze der Seele, Paläste der Unsichtbarkeit! Aber bis dahin ist die Meyer-Werft das nächstbeste für einen Bildungs-Ausflug in der mysteriösen Zeit „zwischen den Jahren“, wo man ja auch keine Wäsche waschen darf.


IM AUSWANDERERHAUS BREMEN. GESCHICHTE UND KRITIK

Zoo am Meer, kurz vor Jahresende, es ist kalt. Die Eisbären spielen mit einem alten Fußball. Das sibirische Eichhörnchen trainiert nach Weihnachten eine Runde im Hamsterrad, die Seehunde schubsen sich um den Futterfisch. Die Pinguine hingegen stehen ordentlich an, der Reihe nach bekommen sie ihren Fisch, dann gehen sie eine Runde tauchen und machen mit den Kindern, die ihre Nase an die Scheibe pressen, Unterwasserspiele. Der Krake hat sich versteckt, zu viel Besuch über die Feiertage. Der Zwergotter vergräbt sich im warmen Gehäcksel, ist er nur faul oder schwanger? Der Polarfuchs erscheint, gähnt, und wird wieder unsichtbar. Allein die Spatzen scheinen unersättlich, sie hängen kopfunter an der Futterstelle und picken und picken und picken. Die Menschen auf der anderen Seite der Zäume frieren, sie freuen sich aber auch. Über die Tiere. Über das Meer, das gleich nebenan liegt, auch wenn gerade Ebbe ist und erst jenseits der Kolumbuskaje die Weite beginnt. Wäre man lieber ein Eisbär, ein Eichhörnchen oder ein Zwergotter? Die weiße Eule klappt die Augenlider einmal auf und zu, der Kopf ruckt nach rechts, nach links, dann erstarrt sie wieder.

Menschen aber sind immer unterwegs. Und wenn sie es zuhause nicht mehr aushalten, wandern sie aus. Oder fliehen. Oder emigrieren. Was auch immer, so genau nimmt man es im Deutschen Auswandererhaus, das immerhin eine seltene architektonische Perle für eine deutsche waterfront ist, nicht: Sie alle kommen nach Bremerhaven. Die Kolumbuskaje ist das Tor zur Neuen Welt; sie ist es nicht nur für die Wanderer aus allen deutschen Landen, sie ist es auch für Österreicher, Polen, Ostjuden und Russinnen, die lange Reisen schon auf sich nehmen müssen, bevor sie dann am Kai stehen, einen schmächtigen Koffer in der Hand und ein schweres Herz in der Brust – aber hier beginnen die Probleme, und wie immer würde man gern sagen: ach bitte, der Reihe nach, anstellen, wie am Kai, die Treppe ins Schiff ist nur schmal, eine Person nach der Anderen; aber die Probleme drängeln sich, wie so oft, übereinander, Vorzüge verknoten sich untrennbar mit Mängeln, und man will alles haben, man bekommt aber nur, notwendig – einen Teil.

Deshalb zuerst eine kurze Abschweifung ins Entlegene, in eine andere Welt sozusagen, sie spielt in meinem fortgeschrittenen universitären Leben, schon einige Zeit nach der Einschiffung nach Akademien sozusagen. Ich bastelte nämlich schon an meiner Doktorarbeit, und mein gewählter Nicht-Doktorvater (andere Geschichte) sagte einen der Sätze, bei denen man gleich wieder wusste, warum er zwar der Doktorvater des Herzens, aber nicht der auf der Anmeldung war, nämlich: Man kann nur historisch oder systematisch argumentieren. Was, sobald man nur minimal-invasiv darüber deliberiert, richtig und so einleuchtend ist, dass man sich nur wundern kann, wie einem diese Erkenntnis so lange verborgen bleiben konnte: Historisch geht an der Längsachse der Zeit entlang; eine Geschichte wird erzählt, eine Entwicklung nachgezeichnet, und das menschliche Hirn, unendlich beschränkt durch seine Linearität, kann Geschichten nur seriell verarbeiten. Systematisch hingegen geht quer dazu, es legt einen Schnitt durch das Geschehen und führt es auf Grundsätze, Prinzipien und Entwicklungsgesetze zurück; es ist ordnend, und seine Schubladen liegen eher nebeneinander als hintereinander. Historisch oder systematisch; und damit verwandt und verknotet: empirisch-ungenau und begrifflich-präzise; induktiv und deduktiv; analytisch und synthetisch, und welches der akademischen Begriffskisten noch sind. Aber man kann nicht beides haben, jedenfalls nicht gleichzeitig. Vielleicht aber kann man beides – nebeneinander und hintereinander haben?

Und damit zurück zum Auswandererhaus, das sich für die historisch-individuell-empirisch-ungenaue Variante entschieden hat; wenig Zahlen, wenig Statistik, wenig begriffliche Unterscheidung (was ist Flucht, was ist Exil, was ist Emigration, wenn man es nicht alles in einen großen Topf wirft, weil ja alle am gleichen Kai an der Kolumbuskaje stehen, und ja, es hat einen Zweck, das der Name ‚Kolumbuskaje‘ hier so oft genannt wird); auch: wenig Schrift. Dafür Geschichten über Geschichten, Leben in Ausschnitten und Bildern, Namen, Namen und nochmal Namen; Dinge, die man zeigen kann, Geschichten, die man hören kann (den Geruch eines überfüllten Zwischendecks nach drei Wochen stürmischem Seegang auf dem Atlantik hat man uns glücklicherweise erspart). Das Museum insgesamt ist, und das ist schön und klug und manchmal geradezu genial gemacht, die räumliche Nachbildung einer Einschiffung, Überfahrt und Ausschiffung; man begibt sich vom Kai über die schmale Treppe zu den Kabinengängen; in den Bullaugen am Rande schwankt der Horizont, und der Holzboden ist absichtlich so schräg und schief verlegt, dass man nach einigen Minuten glaubt, dass er tatsächlich, spürbar, schwankt. Es wird viel gehustet und gestöhnt im Hintergrund, dort ein Schnarchen, hier ein Kinderweinen. Langsam arbeitet man sich vor, von den dusteren Zwischendecks zu den helleren Luxuskabinen einer Zeit, in der die Auswanderung sich langsam mit dem Tourismus zu vermischen beginnt. Doch dann verlässt man das Schiff, endlich, endlich, und kommt: nach Ellis Island. Kein freundlicher Empfang mit Willkommenskultur und Teddybären, sondern: Gitterkäfige, Fragen, intime und persönliche: Sind Sie gesund? (noch röchelnd würde man mit „Ja“ antworten!); Sind Sie ein Anarchist? (immer, wenn man mir dumme Fragen stellt…) Haben Sie Verwandte hier (erstaunlich viele haben das, und man versteht gleich viel besser, warum auch heute noch ein Auswanderer weitere mit sich zieht)? Sind Sie bereit, Ihren eigenen Lebensunterhalt zu verdienen? Wie auch immer, es gibt keinen Lügendetektor und wir gehen davon aus, dass sich die Türe dann öffnen: zur Grand Central Station, einem Bahnhof der Träume bis heute und schon damals ein Palast mit 57 Gleisen. Noch ein Drink in der Bar, wo es vielleicht noch ein deutsches Bier gibt? Oder landet man im Sweat Shop und muss nähen, für die Reichen, bis die Tuberkulose (die Näherinnen-Krankheit) einen dahinrafft, die Kinder gleich mit? Oder zur Landkommune der Amish, der Pietisten oder sonst einer Glaubensgemeinschaft, die es in Europa nicht mehr aushielt und ihr Glück suchte, in der Neuen Welt, in den leeren Weiten Nord- oder Südamerikas oder gar Australiens? Und was wusste man, was wusste die blutjunge Jüdin, die meine Leitfigur war (man bekommt ein Schicksal zugeteilt, an der Kasse, sauber nach Geschlecht sortiert; was allerdings die 2 % Diversen bekamen, die die Auswertung der Umfrage am Schluss anzeigte, weiß ich nicht) und so gern studieren wollte, was wusste Freida Sima – die so oft ihren Namen wechseln musste, aber am Ende sagen konnte: "Mein Name ist Freida Sima" – was wusste sie vorher von dem Land, oder von den Verwandten, die sie empfingen und ihr ein Dach gaben und ein neues Leben? Ach, wie schön ist Panama? Etwas Besseres als den Tod finden wir überall? Vielleicht hat sie gar nicht so viel nachgedacht, schon gar nicht auf der Überfahrt, als es ihr schlecht ging. Vielleicht denken die Zurückgebliebenen einfach zu viel nach; die anderen richten den Blick nach vorn, und es gibt so viel zu sehen!

