ICH BIN, ALSO DENKE ICH!
Denkgeschichten
mit Gedankensprüngen, Denkbildern,
moralisch-polemischen Essays
und Argumenten-Evaluationen,
einigen Geistergesprächen und Parabeln
von Serena Heiter
Inhalt
STATT EINER EINLEITUNG
Ausgedacht. Archetypen des Denkers
A. HISTORISCHER TEIL
I. Leuchttürme
Sokrates und der Todesbeweis * Rousseau, der Paradoxenmacher * Kant, oder: Kopernikus in Königsberg * Friedrich Nietzsche und der ewige Mittag
II. Geister-Gespräche
Marx, Heidegger und Rilke treffen sich mit Hartmut Rosa im Weltinnenraum und schwingen sich ein wenig ein, oder: ein Resonanzbericht * Philosophieflüstereien, oder: Sanfte Disruptionen * Athene yawned. Philosophen-Quartett, weiblich * Walter Benjamins ‚Kritik der Gewalt‘, oder: Wie Wesentliches über Gewalt nicht gesagt wird * Singzikaden, oder: Mein day of the locust
III. Mission Minutiae, oder: Denkanstösse
B. POETISCHER TEIL: DENKBILDER
Ins Unreine gesprochen + Sprechklausel * Rede-Wendungen * Mit anderen Worten * Alles oder Nichts? * Gender-Wordstreaming * Ironie-Signale * Vorsicht Wortspiel! * Ideen-Sex * Denkversuche * Sym-Biose * Der Körper denkt * Exzellenzinitiative. Vom Abstieg einer Floskel * Train of thought * Tabula rasa * Kleider machen Leute * Teatro mundi * Hermeneutik als gutwillige Wissenschaft betrachtet * Will man mich verstehen * ICH
C. ANALYTISCHER TEIL. Gedankensprünge, oder: Erlebtes Denken
Vom Wert des kleinen Gedankens * Eingeborene * Die Ordnung mentaler Kleiderschränke * Das Gehirn braucht Bewegung * Gehirnoszillationen * Die Falten des Gehirns * What’s in a shoe * Handtaschen * Pubertätsverweigerung * Wahre Geschichten * Ein Lob auf Wikipedia, oder: Wie man findet, was man nie gesucht hat * Im Bergwerk des Geistes (Vorsicht, ausgebaute Metapher!) * Beschreibungssprachen * Das kleine Wörtchen „Mithin“, oder: philosophy in a nutshell * Highly Sensitive Persons, Clusters und der Unterschied zwischen einer HSP- und einer HUI-Philosophie * Shiri‘s scissor oder: An den Wurzeln der Moral zu sägen * Die Wonnen des Warum * Zielkonflikte * Paradoxenmacher, oder: Das Verschwinden der Widerspruchstoleranz * Als-ob, oder: Bilderblitze * Die normative Kraft des Faktischen * Die Freuden des Urteils * Von hinten gesehen * Fürwahrhalten * Der Sprung ins Urteil * Über Geschmack muss man streiten! * Menschliche Naturgewalten
D. POLEMISCHER TEIL
I. Argumenten-Evaluationen
Wert-Schätzungen. Gehässige Meditationen über missbrauchte Wörter * Kaufprämien * Opfer * Die Abholgesellschaft * Auf Augenhöhe herabgelassen * Gut aufgestellt oder gut aufgelegt? * In der Tiefe, oder: deep * Saubere Worte, oder: Serendipity * Superlative der Negativität * Gelegentlich. Wirklich! * Kriege, evaluiert * Rebooten * Die letzte Bastion * Unqualifizierte Gedanken
II. Rehabilitationen
Lob des Klaubens * Der arme Oberlehrer, oder: Von der Last, Recht zu haben * "Das wird man doch noch sagen dürfen!“ Die Meinungsfreiheit der Anderen * Die Notwendigkeit von Neiddebatten * Das ist aber populistisch! * Wer die Pfeife bläst * Rettet die Sekundärtugenden!
