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 Auszüge aus: Von Frauenzimmern, Blaustrümpfen, schreibenden Frauen und anderen Heldinnen (s. Shop)

  • Mit eiskalter Hand das Leben ergreifend - Annette von Droste-Hülshoff vor kafkaeskem Hintergrund
  • Orlando (Virginia Woolf). Eine summa literaria
  • Undine geht, oder: Von der Schuld weiblichen Schreibens
  • Geschichten aus dem wahren Leben. Zum Werk der Nobelpreisträgerin
    Alice Munro
  • Salondamen, Hausfrauen, Wissenschaftlerinnen.
    Schreibende Frauen in Schwaben


 Mit eiskalter Hand das Leben ergreifend - 
Annette von Droste-Hülshoff vor kafkaeskem Hintergrund 

Am Ende hatte ich den Verdacht, sie sei die einzig wahre Vorgängerin (eine Frau! im 19. Jahrhundert! im idyllischen Biedermeier! aus Westfalen!) von Franz Kafka. Nur scheinbar schaut Annette von Droste-Hülshoff so brav gelockt von deutschen 20-Euro-Scheinen; die Nase ist ein wenig spitz, der Blick ernst, und sie scheint zu sagen: Das wäre nun wirklich nicht nötig gewesen! Lieber wäre mir gewesen, ihr hättet mich ernst genommen. Nein, wir müssen gar nicht weiter darüber diskutieren; ich bin wirklich keine emanzipierte Frau, auch wenn das sozusagen im Kleingedruckten des 20-Euro-Scheines steht: ‚Schaut, wir hatten eine Frau in Deutschland, sie war eine erfolgreiche Autorin, sie schrieb Texte, die bis heute in deutschen Schulen gewesen werden, und war sie nicht vorbildlich emanzipiert?‘ Nein, war sie tatsächlich nicht. Sie war katholisch, adlig, folgsam; sie blieb ihr Leben lang ihrem Glauben treu wie ihrer Kinderamme und ihrer schwierigen Mutter, sie pflegte die diversen familiären Kranken und war eine verlässliche Tante. Wie Franz Kafka hat sie nie geheiratet (es gab da eine hässliche Geschichte, wir müssen noch überlegen, ob wir sie wirklich erzählen). Sie war auch ihrer Heimat treu, nein, nicht nur treu: Sie liebte das nüchterne, bäuerliche und weltferne Westfalen, das Voltaire so herzlos als barabarisches Ende der Welt denunziert hatte im Candide. Ihr Herz hing an den seinen unterschiedlichen Regionen, ihren rauhen Bewohnern, an den Landschaften: der Weite der Heide, der Stille der Seen, vor allem aber den glänzenden Libellen – zierliche Geschöpfe, ganz ungelockt, beinahe durchsichtig, die Flügel jedoch von einem wundersamen Glanz bespiegelt, tanzen sie ihren seltsam ungelenken, eckigen Tanz über den stillen Wasserflächen, lassen sich nicht fangen und halten keinen Moment still. Emanzipiert, weltoffen, kosmopolitisch? Nein, das war nicht die Welt der Droste. Ihr persönlicher Mikrokosmus erstreckte sich zwischen dem verwunschenen Wasserschloss nahe Münster, auf dem sie geboren wurde, der Burg Hülshoff, und dem rauen Schloss über dem Bodensee, der Meersburg. Dort saß sie bei den langen Besuchen bei ihrer Schwester in ihrem Turm, sah auf die Wellen, streifte durch die Weinberge, erwarb sogar ein Gartenhäuschen und starb dort am Ende – zu früh, wie Franz Kafka; lebenslang kränklich, wie Franz Kafka; diszipliniert in ihrem Schreiben, von hohem Anspruch an sich selbst, und eigensinnig gegenüber kritischen wie preisenden Stimmen. Beides gab es unter den Zeitgenossen, die eigene Familie jedoch – blieb stumm oder schaute trocken münsterländisch; wie – ja, genau, wie bei Franz Kafka, nur dass ihr Vater kein Tyrann war, sondern ein sehr lieber, sehr gemütvoller alter Herr (aber was wissen wir eigentlich über Kafkas Vater wirklich, außer dem, was sein frustrierter Sohn und nicht wenig voreingenommener Sohn über ihn gesagt hat?).

Nun ist schon viel Lobendes über Annette von Droste-Hülshoff gesagt worden, und selbst wer die Gedichte nicht gelesen hat, kennt wenigstens die Judenbuche vom Hörensagen, über die schon unendlich viel gesagt worden ist, das meiste davon ist aber – nun, leider ziemlich falsch, ja, genau, wie bei Franz Kafka. Und vielleicht ist es gar kein so großer Zufall, dass es auch in der Judenbuche um einen Prozess geht, nein, nicht nur um einen, um mehrere Prozesse sogar; und dass am Ende des Prozeß wie der Judenbuche sich viele Gefühle bei der Leserin einstellen mögen, nicht jedoch das, es sei irgendeiner Gerechtigkeit genüge getan worden, noch nicht einmal einem formalen Recht. Und man kann sie lesen und wiederlesen und nochmal lesen – was sich ja auch alle Autoren wünschen, denn beim ersten Lesen streift man bekanntlich kaum die erste Hülle eines Textes, sondern flirrt leicht über seine Oberfläche, wie eine beinahe durchsichtige Libelle, und hascht nur hier und da nach einem Sonnenstrahl –, es hilft jedoch nichts. Beim zweiten Lesen findet man nur noch mehr versteckte Andeutungen, unverständliche Verhaltensweisen, seltsame Winke; das Rätsel wird immer größer statt immer kleiner, und soll man jetzt wirklich zum dritten Mal –? Ach, man kann die Judenbuche lesen ohne Ende; und immer noch wird man nicht wissen: Wer den Förster getötet hat und wer den Juden? Ob Friedrich Mergel (kein guter Grund, Mergel, die Droste wusste das als Amateur-Geologin und schrieb ein Gedicht Die Mergelgrube) und Johannes Niemand nun eine Person sind oder zwei (‚Niemand‘ nannte sich Odysseus bei Homer, um den Riesen Polyphem an der Nase herumzuführen, und die Odysseus-Andeutungen treiben durch die Judenbuche wie das Boot des antiken Herumtreibers durch die Ägäis)? Ob Johannes der Sohn von Friedrichs Onkel Simon ist, vielleicht sogar im Inzest mit seiner Schwester Margreth gezeugt, die seltsame nächtliche Verhaltensweisen zeigt, im Garten nach Kräutern gräbt und mit ihnen in der Scheune verschwindet? Ob Simon selbst der Anführer der mysteriösen Blaukittel ist, einer wohlorganisierten Holz-Mafia, die seltsam spurlos verschwinden kann, und man findet nur noch gefällte Bäume? Und schließlich, ob am Ende, und das ist natürlich die größte Unsicherheit, die skandalöse Offenheit, die nicht hinnehmbare Lücke des Textes – ob am Ende Friedrich (oder Johannes?) sich selbst erhängt, an der Judenbuche, und damit dem Fluch der jüdischen Gemeinde erliegt: „Wenn du dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir getan hast“(die Literatur liebt self-fulfilling-prophecies, sie nennt sie meist: Schicksal) –- oder ob er ermordet wurde? Denn wie soll der alte und behinderte Johannes/Friedrich nach all den Jahren in der türkischen Sklaverei, in der sein Hals schief geworden ist, wie soll dieser alte Mann, der zurück in seine Heimat Westfalen, gewandert ist vom Bosporus, damit er auf dem heimischen Gottesacker begraben werde, wie soll diese mitleiderregende Gestalt denn auf den Baum gestiegen sein, von dessen Höhe ihre mageren Beine in den geschenkten Schuhen des Barons jetzt hinabbaumeln? Und warum erkennt ihn dieser beim Abschneiden an einer Narbe am Hals – niemals, nein, man liest mühsam noch einmal von vorn, niemals vorher war von einer solchen Narbe die Rede! Aber natürlich erkannte die alte Amme Odysseus bei seiner Heimkehr nach Ithaka an einer Narbe; auf Friedrich/Johannes wartet jedoch keine liebevolle Gattin mit einem nicht enden wollenden gewebten Totentuch, sondern nur das Grab, das ihm dann – und damit vollzieht der Text unauffällig, wie es so seine Art ist, seine letzte Inhumanität – verweigert wird. Auf dem Schindacker wird er verscharrt. Außerhalb des Dorfes. Keiner von uns. Und wenn man dann, verzweifelt, wieder zum Anfang zurückschaut, springt einem das Motto-Gedicht so hart ins Auge, dass man mit Reiben kaum nachkommt; und es muss zur Gänze zitiert werden:

Wo ist die Hand so zart, daß ohne Irren
Sie sondern mag beschränkten Hirnes Wirren,
So fest, daß ohne Zittern sie den Stein
Mag schleudern auf ein arm verkümmert Sein?
Wer wagt es, eitlen Blutes Drang zu messen,
Zu wägen jedes Wort, das unvergessen
In junge Brust die zähen Wurzeln trieb,
Des Vorurteils geheimen Seelendieb?
Du Glücklicher, geboren und gehegt
Im lichten Raum, von frommer Hand gepflegt,
Leg hin die Waagschal', nimmer dir erlaubt!
Laß ruhn den Stein – er trifft dein eignes Haupt! –

War Annette von Droste-Hülshoff eine solche Glückliche, „geboren und gehegt im lichten Raum, von frommer Hand gepflegt“? Wahrscheinlich schon; und hier endet dann auch die verwegene, aber nicht ganz abwegige Parallele zu Franz Kafka (aber hatte nicht auch er eine liebende und solidarische Schwester, immerhin?). Man mag sich die Hand der Kleinwüchsigen gern sehr zart denken; so zart wie die Locken um die Stirn auf dem Porträt auf dem 20-Euro-Schein. Später, als sie schon eine alte Jungfer war, machte sie selbst Scherze über ihren zunehmenden Körperumfang. Ein Foto (ja, es gibt schon ein Foto von ihr!) zeigt eine eher verdrießlich schauende Matrone; aber das ist so ungewöhnlich nicht, in den Zeiten vor dem globalen Selfie-Wahn grinsten die Leute nicht für die Kamera, sondern schauten so, wie es das umständliche Geschäft des Fotografiertwerden erforderte, nämlich: ernst im Anblick der Ewigkeit, die bekanntlich wenig Anlass zum Lächeln bietet. Doch ihre Jugend mag schön, licht, gehegt gewesen sein auf dem alten Wasserschloss, mit den Geschwistern, mit der Bibliothek und dem Park rundherum. Wenn das Mädchen es sich nur nicht in den Kopf gesetzt hätte, Verse machen zu wollen! Immerhin, sie spielte auch recht schön auf dem Klavier und sang dazu, das waren handelbare Eigenschaften auf dem allgegenwärtigen Heiratsmarkt. Und junge Männer kamen, oder man besuchte sie auf anderen Schlösser in der weiteren Verwandtschaft, es ging wahrscheinlich durchaus so zu, wie man sich das im Biedermeier-Ambiente mit klassizistischem Mobiliar vorstellt: leichte Gespräche, fröhliche, nicht zu anspruchsvolle Musik, Lustwandeln im Park, Pfänderspiele, gemeinsame Lektüre, die jungen Studenten erzählen Schwänke aus dem Studentenleben und die jungen adligen Fräuleins vergessen für einen Moment, was ihnen der christliche Anstand gebietet. Dann aber hat einer der Studenten den Scherz zu weit getrieben. Vielleicht hatte die junge Annette allzu leichtherzig geplaudert, eine spitze Zunge soll sie schon immer gehabt haben, dazu all dieser literarische Enthusiasmus, die Neigung zu Schauergeschichten sogar, das war nun nicht recht sittsam-fromm und fräuleinhaft! Aber dass man sie deshalb einer formalen „Treueprobe“, einer inszenierten Verführung aussetzte, um die Ernsthaftigkeit ihrer Absichten zu erforschen – nein, das war weder lustig noch anständig, es war einfach durch gar nichts zu rechtfertigen. Traumatisiert blieb sie ihr Leben lang. Die einzige erotisch höchstens libellenhaft aufgeladene Beziehung zu einem Mann wurde später die zu Levin Schücking, dem Sohn der von ihr verehrten Westfalen-Dichterin Katharina Schücking. Er war beinahe jung genug um ihr Sohn zu sein; er war aber ihr „Pferdchen“, mit dem sie eine Phase freundschaftlich-enger Vertrautheit am Bodensee erlebte, ein Jahr Urlaub von ihrem westfälischen Leben sozusagen, auf der Burg der Schwester, und jeden Tag ein Gedicht, so sagte es später der Mythos. Aber es war unvermeidlich, dass das „Pferdchen“ heiratete, eine jüngere Frau natürlich, und das trotz aller Warnungen der mütterlichen Freundin. Danach war es niemals mehr wie zuvor. Nein, Annette blieb die alte Jungfer, als die sie sich längst eingerichtet hatte; und wenn sie Leidenschaften hatte, dann –

Aber hatte sie Leidenschaften? Natürlich hat die Nachwelt sie zu einer leidenschaftlichen Frau gemacht; eine emanzipierte Frau (die sie nicht war und nicht sein wollte), die solch professionelle Texte schrieb (in denen kaum jemals eine weibliche Stimme spricht, sondern eben ein wandernder Landschaftsmaler oder ein nachdenklicher Herr), konnte doch wohl kaum ein katholisches Fräulein gewesen sein ihr Leben lang? Nein, versteckt, verdrängt, kompensiert in ihre Dichtung hat sie es, weil es gar nicht anders sein kann (auch Kafka fiel nicht direkt als leidenschaftlicher Charakter auf, im übrigen; aber bei ihm war das in Ordnung, weil er ja unterdrückt war von seinem Vater und versklavt von seinem Tagesjob als Angestellter in einer Versicherungsanstalt und überhaupt in jeder Hinsicht ein Opfer)! Nun hat Annette von Droste-Hülshoff nicht direkt leidenschaftliche Liebesgedichte geschrieben; was nicht heißt, dass sie gefühllos war (und gelegentlich sollte man das auseinanderhalten, Leidenschaft und Gefühl, und nicht nur im Biedermeier, das sehr viel Gefühl hatte, aber einen deutlichen Sicherheitsabstand zur Leidenschaft einhielt). Keines ihrer Gedichte ist gefühllos, im Gegenteil, alles lebt in ihnen: Die Heimat, Westfalen. Das Moor, die Heide, der Fischer, der Knabe, die Libelle. Aber viele der Gedichte sind unerwartet und untergründig humorvoll (das ist das Biedermeier nämlich auch, gelegentlich sogar selbstironisch)! Da ist der Knabe, der arme, der nachts durch das dunkle, gespenstisch belebte, gluckernde, zischende Moor springt wie ein junges Reh; er sieht Gespenster in jedem Bauch und Strauch, Schreckgestalten der dörflichen Sagen verfolgen ihn; er klammert sich an seiner Fibel, sein Lesebuch (sein Lesebuch? was tut das Kind abends im Moor, und warum hat es sein Lesebuch dabei? – schon wird einem wie in der Judenbuche, Abgründe des Nicht-Verstehens tun sich auf); das arme Kind, das nun endlich die heimatliche Lampe sieht, rennt nicht etwa spornstreichs seiner sich ängstigenden Mutter in die Arme, sondern nein, um schaut er sich, und es heißt, in einem unerwarteten Sprung ins Präteritum, die Zeit des Erzählens von Spukgeschichten und Einbildungen: „Ja, im Geröhre wars fürchterlich, und schaurig in der Heide!“ Man meint zu sehen, wie sich das lyrische Ich den Schweiß von der Stirn wischt und dem Knaben zuzwinkert: Wieder eine Mutprobe überstanden, war doch gar nicht so schlimm, oder? Morgen ist aber der Schulkamerad dran, gell? (Kafka übrigens fand seine eigenen Texte, gelegentlich, lustig, er konnte herzhaft lachen nach dem Vorlesen). 