Eine Geschichte von vielen. Die Geschichten, die die Besucher durchs Haus leiten, sind, mehr oder weniger, Erfolgsgeschichten: Erzählungen von Menschen, die angekommen sind und Glück hatten, ihr Schicksal in die Hand nahmen, ihr Leben gestalteten – unter im Einzelnen ganz verschiedenen Bedingungen, aber am Ende: Hatten sie ein Leben gelebt, das jemand dokumentiert hat, aufgezeichnet, mit Fotos angereichert und Dokumenten. All diejenigen, die es nicht geschafft haben, die verschwunden sind, auf dem Weg, nach der Ankunft, irgendwann im großen weiten neuen Land – wie soll man von ihnen wissen? Von einigen, immerhin, lernt man auch, dass sie wieder zurückgegangen sind, aus den unterschiedlichsten Gründen; manche, wie der deutschen Schriftsteller Johann Gottfried Seume, blieben ihr Leben lang Wanderer zwischen den Welten, Söldner verschiedener Herren, Gäste nur. Freida Sima ging, da war ihre Tochter schon erwachsen und hatte studiert, gemeinsam mit ihr und den Enkelkindern nach Israel, in die jüdische Heimstatt; und dann ging sie, fast achtzigjährig, allein nach New York, um dort zu sterben, in hohem Alter. Denn was sind Länder eigentlich außer – Striche auf Landkarten, irgendwann gezogen von irgendjemand, umkämpft bis zur völligen Sinnlosigkeit? Auswandern, Wandern schlechthin, so sinuiert das Haus ziemlich deutlich in den gesprochenen Texten und ungesprochenen Subtexten, ist dem Menschen so gut wie eingeboren; Grenzen ein politisches Abstraktum, eine Ungerechtigkeit, ein Hindernis der freien räumlichen Entfaltung schlechthin – was alles sein mag und auf einem fortgeschrittenerem Status menschlicher Entwicklung auch recht schön wäre. Aber bis dahin - ?

Auswanderergeschichten. Wir hören sie, wir versuchen sie zu imaginieren; erstaunlich versunken stehen Menschen jeglichen Alters auch längere Zeit still an den Hörstationen, die ebenso erstaunlicherweise größtenteils technisch funktionieren. Ausschnitte, gesammelt in großen biographischen Sälen; ein Archiv des Menschlichen in seinen individuellen und kollektiven Bewegungsformen. Empirisch-greifbar-sinnlich-anschaulich-historisch; aber eben nicht: systematisch. Und so fehlt dann doch vieles, was bei anschließender distanzierender Betrachtung von den unterschiedlichen Teilnehmern unserer kleinen Exkursion beklagt wurde: Zahlen, im Großen und Ganzen; Statistiken; wirtschaftliche Hintergründe; systematische Unterscheidungen nach Fluchtgründen, Herkünften, Altersgruppen, was auch immer; das große Bild anstelle der vielen, vielen Mosaiksteinchen, die immer nur die kräftigste Facette in den Vordergrund rücken; drumherum ist Meeresrauschen. Sieben Millionen, das immerhin weiß man und die Zahl wird auch genau darum so gern genannt, sieben Millionen brachen auf von Bremerhaven; es sind diejenigen, die man gezählt hat, die dokumentiert sind, in Listen und Verzeichnissen. Aber können fünfzehn erzählte Geschichten wirklich den Überblick ersetzen, das Große und Ganze, das Welt- und Menschheitsphänomen – nennen wir es, neutraler: Wanderung?

Aber nun gut, siehe Exkurs oben: Man kann nicht beides auf einmal haben, historisch und systematisch, und das Historische immerhin ist recht ansprechend gelungen, wenn man nicht allzu kritisch ist. Wenn man nicht dem Ganzen noch einen kritischen Hut hätte aufsetzen müssen. Dazu gehört auch die spätere Erweiterung des wunderbaren Auswanderungs- um einen eher halbherzigen Einwanderungsteil, der im Wesentlichen kulturelle Vielfalt demonstrieren soll und "Debattenkultur" anregen; faktisch hat keiner Lust dazu, und die Stationen sind leer; nein, wir sind hier wegen der Auswanderung ins Neue, des Lebens-Abenteuers, und nicht der problematischen Einwanderung ins Allzu-Bekannt wegen, die man in jedem Stadtteil einer deutschen Großstadt besser und anschaulicher beobachten kann!

Doch das Schmuckstück am kritischen Hut sind die „critical thinking stations“ – Orte verordneter Debatten- und Denkfreudigkeiten, fragengeleitet natürlich. Oder, wie es in der Einleitungsansprache vor dem boarding wahrscheinlich unabsichtlich enttarnend hieß: „Wo Sie eingeladen sind, Ihre Meinung zu überprüfen!“ – belustigte Blicke in der Teilnehmergruppe, der englische Text war wie immer viel besser, er sprach von „critical perspectives“, die hier zu gewinnen seien. Natürlich hätten wir gern das Auswandererhaus mit einer zertifiziert politisch korrekten Meinung verlassen, aber es gab nur eine Auswertung der Umfrageergebnisse am Ende (die aber interessant genug war und besser und informativer, aber der Reihe nach und eher historisch-nacherzählend); die meisten Leute interessierten sich auch eher für die Terminals, an denen man Ahnenforschung betreiben konnten (und von denen immerhin gut die Hälfte funktionierten, gelegentlich). Also, critical thinking, wie um Himmelswillen macht man eigentlich so etwas, ohne dass die Fragen ebenso wie die Auswahl der Antworten – nicht schon führend oder gelegentlich sanft stupsend sind, in die Richtung natürlich, die akkreditierungsfähig ist, wenn auch, vielleicht, vielleicht sogar: wahrscheinlich, eher nicht kritisch – wie aber würde man es machen in einem tieferen Sinne von aufklärerischer Kritik als unvoreingenomme Überprüfung von Positionen verstanden, was natürlich sowieso nur stattfinden kann im Blick auf Dinge und Sachverhalte, die überhaupt meinungsfähig sind? Wer kritisiert, der unterscheidet (ja, man kann sogar sagen: Kritik ist eine systematische Weise des Unterscheidens, nicht eine anekdotische); er pauschalisiert nicht, sie wertet nicht, es wirft nicht in einen großen Topf, sondern es fischt aus großen Töpfen das hinaus, was vielleicht, nach genauer Unterscheidung: essbar, produktiv, nahrhaft und gut verdaulich ist (nein, Unverdaulichkeit auch im nicht-metaphorischen Sinne ist keine gute Eigenschaft, und auch nicht von Kritik!). Eine schöne runde Kritik wägt ab, sie lobt hier und verwirft dort; sie gibt Gründe, macht Vorschläge, stößt an – nicht (nur) zum vielbelobten Stolpern, sondern zum Losdenken, Weiterdenken, Alleindenken. Eine richtig schöne Kritik würde sich auch ihre Fragen selbst aussuchen.

Aber wir sind hier eher in der Abteilung „betreutes (Mit-)Denken“, deshalb bekommen wir Fragen mit einem Sortiment an Antworten. Es ist gar nicht völlig unvernünftig, es kennt nämlich auch „weiß nicht genau“, „müsste ich mich mehr informieren“ und ähnliches – was eigentlich häufig sowieso die bessere Antwort ist als eine Meinungsschwankung mal nach hier, mal nach da. Aber erstaunlich oft gibt es immerhin common-sense-Antworten im Auswahlbuffet, die am Ende sogar die höchsten Zustimmungsraten haben: „Wer sollte dafür verantwortlich sein, dass Einwanderung funktioniert?“ – nun, jeder persönlich wohl, als Einzelner (über 70 %). Oder: „Sollten in Fragen, die Rand-gruppen betreffen, diese mehr oder weniger zu sagen haben als die Mehrheit?“ Na, genauso viel natürlich, so funktioniert Demokratie (ursprünglich jedenfalls, nicht jedoch unsere Medien-Betroffenheits-Demokratie). „Würden Sie gern in ein Land einwandern, in dem so über Migration gesprochen wird wie in Deutschland?“ – na gut, es wird ziemlich viel gesprochen über Migration in Deutschland, und mal mehr, mal weniger dumm oder informiert oder verantwortungsbewusst, aber im Großen und Ganzen: Ja, ziemlich sicher, denn es gibt einen breiten und relativ offenen Diskurs, und was will man mehr? Gesinnungseinheit? Mein absoluter Favorit aber, und deshalb die Insistenz auf Kolumbuskaje: „Wie möchten Sie, dass das Thema Kolumbus in den Schulen behandelt wird?“ Im Angebot waren: „als Entdecker Amerikas“ (relativ breite Mehrheit, aber nun leider in mehrerlei Hinsicht falsch); „als Beginn des Kolonialismus“ (yep, wenn man das hinreichend breit versteht und halbwegs ideologiearm präsentiert); „als ein Beispiel für Geschichtsschreibung aus europäischer Perspektiver“ (unbedingt! Ach, wenn man das nur vermitteln könnte in all seiner Bedeutungstiefe und -breite. Kann man aber nicht, wie auch die Umfrageergebnisse zeigen: weit abgehängt). Als Massenmörder, nun ja; wahrscheinlich richtig, aber dann auch nicht sonderlich lehrreich.