E. POPULARPHILOSOPHISCHER TEIL
Philosophie als Fenster zur Welt * Zarathustra in der Wellness-Oase * Marke und Metaphysik – Neue und alte Hinterwelten * Verwandlungen, Bekehrungen, Erwachen: der Sprung ins Leben * Und jedem Ende wohnt ein Zauber inne – vom guten Geist des Endes und des Anfangs
F. ALLEGORISCHER TEIL
I. Göttergeschichten
Hermes' kleine Sinnwerkstatt * Kassandra und die Wunschmaschine * Hephaistos hinkte * Sisyphos als Autor
II. Parabeln aus der Frühzeit der Menschheitsgeschichte
Die Parabel vom Kaffee- und Teeladen * Die Parabel vom Schuhmacher * Die Parabel vom Gärtner
G. DIDAKTISCHER TEIL
Das Projekt Pädagogische Provinz. Bericht für eine Anstalt
CODA
Kumulative Sündenfälle * Wer ist schuld? Zwölf Kandidaten für das blame game * Der Rückweg ins Paradies – eine nachgetragene Parabel
vollständiger und aktualisierter Text:
Leseproben
Es gehört zur besonderen Ironie der philosophia, dass ausgerechnet der Mann, der mehr für die Erziehung der Jugend getan hatte als jemals einer vor ihm oder jemals einer nach ihm in all den kommenden Jahrhunderten, ausgerechnet wegen der Verführung der Jugend zum Atheismus zum Tode verurteilt wurde (aber natürlich war das nur ein Vorwand; er wurde verurteilt, weil er die Jugend zum Denken verführt hatte, und das kann kein Staat dulden, noch nicht einmal eine Demokratie). Und Sokrates, so überliefern es seine Anhänger jedenfalls, nahm das Urteil an, obwohl er selbst seine lebenslange Speisung durch die Stadt Athen für gerechter gehalten hätte. Und er schickte seine weinende Frau und die Kinder nach Hause, er schlug die Fluchtpläne seiner Schüler in den Wind, und dann trank er wahrscheinlich noch einige kleine Becher Wein, bevor er den Schierlingsbecher leerte. Denn die philosophia ist die wahre Himmelsmacht und die einzige Göttin, und wer nur von ihr redet, aber ihr in seinem Handeln nicht folgen kann bis in den Tod, der hat sie nicht verstanden. Sokrates‘ Tod war kein Opfer, es war sein letzter und stärkster Beweis, und er führte ihn bis zum Grunde durch.
ROUSSEAU, DER PARADOXENMACHER
Sie nannten ihn Paradoxenmacher. Das war natürlich abwertend gemeint, es bedeutete: Dieser wirre Kopf versteht noch nicht mal sich selbst; all seine kruden Theorien, über den edlen Wilden, über die Rückkehr zur Natur, über das Eigentum als Quelle allen Übels im Zusammenleben der Menschen, das ist doch nur in der Einsamkeit – und was ist schon jemals gutes aus der Einsamkeit gekommen, nur der Böse ist einsam! – zusammengesponnenes Zeug, um sich wichtig zu machen, um sich an seinen ehemaligen Pariser Freunden zu rächen, um die Frauen zu beeindrucken, um die Philosophen zu kränken. Sprang sie einem nicht geradezu in die Augen, diese fatale Paradoxenmacherei, in seinem Leben: Predigt das völlig weltferne Ideal einer sog. ‚natürlichen Erziehung‘ und gibt seine Kinder ins Findelhaus, eines nach dem anderen, und rechtfertigt sich dafür sogar noch! Predigt die vollkommene Liebe, die reine platonische Seelenfreundschaft, unabhängig von gesellschaftlichem Stand und Konvention und Sitte – und unterhält ein Verhältnis mit einer Wäscherin, wenn er sich nicht gerade von einer seiner adligen Gönnerinnen aushalten lässt! Und preist er nicht am Ende, in seinen skandalösen Memoiren, die er sehr zu Recht „Bekenntnisse“ nennt, denn sie bekennen alle möglichen Missetaten, Diebstahl, Lüge, abwegige sexuelle Phantasien, Betrug – preist er nicht, ausgerechnet, seine absolute Redlichkeit: Er, Rousseau, werde in diesem Buch etwas vorlegen, was die Welt noch nie gesehen habe; er werde einen Menschen zeigen in seiner ganzen Wahrheit, so wie die Natur ihn geschaffen habe, er werde nichts verschweigen, nichts verschönern, nicht auslassen – und dieser Mensch werde er selbst sein. Und niemand, der seine eigenen Taten und Worte, seine verdeckten und seine öffentlichen, mit der gleichen Wahrhaftigkeit prüfen würde, wie er, Rousseau, werde es dann noch im Angesicht Gottes wagen zu sagen: Ich war besser als dieser Mensch!