Aberglauben, Volksbräuche, Spukgeschichten – das alles hat Annette interessiert, sie sammelte westfälische Geschichten wie die Brüder Grimm vermeintliche Volksmärchen, mit ihnen war sie in der Zeit der ‚Tugendprobe‘ gelegentlich zusammengekommen. Eine Zeitlang plante sie gar ein Westfalen-Projekt, von dem nur die Bruchstücke überliefert sind: Die Judenbuche hätte natürlich ein Teil davon sein sollen, ebenso ihr ganz anders erzähltes Fragment Bei uns zu Lande auf dem Lande. In ihm hätte ein Landadliger aus der Lausitz Geschichten von seinen westfälischen Vorfahren ausgebreitet, ein Reigen von Novellen in fröhlich ländlichem Rahmen, wie sie seit Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten in Mode waren. In den erhaltenen Passagen wird der Erzähler eingeführt als recht launiger Herr, ein wenig umständlich vielleicht, wie schon der Titel mit seiner seltsamen Doppelung, „zu Lande auf dem Lande“ umständlich anmutet – aber das Land ist eben zugleich das, was einen prägt, die Heimat, Westfalen; und es ist der Gegenpol zur Stadt, einem heranwachsenden nimmersatten Monster, von der man schon sieht, dass sie alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen wird, nicht zuletzt die der Romanschreiber und Literaten. Aber während alle Welt wie gebannt auf die große Stadt und ihre vermeintlichen großen Geschichten schaut, schreiben kleinwüchsige Wüstenblumen (so sah sie sich nämlich, die Geschichte wird noch erzählt) kleine Geschichten von kleinen Leuten – vom Land und mit ganzem Herzen verwurzelt im Land. Gedichte von stillen Weihern, Knaben im Moor, schlafenden Fischern und Fräulein mit fliegenden Locken und einem eiskalten Händchen (die Geschichte kommt auch noch, nur Geduld!). Ja, sie schreiben sogar eine kleine Volks- und Sittengeschichte von Westfalen, die Westfälischen Schilderungen, in der das Münsterland wechselweise eine Wüstenei und eine antike Idylle wird und das Sauerland ein erhabenes Hochgebirge; in denen Hochzeiten auf dem Lande gefeiert werden, mit gelegentlichem Geschlechter-Rollentausch; in dem die Bauernburschen auftreten als jugendliche Indianer, die einen „nachdenklichen Herren“ ein wenig an der Nase herumführen; in denen es eben zugeht wie auf dem Lande bei uns zu Lande, wenn man genau hinschaut und weder schönmalt (eine Idylle! putzige Bauern und rotwangige Landmädel!) noch kritisch verzerrt (kein gesellschaftliches Bewusstsein! Unhinterfragte soziale Hierarchien! Eingefahrene Geschlechterklischees!), sondern eben schildert. Es ist höchst zu bedauern, dass das Westfalen-Projekt eine Ruine geblieben ist. Vielleicht wäre es der Droste ja gelungen, in der Mischung; nein: in der gegenseitigen Beleuchtung von Volkskunde und Literatur, von Erzählen und Schildern, von Kriminalgeschichten und Naturgedichten, Hochzeitsgebräuchen und Wirtschaftsformen etwas zu erschaffen, das – etwas ganz Besonderes gewesen wäre, von dem man nicht einmal den Namen weiß. 

Denn die Droste war keine Theoretikerin. Zu ihrem Schreiben und dessen möglichen Zielen, Strategien, Verfahren hat sie sich ganz selten geäußert; und wenn, dann in poetischer Form, nicht in Programmen oder Sendschreiben oder ausgetüftelten Briefen mehr an die Nach- als Mitwelt, wie das männliche Kollegen so oft tun (Kafka aber nicht). Mein Beruf, so heißt eines dieser wenigen Gedichte, und schon in der ersten Strophe scheint eine sehr selbstbewusste, sehr emanzipierte, sehr von sich selbst überzeugte Autorin auftreten: „So hört denn, hört, weil ihr gefragt: / Bei der Geburt bin ich geladen, / Mein Recht soweit der Himmel tagt, / Und meine Macht von Gottes Gnaden“. Man möchte schier ein Ausrufezeichen setzen hinter diesen Satz, es steht aber keines da, es ist nämlich keine Forderung, sondern eine Selbstverständlichkeit: Eine Dichterin wird zu ihrem Beruf von Gott berufen, genauso wie der männliche Kollege und genauso wie der absolutistische Herrscher, der sich so gern auf sein Gottesgnadentum beruft. Der Gott der Droste ist jedoch kein absolutistischer Herrscher von unbegrenzter Macht (vielleicht hat sie auch gelächelt, Mona-Lisa-rätselhaft, als sie diese Zeile schrieb). Aber er fordert absoluten Gehorsam, zudem im Angesicht dunkler Zeiten, wo der „Geist, ein blutlos Meteor“, bedroht ist: „Tritt hervor, / Mann oder Weib, lebend’ge Seele!“ Nun, das lässt sich immer noch hören und rechtfertigt den 20-Euro-Schein. Beim Weiterlesen wird es jedoch immer befremdlicher. Beschworen wird ein Träumer im Opiumrausch, zu dem der Dichter schmettern oder flüstern soll; gemalt wird eine Orgie, die sich gar gegen die eigene Mutter richtet, angesichts derer die Dichterin aufrütteln soll; herbei beschworen eine leidenschaftliche, aber leider gesetzlose Liebesbeziehung, bei der Dichter an das bindende Priesterwort gemahnen soll. Nein, Ausschweifung, Leidenschaft, Rausch allenthalben, Verletzung heiliger Schwüre, frommer Sitten, mütterlicher Liebe, wohin man schaut, Sodom und Gomorrha mitten im schönsten Biedermeier-Westfalen! Nur die Dichterin tritt im Namen Gottes auf, und sie verkündet eine Ethik der Mutterliebe als – nun ja, nicht direkt als mahnender Engel mit dem Flammenschwert, sondern als einfache Blume im Wüstensand der Sahara: „Farblos und Duftes bar, nichts weiß / Sie als den frommen Tau zu hüten“. Das ist ein Bild, bei dem man lachen oder weinen, jubeln oder verzweifeln kann. Es ist, in seiner Kargheit und Entsagung, in seiner entschiedenen Unterbietung aller lyrisch-hochtönenden Erwartung, in seiner Beschränkung auf eine liebevolle, fromme, nicht am Nachruhm interessierte („Vorüber rauscht der stolze Leu, / Allein der Pilger wird sie segnen“) Demut nicht nur die maximale Anti-Klimax zum volltönenden Auftakt der von Gott berufenen Dichterin; es ist ein Gelöbnis, aber das einer weltlichen Nonne. Kein Name, kein Ruhm, kein auftrumpfendes Ich, kein kämpferisches Programm (Relevanz! Kritik! Aufrüttelung!). Nur eine Wüstenblume in moralisch wüsten Zeiten ist die Dichterin. Aber immerhin eine Blume! 

Am deutlichsten (und das heißt, wie wir nach der siebenfachen Lektüre der Judenbuche wissen: am rätselhaftesten) sieht man Annette von Droste-Hülshoff jedoch in einer ihrer bekannteren Balladen, dem Fräulein von Rodenschild. Schon die Stoffgeschichte ist verwirrend und bezeichnend genug: Die Spukgeschichte taucht in westfälischen Sagen auf (aber situiert an einem anderen Ort), ihre wirkungskräftige Form erhält sie jedoch von der Droste so gründlich, dass spätere westfälische Sagensammlungen eigentlich mehr Droste zitieren als die ursprüngliche Geschichte (so macht man nämlich Literatur: Nicht, indem man vermeintlich Ungesehen-Unerhörtes-Originelles sich ausdenkt, sondern indem man gegebenes Material so formt, dass es wirklicher als die Wirklichkeit wird und sich darüber legt). Und natürlich legt sich beim Lesen sofort das Bild der Droste selbst über das des Fräuleins von Rodenschild, wie es nächtlich so dasteht und hinabschaut in den Schlosshof. „Jungfräulich siedend“ ist ihr Blut, sie löst das Mieder und die Locken, und wir halten den Atem an, jetzt, jetzt endlich wird die Droste doch sinnlich, wir haben es gewusst, von wegen Wüstenblume! – aber es ist die heilige Osternacht, das Personal hat sich im Schlosshof versammelt, die graue Zofe hält dort unten noch Ordnung, und gleich wird die Erscheinung des auferstandenen Christus erwartet, die man mit Glockengeläut und Gesang begrüßen wird, wie es der Brauch ist in Westfalen und anderswo, wo man eine Heimat auf dem Lande haben kann. Da erscheint, unerwartet, schaurig, höchst erschreckend, die exakte Doppelgängerin des Fräuleins. Ihre Haare sind gelöst wie das Mieder, mit den gleichen Bewegungen gleitet sie durch den Hof, betritt das Schloss, steigt die Treppen empor, durchstreift den Festsaal, und alles hält den Atem an – doch nun steht sie vor der Archivtür (welches Archiv, springt einem sogleich der Gedanke in den Kopf, sind wir nun doch in einem kafkaesken Schloss gelandet, wo uns ein Archiv nicht verwundern würde, im Gegenteil?), und dieser Sachverhalt versetzt das Original-Fräulein nun in die energischste Bewegung: „Und wie ein Aal die beherzte Maid / Durch Nacht und Krümmen schlüpft ihre Bahn, / Hier droht ein Stoß, dort häkelt das Kleid“. Ungewiss, ob man angesichts der Aaligkeit und der Häkeligkeit des Unternehmens nicht doch besser lachen sollte als schauern, folgen wir dem Fräulein. Und finden uns an der Pforte zum Archiv, atemlos, einen Spalt ist sie geöffnet, ganz wenig nur, und die eine Hand greift nach dem Türgriff von der Außenseite, und die andere nähert sich ganz genau spiegelbildlich von der Innenseite, aber das kann man in dürrer Prosa nicht beschreiben: 

Sie fährt zurück, – das Gebilde auch –
Dann tritt sie näher – so die Gestalt –
Nun stehen die beiden, Auge in Aug,
Und bohren sich an mit Vampyres Gewalt.
Das gleiche Häubchen decket die Locken,
Das gleiche Linnen, wie Schnees Flocken,
Gleich ordnungslos um die Glieder wallt. 

Ordnungslos, nun gut, darauf waren wir vorbereitet, gelöste Locken und gelöste Mieder; aber gleich Vampirblicke? Es kommt jedoch nicht zu einer direkten Berührung. Einen Luftzug nur spürt die eine Hand, während die andere in diesem Moment – dämmert, zerrinnt, entschwindet. Coitus interruptus, ist man geneigt zu sagen, das mag aber eine durch moderne Vampir-Erotik fehlgeleitete Assoziation sein – oder doch vielleicht nicht? Ein blutroter Rubin ist auch noch mit im Spiel, ebenfalls verdoppelt; ein Symbol oder nicht, Wikipedia hilf: in esoterischen Texten gern als der Stein des Lebens und der Liebe bezeichnet, soll er gegen den Teufel und die Pest schützen (vielleicht auch gegen Vampire?) Was jedoch passiert in diesem magischen Moment der Beinahe-Berührung, das ist: gar nichts; das Phantom löst sich auf, und das Gedicht macht einen großen Zeitsprung in eine undefinierte Zukunft:

Und wo im Saale der Reihen fliegt,
Da siehst ein Mädchen du, schön und wild,
– Vor Jahren hat's eine Weile gesiecht –
Das stets in den Handschuh die Rechte hüllt.
Man sagt, kalt sei sie wie Eises Flimmer,
Doch lustig die Maid, sie hieß ja immer:
»Das tolle Fräulein von Rodenschild.«
 

Es ist nicht gesund, seinen Doppelgänger zu berühren, Vampir oder nicht. Nicht einmal ein lustiges, schönes, wildes, sogar tolles und mutiges Mädchen wie unser Fräulein von Rodenschild steckt das einfach weg. Was sie hingegen wegsteckt, ist später die verdorrte Hand, nämlich in einen Handschuh; und die Kälte ihrer Hand hat sich offensichtlich über ihre ganze Person ausgesteckt, die nun – die grammatische Beziehung lässt das aufs schönste unklar – ebenso kalt ist wie die verdorrte Rechte. Das ist der Preis, den man bezahlt, wenn man die Locken löst und das Mieder und seiner gespenstischen Doppelgängerin begegnet, die gerade im Begriff ist, das Familienarchiv zu stürmen – wir können nur vermuten: Um die Tradition anzugreifen, Schande über den guten alten Namen zu bringen, ja, die Geschichte ganz zu zerstören, zu infizieren mit flammender Hitze oder eisiger Kälte, und hinterher ist nichts mehr, wie es einmal war, die Familie zerstört, die Heimat entweiht, die Religion geschmäht, so wie es im Gedicht Mein Beruf so drastisch als Gegenwartgemälde geschildert wurde? Die Dichterin hingegen, gerufen von Gottes Gnaden als lebendige Seele zum Schutz der Lebenden wie der Toten, der Mütter und der Kinder, der heiligen ehelichen Liebe und der Begeisterung für die Heimat, springt ein; wenn sie in diesem Moment nicht das Archiv schützen würde, auch um den Preis der erstarrten Hand, wäre alles dahin, für das sie bisher gelebt hat. 

Dass sie anschließend nur – aber wer sind wir, um hier „nur“ zu sagen? – eine Wüstenblume ist, farblos und allen Duftes bar; dass sie die Dinge dieser Welt nur noch mit den Handschuhen der Dichtung berührt und nicht mit den heißen Patschhändchen der Leidenschaft; dass sie dabei so lustig sein kann, wie sie will, sogar gelegentlich toll und wild, auf jeden Fall aber: genauso mysteriös wie klarsichtig – das muss für sie eben reichen. Wenn Franz Kafka Felice Bauer geheiratet hätte, wäre er nicht nur ein anderer Mensch, sondern vielleicht auch kein Dichter geworden; oder ein sehr anderer. Der Prozess wäre in einem ordentlichen Gerichtsurteil geendet, die diversen Morde der Judenbuche zur allgemeinen Zufriedenheit aufgeklärt und der Gerechtigkeit allseits Genüge geschehen, die Leser könnten in Frieden schlafen gehen, ob in Westfalen oder in Prag. Kafka und die Droste aber geben uns nicht einmal den Anschein von poetischer Gerechtigkeit, mit der uns die Dichter seit der Antike verwöhnt haben, hier noch ein deus ex machina und dort eine unerwartete Wendung der Ereignisse hin zum fröhlichen happy end. Man fühlt sich eher, als hätte einen ein kühler Handschuh gespenstisch berührt; und ein Autor, eine Autorin drehen sich um und sagen, mit einem tollen Grinsen: „Diese Geschichte war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt – und lasse sie offen in alle Ewigkeit“. Man braucht gute Nerven, um vor solchen Autoren zu bestehen.

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 Orlando: Eine summa literaria

Einmal erlaubte sich Virginia Woolf etwas, von dem die sonst so disziplinierte Autorin sonst nur träumte (andere Autoren, vor allem männliche, erfüllen sich diesen Traum allerdings ganz sorglos regelmäßig): Sie erfand eine Romanfigur, die alles vereinte, was sich für einen Menschen nur erträumen ließ. Orlando ist schön, natürlich; reich, ohne Ende; klug und witzig, selbstverständlich; gesellschaftlich erfolgreich, ohne Frage – das alles liegt durchaus noch im Rahmen des in der Literatur üblichen, von der nicht nur Sigmund Freud wusste, dass sie im wesentlichen Wunscherfüllung ist. Orlando aber, und jetzt erst wird es wahrlich traumhaft, war sowohl ein Mann als auch eine Frau – geboren wurde er als Mann, mit dreißig Jahren erwachte er als Frau, und danach wechselt er gelegentlich fröhlich das Geschlecht mit den Kleidern. Und Orlando war, für die Dauer des Romans jedenfalls, und das sind stattliche vierhundert Jahre, unsterblich. Er wuchs auf als schöner Shakespeare-Jüngling (und wechselten die nicht auch regelmäßig die Kleider und das Geschlecht auf der Bühne? gab es dort nicht einen schönen jungen Orlando?) unter der virgin queen, der strengen und weisen Elisabeth, die sich in ihn verliebte und ihn beschenkte. Er erlebte den Großen Frost in England, bei dem die Themse zufror und jeder, der noch nicht erfroren war, sich beim Schlittschuhlaufen und den großen Eisfesten vergnügte, und verliebte sich dabei in eine wilde russische Prinzessin, die ihn aber verlässt. Er lebte eine Zeitlang in Konstantinopel mit orientalischen Magnaten und verschleierten Haremsdamen, bevor sie (denn an diesem Punkt wechselt das Geschlecht) mit einem Zigeuner floh und bei den Zigeunern die Ziegen hütete. Sie kam zurück ins London des 18. Jahrhunderts und traf die großen englischen Aufklärer beim Tee, sie waren originell und gelegentlich genial, aber nicht originell und genial genug für Orlando. Sie verheiratete sich im 19. Jahrhundert, weil das viktorianische Zeitalter sonst nicht auszuhalten war, es regnete ohne Ende und alles war trüb. Und sie wird, zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer modernen Frau, die Auto fährt, Shoppen geht und nebenbei mit ihrem großen Lebenswerk, The Oak Tree, einen Literaturpreis gewinnt. 