Was dachten die Menschen wohl wirklich, die an der Kolumbuskaje standen, dem ersten Ziel ihrer Träume, Sehnsüchte und Ängste, den Blick auf das dunkle Wasser gerichtet, und nach vorn ins graue Nichts? Hoffentlich dachten sie nicht zu viel. Kritisch schon gar nicht; kritisches Denken hilft ganz wenig, wenn das Schiff schaukelt, immerwährend schaukelt, das Baby nebenan schreit, weil seine Mutter nicht genug Milch hat, und das Trink-wasser an Bord brackig und zu wenig ist, wenn man friert und sich fürchten muss. Kritisches Denken ist beim Überleben ziemlich im Weg, wenn man es genau betrachtet; es hilft auch nicht bei der Beantwortung der Einwanderungsfragen. Kritisches Denken ist eine Betrachterperspektive; ein Luxus für gelangweilte Passagiere auf heutigen Kreuzfahrtschiffen, die zwar gelegentlich in einem Anfall von Nostalgie noch eine Designanmutung der klassischen Übersee-Liner bewahren, aber ansonsten wenig Herausforderungen bei der Bewältigung des Alltags an Bord bieten. Und am Ende kehrt man nach Hause zurück, ins gewohnte Bett, zu den vertrauten Routinen; und dann erzählt man eine Geschichte darüber, wo man gewesen ist, was man alles gesehen hat, auf Wanderungen über die Weltmeere. Dann schlägt natürlich die Stunde der Kritischen Abrechnung, damit muss man rechnen: Und euer ökologischer Fußabdruck! Und der Overtourism! Und die Ausbeutung der armen philippinischen Mannschaftskader unter Deck in enge Kabinen gepfercht! Stimmt schon alles, halb wenigstens, so wie die meisten Sachen stimmen, wenn man sie nur aus einer Perspektive (nämlich der kritischen) betrachtet und nicht in ihrem Komplex von Bedingungen, Folgen, verknoteten Vor- und Nachteilen.

Und dann höre ich, vor meinem inneren Ohr, mit dem dazugehörigen Pathos, Unheilig die „Große Freiheit“ singen, die Abschiedshymne unseres Meyer-Schiffs von der Werft Turku. Der Hafen verschwindet langsam, einzelne Mini-Figuren winken noch vom Ufer, wir winken gnädig zurück von unserer Höhe herab, die kühlen Drinks in der Hand; und dann öffnet sich das Meer und empfängt uns, mit sanftem Geschaukel und einer Kulisse, die immer gleich ist und jede Minute anders; und wir wandern, wir wandern, im Wandel der Wellen und des Wetters, und anstelle eines kritischen Gedankens drängt sich ein metaphorischer auf, er schaukelt träge durch den Kopf und geht so: Ist nicht jedes Leben eine Reise? Ist nicht darum das Lebensschiff eine Seinsmetapher der ersten Stunde, weil sie das Wagnis wie das Wandern wie die Weglosigkeit und die Weite umfasst und umarmt? Niemand bleibt stehen, selbst wenn er sein Leben lang im gleichen Dorf bleibt, im gleichen Haus wohnt, im gleichen Bett geboren wird, schläft, sich vermehrt und wieder stirbt. Manche Schiffe bleiben im Hafen, ihr Leben lang; aber das heißt nicht, dass sie sich nicht bewegt haben.

Derweil leuchtet der Hafen weihnachtlich erleuchtet vor sich hin. Der Zoo am Meer ist nur noch eine Kulisse mit Lichterrand. Wahrscheinlich spielen dort die Eisbären immer noch mit einem alten Fussball. Liegt der Zwergotter noch im warmen Gehäcksel, faul oder schwanger? Der Polarfuchs erscheint, gähnt, und wird wieder unsichtbar. Wäre man lieber ein Eisbär, ein Eichhörnchen oder ein Zwergotter? Die weiße Eule klappt die Augenlider einmal auf und zu, der Kopf ruckt nach rechts, nach links, dann erstarrt sie wieder.


WIR MÜSSEN DRAUSSEN BLEIBEN! EIN BONN-BESUCH

Es war der Jahreswechsel, und Teile der Republik standen unter Wasser. Aber Bildungsreisen kann man bekanntlich immer machen, und so landeten wir an einem verregneten Neujahrsabend in Bonn, unserer ehemaligen Hauptstadt. Wir hatten sie sträflich vernachlässigt bisher; für uns Baby Boomer, Kinder des Wirtschaftswachstums und der im Rückblick immer goldener scheinenden 70er- und 80-er Jahre, war Bonn eine zwar etwas entlegen gelegene, aber denn doch: unbezweifelte Selbstverständlichkeit; die Hauptstadt einer politisch bescheidenen Republik, die nicht mehr auftrumpfen wollte und sich im understatement übte. Berlin hingegen, die alte Reichshauptstadt – war fern, auch wenn man gelegentlich hinfuhr, ödes Zonenland durchquerend, und dann wie in einen Zoo und mit leichtem Gruseln auf und über die Mauer schaute. Bonn war zwar sicherlich nicht die Hauptstadt der Herzen, aber Berlin lag einfach auf einer anderen Landkarte.

Nun aber, an diesen Neujahrsabend und dem darauffolgenden frischen ersten Tag eines frischen neuen Jahres, wollten wir endlich diese Bildungslücke schließen. Im Internet hatten wir ein wenig recherchiert; wir wussten schon, dass „Bundes-Bonn“ eine Art eigener Bezirk war, am Rhein gelegen und sozusagen in Verlängerung der historisches Bonner Kernstadt erbaut; entlang der wesentlichen Bauten, so hatten wir gesehen, hatte man einen „Weg der Demokratie“ einrichtet, der einem die wichtigsten Stationen erläutern würde. Das sah machbar aus, und einigermaßen interessant; man würde sozusagen im Geiste Konrad Adenauers und Helmut Schmidts durch die Anlagen streifen, einen Blick in den berühmten Kanzlerbungalow (welcher andere Staat hatte schon einen Kanzler-Bungalow? Palais, sicherlich, und Residenzen, aber einen Bungalow?) werfen, den „Langen Eugen“ besuchen und vielleicht auch das Wasserwerk, den ehemaligen Plenarsaal einer noch übersichtlichen Zahl von Abgeordneten. So dachten wir noch beim opulenten Frühstück im neobarocken Kameha Grand Hotel, unter den popart-mäßig-aufgefrischten strengen Augen von Beethoven, dem berühmtesten Bonner vor Zeiten. Und am Nebentisch sagte ein Kind einer gar nicht so bildungsbürgerlich aussehenden Familie brav die deutschen Einzelstaaten auf, es konnte sogar die meisten, wenn auch nicht die Hauptstädte (aber da kommen auch die meisten Erwachsenen sehr ins Grübeln).