Nun, das war alles tatsächlich reichlich paradox; aber vielleicht ist ja die Wahrheit, zumindest die menschliche, wenn man ihr einmal unter den Schleier schaut, genau so: schockierend und erhebend, beschämend und großartig, mal dies, mal jenes, und noch viel häufiger beides zusammen und durcheinander? Rousseau hätte sich ja auch durchaus verteidigen können, er hätte an unser allzu menschliches Mitleid appellieren und sich selbst als missbrauchte, verlorene Seele darstellen können. Er war krank, von Jugend an; er litt an einer Missbildung der Harndrüse, und die Not und die Peinlichkeit, die damit verbunden waren, waren nicht eingebildet, sondern sehr real. Seine Mutter starb bei seiner Geburt. Sein Vater, ein gebildeter Uhrmacher, kümmerte sich zwar vorbildlich um ihn und machte ihn zu einem begeisterten und unermüdlichen Leser, er musste jedoch eines Ehrenhändels wegen aus Genf fliehen und ließ seinen Sohn bei einem Pfarrer in der Obhut. Der junge Rousseau wurde geschlagen und misshandelt, wahrscheinlich seelisch und körperlich und wiederholt. Er wurde herumgereicht, nirgends ging es ihm besser, bis er schließlich das tat, was er sein ganzes Leben lang immer wieder tun wird: Er ergreift die Flucht. Er durchlebt Abenteuer, aus denen man einen eigenen Roman machen könnte, er fällt auf Betrüger herein und wird selbst einer, er konvertiert zum Katholizismus (und später wieder zurück), er wird Bestandteil einer seltsamen ménage à trois bei einer Adligen, die er als „maman“ verehrt, und die Seltsamkeiten hören und hören nicht auf. Trotz alledem findet er Zeit, an seiner Bildung zu arbeiten: Er ist musikalisch begabt und erfindet ein neues Notensystem; und er bewirbt sich mehr oder weniger zufällig bei einer Preisaufgabe der berühmten Akademie in Dijon und wird mit einem Schlag berühmt, in ganz Europa. „Hat die Wiederherstellung der Wissenschaft und Künste dazu beigetragen, die Sitten zu verbessern?“, hatte die ehrwürdige Akademie gefragt – und dabei wahrscheinlich auf Antworten gerechnet, die das enthusiastisch bejahen würden: Schließlich hatte man endlich, endlich die Antike mit ihrer ganzen lästigen Vorbildlichkeit überwunden, man war modern, man hatte ganz neue Wissenschaften und ganz neue Künste entdeckt – und war nicht die Aufklärung auf dem besten Wege, die Moral neu zu begründen, ganz ohne die Rückendeckung der Kirche, und ihr Licht bis in die letzten Winkel zu verbreiten, auf dass noch der letzte kleine Uhr- oder Schuhmacher von ihr erleuchtet und fortan moralisch und glückselig in gleichem Maße werden würde? Aber das, so antwortete Rousseau, stimmte doch gar nicht, oh wie sehr es nicht stimmte! Nein, frei war der Mensch nur so, wie ihn die Natur geschaffen hatte, als freien Wilden, der allein seiner Selbstliebe folgte – und das war ganz recht so, denn ohne Selbstliebe würde niemand überleben, ob Tier oder Mensch. Das war jenseits von Gut und Böse, es war mehr als Gute und Böse, es war die Wahrheit der Natur. Aber sobald die Menschen damit begannen, sich zu Gemeinschaften zusammenzuschließen – was irgendwann nicht mehr zu vermeiden war, die kulturelle Evolution hatte einfach zu große Vorteile im ewigen Überlebenskampf –, entsprangen die eigentlichen apokalyptischen Reiter der Zivilisation: Vergleich und daraus resultierender Neid; Eigentum und daraus resultierende Ungleichheit. An die Stelle der natürlichen Selbstliebe trat ihre degenerierte Zwillingsschwester, die Eigenliebe, und von da an ging es bergab mit den Menschen, so sehr sie auch meinten, sich in einem immerwährenden Aufstieg zu befinden.