Das ist aber zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr so wichtig für Orlando, die in ihrem (und nein, es war nicht nur ihr, es war sein Leben, aber man müsste ein drittes Geschlecht erfinden, nennen wir es orlandisch?) Leben nur zwei große Leidenschaften hatte: das Leben selbst, so wie es sich unschuldig vollzieht in der Natur, den Tiere und Kindern, und, mit gewissen Abstrichen und schuldhaft verfärbt, bei den Menschen; und das Lesen, diese große unheilbare Krankheit, die bei ihr/ihm schon als Kind ausbrach und die schlimmste denkbare Folgewirkung hatte, nämlich: das Schreibenwollen. Die Liebe? Ach, sie war nur eine vorübergehende Erkrankung, und wenn sie mehr sein sollte, musste sie so sein wie Orlando selbst: ein Naturphänomen, ein vorübergehender Zusammenprall zweier Gestirne, eine große Eiszeit und eine große Hitze, weit jenseits von gesellschaftlichen Formen und Normen und mit einer eigenen Sprache, die für keinen anderen jemals verstehbar sein würde. Den Literaturpreis für Orlandos Lebenswerk The Oak Tree jedoch, den uns der schreibende Biograph doch eigentlich als Lebenshöhepunkt präsentieren wollte – vergräbt Orlando unter eben dieser Eiche, die dem Text vor 400 Jahren den Namen gab; sie hatte kurz erwogen eine Zeremonie daraus zu machen, aber was sind schon menschliche Zeremonien angesichts einer tausendjährigen Eiche? Nein, sie gibt der Natur nur zurück, was sie von ihr erhalten hat, sie vergräbt das so lange an ihrer eigenen Brust gehütete und mit ihrem Blut gesäugte Machwerk, und dann wirft sie sich auf den Boden und spürt die Erde in sich pulsieren. Das, nur das ist wichtig, und Bücher sind auch nur sterbliche Worte. 

Das würde ihr/sein Biograph allerdings anders sehen. Denn er schreibt Orlandos Geschichte, und wenn er sich dabei zu Wort meldet, tu er das meist mit larmoyantem Unterton: Wie schwer es ein Biograph doch habe, ein solches Leben zu fassen! Wie wenig das Objekt einer solchen Biographie Rücksicht nehme auf die verständlichen Ansprüche und Bedürfnisse eines solchen Lebensschreiber auf Nachprüfbarkeit, vor allem aber: Erzählbarkeit! Denn ein Leben, so der Biograph, sei nur erzählbar als Geschichte: als Aneinanderreihung von tatsächlich geschehenen Lebensereignissen, von Handlung, von Wirkung und Gegenwirkung, An einem Punkt, es ist, während Orlando sein Lebenswerk niederschreibt, ein Jahr lang im Stuhl sitzend, schreibend, denkend, mit stillen Pausen – an diesem Punkt bittet er sogar darum, eine Fliege möge tot umfallen (oder war es eine Wespe?), nur damit endlich etwas geschehe, das berichtenswert sei. Denn einfach so dasitzen, schreiben, schweigen, denken, wieder schreiben – das sei doch wohl kein Leben! Nein, der Biograph sei der Wahrheit verpflichtet, so wie sie sich in Fakten, Dokumenten äußere; den Rest mögen die Dichter bekommen für ihr unzuverlässiges Geschäft, man kann sie sowieso nicht davon abhalten, und man sieht förmlich das Naserümpfen in einem strengen, etwas pedantischen Gesicht und die etwas verkrampfte Hand des Schreibers. Es ist allerdings die gleiche Hand, die Orlandos Geschichte geschrieben hat, über vier Jahrhundert hinweg mit all ihrer Traumhaftigkeit und Realitätsverachtung, die kaum zu übertreffen ist; Orlandos Geschichte, von der die äußeren Ereignisse nur die sehr dünne Schale sind. Darunter aber ist einer der reichsten Geister der Menschheitsgeschichte verborgen, das vollste Leben vollzieht sich in seinem Inneren, seinen Gedanken, seinen Träumen, seinen Schlüssen, und die Wahrheit dieses inneren Lebens und Erlebens ist die eigentliche Wahrheit. Und wenn der Biograph diese Geschichte erzählt – im Nicht-Biographen-Modus sozusagen, als beinahe unbewusst notiertes Protokoll einer von der Natur begnadeten menschlichen Existenz über Zeiten und Geschlechter und Stände hinweg -, dann verflüssigt sich sein Schreiben. Auch die sonst so gleichmäßig verlaufende Zeit steht auf einmal ganz in seiner Gewalt, es ist die Zeit Orlandos, nicht die der Menschen und ihrer biographenmäßigen äußeren Existenz, mit ihrem pulsierenden eigenen Rhythmus aus langen Pausen und atemberaubenden Beschleunigungen; und in seinem Gedächtnis steht die virgin queen neben einem Ladenmädchen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, weil im Gedächtnis, der Schatzkammer des Bewusstseins, eben alles gleichzeitig ist – und dann wieder nicht. 

Und so muss auch der Biograph alles in einem werden, so wie Orlando Mann und Frau ist: Bürokratischer Protokollant des äußeren Lebens ebenso wie dichterischer Protokollant des inneren Lebens, Satiriker und Empathiker. Er beherrscht die Bildungs-Allegorie wie das romantische Symbol, er kann lakonisch und präzise sein, aber auch wortreich und ausschweifend. Die Geschichte von Orlando, dieser Summe des Menschlichen, kann nur erzählt werden von einem Erzähler, der eine Summe von Erzählverfahren ist; nur ein Wortkünstler kann diesem Lebenskünstler folgen, und er muss dabei seine Erzählmittel wechseln wie Orlando die Kleider: Mal ist er weiblich-nachlässig und verführerisch, mal männlich-energisch und beherrschend, und dann und wann beides in einem Satz. Die Zeiten gehen über ihn hinweg, und er geht so weit mit ihnen, wie er muss – denn man muss einen Kompromiss mit der Zeit schließen, das versteht auch Orlando, als sie sich den viktorianischen Ehering überstreift wie eine Buße. Nur dann kann man auch auf die Zeiten zurückwirken, sie formen, in ihrer eigenen Sprache, und dabei sich selbst nicht verlieren in unnützem Widerstand oder allzu biederer Anpassung. Wer mit der Zeit geht, bleibt besser auf dem Laufenden; und wenn man außerhalb der Zeit sein will, geht man zurück zu den Hunden und den Bäumen und zum blühenden Gras. 

Denn das ist die Lehre von Orlando, und man schämt sich wie ein altersgrauer Biograph mit arthritischen Fingern, während man dieses plumpe Wort niederschreibt: Lehre – und Orlando würde es vom Marmortisch seines Palastes wischen, nach seinen Jagdhunden rufen und zum Eichbaum jagen; oder ihr verführerischstes Lächeln aufsetzen und den Rock ein wenig heben, so dass man die sensationellen Beine sieht, und irgendwo würde ein Matrose vom Mast fallen vor lauter Verwirrung und Erregung. Aber wir müssen uns nun beschränken und ein wenig biographenmäßig werden und das Gesagte zusammenfassen: Orlando ist keine Figur des allzu naiven und immer gefährlichen Wunschdenkens. Denn obwohl Orlando schön und reich und beinahe allmächtig ist, ist er nicht glücklich; Glück, so lernt er schnell, interessiert ihn wenig, es ist das, was man von außen durchs Fenster zu sehen meint, wenn man auf eine fröhliche Gesellschaft in einem festlich erleuchteten Ballsaal schaut, geschmückte Menschen, die sich vergnügen, tanzen, genießen und einander witzige und bemerkenswerte Dinge sagen. Von innen sehen die Dinge aber anders aus, und am Morgen erwacht man mit einem Kater, das Ballkleid liegt zerkrumpelt auf einem Hocker, der Schmuck funkelt nicht mehr im verdunkelten Zimmer, und man hat alles vergessen, was am Abend zuvor gesagt wurde, wie bedeutend es einem auch zu diesem Zeitpunkt erschienen war. Glück sieht man nur von außen; es ist immer eine Projektion. Leben jedoch ist eine Innenansicht, und es besteht daraus, das Erleben zu kultivieren, nicht den Schein; den Moment im Moment zu genießen und nicht in der nachträglichen Niederschrift; sich selbst nackt sehen zu können, ohne zu erschrecken, was immer der Spiegel auch zeigen mag, Mann oder Frau, einen Jungen oder eine Alte, Zigeuner oder Großfürst; das sind alles nur Kleider, und Kleider formen zwar das Erleben, so wie die Gesellschaft und ihre Regeln; aber man unterwirft sich ihnen nur für eine kleine Zeit, man spielt mit im Spiel, man drückt ihm seinen eigenen Stempel auf – und dann wirft man sie wieder von sich, wechselt die Kleider, die Zeiten, die Gesellschaft, das Geschlecht. Denn innen bleibt man immer nackt, so wie die Tiere, die Kinder, die Bäume. Nein, Orlando ist keine Wunschprojektion – es ist eine Herausforderung, ein Bekenntnis, eine Sehnsucht; ein Triumph des Abtuns, ein wilder Rausch zwischen Ekstase und Enttäuschung. Am Ende vergräbt Orlando das preisgekrönte und soeben in siebenter Auflage erschienene Lebenswerk unter dem Eichbaum, und wir werden niemals erfahren werden, was darinnen stand; außer, dass es eine Stimme war, die einer anderen Stimme antwortete, leise, heimlich; eine Stimme, die dem alten Ruf der Wälder antwortete und der Pferde und der Felder und der Höfe; eine Stimme, die ebenso den Ruf der fruchtbaren Felder mit ihrem Weizen und ihren Rüben hörte wie der Gärten mit der fremdartigen Iris und den hochmütigen Kaiserkronen. Es ist die geheime Geschichte Orlandos, die, die nicht für die Augen neugieriger Biographie-Leser bestimmt ist; es ist die notwendige Ergänzung zur öffentlichen Geschichte Orlandos, wie sie ein widerwilliger Biograph aufgeschrieben hat, der in sich selbst mehr dazu mehr Stimmen entfalten musste, als er jemals zugeben würde. 

Wir müssen uns also mit der öffentlichen Geschichte begnügen; doch zeigt sie nicht, in jedem Wort und jedem Satz, ihre Urheberin, ihren Autor, nackt? Jedes tief behütete Geheimnis in seiner Seele, jede einzelne ihrer Lebenserfahrungen, jeder Vorzug und jeder Winkel seines Geistes ist in den Werken ausgeschrieben, sichtbar für alle, lesbar für jeden, der lesen kann und sich nicht hinter Biographen und professionellen Ausdeutern versteckt. Denn dieses Geheimnis hat uns der Biograph verraten, irgendwo tief im vierten Kapitel versteckt, wo uns um die großen englischen Aufklärer geht: Sie alle verraten sich in ihren Werken, Zeile für Zeile; und wenn sie es nicht tun, sollten wir sie nicht lesen. Orlando ist ein Schlüsselroman; es ist einer der größten der Literaturgeschichte. Er zeigt den Menschen, nackt, indem er ihn mit allen Kleidern behängt, die Geschichte und Kultur nur zu bieten haben, und ihr dann eines nach dem anderen wieder abnimmt. Er zeigt den Biographen, die Autorin, nackt, indem er sie in allen Formen und Kunststückchen des Schreibens paradieren lässt, prahlen lässt, glänzen lässt – um ihm dann eine nach der anderen wieder zu verweigern, bis nur noch eines übrig bleibt: das stille Zwiegespräch mit einem alten Eichbaum.

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Undine geht, oder:
Von der Schuld weiblichen Schreibens
bei Ingeborg Bachmann 


Hört man sie noch rufen? Ist sie noch da, oder hat sie sich schon verabschiedet, vielleicht: diesmal für immer? „Komm“, so hat sie gerufen, „komm allein“, verführerisch, verschwindend -  aber was, wenn man nicht Hans ist, sondern – Johanna, ein Mensch und als solcher zweifellos ein Ungeheuer wie Hans, aber eben doch auch eine – Frau? Und was kann man Undine bieten, dem flüchtigen, sprachlosen, gleich-gültig einverstandenen und gerechten, aber eben auch – sprachlosen Wasserwesen, was kann man ihr bieten: als Frau? Vielleicht eine neue Art von Seele. Vielleicht nicht – immer nur Hans, den ewigen Hans in uns allen, den Mann in seiner ewigen Stärke und Schwäche, mit seinen zupackenden und zärtlichen Händen, seinen bezaubernden wie verratenden Worten. Geh, möchte man zu Undine sagen, lass Hans in Ruhe, er hat es nicht besser verdient, lass ihn ein wenig ausruhen. Er hat dich immer behandelt wie eine schlechte Geliebte, gut genug für eine heiße Nacht des Rausches und den Kater danach; du kamst ihm gerade Recht, aber am Ende war es nur sein Recht, und niemals war Gerechtigkeit. Johanna aber, vielleicht hört dich nun – Johanna? 

Denn vielleicht ist es gar nicht nötig, dass am Ende vieler Texte von Ingeborg Bachmann die Frau verschwindet. Wie in Malina, ihrem einzigen Roman, „es war Mord“, endet er und die Ich-Erzählerin ist verschwunden, aber der Roman steht da, für sich, er ist gar nicht verschwunden. Oder wie in der Erzählung Undine geht, sie droht aber nur zu gehen, am Ende hört man sie doch noch leise rufen und sie hat uns ihre Geschichte hinterlassen. Oder wie im Gedicht Delikatessen, „mein Teil, es soll verloren gehen“, so endet es, aber es ist geblieben, ein Gedicht voller Wohllaut und gefährlicher Leerstellen. Natürlich ist es schwierig, als Frau zu sprechen in einer Welt, die von Männern gemacht wurde. Natürlich ist es schrecklich, mit Worten zu operieren, die Blutspuren tragen. Und natürlich ist es nötig, das trotzdem zu tun. Damit die Welt, endlich, gerecht wird. Damit Gleich-Gültigkeit herrscht. Damit das Wahre gesagt wird, das immer aus zwei Seiten besteht, einer wahren und einer falschen, und erst, wo beides gesagt wird, ja, auch das Falsche! - wird Gerechtigkeit herrschen. Gleich-Gültigkeit. Mann und Frau. 

Denn so wie die Männer im Leben (nicht nur in der Kunst) die Frauen brauchen und missbrauchen, und so wie die Frauen die Männer brauchen und missbrauchen, so braucht und missbraucht die Kunst den Künstler, und umgekehrt: Missbraucht und braucht der Künstler die Kunst. Undine ist das Andere, so wie die Frau das Andere ist; das Andere kann sich zwar nie vom Einen befreien, aber vielleicht muss es das auch nicht, denn so wie das Eine das Andere hervorgetrieben hat, wird nun das Andere das Eine bedrängen: Nicht-Frau, das seid ihr. Nicht-Kunst. Nicht-Einverstandensein. Nicht-Gerechtigkeit gegenüber allem Seienden und Wahren. Fremdschämen könnte man sich für euch, die ihr alle Hans heißt, einer wie der andere und einer für alle und doch jeder auf seine unterschiedliche Weise. Nicht logisch? Ach. Vergesst die Logik, sie entsteht nur als Verneinung der Nicht-Logik (a ist ungleich nicht-a; ja, manchmal, und manchmal nicht). Vergesst die Zeit, sie entsteht nur als Verneinung der Ewigkeit und des Moments, in denen alles zusammenfällt und das Vergehen aufgehoben ist. Vergesst den Namen, er entsteht nur dich die Abgrenzung zweier Geschlechter (Hans ist ungleich Johanna). Vergesst, damit ihr endlich einverstanden sein könnt! (über Sein wird nicht diskutiert. Verstehen ist ein Missverständnis) 

Undine geht könnte auch zu dem „Todesarten“-Projekt von Bachmann gehören, das Undines Logik zufolge genausogut „Lebensarten“ heißen können. Die Geschichte von der Wasserfrau und dem ewigen Hans könnte genauso gut „Undine kommt“ heißen, denn am Ende steht ein ausgesprochenes „Komm“, und der Text lässt in wasserklarer Undurchsichtigkeit, wer nun ruft und wer kommt – Hans oder Undine, oder beide durcheinander oder beide gemeinsam. Die ganze Lektüre ist eine einzige Lektion in Widerspruch und Gleichzeitigkeit, Lob und Schmähung, Wechselwirkung durch Abhängigkeit. Die Kunst braucht den Menschen, der Mensch braucht die Kunst, aber zu gebrauchen sind sie beide zu gar nichts (außer ein wenig Zauberei mit Worten. Ein wenig Zärtlichkeit mit Händen. Ein wenig Lob der Technik und der Elemente, ja, sogar das). Frauen sind in Undines Welt, weit gehend, ausgespart; sie existieren als Projektion der Männer in der realen Welt und als Projektion der Künstler in der Welt des Geistes. Nirgends sind sie, und das verbindet sie immerhin mit Undine, die nur in einem anderen Medium sein kann. Aber könnten sie nicht doch - sein? Denn auch Undine, die Sprachlose hat gesprochen; sie hat gesprochen im Modus des performativen Widerspruchs, der Text steht da, genau wie die Gedichte der Bachmann da stehen, auch und gerade weil sie die Unmöglichkeit lyrischen Sprechens beschworen haben mit einer Schönheit und Herbheit, die weit jenseits vom Gefühligen und sehr nahe am Existenten ist. 