Aber wahrscheinlich hätte einen schon das Kameha Grand vorwarnen können, dass in Bonn nichts so ist, wie es im Internet aussieht oder in der bildungsbürgerlichen Polit-Phantasie. Denn das avantgardistisch geformte und in jedem Sinne: ambitionierte Hotelunternehmen, das auf der Fläche eines ehemaligen Zementwerkes und im Zuge des noch ambitionierteren Städtebauprojekts „Bonner Bogen 2003“ (dazu später noch!) errichtet wurde, ist vor allem Glitzerfassade und neobarocke Absurdität: Es protzt in einer geradezu indisch-überdimensionierten Eingangshalle mit weißen Plastik-Strandkörben, die aussehen, als hätte sie Colani entworfen; stilisierten Schweinchen, die elegante Ablagen tragen; und die Rezeption ähnelt mehr einem – nun ja: ambitionierten? – Friseursalon: Theken waren gestern, heute sind computerisierte Einzelstationen mit Ikebana-Blumengestecken en vogue. Die Zimmer haben riesige Fenster mit Blick auf den großen freien Innenhof, die einem schon beim Betreten das Gefühl vermitteln, man lebe ab sofort als Einzeldrohne in einem Schaufenster und müsse sich so bewegen, dass man ins Design passe. Über dem üppig dimensionierten Bett scheint abends ein blasser Mond, den man liegend ein- und ausschalten kann (jedenfalls dann, wenn man endlich die vollautomatisierte Beleuchtungsanlage durchschaut hat); das immerhin hätte man eigentlich ganz gern zuhause, den Rest: na gut, für eine Nacht. Um sich wie eine Mischung aus SonnenkönigIn und Pop-Poet zu fühlen. Muss ja nicht in Bonn sein, so etwas; ist ja irgendwie kosmopolitisch, hat schließlich sogar einen hawaiischen Namen: Er bedeutet „der Einzigartige“. Die Palmen sind aber aus Plastik und tragen Weihnachtsbeleuchtung; und für den kleinen abendlichen Hunger gibt es den originalgetreuen Nachbau (einzigartig???) einer alpinen Skihütte.

Das war uns aber alles zu neobarock, deshalb sind wir, wie offen-sichtlich die meisten anderen bildungsbürgerlichen Hotelgäste, am Abend ganz bieder in die Ketten-Pizzeria nebenan gegangen, wo die Pizzen allerdings eine neo-barocke Tendenz haben, ihre nicht gerade bescheiden bemessenen Teller in alle Richtung zu überfließen. Die Lokalität war im Übrigen, soviel dann noch zum Projekt „Bonner Bogen“ (der Wikipedia-Artikel zur wechselvollen Geschichte des Projekts ist ein Lehrstück in neudeutscher Wirtschaftsgeschichte und so lang, dass man zur Lektüre wahrscheinlich genauso lang braucht wie zum Verzehr der Monumental-Pizza), der so ziemlich einzige Ort in dieser Potemkinschen Landschaft aus ambitionierten Neo-Palazzi und aufgegebenen Baustellen, an dem es so etwas wie Leben zu geben schien. Aber nun gut, es war Neujahrsabend, und das Wetter verlockte nicht zu Außenaufenthalten. Und gescheiterte Groß-Investitionsprojekte („von der Zementfabrik zum Innovationspark“!) gibt es schließlich in allen deutschen Mittel- und Großstädten; wenn auch meist weniger neobarock. Geben wir Bonn eine Chance!

Derweil floss der Rhein ungerührt und gar nicht so arg über die Ufer tretend vorbei, geradezu stoisch, am Abend wie am Morgen. Als wir nach üppigem Frühstück im einzigartigen Kameha Grand endlich aus unserem Auto am verdächtig menschen- wie autoleeren Parkplatz auf der anderen Seite des Rheins klettern, begrüßt uns krakeelendes Geschrei: Zwei grüne Papageien fliegen aufgeschreckt dicht über unsere Köpfe hinweg; im Nachhinein vermuten wir, dass sie schon zu lange keine Menschen mehr gesehen haben. Die Möwen hingegen sitzen ungerührt auf dem Anleger, während draußen schon das zweite Fluss-Kreuzfahrtschiff vorbeifährt; auch dort wenig Leben über Deck. Wir gehen noch etwas orientierungslos in Richtung Gebäude, irgendwo dort muss der neue UN-Campus beginnen, und dann sollte gleich das Wasserwerk kommen, und dann – aber alles, was kommt, sind Zäune. Hohe Hochsicherheitszäune, gespickt mit Kameras. Na gut, irgendwo muss es doch einen Eingang geben? Aber komisch, man sieht gar keine Menschen, innen, auf dem abgesperrten Gelände. Da, schau, da ist das Wasserwerk! „Deutscher Bundestag“ steht in goldenen Buchstaben bescheiden auf der Mauer davor, und daneben ist ein Klingelschild, zwei Knöpfe, wie lustig, wenn man jetzt klingelt, kommt dann der Hausmeister oder der Parlamentspräsident? – aber die Tür ist zu, man kommt nicht hinein, und zu klingeln wagt man natürlich nicht. Wir gehen stattdessen, schon etwas missmutig, weiter am Rhein entlang; immerhin, die Vögel singen recht schön hier, später sehen wir sogar einige Schwanzmeisen und einen Baumläufer! Aber kein Eingang, nirgends. Irgendwann, beim Marriott Hotel – zu dem man ja irgendwie hinkommen muss? – eine Einfahrt für Autos, versperrt.

Endlich kommt die ersehnte Stichstraße ins Innere. Sie bringt uns auf den „Platz der Vereinten Nationen“ vor dem Marriott Hotel, dessen Restaurant „Konrad’s“ heisst. Das im Kameha Grand heisst „Ludwig’s“; und ja, das fehlplazierte Apostroph ist ein untrügliches Zeichen von – Amibitioniertheit und Friseursalonhaftigkeit? Der „Platz der Vereinten Nationen“ ist immerhin großzügig angelegt, er ist umgeben von einem hohen Gebäude (dem Marriott), einem flachen (einem überdimensionierten Congress-Centrum in gewohnter städtebaulicher Hässlichkeit) und einem recht hübschen mittelhohen Bau im klassischen Bauhausstil – dem Haus des Bundesrates. Dieses entnehmen wir der ersten bescheidenen Tafel, die wir nun finden und die uns auf den „Weg der Demokratie“ leiten soll; die Tafeln sind im Übrigen alle schon deutlich älteren Datums, die Schrift ist etwas verblasst, und man wird nicht direkt überschüttet mit historischen Fakten oder sonstigen Informationen. Man kommt aber nicht in das Bundesrats-Gebäude, das wohl auch, wie die meisten anderen, noch irgendwie im Betrieb ist im Regierungsauftrag; nicht aber zwischen den Jahren, wo sogar die Pförtner und Hausmeister ruhen dürfen. Ein großer weißer Bus fährt langsam auf den Platz; offensichtlich eine Stadt-Rundfahrt, es steigt aber keiner aus. Wozu auch, ist ja sowieso zu und versperrt! Auf der anderen Seite findet man dann noch das Bundeskanzleramt, von dem Helmut Schmidt gesagt haben soll, es erinnere ihn an eine „rheinische Sparkasse“; und das ist noch ästhetisch hochgegriffen. Es ist großflächig eingezäunt.

Aber wir haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben zu diesem Zeitpunkt. Wir machen uns, den „Weg der Demokratie“ entlang, auf dem Weg zum Palais Schaumburg, dem Sitz des Bundespräsidenten (heute Zweitsitz, falls er denn mal da ist), und zum Kanzlerbungalow. Na gut, wir hätten auch im Internet finden können, dass er derzeit noch im Umbau ist (wie, gefühlt, die Hälfte aller historischen Gebäude in ganz Deutschland, nicht nur in Bonn; das sagt eine routinemäßige und unbelehrbare Bildungsbürgerin, die vor genug verschlossenen Türen und Bauzäunen stand in den letzten Jahren, um das begründet und nicht nur gefühlt sagen zu dürfen). Dass er aber, wie auch das Palais und alle anderen Gebäude von etwas höherem historischen und ästhetischen Interesse in dem recht schön parkartig angelegten Gelände, noch nicht einmal aus der Ferne, oder wenn doch, dann nur durch den Gitterzaun zu sehen ist – nein, das mussten wir lernen, und es war eine Erfahrung, die einen ziemlich nachdenk-lich macht.

Denn was haben wir gelernt bei unserem Ausflug in die Frühgeschichte unserer Bundes-Demokratie? Der „Weg der Demokratie“ führt zwar nicht an einer Mauer, aber an einem hohen Zaun entlang; und sobald man versucht, durch die Lücken zu schauen, fühlt man sich von einer Kamera beobachtet und daher etwas unwohl, so, als tue man etwas Verbotenes. Dabei wollten wir doch nur diejenigen Stätten besuchen, in denen das Volk vertreten wurde – also wir, wir alle, in unseren Gründungsjahren, damals, als Politik noch von ernsten Männern gemacht wurde und alle Abgeordneten in ein kleines Wasserwerk passten! Nun aber müssen wir draußen bleiben. Vielleicht, wenn wir einen Ausweis hätten, eine Sicherheitsüberprüfung vorzeigen könnten, irgendeinen magischen Zugangscode. Aber so – sind wir wohl eine potentielle terroristische Bedrohung. Oder einfach nur nebensächlich und unwichtig. Wenn wir Geschichte sehen wollen, sollen wir uns entweder in einen großen weißen Bus setzen oder gefälligst ins Museum gehen. Sollen wir?