Immerhin, der Gedanke war neu und originell, und die Akademie hatte genug Größe, dafür einen Preis zu geben. Vielleicht wäre es aber besser gewesen, wenn Rousseau ihn nicht bekommen hätte, auch wenn das wieder einmal paradox klingt; denn die Berühmtheit bekam ihm nicht. Sofort begann er sich zu streiten, mit den etablierten Philosophen, den großen Pariser Enzyklopädisten, seinen ehemaligen besten Freunden – das Theater sei eine moralische Anstalt? Oh nein, das Gegenteil sei der Fall, unsittlich sei es und gefährlich. Natürlich hatte er selbst kurz zuvor sogar eine Oper geschrieben, sie war ein Erfolg, und es war ein Paradox mehr. Weiterhin gab er seine Kinder, trotz seiner wirtschaftlich deutlich gebesserten Situation, ins Findelhaus; in seinem Erziehungsroman Emile aber imaginierte er einen Erzieher, der geradezu symbiotisch mit seinem Zögling verschmilzt und alles tut, um ihn vor den verderblichen Wirkungen der Zivilisation zu beschützen. ‚Negative Erziehung‘ nannte er das, und meinte: Man solle der Natur möglichst wenig im Weg stehen, auch bei der Erziehung nicht. Die Zeitgenossen spöttelten bereits über seinen vermeintlichen Kampfruf ‚Zurück zur Natur!‘, der bis heute wie ein schlechtsitzendes Etikett an ihm kleben geblieben ist: Nein, Rousseau meinte nicht, der Mensch sollte, wie ihm Voltaire vorwarf, zurück in die Wälder gehen und auf allen Vieren kriechen und sich von Eicheln ernähren, wie die Schweine. Aber er sollte wenigstens versuchen, sich möglichst weitgehend von den schädlichen Einflüssen der Gesellschaft, ihren Künsten der Verstellung und des schönen Scheins, ihrem Prahl- und Imponiergehabe fernzuhalten, es korrumpiere nicht nur die Sitten, sondern letztlich auch den Staat. Denn dieser gründe, so beschrieb es Rousseau nun in seinem contrat social, der später für die Französische Revolution mit verantwortlich gemacht wurde, auf dem gemeinsamen Willen aller, die sich zu einem Vertrag zusammengeschlossen hätte und freiwillig ihre natürlichen Rechte einschränkten, um sie so zu stärken: Alle Macht solle künftighin vom Volk ausgehen – aber von einem Volk vernünftiger und aufgeklärter Individuen, die selbstbewusst ihren natürlichen Rechten entsagten, ohne sie jemals ganz zu vergessen, und dafür Pflichten auf sich nahmen. Das war ausnahmsweise nicht besonders paradox, aber dafür leider, wie schon bald die historische Erfahrung zeigte, vollständig unrealistisch, von geradezu platonisch inspirierter Naivität; und vielleicht war es das gerade deshalb, weil es einmal nicht paradox war.
Rousseau aber blieb sich treu und ging zurück in die Wälder. Nach einer Odyssee durch die Güter des französischen Hochadels und einer panischen Flucht nach dem Verbot des Gesellschaftsvertrags durch die Zensur, die ihn sogar nach England führte, fand er zwischendurch für kurze Zeit seinen Frieden auf einer Insel im Bieler See. Er kleidete sich als Armenier, in einem langen schlafrockartigen Gewand, das durch eine imposante Pelzmütze gekrönt wurde, streifte durch die Wälder, botanisierte und klöppelte; bis sie (das Volk, das unzivilisierte) kamen und Steine nach ihm warfen jedenfalls. Danach war die Ausweisung nur noch eine Frage der Zeit. Rousseau schrieb weiter, und jetzt schrieb er nicht mehr über Philosophie oder Politik oder Musik, er schrieb seine Autobiographie, die lang erwarteten Bekenntnisse, in denen es heißt: Ich bin nicht gemacht wie irgendeiner von denen, die leben. Ich bin der erste Mensch, der seine ganze Natur zeigt, der den Schleier hebt und zeigt, wie unter dem von der Gesellschaft und von der Erziehung, von den Eltern und von den Erziehern, von den Autoritäten und den Freunden verformten Maske, der natürliche Mensch aussieht, der kein edler Wilder mehr ist, oh nein! Eines jedoch ist mir geblieben, und ich halte es heilig: Es ist die Wahrheit. Vitam impondere vero – ich habe mein Leben der Wahrheit geweiht, es ist meine eigene Wahrheit, und keiner kann sie mir nehmen. Und ist sie nicht das Einzige, was wir bewahren können, in dieser Welt der Täuschung und des Betrugs, in der wir von anderen genauso verraten werden wie von unserer eigenen fatalen Eigenliebe? Kann man also nicht der wahrste Mensch sein, und gleichzeitig der verworfenste – und damit eben nicht mehr der verworfenste, weil der allerverworfenste doch derjenige wäre, der noch nicht einmal seine eigene Verworfenheit anerkennte und offenlegte? Sind meine Paradoxien als schwacher Mensch nicht aufschlussreicher, wichtiger und belehrender als die große Philosophie mit ihrer künstlich erzwungenen Eindeutigkeit und ihrem logischen Hochmut?