Vielleicht ist es ja nur das, was man tun muss: trotzdem sprechen, auch wenn die Wörter besetzt sind mit falschen Bedeutungen und die Bilder entweiht von Krieg und Gewalt (und heute wohl eher: vom gedankenlosen Gebrabbel). Denn was einmal besetzt wurde, kann doch – zurückerobert werden? Neu besetzt. Um-bestimmt. Wenigstens zwei-deutig, wenn schon nicht gleich-gültig. Ein kleiner Gewaltakt, gewiss. Man muss das Wasser verlassen, das fließende, tröstende, klare, wortlose. Man muss ein wenig – schuldig werden. Mit-schuldig. Vielleicht ist auch die Zweiheit der Geschlechter genau das: mit-schuldig werden. Mein Teil, es soll nicht nur erhalten bleiben; es soll verwandelt werden und es soll wachsen, und wenn es am Ende dann – ein wenig mehr Hans geworden ist und ein wenig weniger Johanna, muss man das wohl aushalten. Pilatus wusch sich die Hände ohne Ende. Undine könnte ihm ein Handtuch reichen.

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 Geschichten aus dem wahren Leben.
Zum Werk der Nobelpreisträgerin Alice Munro

 "Eine Frau braucht Geld und einen Raum für sich allein, wenn sie schreiben soll" – so hat die englische Autorin Virginia Woolf im Jahr 1929 die Voraussetzungen dafür, dass Frauen in Zukunft als Schriftstellerinnen erfolgreich tätig sein können, auf den Punkt gebracht. In ihrem Essay Ein Zimmer für sich, einem Klassiker der Theorie weiblichen Schreibens bis heute, erläutert Woolf einige wesentliche Unterschiede, die literarische Texte von Frauen und Männern ihrer Erfahrung nach aufweisen – ohne dass damit im Übrigen automatisch eine Wertung verbunden sein muss: Frauen schreiben (vielleicht) einfach anders als Männer. Frauen haben nämlich grundlegend andere Lebenserfahrungen; das ergibt sich beispielsweise schon daraus, dass sie in anderen Räumen als  Männer agieren. Die typische, nicht berufstätige Frau der englischen Mittelklasse, so Virginia Woolf, war in ihren sozialen Kontakten traditionell auf den"sitting-room", das Wohnzimmer ihres Hauses, beschränkt, wo sie Besucher empfing. Aber eben diese Beschränkung könnte auch ein Vorteil sein - zumindest solange eine gleichwertige Teilhabe am öffentlichen Leben, wie für einen Mann selbstverständlich, für die Frau noch nicht möglich war: Konnte sie doch die wechselnden Besucher genau beobachten, die verschiedenen Charaktere analysieren und daran ihren Geist im häuslichen Umfeld schulen; was, so Woolf, letztendlich das perfekte Training insbesondere für eine Romanautorin ist. Allerdings erlebte eine solche Frau nicht eben viel Aufsehenerregendes; sie führte den Haushalt, ging einkaufen, erzog die Kinder, versorgte den Ehemann und empfing Besucher. Aber warum eigentlich sollte all das kein Stoff für einen literarischen Text sein? Warum müssen Romane, so fragte sich Woolf, eigentlich immer von der Welt der Männer, von ihren vermeintlich großen Taten und tiefen Gefühlen handeln? Ist nicht das, was jeden Tag im "Sitting-Room" passiert, beim Einkaufen auf der Straße oder bei der Erziehung der Kinder, näher am "real life", dem wirklichen Leben der meisten Menschen in der längsten Zeit (oder zumindest der einen Hälfte von ihnen)? Warum ist, so ein Beispiel von Woolf, eine Romanszene auf einem Schlachtfeld eigentlich bedeutender als eine Szene beim Einkaufen? Könnte man nicht einfach die Werte umkehren, wenigstens probeweise? Die schreibende Frau, so Woolf, muss geradezu zwingend daran arbeiten, diese etablierten Werte zu ändern – "das wichtig machen, was einem Mann unbedeutend erscheint, und dasjenige trivial, was ihm so wichtig erscheint" (so ein wörtliches Zitat aus dem Essay). Das Ergebnis dieser Umkehrung ist ein anderer Blick auf die Realität, geprägt durch andere Räume und damit andere Erfahrungsbereiche und Lebensweisen. Dazu gehört aber ebenso zwingend eine andere Darstellungsweise: Frauen dürfen und sollen nicht nur über andere Dinge schreiben, sondern eben auch – anders schreiben! Vermeintlich triviale Dinge (wie das Einkaufen) können nur dadurch bedeutend gemacht werden, dass man sie literarisch formt. Wie das aber genau geschieht, wie aus dem täglichen Leben der Frau im "sitting-room" große Literatur wird – das ist das Geheimnis einer jeden Autorin bis heute. 

Alice Munro ist genau das gelungen, wovon Virginia Woolf schrieb; darin waren sich die Kritiker und Literaturwissenschaftler schon lange Zeit, bevor ihr der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde und sie damit weltweit populär wurde, einig gewesen. Sie selbst hätte sich das jedoch kaum träumen lassen, als sie in den 50er Jahren in der kanadischen Provinz auf einer Silberfuchsfarm aufwuchs; ein ländliches, einfaches Milieu, in dem für die Frauen noch vieles von dem zutraf, was Virginia Woolf zu Beginn des Jahrhunderts für die englische Mittelstandsfrau beschrieben hat. Gleichwohl hat Alice Munro schon als Kind mit dem Schreiben begonnen; und sie hat unter den unterschiedlichsten äußeren Umständen, unter sehr beengten finanziellen Verhältnissen (kein Geld), in akuter Raumnot (auch von einem eigenen Zimmer war noch weit und breit nichts zu sehen) weitergeschrieben bis heute, bis über ihr achtzigstes Lebensjahr hinaus. Sie hat sich zudem niemals von ihrer Herkunft distanziert, sondern ist sowohl ihrer Heimat als auch ihren familiären und sozialen Wurzeln nicht nur treu geblieben – sie hat sie, um mit Woolf zu sprechen, literarisch geformt und ihnen damit einen bleibenden Wert verliehen. 

In der Kleinstadt Wingham in Ontario wurde Alice Ann Laidlaw am 10. Juli 1931 geboren, hier wuchs sie auf und ging zur Schule. Beide Elternteile haben sie mindestens ebenso stark geprägt wie die Landschaft ihrer Kindheit. Ihr Vater Robert Eric Laidlaw hatte eine Silberfuchs- und Nerzfarm aufgebaut, die jedoch mit Kriegsausbruch kaum noch rentabel war; er arbeitete danach hart in einer Gießerei, um die Familie zu ernähren. Kurz vor Ende seines Lebens entdeckte er sein Talent als Autor; er schrieb die Geschichte seiner Familie, die von Schottland nach Kanada ausgewandert war, auf. Die Mutter war Lehrerin und hatte offenbar höhere soziale Ambitionen; die sich daraus ergebenden ehelichen und familiären Konflikte hat Munro in vielen ihrer Kurzgeschichten geschildert. Auch Alice Munro versuchte schon früh, den beengten Verhältnissen zuhause zu entkommen; sie las sehr viel und war eine gute Schülerin. Nach Abschluss der High School begann sie ein Studium – Englisch und Journalistik – an der regionalen University of Ontario in London. Um ihr Studium zu finanzieren, nahm sie diverse Nebenjobs an, die später auch in vielen ihrer Kurzgeschichten auftauchen: als Kellnerin, als Tabakpflückerin, als Bibliotheksaushilfe. Die beste (zudem sozial akzeptierte) Fluchtmöglichkeit war jedoch immer noch die Heirat: Munro schloss ihr Studium nicht ab, sondern heiratet 1951 ihren Mitstudenten James Munro, und zusammen zogen sie auf die andere Seite von Kanada, an die Westküste nach Vancouver. James nimmt einen Brotjob in einem Warenhaus an, und Alice bekommt Kinder: 1953 die erste Tochter Sheila; 1955 hat sie eine Totgeburt, Catherine; 1957 folgt Jenny. In einer späteren Äußerung hat sie diese Phase so zusammengefasst: "Das waren die Alternativen für mein Leben: Heirat und Mutterschaft, oder das schwarze Leben als Künstlerin". Denn sie schrieb weiter, wo sie die Zeit nur finden konnte, während die Kinder schliefen, bevor der Ehemann nach Hause kam und das Abendessen auf dem Tisch stehen musste, zwischen der Wäsche und dem Einkauf. Ihr Ehemann akzeptiert ihre Autorschaft, nimmt sie aber nicht ernst; auch er ist nicht glücklich im Kaufhaus, die Ehe leidet zunehmend. 

1963 entschließen sich beide deshalb zu einem großen Schritt: Sie ziehen um nach Victoria auf Vancouver Island und eröffnen dort eine Buchhandlung, Munro's Books; sie existiert heute noch, aber das heutige prächtige Erscheinungsbild täuscht über die bittere Not direkt nach der Gründung hinweg. Zwar können beide Ehepartner endlich ihren literarischen Interessen nachgehen, aber sie müssen bis zur Erschöpfung arbeiten, es bleibt noch weniger Zeit zum Schreiben, und das Einkommen reicht anfangs kaum für das Nötigste. Die Ehe nimmt jedoch durch das gemeinsame Engagement noch einmal einen kurzen Aufschwung, 1966 wird als Nachkömmling die Tochter Andrea geboren. 1968 erscheint schließlich, nach einzelnen Veröffentlichungen in Zeitschriften, die erste Sammlung von Kurzgeschichten Munros als Buch: Dance of the Happy Shades. Munro gewinnt damit auf Anhieb den Governor General's Award, Kanadas höchste literarische Auszeichnung. Damit beginnt sozusagen ihr drittes Leben: als freie Autorin von ständig wachsenden Ruhm. 

1972 lassen sich Alice und James Munro scheiden; die Trennung ist einvernehmlich, die Kinder werden abwechselnd von beiden betreut, man bleibt in Verbindung. Alice nimmt wechselnde Positionen an kanadischen Universitäten an, wo sie kreatives Schreiben lehrt (was sie nicht glücklich macht). 1976 bereits heiratet sie zum zweiten Mal, den Geographen Gerald Fremlin, der mit ihr die Leidenschaft für die kanadische Landschaft und Herkunft teilt. Sie ziehen zurück an die Ostküste, in Fremlins Heimatstadt Clinton, nur ca. 50 km entfernt von Alices Geburtsstadt Wingham. Dort wird zu ihren Ehren 2002 der Alice Munro Literary Garden eröffnet. Zu diesem Zeitpunkt hat Alice Munro zehn Bücher mit Kurzgeschichten veröffentlicht, viele von ihnen sind vorab in renommierten kanadischen und amerikanischen Zeitschriften erschienen; sie hat alle wesentlichen Literaturpreise (außer dem Nobelpreis) bekommen und gilt als die bedeutendste kanadische Autorin ihrer Zeit. Persönlich lebt sie zurückgezogen; nach einigen größeren Reisen unternimmt sie nur selten Lesetouren, gibt wenige Interviews und hält sich vom literarischen Betrieb so weit wie möglich fern. Auch den Nobelpreis hat die inzwischen über 80jährige Autorin nicht selbst entgegengenommen, sondern ihre Tochter Jenny in Vertretung. Ihr zweiter Ehemann ist im April letzten Jahres verstorben; sie hat nach einer Krebserkrankung und Herzproblemen mehrfach öffentlich angekündigt, dass ihr 2012 erschienener Band Dear Life ihr letztes Buch sein wird – auch wenn sie sich ein Leben ohne das tägliche Schreiben nicht vorstellen kann, wie sie immer wieder betont hat. 

Alice Munros Leben ist zwar nicht unbewegt ist,  aber auch, sieht man vom "black life" als Autorin ab, nicht ungewöhnlich; ein typisches Frauenleben, geprägt von den üblichen Konflikten zwischen überlieferten Rollenbildern und emanzipatorischem Freiheitsstreben, mit familiären Sorgen und Freuden, mit finanziellen Rückschlägen und Erfolgen, mit Krankheiten und Todesfällen. Dazwischen jedoch eingezwängt ist das Schreiben – das tägliche Schreiben, wie Alice Munro in vielen Interviews betont hat: "Ich schreibe jeden Morgen, sieben Tage in der Woche. Ich beginne um acht Uhr mit dem Schreiben und höre gegen elf Uhr auf. Dann mache ich andere Sache für den Rest des Tages". Das mag nicht nach viel klingen, aber wer jemals konzentriert einen Text geschrieben hat, weiß, dass viel mehr nicht möglich ist; Thomas Manns Tagesablauf (auch er war ein sehr disziplinierter Autor) sah nicht sehr viel anders aus. Gleichzeitig ist Munro jedoch verfolgt vom (typisch weiblichen) schlechten Gewissen, ihren Pflichten nicht gerecht zu werden: "Wenn man etwas mit Pferden macht, sehen die Leute, dass man fleißig ist; aber wenn man fleißig damit beschäftigt ist, ein Gedicht zu machen, sieht man aus, als ob man faul sei, und man fühlt sich ein wenig seltsam oder peinlich berührt, wenn man erklären muss, was man tut", so heißt es in einer ihrer Erzählungen. Nein, Schreiben ist, auch wenn man es nicht sieht, eine ernsthafte, anspruchsvolle Tätigkeit, und es ist eine, die – entgegen anders lautenden Gerüchten über spontane Genialität – sehr langwierig und über lange Durststrecken hinweg erlernt und geübt werden muss, bis man sie so gut beherrscht wie Alice Munro. 

Alice Munro gilt als technisch versierte Autorin, deren Prosa, trotz ihrer Einfachheit und Ungekünsteltheit, perfekt in Rhythmus, Modulation und knapper Pointierung ist. Sie selbst hat immer wieder in Interviews hervorgehoben, dass Schreiben für sie kein reflektierter Akt ist; sie hat sich auch nie theoretisch über ihren Stil oder ihre literarischen Ziele geäußert. "Du denkst nicht darüber nach, warum du eine Geschichte schreibst. Du schreibst sie, du hoffst, dass sie funktioniert, sie ist fertig. Jemand anders kann viel besser sehen als du selbst, was es ist, dass du zu sagen versuchst" – so hat sie ihre eigene Einstellung in einem Brief einmal beschrieben. Tatsächlich braucht man weder komplizierte literaturtheoretische Programme noch einen Grundkurs Literaturwissenschaft, um Alice Munros Geschichten zu verstehen: Sie sind aus dem täglichen Leben genommen, und sie sprechen die Sprache des täglichen Lebens, sei es in den Dialogen, den Gedanken der Figuren oder den beschreibenden Passagen; aber sie sind, wir denken an Virginia Woolf, über das Alltägliche hinaus geformt, veredelt, haltbar gemacht. Und auch wenn wir Munro glauben, dass das bei ihr kein bewusster, reflektierter Prozess ist (das gilt im Übrigen für alle kreativen Prozesse, mehr oder weniger), ist es ganz sicher ein technisch aufwändiger: Munro ist dafür berühmt, dass sie ihre Texte immer wieder überarbeitet, lange an ihnen feilt, an winzigen Details bastelt, auch ganze Texte wieder verwirft, wenn sie eben nicht "funktionieren" (einmal hat sie die ganze erste Auflage einstampfen lassen, auf eigene Kosten, um noch eine Korrektur anbringen zu können). Sie hat diesen mühsamen Lernprozess einmal folgendermaßen beschrieben: "Ich hatte ein Notizbuch für die Schule gekauft und versucht zu schreiben – habe geschrieben, Seiten, die ganz vollmundig anfingen und dann vertrockneten, so dass ich sie ausreißen musste. Ich habe dies wieder und wieder getan, bis nur noch die Hefthülle übrig war. Dann habe ich das nächste Notizbuch gekauft und das Ganze von vorn begonnen. Es war, als hätte man eine heimliche Schwangerschaft und jede Woche eine Missgeburt". Ein drastisches Bild, zweifelsohne, aber ganz gewiss ein weibliches und eines, das sich einprägt. 