Die Zweigstelle des Historischen Museums an der „Museumsmeile“ gleich gegenüber bietet derzeit unter dem Titel „Ein großer Wurf: 75 Jahre Grundgesetz“ eine (wahrscheinlich: ambitionierte?) Retrospektive, das Ausstellungsfoto zeigt eine Menge Männer in Schirmmützen, die an einem Schalter anstehen oder durch ein Glasfenster blicken, was auch immer – sie müssen wohl draußenbleiben, genau wie wir heute, dürfen aber aus der Ferne auf das heilige Grundgesetz schauen? (das keine Verfassung ist, noch immer nicht, vielleicht auch besser so) Alternativ gäbe es auch die Ausstellung #deutschlandigital, und das ist nun eine so schreckensvolle Vorstellung angesichts der Realsatire, die die Digitalisierung Deutschlands jeden Tag ganz ohne Eintrittsgebühr bietet, dass wir noch weniger in ein Museum wollen. Wir wollen – nun ja, die Aura des Realhistorischen, den Geist der Adenauer- und der ihr folgenden Kanzlerzeiten, den Nicht-Berlin-sondern-Bonn-Vibe, unterlegt mit einem Soundtrack aus Günter Grass und Heinrich Böll. Wir wollten – unsere sozialdemokratische Jugend wiederfinden in einem Land, das noch neu war im politischen Geschäft und auf eine angenehme Weise dilettierte: Kanzler-Bungalow eben! Und kein Museum, in dem nur wieder alles verkauft wird, politisch korrekt zertifiziert und dadurch: Berlin-förmig!

Aber, Berlin nun andererseits – mit gar nicht wenig Identifikation dachten wir an diesem Punkt an unseren Berlin-Besuch kurz vor Jahresende zurück. Die alte und derzeitige Hauptstadt war in mildes Winterlicht und Neuschnee getaucht, das der preußischen Mitte ganz hervorragend stand, und sogar der Regierungsbezirk hatte etwas Stilles, Mildes. Definitiv, Berlin war gut dabei auf dem Weg zur Hauptstadt des Herzens! Und so eine hinreißende Museums-Insel, die man mehrere Jahre bestaunen könnte! Und wenn es denn „Museumsmeile“ sein muss, wie in Bonn, dann doch besser gleich Frankfurt; der Main ist fast genauso breit, die Hochhäuser stellen die gerühmte Bonner Skyline (im Wesentlichen: der Lego-Telekom-Turm, der Lange Eugen und das Marriott) noch an einem Nebeltag in den Schatten – und dass Frankfurt damals nicht die Hauptstadt geworden ist, wir hatten es schon wieder vergessen, war wahrscheinlich das Ergebnis von Klüngelei und Bestechung; auch wenn einem die unterstellten Bestechungsbeträge pro Abgeordneten ziemlich lächerlich vorkommen, dafür bekommt man heute nicht mal mehr einen minderbegabten Lobbyisten! Eine gekaufte Hauptstadt – in welchem Bananenstaat leben wir eigentlich?

Und natürlich kann man auch in den Reichstag in Berlin nicht einfach mal eben reinlaufen; oder beim Bundeskanzleramt klingeln, und Olaf Scholz macht die Tür auf. Aber vielleicht sollte man doch bei Gelegenheit einmal darüber nachdenken, was es denn für den „Weg“ einer Demokratie bedeutet: Wenn sie nur noch in Hochsicherheitstrakten stattfindet. Die Anekdote über Gerhard Schröter, dass er in seiner Jugend als besoffenes Juso-Mitglied einmal an dem Zaun des Kanzleramtes rüttelte und her-ausposaunte: „Ich will da rein!“ – bekommt plötzlich eine ganz neue Bedeutung.

MÜNCHEN, MONACO UND WIESBADEN

Der Himmel über München war so blau-weiß wie sonst nur auf CSU-Wahlplakaten. Auf dem Viktualienmarkt aber dominierten an diesem Samstag in der Vorosterzeit zwei Farben in den Bier-gärten: schwarz-gelb und rot-weiß; es stand ein sog. ›Spitzenspiel‹ an, der lokale Endlos-Meister gegen die aufstrebenden Borussen (es endete tragisch, für die Borussen nämlich, sie verloren 0:5, und wer das jetzt für einen Spoiler hält, muss den Rest sowieso nicht lesen). Wir hatten etwas mühsam noch einen Sitzplatz bei der Suppenküche gefunden; als wir mühsam unsere Karotten-Kokos-Suppe samt Holunderschorle dorthin balanciert hatten, grüßten wir freundlich (was in München gar nicht so selbstverständlich ist, wie man meinen sollte) die beiden schon am Tisch sitzenden Gäste. Beide trugen schwarz-gelb, der Sohn einen Schal und einen Kopfputz, der Vater ein Trikot. Während wir versuchten, hinter die Geheimnisse des neu eingeführten Suppe-Punkte-Systems samt Stempelkarte zu kommen, machte ich einen matten Scherz darüber, dass das ja beinahe schwieriger sei als das Punktesystem in der Bundesliga, haha, es war mir selbst hinterher peinlich. Der Papa aber stieg großzügig ein, mit gar nicht arg borussischem Akzent sagte er, so schwer sei das doch nun auch nicht, was ich denn für Probleme hätte, und es entwickelte sich tatsächlich eine Art Gespräch. Es stellte sich dabei unter anderem heraus, dass die Fußballtouristen gar nicht aus Dortmund angereist waren, sondern aus Wiesbaden, wo sie schon des längeren lebten; eine schöne Stadt, legte uns der Ex-Borusse ans Herz, genauso wie Mainz, besonders zu den Weinfesten – was schon fast wagemutig zu nennen war angesichts der Bierseidel-Dichte und Hopfen-Geruchskonzentration des weiteren Umfelds; und ob wir überhaupt wüssten, dass Monaco Wiesbaden seinen Reichtum verdanke? Nein, wüssten wir nicht, sagten wir einiger-maßen perplex und löffelten inzwischen durchaus interessiert weiter Karotten-Kokos-Suppe. Es sei nämlich so, holte unser Gesprächspartner aus – er trug übrigens eine Sonnenbrille und einen Stoppelhaarschnitt zum Trikot –, dass im 19. Jahrhundert das Glücksspiel in Wiesbaden, wo es eine florierende Spielbank gab, staatlich verboten worden sei; da sei der damalige Eigentümer eben nach Monaco gezogen und habe dort ein Casino gegründet, und so habe der heutige Zwergstaat wesentliche Teile seines Weltrufs und seines heutigen Reichtums – einem ehemaligen Wiesbadener zu verdanken! Wir waren ein wenig sprachlos, ich arbeitete kurz an einem weiteren matten Scherz daran, ob man nicht auch noch den deutschen Spitzenfußball nach Monaco exportieren könnte, nur falls weitere leitende Mitglieder des Bayern München noch mehr Probleme mit dem Recht bekämen – aber ich ließ es dann sein und zeigte mich dankbar belehrt. Derweil stand unser sonnenbebrillter Gesprächspartner auf und kündigte an, sich nebenan noch einen Kaffee holen zu wollen, Sohni blieb brav bei uns sitzen. Ich fragte, wann denn das Spiel so losginge und was man noch vorhabe; er sagte, stocktrocken und weitgehend hochdeutsch, naja, erst einmal offensichtlich Kaffeetrinken, und dann werde man ein wenig randalieren und um 18.30 sei dann schon Anpfiff. Äh, fein, sagten wir und kratzten schmunzelnd die letzten Reste unserer Suppe auf, dann kam Papa zurück, die Schlange war ihm zu lang gewesen. Die beiden ließen sich ersatzeshalber eine Eisdiele ans Herz legen, verabschiedeten sich unmünchnerisch freundlich, und der stoppelhaarige Ex-Borusse sagte, nun seinerseits schmunzelnd: Und so hätten wir denn gesehen, dass man sogar von Fußballfans etwas lernen könne! Wir werden wohl demnächst nach Wiesbaden fahren, es scheint eine interessante Stadt zu sein, vor allem bei Weinfesten.