Rousseau, der Paradoxenmacher, starb im Frieden mit sich und der Welt, nachdem er seine Bekenntnisse abgelegt hatte. Es ist überliefert, dass er vor seinem Tod noch in den Park hineinsah, in zwar künstlich-gebändigte, aber immerhin doch ein wenig Natur gebliebene Natur, und mehr konnte man nicht erwarten im Zeitalter der Zivilisation, und er war es zufrieden. Dass man seine sterblichen Überreste sechszehn Jahre nach seinem Tod, der terreur in Paris stand in der schönsten Blüte, ausgrub und ins Nationalheiligtum, das Panthéon nach Paris, überführte – vielleicht hätte er das Paradox geschätzt, das ihn am Ende zu einem Nachbarn Voltaires werden ließ, der so höhnisch die Nase über seinen Wilden gerümpft hatte. Aber es ist wahrscheinlicher, dass er lieber auf seiner Insel geblieben wäre, wo die Natur das Grab erobern kann und die Schmetterlinge in voller Freiheit über seine unsterbliche Seele flattern.
Natürlich hat die Geschichte eine Witzfigur aus ihm gemacht, wie noch aus jedem wirklich großen Mann. Man sieht ihn förmlich vor sich, den sorgfältig frisierten und etwas geckenhaft gekleideten, auf den Porträts langsam vor sich hin alternden Mann, wie ihn morgens sein Diener weckt, Lampe heißt er, pünktlich um 4.45 Uhr; wie er seinen Tagesplan pünktlich absolviert, jeden Tag genauso, wie er seine Spaziergänge unternimmt, nach denen die Königsberger angeblich ihre Uhr gestellt haben sollen. Zwischendurch aber, wenn er nicht an seinen monumentalen Werken arbeitet, darf er ein wenig Mensch sein: darf Gäste empfangen zu einem ausgiebigen Mittagtisch, plaudern und sie mit Anekdoten unterhalten. Allerdings soll er nie selbst gelacht haben über seine Anekdoten, und das kennzeichnet ihn vielleicht besser als all die anderen Legenden und Mythen, die sich längst verselbständigt haben: Er hatte Pflichten als Gastgeber, die Gäste mussten unterhalten werden, und war das nicht ein Fall für den Kategorischen Imperativ? Wollte man nicht selbst gut unterhalten sein, wenn man seine Freunde aufsuchte und das Mittagessen sich wieder einmal in die Länge zog? Der Erfolg dieses Unternehmens jedoch lag außerhalb dessen, was noch der Moralischste in seinem Pflichteifer leisten konnte; und niemand konnte einen verpflichten, die eigenen Scherze komisch zu finden! Dann aber kehrte man zurück in sein Studierzimmer, während Lampe vielleicht abräumte, und man revolutionierte die Philosophie, so wie damals Nikolaus Kopernikus, ein anderer Ostpreuße, der die Weltsicht seiner Zeitgenossen auf den Kopf gestellt hatte. So wie sich nämlich die Erde um die Sonne drehte, und nicht etwa umgekehrt, so waren es nicht die Dinge, die unser Verstand erkannte; es war vielmehr ganz umgekehrt, der Verstand gab den Dingen ihre Erscheinungsweise, und immer nur spiegelte der Verstand selbst sich in der Welt; die Welt aber war unberührbar, rein, ein Ding an sich, von dem der Mensch nichts wissen konnte. Um das jedoch zu zeigen, musste Kant Königsberg nicht verlassen, und er hat es auch nie getan: Rufe ergingen an ihn, ruhmvolle, an große Universitäten, er lehnte sie ab und blieb mit Lampe in Königsberg. Er wurde zum Mitglied der berühmtesten Akademien ernannt und blieb in Königsberg. Er wurde von der Zensur verfolgt und blieb in Königsberg. Seine Lehre verbreitete sich nach gewissen Anlaufschwierigkeiten geradezu rasend, man war Kantianer oder man war nichts mehr in der Philosophie; er hatte Jünger und Gegner, mit beiden korrespondierte er – und blieb in Königsberg.
Dort jedoch, in Königsberg, baute er immer weiter an seinem Werk, und das ist ein Bild, das er selbst immer wieder benutzt hat: Er errichtete einen architektonisch wohlgegliederten philosophischen Palast, mit endlich gesicherten und soliden Fundamenten, seinen drei Kritiken nämlich. Denn wäre er nicht selbst beinahe, als junger Mensch, den Verführungen eines haltlosen Skeptizismus anheimgefallen, nachdem er David Hume gelesen und verstanden hatte? Hatte der Schotte nicht demonstriert, dass all unsere Erkenntnis auf Wahrnehmung und Beobachtung beruht, und dass man niemals, kategorisch: niemals, auf dieser Basis eine strenge Beziehung zwischen Ursache und Wirkung, genannt Kausalität, herstellen könne? Denn woher sollte man wissen, ob ein oft beobachteter Wirkungszusammenhang nicht doch nur eine Häufung von Zufällen, eine zeitliche Gleichzeitigkeit war, oder ob die Beobachtung mangelhaft war? Kausalität jedoch war nicht irgendetwas; Kausalität, die eindeutige Beziehung von Ursache und Wirkung, war die Basis der Philosophie seit der Antike, und ohne sie würde der ganze Bau der Metaphysik in sich zusammenbrechen, das Denken hätte keine Gesetze, mehr und Anarchie wäre die Folge.