Alice Munro schreibt Kurzgeschichten, und sie schreibt ausschließlich Kurzgeschichten (auch wenn diese manchmal ein wenig länger sein können). Lange Zeit hat sie sich mit dem Versuch gequält, einen Roman zu schreiben (große Autoren schreiben Romane, keine Kurzgeschichten!), aber es hat ihr nicht gelingen wollen. "Ich habe alle diese unverbundenen Realitäten in meinem eigenen Leben", hat sie einmal gesagt – ihre verschiedenen Leben, als Mutter und Tochter, als Autorin und Hausfrau -; "das war eines der Probleme, warum ich keine Romane schreiben konnte. Ich habe nie gesehen, dass die Dinge besonders gut zusammenhängen" (und stimmt das nicht für sehr viele gelebte Leben?). Die Kurzgeschichte ist von Anfang an ihre Form gewesen, aber sie hat sie derart perfektioniert, dass viele Rezensenten in ihren kleinen Geschichten große Romane gesehen haben, sozusagen kondensiert auf ihre Essenz (der moderne Leser in chronischer Zeitnot dankt es…). Sie gehen meist aus von einer Geschichte, wie man sie alltäglich erzählt, wie man sie vor allem auf dem Land erzählt oder in der Kleinstadt, wo die Leute sich noch kennen, wo man klatscht und tratscht, aber eben auch: mit- und übereinander spricht. "Es gibt immer einen Ausgangspunkt in der Realität", hat sie gesagt. Danach jedoch beginnt der schwierige, der eigentlich kreative Teil: nämlich die ganz spezielle Art und Weise, diese ganz spezielle reale Geschichte zu erzählen, herauszufinden. Technische Entscheidungen müssen getroffen werden: Wer erzählt die Geschichte eigentlich? Wird es eine Ich-Erzählung oder eine Erzählung in der dritten Person? (was einen sehr wesentlichen Unterschied für die Wirkung auf den Leser macht!) Wird sie aus der Erinnerung erzählt oder in der Gegenwart? Was wird erzählt, was nur angedeutet, was ganz ausgelassen? In diesem experimentellen Prozess entsteht die fiktive Geschichte, die jedoch den Realitäts-, den Lebensgehalt der ursprünglichen Geschichte paradoxerweise klarer, konzentrierter zum Ausdruck bringt. Alice Munro hat das so beschrieben: "Das ist die einzige bewußte Entscheidung, die ich mache: über das zu schreiben, was mich interessiert, und zwar in einer Weise, die mich interessiert und mir Vergnügen macht. Es mag nicht wie Vergnügen aussehen, weil die Schwierigkeiten beim Schreiben mich trübsinnig und zerstreut machen, aber das ist es: das Vergnügen, eine Geschichte, die ich erzählen will, so vollständig wie ich kann; und dabei überhaupt herauszufinden, was die Geschichte eigentlich ist, indem ich eine Art und Weise entwickele, wie sich sie erzähle". 

 

 

 Wie nun genau stellt Munro es an, dass das Alltägliche, dass die Geschichten, die wir uns auf der Straße erzählen und auf dem Marktplatz, dass die alten Familienanekdoten oder das dunkle Gerücht, auf einmal wirklich und wahr erscheinen, voll von einem Leben, von dem wir bisher nicht genau wussten, obwohl wir mittendrin stehen? Das hat, um noch einmal auf Virginia Woolf zurückzukommen, beispielsweise mit den Räumen und den Gegenständen in ihnen zu tun. Ein vielzitierter Titel einer frühen Kurzgeschichte von Munro lautet: "This ordinary place is sufficient, everything here is touchable and mysterious" – (in einer schwachen Übersetzung, die Übersetzung gerade der einfachen Sprache Munros ist sehr schwierig: "der ganz normale Raum genügt, alles hier ist gleichzeitig berührbar und mysteriös"). Es sind die ganz normalen Dinge, die eine Art Aura, eine neue Bedeutung dadurch entwickeln, dass sie in einer Erzählung in ein bestimmtes Licht gestellt werden. Vielleicht kann man das am besten anhand eines Gemäldes illustrieren, das Munro selbst benutzt hat, um ihr Gefühl gegenüber ihrer Heimatstadt Wingham zu beschreiben. Es handelt sich um ein Gemälde des Amerikaners Edward Hopper, The Barber Shop, aus dem Jahr 1931; und es zeigt, wie der Name schon sagt, einen Friseurladen; aber, ich zitiere nun Munro, "so alltäglich und so vertraut; und trotzdem ist alles in ihm, in dem milden Licht, voll eines entfernten Murmelns, einer beinahe zärtlichen Vorahnung, eines Geheimnisses, das in den Bäumen lauert". Greifbar und geheimnisvoll - dieser Eindruck entsteht bei Hopper, wie Munro zu Recht hervorhebt, zu einem großen Teil durch die Lichtführung mit ihren scharf getrennten Licht- und Schattenpartien. Die Figuren sind ebenso vereinfacht wie die Gegenstände, die Friseurutensilien, die räumliche Umgebung; und trotzdem wirkt alles "touchable and mysterious": Man kann die Dinge anfassen, aber sie verlieren trotzdem ihren Zauber nicht, der in diesem Bild für die Ewigkeit gebannt ist. 

Natürlich ist auch der Friseur ein Ort, wo man Geschichten hört. "Wenn du in einer Kleinstadt wohnst, hörst du alle mögliche Sache, über alle möglichen Leute. In der Stadt hörst du meist nur Geschichten über die gleiche Sorte Leute", so hat Munro begründet, dass sie nicht nur in ihrem Leben, sondern in beinahe all ihren Geschichten im ländlichen Raum ihrer Herkunft geblieben ist. Die Leute auf dem Land seien nicht "sophisticated", nicht kultiviert, anspruchsvoll, raffiniert und kompliziert; und das sind auch ihre Geschichten nicht und wollen es nicht sein. Was nun nicht heißt, dass man deshalb nur über das Land und nicht über die Stadt schreiben soll, und das nur einfach und niemals ästhetisch komplex; Munro hebt vielmehr hervor, dass sie ganz persönlich ihre Wahl eben auf diese Weise getroffen habe: Es geht ihr um Leute, die nicht "sophisticated" sind - "und ich versuche auch, den Feminismus und Kanada im Blick zu behalten und meine Pflicht ihnen beiden gegenüber zu erfüllen", so ergänzt sie mit einem Augenzwinkern. Wobei auch Feminismus hier weder komplizierte gender-Theorie noch kämpferisches Auftreten im Geschlechterkampf meint. Aber häufig sind Frauen die Hauptfiguren ihrer Geschichten, die im ganz normalen Leben um ein bisschen Freiheit kämpfen, ihre kleinen Freiräume suchen, genau wie sie Alice Munro gesucht hat, um weiterschreiben zu können. Sie erleben jedoch durchaus auch ungewöhnliche Dinge. Die Geschichten von Alice Munro nehmen oft unerwartete Wendungen, etwas Dunkles kommt plötzlich zum Vorschein, was lange im Verborgenen geschlummert hatte, es passieren Katastrophen, Leute werden krank und sterben, Eheleute betrügen und belügen sich, Kinder sind so gemein, wie das nur Kinder sein können, Alte terrorisieren Junge, Junge Alte. Aber es sind keine Krimis, in denen es darum geht, den Schuldigen zu finden – Schuld sind wir alle, irgendwie, und wer kann das schon im Einzelnen wissen. Es sind auch keine Schauergeschichten (obwohl einige eine Tendenz dazu haben): Das Dunkle, die Bedrohung, sie wohnen unter uns, im Alltag, sie können auftauchen, aber genauso schnell wieder verschwinden, und neben ihnen wohnen das kleine Glück und die Freude und der Sommer am Meer. Und es sind eben keine Romane: Sie sind nicht vollständig in dem Sinne, dass sie einen definierten Anfang und einen festen Abschluss haben – eine Heirat, ein Todesfall, eine Katastrophe oder ein Happy End. Sie fangen irgendwo an, mittendrin, mitten im Leben; die Figuren werden uns nicht vorgestellt, aber wir werden sie auf wenigen Seiten gut kennen lernen (und vielleicht werden wir manche von ihnen nie mehr vergessen); und sie hören häufig genauso unvermittelt auf, mittendrin, nach einer erstaunlichen Wendung, einfach so. Das ist zunächst frustrierend für den Leser, der doch wissen will, wie es ausgeht; Geschichten, Romane gehen aus, deshalb lesen wir sie doch! Aber das Leben geht nicht aus, es hört auf, irgendwann, häufig ohne Ankündigung, und muss dann doch weitergehen; auch das kann man an Alice Munros Kurzgeschichten aus dem wahren Leben lernen. 

Als eine Art Lektüreanleitung für ihre Texte könnte man vielleicht folgende Passagen aus einem ihrer ganz wenigen "theoretischen" Essays zu ihrem Werk verstehen, in dem sie – wir denken ein letztes Mal an Virginia Woolf – Geschichten als einen Raum präsentiert: "Man folgt einer Geschichte nicht wie man einer Straße folgt. Sie ist eher wie ein Haus. Du gehst hinein und bleibst eine Weile dort, du wanderst hin und her und bleibst stehen, wo du möchtest; du entdeckst, wie Räume und Korridore sich zueinander verhalten, oder wie sich die Außenwelt verändert, wenn du durch diese Fenster auf sie hinausschaust. Und du, der Besucher, die Leserin, wirst ebenso durch diesen geschlossenen Raum verändert, egal ob er geräumig und freundlich oder voller gekrümmter Gänge ist, egal ob spärlich oder reichlich möbliert. Du kannst wieder und wieder hineingehen, und das Haus, die Geschichte, enthalten immer noch mehr, als du beim letzten Mal gesehen hast. Sie haben auch ein starkes Selbstbewusstsein davon, dass sie um Ihrer selbst Willen gebaut wurde, ihrer eigenen Notwendigkeit folgend, und nicht etwa nur, um dich zu schützen oder zu betören". Alice Munros Geschichten eröffnen Räume, von denen uns viele auf den ersten Blick bekannt vorkommen – aber ein wiederholter Rundgang wird uns auch kleine Winkel, versteckte Ecken, düstere Nischen, vielleicht gar einen Geheimgang erschließen, die wir noch nicht kannten oder bisher nicht erschließen wollten oder allein nicht finden konnten. Alles ist bekannt – und gleichzeitig mysteriös und berührbar.  

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Salondamen, Hausfrauen, Wissenschaftlerinnen.
Schreibende Frauen in Schwaben von Sophie von La Roche bis Friederike Roth

 Eine Frau, die schreiben will, braucht – neben Geld natürlich – einen Raum für sich allein; so hatte es die englische Autorin Virginia Woolf in ihrem berühmten Essay zum Thema schreibende Frauen, A Room of One's Own, gefordert. Dabei kann es sich jedoch um im Einzelnen sehr unterschiedliche Lebens- und Arbeitsräume handeln, die mit sehr unterschiedlichen Lebensentwürfen verbunden sein können. Und vielleicht sind es sogar die Räume und Umweltbedingungen, in denen das weibliche Schreiben blüht und gedeiht, anders als diejenigen, die für die "Normalform" der Literatur seit Jahrhunderten, das männliche Schreiben also, gedeihlich waren. So vermutet es jedenfalls Ruth Klüger, selbst eine schreibende Frau und gleichzeitig Literaturwissenschaftlerin, in einem kleinen Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel Gegenströmung

Zu diesen besonderen Räumen weiblichen Schreibens gehört beispielsweise das Nonnenkloster, das die mittelalterlichen Mystikerinnen hervorgebracht hat; dazu gehört die Welt des Adels, in der Frauen nicht durch die haushaltlichen Pflichten der Bürgerfrau beansprucht wurden und die ihnen deshalb mehr Muße sowie finanzielle Sicherheit bot. Auch das Theater bot lange Zeit einen gewissen Freiraum (leider bei gleichzeitigem Verlust des guten bürgerlichen Rufs: Schauspielerinnen waren lange Zeit gesellschaftliche Außenseiterinnen). Ruth Klüger – die selbst leidvoll einen der ungewöhnlichsten Schreibräume der Geschichte entdeckte, das Konzentrationslager nämlich, in dem sie, um nicht unterzugehen Gedichte im Angesicht des Grauens verfasste –; Ruth Klüger fasst zusammen: 

"Man müßte davon ausgehen, daß die kulturellen Bedingungen für weibliches Schreiben anderen Gesetzen unterliegen und daher derart anders verlaufen, daß man den Frauen nicht einfach ein Kämmerchen im geräumigen Hause einer allgemeinen Geistesgeschichte einräumen und annehmen kann, daß sie unter ähnlichen Voraussetzungen geschrieben haben, wie ihre männlichen Zeitgenossen“. 

Welche Räume sind das nun, in denen das weibliche Schreiben wuchs und gedieh? Ein bekanntes Beispiel für ein fruchtbares männliches Biotop ist das berühmte schwäbische Pfarrhaus, vor allem in seiner pietistischen Ausprägung im 18. Jahrhundert. Wir sehen Friedrich Hölderlin auf seiner Stube im Tübinger Stift vor uns, wie er sich mit Hegel und Schelling die Köpfe über die Französische Revolution heißredet; wir sehen Eduard Mörike, Sohn einer Pfarrerstochter, wie er als Vikar über die Schwäbische Alb zieht, fröstelt und seine virtuosen Gedichte schreibt. Aber wir sehen keine einzige Frau; keine einzige Pfarrerstochter, keine Theologiestudentin (natürlich wurden Frauen am Tübinger Stift nicht aufgenommen). Suchen wir also an anderen Orten nach den schreibenden Frauen in Schwaben: Wie schrieben sie, unter welchen Bedingungen, in welchen Räumen, mit welchen Grenzen und mit welchen Freiheiten? Wir sollten allerdings bei dieser Suche, das sei warnend vorangeschickt, ein wenig unsere allzu modern eingefärbte und dadurch beim Blick in die Vergangenheit leicht unzuverlässige Brille ablegen: Nicht alle schreibenden Frauen, die wir finden werden, waren frühe Feministinnen oder auch nur Vorreiterinnen der Emanzipation. Sie waren Kinder, Töchter ihrer Zeit, im Guten wie im Schlechten, und nicht die schlechtesten von ihnen waren sogar ausgesprochen wertkonservativ, weiblich zurückhaltend, durchaus angepasst. Geschrieben haben sie trotzdem, und allein das war schon ein Akt der Rebellion, wenn auch gelegentlich ein sanfter. In der nun folgenden Galerie schreibender Frauen aus Schwaben werden wir deshalb ganz verschiedenen Persönlichkeiten begegnen, der Rebellin ebenso wie der Hausfrau, der adligen Salondame wie der moderne gebildete Frau. 