RÜCKKEHR NACH FREIBURG, ODER: EIN TECHNISCHES MISSVERSTÄNDNIS

Wie immer freute ich mich, zurück in Freiburg zu sein. Ich hatte die Begrüßungsrunde gedreht, ein Abendessen bei meinem Lieblingstürken, wo mich alle immer noch erkannten; ein Blick auf das abendliche Münster, nun ganz ohne Gerüste filigran erleuchtet vor dem tiefblauen Abendhimmel, von drinnen drang leise Orgelmusik heraus und die Jungfrauen warteten, geduldig, wie eh und je; ein Streifzug über die Bächlein und durch die Gässlein, doch im Läderach-Laden waren leider schon die Putzfrauen am Werke, ich wäre durchaus bereit gewesen, aus reiner Wiedersehensfreude eine unvernünftige Summe Geldes in Schweizer Schokolade zu investieren. Und gerade wollte ich vor dem Abbiegen zum Hotel noch einen Blick auf die Stupa beim Tibet-Haus werfen, wo man im Sommer immer so friedlich Tee trinken kann, da hielt das Fahrrad neben mir an und der ältere Herr sprach mich von der Seite an. Er hatte eine außerordentlich wohlklingende, ja geradezu geschulte Stimme, das feinste Hoch-deutsch, ein tiefes Timbre, vielleicht war er ein Prediger am Münster; oder vielleicht doch eher ein Alt-Akademiker mit linker Vergangenheit, wie sie so treu die Vorträge des Studium Genera-le, der Katholischen Akademie oder des Goethe-Vereins bevölkerten? Denn bei näherem Hinsehen trug er eine Art Hoodie, und ich konnte seinen Worten auch zunächst keinerlei Sinn entnehmen; er hatte nämlich auf die Straßenmitte gezeigt und in etwa gesagt, das stünde nun noch immer da und das könne doch eigentlich wirklich nicht sein!

Das, was da stand, war, soweit ich das im tiefblauen Abenddunkel unter dem Sichelmond erkennen konnte, eine Kameraanlage. Sie stand mitten auf der Straße, dort, wo ein kleiner Platz für die Fußgänger ist; es handelt sich um eine nicht sehr viel von Autos befahrene, sondern eher von wilden Radfahrern frequentierte Straße am Rande der Altstadt, wo sie gemütlich in die Professorenviertel der Wiehre jenseits der Dreisam ausfließt, und ein Zebrastreifen wäre einfach eine Übertreibung für diese kleine Straßenkreuzung gewesen. Deshalb gibt es nur diesen kleinen Raum in der Fahrbahnmitte, wohin man sich flüchten kann vor den wildgewordenen Fahrradfahrern, die häufig auch schwere Kleinkindanhänger im Schlepptau habe, eine wohletablierte Kindertagesstätte ist gleich ums Eck, mit einem imponierenden Fahrradparkplatz. Dort, auf der kleinen Fußgänger-Oase in Fahrbahnmitte, stand jedoch nun die schwarze Kamera, nein: Sie machte sich geradezu breit, ein schwarzes, technisches Ungetüm! Und der altehrwürdige Hoodie-Träger mit dem sanften Timbre in der Stimme erläuterte mir, nachdem er mich offensichtlich als Genossin im Geiste erkannt hatte, woran auch immer (immerhin trug ich einen Duffle Coat mit Kapuze), dass diese doch offensichtlich sehr teure Kameraausrüstung schon seit heute Morgen hier stünde. Gestern jedoch sei ein Kamerateam dagewesen, nebenan in der Marienstraße, sie hätten irgendwas gedreht, der Himmel weiß was (ein Tatort gar, das wahre Erkennungszeichen dafür, dass man eine ordentliche deutsche Stadt mit Milieu ist, lag mir auf der Zunge zu fragen, aber ich hielt mich gerade noch zurück), und heute stünde nun diese Kamera da. Er habe schon die Polizei informiert, das könne doch nicht sein, wahrscheinlich sei ein armer (es schwang mit: unterbezahlter, prekär beschäftigter, von den Mehrheitsmedien versklavter) Kameramann dagewesen und der habe nun seine Ausrüstung vergessen, wofür er sicherlich werde finanziell einstehen müssen!

Das wollte mir nun nicht unmittelbar einleuchten. Denn, so formulierte ich noch zögernd, den Gesprächspartner aus den Augenwinkeln abschätzend, es sei doch sicherlich noch – nun, der Film, das Material irgendwo in der Kamera (natürlich war ich technisch unsicher, wie das bei digitalen Geräten heutzutage ist, aber trotzdem, irgendwie musste das Material ja übertragen werden!), und es hätte einem doch auffallen können, dass man mit leeren Händen nach Hause kommt? Aber mein Gesprächspartner hielt sich nicht mit technischen Banalitäten auf. Er habe die Polizei ja schon verständigt, heute Morgen gleich, aber er habe nun gerade jetzt kein Telefon, ob ich denn vielleicht eines hätte, es könne doch nicht sein, dass hier eine teure Kameraausrüstung mitten auf der Straße stünde? Mir lag es auf der Zunge zu sagen, dass es doch schön und recht freiburgerisch sei, dass sie immer noch hier stünde, wo er doch schon heute Morgen die Polizei angerufen habe; was ich sagte, war aber, halb wahrheitsgemäß und halb ausweichend, dass ich nun leider auch nicht von hier sei und deshalb höchstes mein Handy  benutzen könnte. Aber irgendwas kam mir immer noch komisch vor, und während ich mich dem Gerät nun etwas annäherte und ihm ins Gesicht schaute, räumte auch mein Gesprächspartner ein, es habe ja irgendwie Ähnlichkeit mit einer, nun ja, Radaranlage. Ich schaute in das große Blitzauge und dachte, ja, genau, so stehen sie auch bei uns im Dorf, es ist dieses große Auge, und es blitzt – und mein Gesprächspartner sagte währenddessen, das würde natürlich alles ändern und man könnte dann ja auch einfach das Problem lösen, indem man das Gerät in die Dreisam werfe!

Das war eine ziemlich unerwartete Wendung der Ereignisse, und die Alternative, entweder vertrauensvoll die Polizei zu verständigen, damit sie sich um herrenloses Gut kümmere, oder ein amtlich zertifiziertes Gerät zur Kontrolle von Verkehrssündern – wild gewordenen Radfahrern eher als verschüchterten Autofahrern – mal eben in der mal idyllisch, mal auch bedrohlich daher strömenden Dreisam zu entsorgen, schien mir etwas radikal. Hilfesuchend schaute ich mich um, in der durchaus rationalen und in schwäbischen Dörfern vielfach empirisch verifizierten Annahme, wo ein Radargerät sei, müsse auch derjenige, der es auslöse und bediene, in der Nähe sein. An der Ecke stand tatsächlich ein Mann, mittelalt, Durchschnittsgesicht, kein Hoodie. Er hatte eine Pizza-Pappe in der Hand, kaute auf einem Pizza-Achtel und erklärte auf Nachfrage, wir könnten ja gern weiter in das Gerät schauen, aber wenn es auslösen würde, würden wir leider spontan erblinden! Ob das Infrarot sei, wollte der Hoodie-Senior wissen, auf einmal technisch interessiert? Aber eigentlich, so im Nachsatz, ließ er den Pizza-Mann wissen, sei das auch egal, denn wenn es sich tatsächlich um eine Radaranlage handele, so werde er das Ding doch besser in der Dreisam entsorgen.

An dieser Stelle gewann, ich gebe es zu, meine Feigheit die Oberhand. Es war durchaus möglich, dass sich noch ein interessantes Gespräch zwischen Hoodie-Senior und Pizza-Mann entwickeln würde, über obrigkeitliche Rechte und Bürgerpflichten oder das geeignete technische Verfahren zur Feststellung von Temposündern, entweder motorisierten oder nicht-motorisierten; aber ich wollte weder zum Komplizen noch zur Schiedsrichterin werden. Ich murmelte also etwas der Art, dass damit ja wohl das Problem gelöst sei und ein Anruf bei der Polizei sich erübrigen würde (welche Ironie, schrie es in mir!) und wandte mich zum Gehen.  Aber weil es Freiburg war, rief der Senioren-Hoodie in seinem allerschönsten Vorlesungs-Predigt-Hochdeutsch mir hinterher, ich möge doch noch recht nett Freiburg genießen! Natürlich, war ich geneigt zu sagen, genau das tue ich, hier und jetzt! Und am liebsten wäre ich noch zum Tibet-Haus gegangen und hätte den Vorfall etwas in mir nachschwingen lassen, wie meine Yoga-Lehrerin immer sagt: Spürt in euch hinein, und wenn ihr nichts spürt, dann bildet euch halt ein, dass ihr was spürt, es macht sowieso keinen Unterschied. Aber das Tibet-Haus hatte schon zu, die Stupa schlief friedlich unter dem Sichelmond, und man soll nicht zu viel verlangen. Noch nicht einmal von Freiburg.