Das konnte und das durfte nicht sein, fand Kant. Und er machte sich an die Arbeit, indem er ein neues Fundament suchte, es sollte die Zeit überstehen und ein- für allemal zeigen, dass Philosophie als ernsthafte Wissenschaft möglich sei! Und so entwarf Kant seine Kritiken (in denen nicht gemäkelt, sondern Aufbauleistung erbracht wird!). Er arbeitete eine Architektonik aus, indem er einen Stein auf den anderen setzte und jeden auf seine Tragfähigkeit prüfte, und dann noch einmal prüfte, und wenn er nicht tragfähig war, weil er in Antinomien, Paralogien und andere Sackgassen führte, verwarf er ihn und suchte einen neuen. Er erfand dabei eine neue Sprache, es war notwendig, weil er sonst all die alten Missverständnisse mit eingebaut hätte, und sie hätten das Fundament unnötig geschwächt. Der Bau wuchs und wuchs, er war nicht schön, aber wohlgegliedert; er hatte viele Verstrebungen zwischen den einzelnen Teilen, die sich gegenseitig stützten, er war unglaublich kompliziert konstruiert, ganze Generationen von Nachfolgern sollten sich in ihm verlaufen; aber er war, im Großen und Ganzen, folgerichtig, und schließlich hatte keiner behauptet, Philosophie sei etwas, was das Denken leicht machte, im Gegenteil: Aber er machte es durchsichtig.
Aber noch nicht einmal darum ging es ihm in erster Linie, wenn auch ganz bestimmt in zweiter. Denn Kant war nicht nur ein guter Aufklärer, der mit dem sapere aude! – wage zu denken, und zwar selbst und ohne Autoritäten und ohne Risiko-Lebensversicherung – der Aufklärung ihr Motto gegeben hatte. Er war zudem ein religiöser Mensch, wenn auch nicht im kirchlichen Sinne; er glaubte an die Vernünftigkeit der Welt, an ihre zweckmäßige Konstruktion, an einen großen übergeordneten logos, ob er nun Gott oder wie auch immer hieße; und nichts wäre schlimmer für ihn gewesen, als mit dem Beweis, dass wir die Welt niemals an sich selbst erkennen würden, auch Gott abzuschaffen. Aber leider wurden, als er sich der Spitze seines Palastes näherte, einige Tricks nötig, kleine kopernikanische Wenden sozusagen. So führte die Kritik der reinen Vernunft notwendig, über viele Stufen und verschlungene Wege, leider zu der Schlussfolgerung, dass eine spekulative Erkenntnis allein mit Mitteln der reinen Vernunft unmöglich, mithin kategorisch: unmöglich sei. Mit ihr konnte man nicht Gott beweisen, nicht die Unsterblichkeit der Seele, ohne die doch alles Leben in dieser Welt des Scheins und der Täuschung sinnlos war; nicht die Freiheit des menschlichen Willens, das, was den Menschen aus der Masse der Schöpfung hervorhob, ihn einzigartig, der Erlösung würdig machte, weil er ein Bürger zweier Reiche war, nicht nur der unfreien Natur, sondern auch des freien Geistes. Aber leider, leider würde man das alles niemals mittels spekulativer Philosophie beweisen können, und das wenigstens war nun völlig gesichert.