I.  Die Salondame: Sophie von La Roche (1730-1807) 

Ich beginne mit Sophie von La Roche, der ersten deutschen Bestseller-Autorin, wie sie gewöhnlich eingeführt wird. Geboren als Sophie Gutermann von Guterhofen in Kaufbeuren im Jahr 1730 als Tochter des aus Biberach stammenden Arztes Georg Friedrich Gutermann wuchs sie in einem großbürgerlichen – heute würden wir sagen: bildungsnahen –,pietistisch geprägten Milieu auf und erhielt eine solide Mädchenerziehung. Das heißt: Sie lernte französische Konversation zu betrieben, anmutig zu tanzen, hübsch zu zeichnen und liebliche Blumen zu sticken; dazu ein wenig Klavierspiel, ein wenig Haushalt, ein wenig Küche. Was sie aber eigentlich wollte, war Latein lernen – die Eintrittskarte in die Welt der Gelehrsamkeit, die sie von früher Kindheit an lockte, woran ihr Vater auch nicht ganz unschuldig war. So hat Sophie später berichtet: 

"Nachher machte mein Vater mich früh die Bücher lieben, da er mich oft, ehe ich volle zwei Jahre alt war, in seine Bibliothek trug, wo er mich mit den schönen Verzierungen der Einbände und Titelblätter zu belustigen suchte, und es auch damit so weit brachte, daß ich mit 3 Jahre vollkommen lesen konnte; wohingegen meine Mutter mich, da unser schönes Haus nahe an einem Thore lag, bei ihren Spaziergängen mit sich nahm, und auf einer freundlichen mit Bäumen umfaßten Wiese mich hinsetzte (…). Ich führe diese kleinen Umstände an, weil ich vierzig Jahre nachher von [einer Freundin] hörte, daß sie bei ihren Kindern Neigungen und Charakterzüge, welche sie im zweiten oder dritten Jahre bemerkte, im achtzehnten oder zwanzigsten in der größten Stärke wieder gefunden habe. Ich glaubte darin das Bild der ersten Richtung des Ganges meines Kopfes und meiner Gefühle von Glück zu sehen; auch den ersten Grund meiner Liebe zu Büchern, worin ich mit drei Jahren Buchstaben und Worte aufsuchte, nachher in teutschen und andern Schriftstellern, Gedanken und Kenntnisse, wie Blumen sammelte, die ich dann in meinem Schriften wieder so vertheilte." (VI) 

Gedanken und Kenntnisse wie Blumen zu sammeln – das wird Sophie von La Roches Lebensprojekt werden; eine weibliche Bildung, aber eben nicht nur in den klassischen weiblichen Bereichen, sondern auch und gerade im Bereich der Naturkunde, der Geschichte, den, wie man damals sagte, "schönen Wissenschaften" überhaupt. Doch erst einmal ruft das Leben. Sophie verlobt sich zum ersten Mal, im Einklang mit ihren Eltern, mit einem italienischen Gelehrten, das Projekt scheitert jedoch an der unterschiedlichen Konfession und anderen Äußerlichkeiten. Sie verlobt sich zum zweiten Mal, nunmehr gegen den Willen ihrer Eltern, mit ihrem drei Jahre jüngeren Vetter Christoph Martin Wieland; es wird zwar keine Ehe werden, aber eine lebenslange vertraute Beziehung bleiben, später: die zwischen zwei professionellen Autoren. Sie heiratet schließlich den kurmainzischen Hofrat Georg Michael Frank La Roche; gemeinsam werden sie acht Kinder bekommen, darunter Maximiliane Brentano, eine frühe Geliebte Goethes und Stammmutter der Dichterkinder Clemens und Bettine Brentano. 

Sophie und ihr Ehemann folgen dem politisch einflussreichen, hochgebildeten Adoptivvater von La Roche, Friedrich von Stadion, nach Warthausen, wo Sophie für ihre weitere Bildung eine schon bei den Zeitgenossen berühmte Bibliothek mit 550 Werken vorfindet – und ihren Vetter Christoph Martin Wieland, inzwischen Kanzleiverwalter im benachbarten Biberach. Gelegentlich führt sie die französische Korrespondenz des Grafen Stadion, sie lernt auch Englisch. Als ihr Ehemann auf einen hohen Beamtenposten in Ehrenbreitstein bei Koblenz berufen wird, eröffnet sie dort einen literarischen Salon, in dem berühmte Autoren und Denker der Zeit ein und ausgehen. Auch der junge Goethe war zu Gast, und er hat sie in seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit folgendermaßen gezeichnet:

„Sie war die wunderbarste Frau, und ich wüsste ihr keine andre zu vergleichen. Schlank und zart gebaut, eher groß als klein, hatte sie bis in ihre höheren Jahre eine gewisse Eleganz […] zu erhalten gewusst, die zwischen dem Benehmen einer Edeldame und einer würdigen bürgerlichen Frau gar anmutig schwebte.“   

"Zwischen dem Benehmen einer Edeldame und einer würdigen bürgerlichen Frau" – das bezeichnet sehr präzise den geistigen und sozialen Raum, in dem Sophie von La Roche schließlich auch zur Autorin wird. Als sie 1771 ihren ersten Roman anonym veröffentlicht, Die Geschichte des Fräulein von Sternheims (Wieland hatte wohlwollend korrigiert, ein Vorwort dazu verfasst und wurde gelegentlich selbst für den Autor gehalten), wollte sie sich eigentlich "ein papiernes Mädchen" schaffen – man hatte, wie das damals üblich war in adligen Kreisen, ihr ihre Kinder bereits früh entzogen, und sie litt darunter. Der Roman wird ein außerordentlicher Erfolg, er trifft den empfindsamen Zeitgeschmack mitten ins leicht zu rührende Herz, und seine Autorin wird berühmt. Sophie schreibt in den nächsten Jahren eher gelegentlich weiter, neben ihren Pflichten als Gattin und Mutter, Salondame und Haushaltsvorstand, es sind kleine moralische Erzählungen, wie man sie eben zwischendurch verfassen kann. Doch richtig in Schwung kommt ihre Autorschaft erst durch einen tragischen Schicksalsschlag: Ihr Ehemann wird, nachdem er kurz zuvor noch in den Adelsstand erhoben wurde, entlassen; er hatte, für die katholischen Fürstbischöfe, in deren Dienst er stand, das Mönchswesen etwas zu freizügig kritisiert. Einige Jahr später stirbt Georg Michael von La Roche; und als Franzosen 1794 das linke Rheinufer besetzen, entfällt auch noch Sophies Witwenrente. Erst als Witwe, deren Kinder zwar größtenteils erwachsen sind, aber trotzdem zwischendurch mitversorgt werden müssen, wird Sophie nun zu einer wirklichen, zu einer professionellen Autorin. Witwenschaft ist einer der eher überraschenden weiblichen Freiräume; die meisten schreibenden Frauen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein waren entweder unverheiratet oder verwitwet, zumeist kinderlos, also: relativ ungebunden, weitgehend frei von familiären und Haushaltspflichten und zudem häufig darauf angewiesen, sich ihren Lebensunterhalt selbst zu erwirtschaften. 

Und damit zahlt sich auch Sophies lebenslanges Bildungsprojekt aus. Als erstes beginnt sie, eine Zeitschrift herauszugeben, durchaus nach dem Vorbild Wielands, der inzwischen in Weimar seinen Teutschen Merkur zu einer der bedeutendsten deutschen Zeitschriften gemacht hatte. Pomona für Teutschlands Töchter wird sie sie nennen, und der Name ist Programm; im Vorwort schreibt sie:    

„Das Magazin für Frauenzimmer und das Jahrbuch für Denkwürdigkeiten für das schöne Geschlecht zeigen meinen Leserinnen, was teutsche Männer uns nützlich und gefällig erachten, Pomona wird Ihnen sagen, was ich als Frau dafür halte“

Die russische Zarin Katharina die Große kaufte fünfhundert Abonnements, ein früher Akt weiblicher Solidarität, aber die Zeitschrift hält sich trotzdem nur zwei Jahre. Sophie veröffentlicht daraus anschließend die Briefe an Lina, ein Buch für junge Frauenzimmer, die ihr Herz und ihren Verstand bilden wollen; ein pädagogischer Text, in dem sie eine ideale Mädchenerziehung vorführt, die interessanterweise nicht ihre eigene Traumerziehung – Latein, Naturkunde, schöne Wissenschaften – propagiert, sondern ganz den Verhältnissen des bürgerlichen Mittelstandes angepasst ist. Lina soll vielmehr ein tugendhaftes und vorbildliches Leben als "schätzbares junges Frauenzimmer, oder als die Gattin eines würdigen Mannes, und die geliebte Freundin und Gesellschafterin von hochachtungswerthen Personen" führen, das ihr Schlafzimmer ebenso in Ordnung hält wie die Speisekammer oder das Visitenzimmer. Doch Sophie selbst wagt sich immer weiter hinaus in die Welt. Sie macht Reisen nach Frankreich, in die Schweiz, nach Holland und England und veröffentlicht anschließend Reisetagebücher (schon damals ein beim Publikum sehr beliebtes und erträgliches Genre). Gegen Ende ihres Lebens wagt sie sich sogar an autobiographische Schriften; eine Gattung, die Goethe gerade erst zum Muster erhoben hatte und die ein gewisses Selbstbewusstsein als Autorin voraussetzt: Ist man denn überhaupt wichtig, bedeutend, nützlich genug, um sich selbst so unverhohlen in den Mittelpunkt zu stellen? Man ist doch, "nur", eine schreibende Frau? 

Sophies jedoch veröffentlicht eine Autobiographie ganz eigener, noch nie gesehener Art. Sie heißt Mein Schreibetisch, und so wie die Briefe an Lina die Räume weiblicher Tätigkeit abgeschritten hatten, vom intimen Schlafzimmer bis zum öffentlichen Visitezimmer, so gibt Mein Schreibetisch ein Porträt der Autorin als schreibender Frau in Briefform. An ihren imaginären Briefpartner schreibt sie:    

"Nun mögen Ihre Blicke mir vor meinen Schreibetisch folgen, welcher in Wahrheit arm und zu schlicht aussieht, aber in meinen Augen das Verdienst eines alten, in einen grauen Überrock gehüllten, Dieners hat, der seit vielen Jahren, an allem Wohl und Weh seiner Herrschaft Antheil nahm; geduldig jede Arbeit und Beschwerde trug, und alles Anvertraute still und treu bewährte. Denken Sie dabey, daß neben diesen schätzbaren Eigenschaften, auf dem wirklich etwas plumpen Tisch, der für mein Herz sehr hohe Werth liegt, aus Holz von der gräflich Stadionschen Waldung, der in meinem Vaterlande liegenden Herrschaft Warthausen verfertigt zu seyn, welche ich allen Cedern des Libanon, den Indischen Rosen-Atlas-Sandel-Eben, und Mahagony-Holz vorziehe". 

Wo auch immer Sophie schreibt, dies ist ihr heimatlicher Raum: ein Schreibtisch aus Warthausen, der sie begleitet hat in einem langen Leben; an dem sie sich von ihren Ehemännern und literarischen Vormündern emanzipiert hat; in dem sie eine Mutter, eine gelegentliche Sekretärin, eine treue Ehefrau, eine Salondame, eine Großmutter, eine Zeitschriftenherausgeberin geworden ist, aber immer in ihrem Herzen das bildungshungrige Mädchen geblieben ist, das "Gedanken und Kenntnisse, wie Blumen sammelte, die ich dann in meinem Schriften wieder so vertheilte". 

II.  Die Rebellin: Marianne Ehrmann (1755-1795)

Unterschiedlicher können, zumindest auf den ersten Blick, zwei Lebensschicksale nicht sein; und doch, auf den zweiten zeigt sich so manche überraschende Ähnlichkeit. Marianne Ehrmann, unsere zweite schreibende Frau, wurde 25 Jahre nach Sophie von La Roche in Rapperswil am Zürichsee geboren. Ihr Vater war ein Kaufmann, der jedoch schon zu seinen Lebzeiten sein Vermögen verlor; beide Eltern starben, da war Marianne erst 16 Jahre alt. Sie wuchs auf bei Verwandten, machte sich als Haushälterin nützlich; für eine systematische Erziehung wird weder Zeit noch Geld da gewesen sein. 1777 heiratet sie, 22jährig, einen Offizier, um endlich den beengten Verhältnissen und der Abhängigkeit von der Verwandtschaft zu entkommen. Der Ehemann ist, so stellte sich bald heraus, nicht nur spielsüchtig, sondern auch gewalttätig, wenn er wieder einmal am Spieltisch verloren hatte. Eine Schwangerschaft endet mit einer Totgeburt, Marianne wird danach nie wieder Kinder bekommen können. Sie erstreitet sich erfolgreich eine Ehescheidung, eine damals höchst verwickelte und fragwürdige Angelegenheit; doch sie bezahlt mit einem völligen Nervenzusammenbruch. Immerhin ermöglicht ihr ein Onkel zur Rekonvaleszenz eine Bildungsreise durch Deutschland und Italien; danach ist sie jedoch wieder auf sich selbst gestellt. Sie versucht sich als Gouvernante, eine der wenigen Berufe, die Frauen offen stehen, doch auch dieser Versuch scheitert; offensichtlich ist sie zu temperamentvoll und eigensinnig, um in dieser sozial schwierigen Situation, in der völlige Unterordnung erwartet wird, zu bestehen. Und so schließt sie sich, der gute Ruf ist sowieso schon zum Teufel, einer Gesellschaft wandernder Schauspieler an. Als Bühnenname wählt sie jedoch ausgerechnet, man höre und staune: Madame von Sternheim – also den Namen der Protagonistin aus Sophie von La Roches erstem Erfolgsroman! 

In dieser Zeit beginnt Marianne Ehrmann auch, sich als Autorin zu versuchen: Philosophie eines Weibs: Von einer Beobachterin heißt ihre Erstlingsschrift, veröffentlicht 1784 – und das ist schon einigermaßen verwegen: 'Frauenzimmerphilosophie' hatte im 18. Jahrhundert nicht direkt einen guten Ruf. Immerhin bringt ihr das öffentliche Aufmerksamkeit und zugleich einen neuen Ehemann: Der sieben Jahre jüngere Jurist Theophil Ehrmann, der in Straßburg als Rezensent für politische und literarische Zeitschriften arbeitet, verliebt sich in Marianne. Seine Eltern sind jedoch, wenig überraschend, gegen die Beziehung zu einer älteren, mittellosen, geschiedenen ehemaligen Schauspielerin (mehr soziales Stigma geht kaum noch); eine Hochzeit muss deshalb zunächst verschoben werden. Kinder bleiben auch später aus, das Paar adoptiert 1792 einen unehelichen Säugling. Das Paar lässt sich in dieser Zeit in Stuttgart nieder (und das rechtfertigt die Aufnahme unserer gebürtigen Schweizerin unter die schreibenden Frauen in Schwaben). Dort versuchen beide, sich einen Lebensunterhalt mit literarischer und journalistischer Tätigkeit zu verdienen – wobei Marianne deutlich erfolgreicher ist als ihr eher glückloser Ehemann; das soll der Ehe nicht zuträglich gewesen sein. Zunächst veröffentlicht Marianne einen autobiographisch gefärbten Roman über ihr eigenes wechselhaftes Schicksal, der ein Erfolg wird: Amalie. Eine wahre Geschichte in Briefen. 1790, rund sechs Jahre nach La Roches Pomona, beginnt sie dann ebenfalls eine Frauenzeitschrift herauszugeben: Amaliens Erholungsstunden, bei der sie selbst gleichzeitig als Herausgeberin, Verlegerin, Autorin und Buchhalterin fungierte, bevor der Stuttgarter Verlag Cotta die Herausgabe übernahm. Nur zwei Jahre später bietet ihr der Züricher Verlag Orell und Gessner die Herausgabe einer zweiten Zeitschrift an. Die Einsiedlerinn aus den Alpen wird ihr Titel sein (wir erinnern uns, Marianne ist gebürtige Schweizerin, und die Schweiz ist für die Zeitgenossen vor allem ein Begriff für naturnahes, unentfremdetes Leben und politische Freiheit à la Wilhelm Tell); im Untertitel heißt die Zeitschrift, und man meint Pomona mitzuhören: Teutschlands Töchtern geweiht von Marianne Ehrmann (und schon dass der Name in den Titel aufgenommen wird, spricht dafür, dass er bekannt genug ist um Leserinnen anzuziehen). Ihr Oeuvre wird schließlich abgerundet durch ein neues Genre, das Schauspiel nämlich, zu dem sie als ehemalige Wanderschauspielerin natürlich eine besondere Beziehung hatte: Das Drama Leicht und gutes Herz oder die Folgen der Erziehung zehrt ebenfalls von ihren eigenen Erfahrungen als "gefallenes Mädchen". Doch gerade als die Autorschaft so richtig in Schwung gekommen ist, fordern all die Katastrophen in ihrem Leben schließlich doch ihren Preis: Nach langen Jahren gesundheitlicher Probleme stirbt Marianne Ehrmann nur 39jährig in Stuttgart an einer Lungenentzündung. 