DAS GROSSARTIGSTE FOTO DER WELT

Abends dann saß ich beim Inder. Das Restaurant heißt ›Mahatma Gandhi‹, es ist angenehm ruhig meistens, und es hängen viele Gandhi-Fotos an den Wänden, neben den unvermeidlichen, aber im Großen und Ganzen ja auch recht friedlichen Ganeshas (es gibt aber nicht nur vegetarisches Essen, so weit geht die Identifikation dann doch nicht). Etwas nach mir kam ein Mann, Typ Geschäftsreisender, er sprach nur Englisch und begann gleich eine Unterhaltung mit dem Kellner: wie sehr er Indien liebe und bewundere, und das indische Essen vor allem, und er habe einmal einen Zimmergenossen im College gehabt, der sei aus Südindien gewesen, wie hieße die Provinz noch mal? Egal, er selbst sei leider noch nie in Indien gewesen, aber er wolle unbedingt dorthin, und es klang tatsächlich echte Sehnsucht aus seiner Stimme. Das Hähnchen Vindaloo, das ihm bald serviert wurde, lobte er überschwänglich und im Ton des echten Kenners. Am meisten aber begeisterte ihn das Gandhi-Foto, das neben seinem Tisch hing: Es sei really wonderful, really great, one of the greatest photos ever! Er wiederholte das mehrfach, weil der Kellner eher schwach reagierte; vielleicht war er kein ganz so großer Anhänger des großen Meisters, der immerhin einiges von seinen Anhängern und Nachfolgern erwartet hatte, wozu nicht jeder fähig war. Und natürlich hätte man nun ein Gespräch anfangen müssen, nachdem so verzweifelt ein großer Haken ausgeworfen worden war; aber man ist nicht immer in der Stimmung, ein Mitmensch zu sein, und der Kellner musste ja noch seine anderen Gäste versorgen.

Aber meine ebenso unsterbliche wie gelegentlich frivole Neugier konnte ich dann doch nicht besiegen, und so warf ich beim Zusammenpacken einen verstohlenen Blick auf das so bepriesene Gandhi-Foto am Nachbartisch. Nun gibt es vom großen Meister ja eine ganze Reihe berühmter, ikonisch gewordener Fotos, aber das war definitiv keines davon. Denn es zeigte den jungen Gandhi, ganz in Weiß gewandet, nur die nackten Füße, die später durch ganz Indien wandern sollten, schauten unten unschuldig hervor, und auf dem Jungengesicht mit dem etwas stutzerhaften Schnurrbart saß ein weißer Turban, der entfernte Ähnlichkeit mit einer etwas deformierten Teehaube hatte. Neben ihm jedoch stand, ihm gerade bis zur Schulter reichend, seine junge Ehefrau. Auch sie war ganz in Weiß gewandet, aber auf dem Weiß durften ein paar kleine Blumen tanzen; sie hielt die Hände sittsam vor dem Körper verschränkt, die Augen waren ernst und schauten etwas wissender als der junge Mann neben ihr. Das Ganze wirkte wie eine Inszenierung aus Tausendundeiner Nacht: Im Hintergrund zeichnete sich noch undeutlich ein geschmückter Vorhang ab, und vor ihm standen diese beiden jungen, lilienhaften Gestalten, weiße Silhouetten mehr als Menschen, gerade, beherrscht, dem Fotografen ohne jede Spur eines Lächelns ins Auge blickend. Vielleicht, wenn man genauer hinsah, konnte man eine gewisse Entschlossenheit auch bei dem jungen Mann sehen, ein gelindes Bohren des Blickes; doch dann war es doch nur wieder ein junges Ehepaar, unsicher, einer ungewissen Zukunft gegenüber und einem fremdartigen technischen Gerät. Hätte man ihnen in diesem Moment ihre Zukunft geweissagt – es hätte nichts geändert an ihrem Blick, an dem ernsten Selbstbewusstsein und dem Blütenweiß der drapierten Kleider. Noch das Hochzeitsfoto meiner Schwiegereltern ist so, ich hätte es gern danebengehängt: zwei ernste junge unverkennbar norddeutsche Menschen, gepackt in Kleider, die ihnen ein wenig zu groß und ein wenig zu fremd sind; und ein klarer Blick, direkt in die Kamera, ohne auch nur die geringste Spur eines Lächelns. War es das gewesen, was den amerikanischen Geschäftsreisenden so fasziniert hatte? Unamerikanischer konnte ein Foto nicht sein; vor ihm zerbröselte die gesamte Selfie-Manie samt der bizarren Kunst des posing dahin, und man hätte das eine oder andere durchaus existentielle Gespräch daran anknüpfen können. Aber vielleicht suchte er auch nur nach einem Zuhörer in einer schweren Stunde, wer weiß das schon, und das Foto war ein Vorwand. Gandhi hätte sicher Verständnis gehabt. Er wollte nie eine Ikone werden. Vielleicht hätte er gern einmal Indien besucht, als Tourist, und mit einem Fremden gesprochen, ohne dass einem gleich ein Mikrofon hingehalten wird.

WATCHING CNN

Ich lag auf dem schmalen Kabinenbett, und die große Fähre rollte. Mal bewegte sie sich etwas unscharf seitlich, mal wankte sie ein wenig auf und ab, mal schlingerte sie undefinierbar in alle möglichen Richtungen. Eigentlich war das ziemlich egal, solange man flach auf seinem Kabinenbett liegen blieb und nur gelegentlich, wenn eine Pause eintrat (das kam vor, man wiegte sich einen Moment in Sicherheit, um dann umso hinterlistiger vom nächsten Torkeln erwischt zu werden), einen waghalsigen Blick aus dem Kabinenfenster warf. Es sah gar nicht so aus, wie man sich einen Sturm auf dem Meer vorgestellt hatte: keine großen furcht-erregenden Wellen, die sich aufbäumten, sondern ein mittelhohes Gewusel aus blaugrauem Himmel, etwas dunkler blaugrauem Meer und weißen Schaumkronen. Und es war gar nicht so schlimm, dass der Horizont sich nur selten an die Horizontale hielt; schlimmer war dieses diffuse Ineinanderverschwimmen von Wellen, Wolken, Schaumkronen, in dem es überhaupt keine Linien mehr gab, sondern nur ein kochendes, waberndes, übereinanderstürzendes Durcheinander mit diesen gelegentlichen, zutiefst hinterlistigen Pausen – und man stellte sich unwillkürlich vor, dass es nach allen Seiten so weiterging, die ganze Welt war über Nacht ein Wabern und Wogen geworden, und man selbst lag mittendrin.