Aber könnte man nicht vielleicht – und jetzt kommt der kleine Salto – könnte, nein, müsste man nicht die Ideen der Vernunft als ‚regulative Prinzipien‘ benützen? Man musste dafür nur ein kleines, unschuldiges ‚als ob‘ einsetzen. Es würde also niemals erweisbar sein, dass Gott die Welt vernünftig erschaffen hatte und den freien Menschen mit seiner unsterblichen Seele in ihr; aber unser Denken tut zwingend so, als ob dies alles der Fall wäre. Denn ohne diese Annahme würde alles Denken keinen Sinn machen. Alle drei Prinzipien waren, wie er es dann in der Kritik der praktischen Vernunft nennen würde, ‚Postulate‘: unbedingte Forderungen, die sich absolut zwingend daraus ergeben, dass es eine intelligible Welt, eine Welt des Geistes, eine Welt der Vernunft, eine Welt der Zwecke gab, die kategorisch und denk-notwendig unterschieden war von der Welt der Natur, der Empirie, der Sinnlichkeit und Täuschung. Denn wenn es sie nicht gab – dann war sowieso alles vergebens, dann würde es keine Philosophie mehr geben und keine Hoffnung. Der Bau der kritischen Vernunft würde zerfallen, wie noch alle Systeme vor ihm. Und als der Palast der Kritiken fertig war, als die Konstruktion stand, war Kant nicht etwa zufrieden, nein, er schrieb vielmehr unermüdlich weiter: Denn nun konnte er daran gehen, die Räume zu beziehen, sie auszustatten mit Inhalten, mit Rechts- und Religionsphilosophie, mit Anthropologie und Geschichtsphilosophie, mit dem, was er in einer eigentlich in ihrer Paradoxie originellen Formel die Metaphysik der Sitten nannte. All das aber hat die Philosophiegeschichte, die ihn schon zu Lebzeiten in ihr Pantheon erhob, nicht so sehr interessiert: Berühmt wird man als Baumeister, nicht als Innenausstatter.
Mit 84 Jahren, gut zwanzig Jahre nach seiner ersten Kritik, starb Kant in Königsberg, wo sonst, wahrscheinlich an Altersschwäche; er war schon seit längerem kränklich gewesen und hatte seine tägliche Routine aufgegeben, auch seine geistigen Fähigkeiten verließen ihn nach und nach. Seine letzten Worte sollen gewesen sein: Es ist gut so (ein letztes Postulat angesichts der letzten Notwendigkeit: dem Tod). Die Gedenktafel, die die Stadt Königsberg wenig später für ihren berühmtesten Sohn anbrachte, zitiert diejenigen Worte, die auch all die verstehen konnten, die sich in Kants philosophischen Palästen verlaufen hatten oder gleich an der Pforte wieder verschreckt umdrehten: Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Sie gehen ein wenig ans Herz, zumindest was den Blick in die Sterne betrifft, während die Berufung auf das moralische Gesetz wohl heute in den meisten allenfalls ein Gefühl der Leere hervorruft; Kant halt. Man versteht Kant aber nur wirklich, wenn man diese beiden Gefühle versteht. Denn beide bezeugen sich bei Kant gegenseitig, das unendliche Universum und das ewige moralische Gesetz, und mit dem einen fällt das andere. Und natürlich kann man Moralität auch ohne Vernunft denken, ohne einen Weltenschöpfer, ohne einen bis heute immer noch nicht recht nachweisbaren freien Willen und ohne die Aussicht auf Unsterblichkeit; aber es ist gefährlicher (und man bleibt damit nicht in Königsberg).
Unsterblich sollte er werden mit dem Satz, das Gott tot sei. Dabei war das nun wirklich nicht sonderlich neu; längst hatte sich der Glauben aus der Welt sehr vieler Menschen verabschiedet, und die neuen Götter hießen ‚Wissenschaft‘ oder ‚Technik‘ oder ‚Krieg‘ oder, der größte von ihnen allen, ‚Geld‘. Aber das war wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass ausgerechnet dieser Satz an ihm hängen blieb: Die meisten seiner anderen Sätze, die wirklich neu und revolutionär waren, waren viel zu schlimm zu denken, und sie hätten noch viel weitreichendere Konsequenzen gehabt, wenn man sie ernst genommen hätte. Denn hatte Nietzsche nicht auch die Moral für tot erklärt, die religiös unverdächtige Schwester der in Verruf geratenen Religionen? „Jenseits von Gute und Böse“ erst finde das eigentliche Leben statt, so hatte er geschrieben; Moral sei für Schwächlinge, sie sei, wie auch das Christentum, Ressentiment – ein schwieriges Wort, so sperrig wie der Gedanke, den es transportiert: Es drückt das unangenehm-peinlich Gefühl von Zu-Kurz-Gekommenheit aus, dass nun in Rache an den Besserverdienenden, Besserdenkenden, Besserhabenden, Besserkönnenden umschlägt, indem es die eigene Schwäche verherrlicht, die