Im Unterschied zu Sophie von La Roche und vielleicht verständlich angesichts ihrer problematischen Lebenserfahrungen tritt Marianne Ehrmann schon in ihren ersten Veröffentlichungen durchaus kämpferisch auf. In einer "Eintrittsrede" zu ihrer Zeitschrift Amalie entwirft sie wohl eine Art Selbstbild. Sie schreibt dort, nichts sollte ein 

"starkes, denkendes hellköpfiges Mädchen, in dem eine grosse männliche Seele wohnt (!), abhalten können, durch ihre Aufklärung, frei von feiger Furcht, zum allgemeinen Besten zu wirken. … Sie muß sich nicht durch weibliche Feigheit, und eisgraue Vorurtheile, nicht durch schwachköpfige Einwendungen superkluger Matronen, nicht durch drohende Dummheit, nicht durch zähnefletschende Verläumdung hintern lassen, ihre Bahn unerschütterlich zu wandeln". 

Nein, "gelehrten Pedantinnen" will Ehrmann mit ihrer Zeitschrift nicht erzeugen; Denkerinnen sollen es vielmehr werden, die "über ihre Bestimmung nachzudenken" wissen; und denjenigen Männern, die immer noch glaubten, solche Frauen als "gelehrte Weiber" zu verleugnen, hält sie entgegen: 

"Du lieber Gott, was haben denn diese Menschen für absurde unentwickelte Begrife von einem Frauenzimmer, die denkt und denken muß, wenn sie nicht Maschine seyn will" (Maschine im Sinne von: einem unbelebten, des Denkens nicht mächtigen und der Vernunft nicht zugänglichen, sondern unreflektiert seiner Bestimmung, seinem Programm folgenden Wesen). 

Als leibhaftige und lebendige Denkerin, so sieht sich Marianne Ehrmann selbst, und so präsentiert sie sich auch in ihrer Philosophie eines Weibs. Das ist keine systematische, gelehrte, spekulative Grundlagenschrift, sondern eine ziemlich bunte Mischung von Reflexionen über das Leben, die Liebe vor allem, aber auch: die Ehe, das Geschlechterverhältnisses und die Erziehung. Es sind nicht nur Beobachtungen, sondern Erkenntnisse einer wahrhaft scharfsichtigen und unkonventionellen Beobachterin, die sich wie Perlen auf einer Schnur aneinander reihen, und man möchte eine nach der anderen zitieren. So findet sich etwa eine originelle Bestimmung des Geschlechterverhältnisses nach dem Muster der Arbeitsteilung:    

"Nach der Anordnung des Schöpfers der Natur müssen zwar beyde Geschlechter übereinstimmend, aber nicht gleich arbeiten; der Zweck der Arbeit ist gemeinschaftlich, die Arbeit selbst aber ist verschieden". 

Oder eine Verbildlichung einer Ehe nach dem Muster des menschlichen Organismus: 

"Aus der ehelichen Verbindung entsteht eine moralische Person, wovon das Weib das Aug, der Mann der Arm ist". 

Oder ein sehr realistischer Blick auf das Verhältnis von Ehe und Liebe: 

"Es ist unmöglich, den Gatten und Liebhaber so zu vereinigen, wie es viele von uns sich vielleicht vorstellen. Wir vermissen in der Ehe eine Menge Tändeleyen, Schmeicheleyen, und andere verliebte Kleinigkeiten, worinnen nur die befriedigte Eitelkeit Liebe zu finden glaubt, und diesen Mangel fortdauernder Zärtlichkeit in der Ehe … schreiben wir der Abneigung oder der kaltsinnigen Gleichgültigkeit des Mannes zu; da doch diese Veränderung in der That nichts anderes ist, als eine natürliche Folge von dem Besitz des Herzens, dessen Erlangung man mit Eifer gewunschen hatte". 

Das ist die Philosophie eines Weibes, die genau beobachtet hat, ihre Erfahrungen anschließend überdacht und nun zum allgemeinen Nutzen der – vor allem weiblichen – Leserinnen zusammengestellt hat; wobei es kein Argument gegen den philosophischen Gehalt ist, dass sich, wie Ehrmann in ihrer Vorrede zugibt, 

"vielleicht hie und da eine launigte Stelle, die das Gepräge der Heiterkeit ihrer Schöpferin an der Stirne trugt, unvorsätzlich unter meiner Feder ins ernsthaftere sich umwandelte. Dazu ist schon unsere Natur gestimmt, und selbst im Gemälde der Welt ist der männliche Ernst Schatten gegen den weiblichen Witz, der so oft Licht verbreitet". 

III.  Die Hausfrau: Ottilie von Wildermuth (1817-1877) 

Wir eilen mit einem großen Sprung ins 19. Jahrhundert zu unserer nächsten Kandidatin, die wiederum gegensätzlicher als Marianne Ehrmann kaum sein könnte: eine veritable, sozusagen bekennende schwäbische Hausfrau. Ihr ganzes Leben hat sie hier verbracht, all ihre Werke zehren von diesem Lebensraum, sie bewegen sich im engen Kreis der Familie, ja, sie lassen sogar das pietistische Pfarrhaus wieder zu seinem alten Recht kommen. Ottilie Wildermuth, als Ottilie Rooschüz 1817 in Rottenburg am Neckar geboren, zeigte schon als kleines Mädchen den gleichen Bildungsdrang wie Sophie von La Roche. Ihr Vater war der Marbacher Kriminalrat Gottlob Christian Rooschütz, ein Jugendgenosse Uhlands, Majers und Justinus Kerners, also der Kerngruppe des Schwäbischen Dichterkreises. Die Familien standen untereinander in Kontakt, und der Sohn von Karl Mayer erinnerte sich später mit einer Art von Ehrfurcht an die energische Schwäbin: 

"Was mir vor Marbach allein stets einiges Bangen erweckte, das war des Hauses älteste Tochter Ottilie, welche 1817, zwei Jahre vor mir, geboren, mir in allem Wissen und Können weit voraus und überlegen war, und sich namentlich im Lateinischen, das sie gleich einem Knaben fix erlernt hatte, gern als eine nicht leicht zu befriedigende Examinatorin auftrat". 

Die junge Ottilie erhält eine gute zeitgenössische Mädchenerziehung, zu der nach Abschluss der Volksschule auch ein sechsmonatiger Aufenthalt in einem Pensionat in Stuttgart zählte, wo sie in Französisch, Nähen und Kochen unterrichtet wird; Englisch bringt sie sich wenig später selbst bei. Sie liest viel, neben den schwäbischen Dichtern beispielsweise Sophie von La Roches Frauen-Zeitschrift Ponoma für Deutschlands Tochter. Früh begeistert sie sich für ihren Landsmann Friedrich Schiller. Leidenschaftliche Liebesromane hingegen gehören nicht zu ihrer Lieblingslektüre; und Marianne Ehrmann hätte ihr wahrscheinlich zugestimmt, wenn sie schreibt: 

"Anfangs zog mich auch der Inhalt [der leidenschaftlichen Liebesromane] an; aber bald hatte ich genug an diesen parfümierten Veilchen und übermalten Rosen. Eine solch zerschmelzende Sentimentalität, eine solch grenzenlose glühende Leidenschaft stößt mich ab, und unter uns gesagt – ich glaube nicht daran". 

1843 – sie ist zu diesem Zeitpunkt 26 Jahre alt, also nicht mehr ganz jung für ihre Zeit – heiratet Ottilie den zehn Jahre älteren Philologen Wilhelm David Wildermuth, Professor für Neuere Sprachen am Lyzeum in Tübingen. Zwischen 1844 und 1856 bringt sie fünf Kinder zur Welt. Zwei Söhne sterben kurz nach der Geburt, es überleben die beiden Töchter Agnes und Adelheid sowie der Sohn Hermann, der später ein berühmter Nervenarzt werden wird; ein Enkel von ihr, Eberhard Wildermuth, war nach dem zweiten Weltkrieg Minister für Wohnungsbau unter Adenauer. Ottilie steht ihrem nicht immer einfachen Ehemann unverbrüchlich zur Seite; sie führt, unterstützt von ihrer Mutter, einen großen Haushalt, mit vielen kürzer und länger bleibenden Gästen. Sie unterrichtet, um das nicht allzu üppige Gehalt ihres Mannes aufzubessern, Schülerinnen in Englisch. Sie engagiert sich unermüdlich für Kranke und Bedürftige, vermittelt Stellen und Unterkünfte, springt ein, wo immer Not an der Frau ist. Und sie ist, das zeigen nicht nur ihre Erzählungen, in denen immer wieder vergleichbar tätige Frauen im Zentrum stehen, eine überzeugte Hausfrau, ohne ein biederes Hausmütterchen zu sein. In ihrer Autobiographie rechtfertigt sie sich: 

"Ich habe nie das Frauengeschlecht für ein verkürztes ansehen können, selbst wenn es nur zu der nüchternen, anscheinend ganz geistlosen Tagesarbeit verurteilt ist. Es schien mir oft verwunderlich, daß die Frauen im allgemeinen fast so gescheit sind wie die Männer, während man doch ihren Geist häufig brach liegen läßt und den der Männer mit schwerer Mühe und Kosten so gründlich und kontinuierlich anbaut. Ich glaube, es kommt daher, weil unsere Arbeit, auch wenn sie gut versehen wird, Gedanken und Gefühl frei läßt. Nähterinnen pflegen deshalb meist sinnige, nachdenkliche Geschöpfe zu sein, die da versuchen in die Rätsel des Daseins einzudringen." 

1847, also im vierten Jahr ihrer Ehe und ein Jahr nach der Geburt des ersten Sohnes, werden Ottilie Wildermuths erste Erzählungen in Cottas Morgenblatt für gebildete Stände veröffentlicht; ihnen folgen 1852 Bilder und Geschichten aus dem schwäbischen Leben, darin auch die Schwäbischen Pfarrhäuser, die sie berühmt machen. Der Titel bleibt bezeichnend für ihr gesamtes Werk, das innerhalb der nächsten gut zwanzig Jahre entsteht: Es sind Genrebilder, geschöpft aus ihrer nächsten Umgebung und Lebenserfahrung; Erzählungen, auch längere, die sich zu Zyklen zusammenschließen wie die Bilder und Geschichten aus Schwaben (1852) oder Aus einem Frauenleben (1855); dazu kommen Erzählungen speziell für Kinder und Jugendliche. Wildermuth hat ihren eigenen literarischen Anspruch so skizziert:    

"Meine ganze Absicht ist, Bilder des wirklichen Lebens darzustellen, so wie sie in meiner Anschauung sich zeigten, und der einfache Grundgedanke aller meiner kleinen Versuche ist der Wunsch, zu zeigen, wie reich und mannigfaltig auch das alleralltäglichste Leben in seinen verschiedenen Erscheinungen ist, wie viele erfreuliche, ergötzliche und poetische Seiten jede Zeit und jeder Lebenskreis bieten, wie Quellen zu harmlosen Lebensgenuß in jeder Stellung liegen. Ist mir's gelungen meinen Bildern Leben zu geben, und diesen Grundgedanken durchfühlen zu lassen, so ist mein ganzer Zweck erfüllt". 

Den Raum für ihr Schreiben muss sich Wildermuth mühsam zwischen ihren häuslichen und öffentlichen Pflichten erkämpfen. Oft stöhnt sie in den Briefen an Kerner: "Fromme Nadel, hätt ich nimmer / Mit der Feder dich vertauscht". Meist schreibt sie frühmorgens, wenn die Kinder in der Schule sind, häufig und am liebsten in freier Luft; sie schreibt aber auch zwischendurch, umringt von ihren Kindern, dem Nähzeug und der Wäsche, all dem eben, was sie immer wieder die "liebe helle Prosa" des Lebens nennt: "Wasch einseifen, Kraut einmachen – lauter kleine Drangsäler". Anlässlich einer Rezension ihrer Werke, bei der sich der männliche Kritiker "höchlich" verwundert, "wie eine Frau, die den stillen Frauentugenden und der häuslichen Tüchtigkeit so das Wort rede, doch dazukomme, dicke Bände voll Geschichten in die Welt hinauszuschreiben", räsonniert sie: 

"Ja, der Mann hat nicht Unrecht, nur muß er bedenken, daß ich mich erstens durch die Schriftstellerei nicht entbunden glaube von den eigentlichen Frauenpflichten, und 2. daß es gewisse Wahrheiten gibt, die nur Frauen den Frauen sagen können, da müssen sich doch einige aufopfern". 

Man könnte das insgesamt durchaus einen 'weiblichen Realismus' nennen, und man könnte ihn durchaus gleichberechtigt neben die großen männlichen Autoren des Realismus, neben einen Wilhelm Raabe oder einen Eduard Mörike, stellen. 

Ottilie Wildermuth hat vor allem Erzählungen veröffentlicht; sie schrieb aber auch Gedichte. Ein eindrucksvolles Beispiel ist das Gedicht, das sie am 16. Dezember 1856 an Justinus Kerner schickt; ihr am 9. Dezember geborener zweiter Sohn war nach fünf Tagen an einer Einklemmung der Luftröhre durch die Schilddrüse verstorben. Dass Kinder kurz nach der Geburt oder im frühen Kindesalter sterben, ist im 19. Jahrhundert noch eine allgegenwärtige Bedrohung und natürlich besonders schmerzhaft für die Mütter (es gibt aber auch sehr rührende Gedichte von Vätern über den frühen Verlust ihrer Kinder, am bekanntesten sind wohl die "Kindertotenlieder" von Friedrich Rückert, die Gustav Mahler vertonte; Rückert waren kurz hintereinander zwei seiner zehn Kinder verstorben, von Gustav Mahlers elf Geschwistern starben sechs im Kindesalter). Ottilie Wildermuth nun schreibt an Justinus Kerner am Tag nach dem Tod ihres Sohnes: "Ich weiß nicht, ob Du Dir gern die beigefügten Strophen einmal vorlesen läßt, nachdem Du weißt, wie mir zu Mute ist", und es folgt das Gedicht, neun vierzeilige Strophen, ergreifend in ihrer Schlichtheit bis heute: 

Meinem Kindlein

Mein süßes Kind, oft hab ich Dein gedacht,
In schlummerloser Nächte tiefem Schweigen
Lang eh zu Licht und Leben Du erwacht –
Wie warst Du ganz und einzig dann mein eigen!

Wie dacht ich goldne Tage auf und ab,
Da Du mein seist, mit innigem Verlangen,
Licht meines Mittags, meines Alters Stab,
Bis ich vergaß das Zagen und das Bangen.

Und wenig heiße Stunden sind entflohn;
Es ist vollbracht! Du darfst zum Lichte dringen,
Ich höre Deiner Stimme hellen Ton,
Welch irdische Musik kann schöner klingen?

Ein süßes Wunder ruhst Du neben mir,
Herz meines Herzens, Du mein eigen Leben!
Da streckt der Tod die kalte Hand nach Dir;
Herr, woll es nicht! Ich kann mein Kind nicht geben.   

Ich kann es nicht, rief ich in wildem Schmerz,
Ich wollte mit dem kalten Tode ringen,
Fest schloß ich Dich an mein erbebend Herz; -
Wer kann den Allgewaltigen bezwingen?   

In warmen Mutterarmen ruhtest Du;
Da ward der schwere Atem leis und stille,
Es schlossen sich die hellen Äuglein zu
Und mir im Schoß lag meines Kindleins Hülle.   

Da dacht ich zu vergehn in herbem Leid;
Doch wie ich sah in Deiner Züge Frieden,
In ihre unschuldvolle Seligkeit,
Da fühl ich, daß ein Engel ist geschieden.

    

IV. Die Frauenrechtlerin: Eugenie von Soden (1858-1930)

Doch im 19. Jahrhundert gibt es natürlich auch das Gegenmodell, und so wie Marianne Ehrmann die komplementäre Ergänzung zu Sophie von La Roche ist, so kontrastiert die Frauenrechtlerin Eugenie von Soden mit der schreibenden schwäbischen Hausfrau Ottilie Wildermuth. Soden war keine Erfolgsautorin wie Wildermuth, sondern ist heute weitgehend vergessen; eine eigene Familie hat sie nie gegründet, sich aber ihr Leben lang für ihre Eltern und andere aufgeopfert. Geboren wurde sie gut vierzig Jahre später als Wildermuth in Cincinnati als Tochter des Freiherrn August von Soden; schon bald zog die Familie nach Esslingen, wo sie eine private Töchterschule mit Pensionat eröffnete. Eugenie von Soden wuchs hier mit fünf Geschwistern auf und arbeitete schon bald im elterlichen Institut mit. Als die Schule nach 35 Jahre geschlossen wird, zieht sie mit ihren Eltern nach Cannstatt und versorgt sie bis zu deren Tod. In dieser Zeit engagiert sie sich in zahlreichen Institutionen der frühen Frauenbewegung: Sie ist Mitglied im Württembergischen Verein für Frauenstimmrecht und im Verein für weibliche Angestellte, wo sie die Kommission für Unterricht, Belehrung und Unterhaltung leitet. 1930 stirbt sie im Alter von 71 Jahren in Baden-Baden. 