Aber nun gut, man konnte immerhin liegen, und die Kabine hatte sogar einen Flachbildschirm mit ungefähr 50 holländischen Sendern, einem deutschen und zwei englischen; worauf die logische Wahl auf CNN fiel, dem, wie ich inständig hoffte, geringsten Übel. Zufällig war ausgerechnet am Vortag der zweite Hurrikan innerhalb kurzer Zeit über diverse kleinere Karibikinseln und Florida hinweggezogen, und angesichts der Bilder zerstörter Inselparadiese kam einem der eigene Sturm draußen vor dem Kabinenfenster wieder ziemlich freundlich vor – bis die Fähre wieder ins Rollen und Schlingern kam, jedenfalls, aber der Flachbild-schirm blieb zum Glück einigermaßen in der Horizontale, nur die Gestalten waren leicht verzerrt, irgendwie ins Breite gezogen. Die zweite große Geschichte des Tages war die Flucht der Rohingyas aus Myanmar, ein, so das häufig wiederholte Zitat auf CNN, »textbook ethnic cleansing«, und man sah verzweifelte Menschen in einem Dauerregengebiet, durchweicht, blicklos, die in holprigem Englisch einem mitfühlenden Reporter verzweifelte Sätze sagten. Danach kam wieder der Hurrikan, aufgewühlte Straßen, dem Boden gleichgemachte Häuser, durch die Luft gewirbelte Autos, und Menschen, die einem mitfühlenden Reporter nicht ganz so verzweifelte, aber immer noch ziemlich dramatische Sätze sagten. Beide Themen wechselten mit einer gewissen Regelmäßigkeit, also jedenfalls deutlich regelmäßiger als die Bewegung des schlingernden Schiffes; und die Moderatorin sagte in schöner Regelmäßigkeit verstärkend betroffene Sätze und bedankte sich überschwänglich beim jeweiligen Reporter für seinen Einsatz in dieser sicherlich schrecklichen und hochdramatischen Situation. Ungefähr nach der dritten zyklischen Wiederholung der an die bekanntlich kurzwellige Aufmerksamkeitsspanne des Publikums angepassten Live-Szenen begannen die Sätze sanft in einander zu fließen, es stachen nur noch einzelne dramatische Superlative gelegentlich heraus, wie eine einzelne, besonders stark sich brechende Wellenspitzen oder die vermaledeite Pause. Vergeblich wartete ich darauf, dass zwischendurch vielleicht doch noch eine kleine sachliche Information aus dem Meer des vom Schicksal gebeutelten Menschlichen auftauchte – wer genau waren eigentlich noch mal die Rohingyas, und warum flohen sie ausgerechnet jetzt vor wem? Wie schlimm war der Hurrikan in Zahlen gewesen, was war seine genaue Bahn, warum häuften sie sich so in letzter Zeit, warum war es so übermenschlich schwierig, die Stromversorgung wieder zum Laufen zu bringen? Nichts. Ein human-interest-Interview nach dem anderen, verzweifelte Menschen sagten verzweifelte Sätze, der Reporter fühlte mit, die Moderatorin fühlte noch mehr mit, die Zuschauer, an deren Mitgefühl ständig appelliert wurden, fühlten hoffentlich auch mit und überwiesen Gelder auf die genannten Spendenkonten. Mir war leicht übel, und ich fühlte eine Zeitlang mit. Danach war mein Mitgefühl ungefähr so überstrapaziert wie mein Gleichgewichtssinn, und ich hätte gern ein wenig härtere Kost zu mir genommen, aber es kamen keine Informationen, noch nicht mal eine Karte, eine Statistik, gar eine Hintergrundanalyse (was ist eigent-lich genau ein textbook of ethnic cleansing?), was auch immer.

Wir schlingerten weiter. Doch da, ein Hoffnungsschimmer! Angekündigt wurde eine Judo Hour, eine ganze Stunde lang! Von wegen, es war nur eine trügerische Pause gewesen. Es folgte eine ebenso in Mini-Häppchen zerhackte Berichterstattung von den Judo-Weltmeisterschaften in Budapest (das Ganze wirkte ziemlich surreal, vor allem, weil es nicht stürmte oder regnete). Die Reporterin war mindestens genauso aufgeregt wie ihre Kollegen vor Ort in Florida oder an der Grenze zu Bangladesh, aber besser gekleidet. Enthusiastische Menschen in Judo-Kleidung sagten enthusiastische Sätze wie: Es geht um Respekt! Ich habe mir meinen Traum erfüllt, ich kann gar nicht sagen, wie ich glücklich bin! Respekt und Achtung, das ist es, worum es hier geht. Jeder kann mitmachen, es ist so gut für das Selbstwertgefühl! Es ist wunderbar hier, wir sind alle eine große Familie, obwohl wir so unterschiedlich sind. Respekt, Offenheit, Toleranz. Es ist so eine tolle Stimmung hier, alle gehen so mit, das ist unheimlich toll! Man sah dazu ziemlich kräftige, auf dem Bildschirm seltsam ins Quadratische gezogene Erfolgsgestalten, die markige Sätze sagten und dann sehr schnell in äußerlich ziemlich ähnlich wirkenden Bewegungsabläufen andere quadratische Gestalten auf die Matte warfen und dort ziemlich gewaltsam nieder-drückten. Aber Respekt, vorher verbeugt man sich. Kein Wort zur Tradition des Judo, der asiatischen Kampfsportarten insgesamt, oder zu Budapest als Austragungsort; noch nicht mal der Gewinner wurde so richtig genannt, weil es darum ja offensichtlich nicht geht, sondern um: Respekt. Träume. Vielfalt. Entwicklungsmöglichkeiten. Sagte ich schon, dass das Schiff schlingerte? Keinerlei Respekt, das Meer, vor einer ordentlichen Horizontale zum Beispiel. Wir gingen wieder nach Florida, Katastrophe auch in Key West, dann kurz die Rohingyas. Es regnete immer noch in Bangladesh. Es stürmte immer noch vor dem Kabinenfenster. Der Kapitän sagte durch, dass unsere Ankunft sich weiter verzögere, weil die Schlepper anderweitig gebraucht würden. Das Buffet sei aber frei für alle.

CNN schaltete um zur Kulturstunde, erneut flackerte ein wenig Hoffnung auf, aber schon sehr schwach. Thema war ein Kultufestival in Liverpool, es ging um modernen Tanz. Die Szenenaus-schnitte wurden um ein Geringes länger, was wohl daran lag, dass Intellektuelle immer so lange Sätze machen, wenn man sie aus Versehen ausreden lässt. Man hätte auch gern der arabischen Gruppe, die in Liverpool ihren Ausdruckstanz über die Situation der Intellektuellen und Künstler in Ägypten einstudierte, einfach ein wenig länger beim Tanzen zugesehen. Aber nein, kaum hatte sich der Tänzer einmal um sich selbst gedreht, kamen wieder Interviewfetzen aus Liverpool und Kairo (super Kulisse, es regnet auch gar nicht in den Märkten), und kulturell interessierte Menschen sagten: Es geht um Respekt. Achtung. Vielfalt. Toleranz. Jeder sollte sich künstlerisch ausdrücken und tanzen, es steigert das Selbstwertgefühl. Ich habe mir einen Traum erfüllt, es ist unglaublich, so intensiv. All diese verschiedenen Menschen, die hier zusammenkommen, so vielfältig, aber eine große Familie! Dann wurde wieder für einen Moment getanzt, und ich war sehr froh, dass dabei nicht geredet wurde; es kam auch deutlich mehr zum Ausdruck dabei als Respekt, Vielfalt, Toleranz. Offensichtlich aber waren Judo und Ausdruckstanz enger miteinander verwandt, als ich gedacht hätte; und ich hätte wetten können, dass auch ein Beitrag über Zierfische oder Briefmarkensammler mehr oder weniger mit den gleichen Wortbeiträgen hätte arbeiten können.

Und damit zurück nach Florida. Die Moderatorin hatte gewechselt, sie hatte eine andere Hautfarbe, war aber genauso wohlgeföhnt und tief mitfühlend wie ihre Vorgängerin. Vielleicht waren es ja auch nur das immer noch schlingernde und rollende Schiff, die chaotisch ineinander brodelnden Wellen, die gänzliche Missachtung einer Horizontale, die dieses seltsame Gefühl von Brei in meinem Kopf erzeugten. Angestrengt versuchte ich mich zu erinnern, was man mich in meiner journalistischen Ausbildung im letzten Jahrhundert gelehrt hatte; aber es blieb verschwommen, ich hatte nur eine Vision: Kleine Informationsfetzen schwammen auf einem Meer von human-interest-Geschichten, das Gebot zur objektiven Berichterstattung war längst untergegangen, nur noch eine kleine Boje markierte die Stelle, wo es einmal geankert hatte, es stand darauf: „Hier ruht der Qualitätsjournalismus!“ Derweil drehten sich die großen Räder in den Offshore-Windparks, beflügelt vom Wind des gutgemeinten Mitgefühls, sie drehten sich sogar ziemlich hektisch, so als hätten sie Angst, dass ihnen irgendwann die Luft ausginge, und dann würden sie einfach nur noch so dastehen und keiner würde sie bemerken, nicht mal die Fische. Und nur noch gelegentlich sah man in der Ferne eine Plattform, auf der man früher einmal in die Tiefe gebohrt hatte. 

Kurz vor Amsterdam kamen dann zwei Schlepper, einer zurrte uns von vorn fest, der andere von hinten, und der gefesselte Koloss lief langsam in den Hafen ein. Man soll sich eben nicht aufs Meer der Ungewissheit begeben ohne sicheres Geleit.


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