Mehr wissen wir kaum über Eugenie von Sodens Leben; es liest sich ein wenig tragisch, in seiner Kürze, und noch nicht einmal ein Bild von ihr ist überliefert. Es bleibt allein ihr Werk, das zu großen Teilen mehr volkspädagogisch als literarisch ist. Immerhin jedoch hat sie mit einem Gedichtband 1905 debütiert, der Titel war Haidekraut; auch Erzählungen sind überliefert unter dem ein wenig an Sophies 'Schreibetisch' erinnernden Titel Aus meiner Mappe. Bezeichnenderweise widmet sie ihn in einem kleinen vorangestellten Gedicht ihrer Mutter; und das Gedicht entwirft eine rührende Skizze, bei der man die Tochter am Pflegebett der alten Mutter sitzen zu meinen sieht: 

Längst, eh die lieben Augen du geschlossen,
Dacht' ich dir diesen Blätterstrauß zu weih'n;
Als er bei deiner Pflege doch entsprossen,
Und treibt er Blüten, so sind alle dein.     

Der kleine Band enthält nur wenige Geschichten, und literarisch reichen sie sicherlich nicht an Wildermuths vielfältige und professionell gezeichnete Genrebilder eines weiblichen Realismus heran. Eine jedoch fällt etwas aus der Reihe. Sie schildert unter dem Titel "Tot – aber nicht gestorben" die (wohl fiktive) Geschichte einer mit nur 35 Jahren verstorbenen weiblichen Autorin namens Mary Rasmuth. Ihre erste Novelle ist soeben in einer Zeitschrift veröffentlicht worden, als sie bei einem Nachmittagskränzchen den Südamerikaner Bancini trifft, der tatsächlich ihre Novelle gelesen hat, obwohl, so Mary lakonisch, "die Herren selten die Gnade haben, ihre Gönneraugen über Frauenschriftstücke gleiten zu lassen". Obwohl sich beide gut verstehen und schnell einander annähern, schätzt Bancini ihre weibliche Autorschaft durchaus nicht; er könne nicht glauben, so äußert er ihr gegenüber direkt, 

"daß ein weibliches Wesen die Grenzen ihres Geschlechts innehält, wenn sie , wie man zu sagen pflegt, sich drucken läßt"; 

und auf Nachfrage erläutert er die Grenzen des weiblichen Geschlechts bereitwillig: 

"sie scheinen mir in einem keuschen Beschließen der Gedanken und Gefühle zu liegen, in einem Erschließen derselben nur dem Vertrautesten gegenüber. Die ganze Welt kritisieren und mäkeln zu lassen an dem, was ein weibliches Gemüt empfunden, geträumt, ersehnt – das ist mir eine unerträgliche Vorstellung, und ich bilde mir ein, ein Wesen, das sich dem aussetze, sei keiner Hingebung an einen Einzigen fähig". 

Bevor wir nun alle unsere (ja durchaus berechtigte) Empörung über ein typisch männliches Stereotyp auspacken und Herrn Bancini als schnöden Macho schmähen: Sein Punkt ist so ganz falsch nicht; denn tatsächlich ist Dichtung, eine bestimmte Art jedenfalls, durchaus eine Art (ein wenig exhibitionistische) Selbstentblößung, und nicht jede kann damit umgehen, dass öffentlich und größtenteils von wenig dazu Berufenen über die eigenen Form gewordenen Seelenqualen "gemäkelt" wird (das gilt aber für Männer und Frauen gleichermaßen). Eugenie von Sodens Mary jedoch kommt sogar über diesen Tort hinweg, sie wird sogar weiter publizieren und Erfolg haben. Worüber sie jedoch nicht hinwegkommt – und hier wird die Geschichte ganz unversehens und ein wenig aus heiterem Himmel tragisch – ist, dass sie nach einer schweren Krankheit plötzlich ihre Fähigkeit zu dichten verliert; ihr Leben ist danach "in seiner Wurzel geknickt". Sie stirbt wenig später nicht eigentlich an einer körperlichen Erkrankung, sondern am Entzug ihrer Lebensnahrung, der dichterischen Schöpferkraft, so wie es der Titel der Erzählung in die paradoxe Formel Tot – aber nicht gestorben fasst. Der Leser, oder wahrscheinlicher: die Leserin, bleibt genauso hilflos zurück. Schreibt Eugenie von Soden hier über ihre eigenen Ängste? Und kommt sie der Wahrheit weiblichen Schreibens damit nicht unversehens sogar ein wenig zu nahe – seiner Unvermeidlichkeit, seiner Leiblichkeit, aber auch seinem lebensweltlichen Risiko? 

Eugenies eigenes großes Werk war im übrigens kein literarisches; es war ein beachtliches volksaufklärerisches Projekt. Das Frauenbuch hat sie es schlicht genannt, mit dem Untertitel: Eine allgemeinverständliche Einführung in alle Gebiete des Frauenlebens der Gegenwart; von Soden fungiert als Herausgeberin, schreibt zentrale Artikel jedoch auch selbst. Der erste Band erschien 1913 und schilderte Frauenberufe und Ausbildungsstätten; der zweite Band im gleichen Jahr behandelte die Frau als Gattin, Hausfrau und Mutter. Ein Jahr später folgte Band 3 zu Stellung und Aufgaben der Frau in Recht und Gesellschaft. Es war eine veritable weibliche Enzyklopädie, und sie reichte von medizinischen und hygienischen Fragen über Erziehung, Kleidung und Ernährung bis hin zu Stimmrecht, Mutterschutz und Frauenbewegung. Dieser Artikel, Die deutsche Frauenbewegung, ihre Vereine und ihr Presse schließt den dritten Band ab, und Eugenie von Soden hat ihn mit der für sie bezeichnenden Mischung aus gründlicher Recherche, enthusiastischem Engagement und klarer Sprache selbst geschrieben. Lassen wir sie also mit Ihrem Appell zu Wort kommen, die Räume der Frau endlich zu erweitern: 

"Seht ihr nicht die hunderte von Frauen, deren Kräfte brach liegen, deren Zeit vergeudet wird, deren Leben nutzlos ist? Auf! brecht dem Gedanken Bahn, daß auch sie einen Platz ausfüllen dürfen, ausfüllen sollen; nicht nur im engen Hause oder im schillernden Ballsaal, nicht nur als züchtige Hausfrau, als sorgende, überall eintretende, oft so wenig bedankte Tante, vulgo alte Jungfer, oder als glänzende Weltdame, als Zierde der Gesellschaften, nein, als ein tätiges, sich und dem großen Ganzen Nutzen bringendes Glied der Menschheit! Aber das ist's gerade, was der Frauenbewegung noch heute von manchem Gegner vorgeworfen wird: … sie zerstört das alte Ideal von Weiblichkeit, das eine Schattenblüte ist". 

Und sie hält dagegen: 

"Wer echte Weiblichkeit in sich trägt, kann sie nie verlieren; wem sie mangelt, wird sie nirgends gewinnen, und wenn er noch so viele "weibliche Handarbeiten" … macht"

Weiblichkeit als "Schattenblüte" – das ist eine sehr gelungene, eine sehr weibliche Metapher, mit der Eugenie von Soden sicherlich auch ihr eigenes, privat so wenig ausgelebtes Leben meinte, ihr Altjungferntum, ihre Dasein als "so wenig bedankte" Tante. Aber sie hat sich ihren Wirkungsraum erobert, er lag jenseits der Familie und war der öffentliche Raum, den der schnöde Bancini der jungen Novellistin Mary so energisch verweigert hatte. Durch ihr Frauenbuch ist wenigstens Eugenie von Soden zwar tot – und doch nicht gestorben. 

V.  Die moderne Frau: Friederike Roth 

Ein letztes Beispiel soll uns bis in die unmittelbare Gegenwart bringen; wobei es gar nicht so leicht ist, in unseren modernen globalisierten Zeiten noch Autorinnen zu finden, die vergleichbar regional stabile Lebensläufe aufweisen wie noch Ottilie Wildermuth oder Eugenie von Soden. Ich habe Friederike Roth ausgewählt, eine etwas öffentlichkeitsscheue, vielfach ausgezeichnete Lyrikerin und 20amatikerin, gebürtig 1948 in Sindelfingen und seither in Esslingen und Stuttgart ansässig. Roth studierte Philosophie und Linguistik an der Universität Stuttgart, wo sie 1975 mit einer Arbeit zur Semiotischen Analyse der ästhetischen Untersuchungen Georg Simmels promoviert wurde. Friederike Roth ist also, wie man im 18. Jahrhundert sagen würde, eine gelehrte Frau, für heutige Zeiten eine Selbstverständlichkeit und kein Makel mehr; und ihre wissenschaftliche Beschäftigung mit der Sprache prägt durchaus gelegentlich ihre Dichtung. Roth war als Lehrbeauftragte für Anthropologie und Soziologie an der Fachhochschule für Sozialwesen in Esslingen, dem Wirkungsort von Eugenie von Soden, tätig und arbeitete anschließend als Hörspieldramaturgin beim Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart. Unter ihren literarischen Auszeichnungen ist zweifellos der 1983 verliehene Ingeborg-Bachmann-Preis der bedeutendste; sie erhielt zudem den renommierten Hörspielpreis der Kriegsblinden sowie 1982 den Literaturpreis der Stadt Stuttgart. Zu ihrem Werk zählen Übersetzungen ebenso wie Lyrikbände, Erzählungen und Dramen; sie ist, sozusagen, eine Autorin im Vollsinn des Wortes, die das gesamte Spektrum literarischer Tätigkeit abdeckt. 

Der Skepsis der Autorin gegenüber den Mechanismen des modernen Literaturbetriebs hat dafür gesorgt, dass man von ihrem privaten Leben kaum etwas weiß – was in den Zeiten der digitalen Transparenz des Privaten schon beinahe wieder bemerkenswert ist. In Interviews hat sich Friederike Roth gelegentlich geäußert; sie hat gesprochen über ihren Zweifel an den "sogenannten Errungenschaften der abendländischen Zivilisation", die sich verstärkt hätten durch "das Festklammern an Individualität, an Interessendurchsetzen"; über ihr Problem mit 

"Literatur mit gesellschaftspolitischem Anspruch, weil das genaue Beobachten dessen, was man beschreibt, fast zwangsläufig Hand in Hand geht mit einer bestimmten Haltung, und sei es die des Zweifels, sei es die des Anarchischen, des Subversiven". 

Eine Beobachterin also auch sie, wie Marianne Ehrmann mit ihrer Philosophie eines Weibes; aber auch eine Denkerin, die aus der Beobachtung hinaus ins Zweifeln gerät. So hat sie zu ihrem Langgedicht Abendlandnovelle, erschienen 2010 nach einer längeren Schaffenspause, in einem Interview erläutert, wie es dazu kam, dass in diesem Gedicht verschiedene Stimmen mit- und gegeneinander sprechen: 

"Das hat sich beim Schreiben aber zwangsläufig so ergeben, kaum hatte ich eine Gewissheit, wie ich dachte, hingeschrieben, meldete sich schon der Gegner dieser Gewissheit beziehungsweise der, der immer sagte: Wäre ja schön, wenn". 

Und genauso wie der heiteren Marianne Ehrmann geht es ihr nicht darum, philosophisch Schwergewichtiges in niederdrückenden Kassandra-Tönen zu verkünden: 

"Ich kann wirklich keine Lösungen anbieten, aber ich kann dazu ein bisschen vielleicht auch verführen, dass man es einfach nur sich anguckt und drüber staunt oder drüber lacht". 

Hinschauen, staunen, lachen – schauen wir unter dieser Prämisse einmal genauer auf die Abendlandnovelle. "Abendlandnovelle", das ist ein eher schwergewichtiger Titel; man könnte vermuten, dass hier Kulturkritisches angestimmt wird, Endzeitstimmung, Untergang des Abendlandes eben. Das umfangreiche Gedicht hat drei Teile: "Anfangen endlich", "Unerhörte Begebenheiten? Wiederholungen nur" und "Am Ende. Kein Anfang" sind sie betitelt. Wie moderne Lyrik im Allgemeinen, sind die Gedichte nicht leichtverständlich; sie sind aber auch nicht schwerverständlich, hermetisch, unzugänglich wie so viele männliche Lyriker gerade des 20. Jahrhunderts. Nein, in ihnen sprechen Stimmen, die nicht unvertraut wirken; und sie sprechen aus lebensweltlichen Situationen, vertrauten Situationen, aber keineswegs einfachen Situationen. Eines der letzten Gedichte des Bandes, titellos wie alle des Bandes, schildert eine Begegnung mit der alten Mutter; und doch, wie anders ist es als Eugenie von Sodens liebevolle Widmung an ihre Mutter! 

Die gefürchteten Blicke der Mütter.
Die Blicke, die darum flehen
gestreichelt zu werden.
Geküsst! Auf den Mund!
Essenreste kleben an den trockenen
rissigen Lippen.
Dieses verzweifelte Liebesgebettelgeblick.
Dieser leere Blick
in eine vergessene, dennoch spürbare
Angst.    

Lieber Himmel.
Mein Gott! Mein Gott!
Wie verlassen. Warum.   

Es gibt nicht viele moderne Gedichte, die sich in eine Pflegestation wagen; es gibt noch weniger, die es wagen, diese Erfahrung in einen großen, metaphysischen Zusammenhang zu stellen: "Mein Gott! warum hast du mich verlassen?" Gott jedoch ist abwesend in dieser Abendlandnovelle; er wird sozusagen entschuldigt, und ich muss die folgenden Zeilen natürlich zitieren, um nun ein wenig, in Kreisen, zum Anfang dieses Vortrags zurückzukehren ("Am Ende. Kein Anfang" heißt es aber bei Friederike Roth): 

Vielleicht will der HERR
doch nur ein Buch machen, das für die Meisten wäre
und wofür mir jeder Buchhändler gerne
eine beträchtliche Summe baar bezahlen würde
wie vor rund zweieinhalbhundert Jahren
der gute alte Ch.M. Wieland
ein Buch, das der HERR
zwar immer lesen wollte
es aber leider dann doch
niemals tat.      

VI.  Kein Ende. Am Anfang

Damit sind wir am Ende unserer Porträtgalerie angelangt. Wir haben verschiedene Räume durchlaufen, verschiedene Dichterinnen-Persönlichkeiten kennengelernt, verschiedene weibliche Stimmen gehört. Anstelle einer ordentlichen akademischen Zusammenfassung würde ich jedoch gern das Schlusswort noch einmal Friederike Roth erteilen. In ihrem Gedichtband Schattige Gärten aus dem Jahr 1987 findet sich ein Gedicht mit dem Titel Mimosen, das man – ob es Roth so gemeint hat, sei im Übrigen dahingestellt – als eine Art Beschreibung weiblichen Schreibens lesen kann, seiner besonderen Verletzlichkeit und Offenheit für alles Geschehen ebenso wie seiner besonderen, natürlichen Produktivität wegen: 

Mimosen, schau!
Schon breche ich aus ins Ach
Bin ich wach? oder was
hab ich denn immer gelesen, gehört
von der Mimosenhaftigkeit.
Mich stört
dieses fast selbstbewußt kräftige Gelb.    

Eine Frau
die scheinbar nie etwas anficht
die gelegentlich doch in Tränen ausbricht
erklärt mir ruhig lächelnd dann:
Der Mimosenbaum sei wie ein Schwamm. 

Nicht daß die Blätter bei Berührung zucken
Nicht daß die gelben Blütenstände
sonnenlos
sich ducken
sei das Mimosenhafte der Mimose.    

Wenn es aber tagelang regnet
beugt
vollgesogen von
sagen wir ruhig statt Regen
den Wassern des Himmels
schwer und schwerer geworden
der Mimosenbaum
sich der Erde entgegen
und reißt
mit mimosenhaft müdschwerer Kraft      

die eigenen Wurzeln sich aus dem Saft. 

 

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