ererbte Unfähigkeit übertüncht, die menschlichen Mängel zu Vorzügen erklärt; und der Heiland der christlichen Religion, der Sohn eines soeben für tot erklärten Vaters, ist nur derjenige, der diese neue Sklavenmoral am erfolgreichsten propagierte. In Zeiten politischer Korrektheit hätte Nietzsche nicht fünf Minuten überlebt, obwohl er wahrscheinlich ein begabter Twitterer gewesen wäre: Die kurze Form war seine Stärke, er schrieb keine gelehrten Abhandlungen oder dicken Bücher, noch nicht mal in seiner Frühzeit als hochbegabter Wunderkind-Altphilologe. Schon damals, als er noch Förderer und Freunde hatte, war er entschieden eigensinnig und unversöhnlich; er verehrte seine großen Vorbilder wie Helden – Schopenhauer gehörte dazu und Richard Wagner – und dann verachtete er sie, zutiefst. Der Ausgleich war seine Sache nicht, sondern das Extrem, die Zuspitzung des Gedankens in der auf tödlichen Hochglanz polierten Form seiner Sätze und Absätze, die keinerlei Rücksicht nahmen, auf niemand, sondern in ihrem erbarmungslosen Glanz ebenso erschreckten wie faszinierten. Nahm er dann Rücksicht auf sich selbst? Nein, er hat seine Freundschaften dem Werk und den riesenhaften Fortschritten seiner Erkenntnis geopfert, wenn sie nicht mehr mithalten konnten oder wollen. Er hat nur einmal um eine starke Frau gefreit, sie hat ihn abgelehnt, und fortan verachtete er die Frauen; schwache Wesen, auch sie. Seine Familie, die ihn später, als er endgültig verrückt geworden war, pflegte und unterstützte – sie war ein Quell des Zornes und der Peinlichkeit. Sogar die Wissenschaft hatte er geopfert, weil sie sich vom Leben verabschiedet hatte; er macht Sokrates dafür verantwortlich und seine fatale Fixierung auf das Wissenwollen, wo es doch nun wirklich Wichtigeres gab: Lebenwollen zum Beispiel; später wird er es ‚Wille zur Macht‘ nennen. Aber bevor er seinen Abschied aus der Wissenschaft nahm, malte er ein ganz neues Bild der griechischen Antike, die er so intensiv studiert hatte wie kaum jemand zuvor: Es war ein zwiespältiges Bild, eine Maske mit zwei Seiten, eine lachenden und einer weinenden; denn zwischen Apollo, dem jugendlichen Gott der Schönheit und des Lichts und des wachen Traumes, und seinem Widersacher Dionysos, dem bocksbeinigen Gott der Ekstase und des Rausches, fand ein ewiger Kampf statt. Und der Mensch war dabei nicht etwa ein unbeteiligter Zuschauer, sondern in ihm selbst tobte dieser Konflikt, mit Apollo wollte er erkennen, wollte er unterscheiden, wollte Individuum sein, unverwechselbar und einzigartig, und ewig leben; und mit Dionysos wollte er alle Unterschiede und sich selbst vergessen, wollte Eins werden in einem großen Rausch und vergehen, immer wieder lustvoll vergehen.
Heute würden all die Hobby-Psychologen wohl sagen, dass Nietzsche an diesem Konflikt zugrunde ging; aber Nietzsche war kein Freund der Psychologen, dieser Alles-Erklärer und -Versteher, obwohl er selbst einer der größten und erbarmungslosesten war. Zwei Dinge hingegen liebte er wirklich und grenzenlos, sie allein schienen seiner immer noch weiter wachsenden Zerstörungskraft gewachsen, mit der er weiter einschlug auf die unterschiedlichen Scheinwelten, in denen sich die Menschheit wohnlich eingerichtet hatte, um dem dionysischen Grauen des Lebens nicht mehr ungeschützt ins Auge sehen zu müssen: Das Hochgebirge, wo er auf endlosen Spaziergängen sein Werk heraufbeschwor; im Gehen, nur so konnte man denken, was bildeten sich all diese Stubenphilosophen eigentlich ein auf ihre künstlichen Konstrukte aus Stubenluft? Und das zweite war das Meer, das endlose, mal spiegelglatte, mal aufgewühlte Meer, der einzige Ort, wo er sich der Unendlichkeit Aug in Auge gegenübersah. Es war der endlose Mittag der Erkenntnis, wo eine glühende Sonne schonungslos alles erhellte, und wo der Philosoph auf die härteste Probe gestellt wurde: Was bleibt im Angesicht der Unendlichkeit des Meers, des Weltraums, der Sterne, was in der unendlichen Wiederholung der Weltzeit, der immerwährenden Wiederkehr des Gleichen? Und Nietzsche kam, nachdem er alles zerstört hatte, woran er sich selbst hätte halten können, auf die verwegenste Lösung von allen: Nur dasjenige Leben sei es wert gelebt zu werden, dass auch noch zu dieser ewigen Wiederholung des Immergleichen in jedem Moment ja, ja, ja! sagen konnte. Es war nun nicht etwa so, dass Nietzsche ein Hedonist war, im Gegenteil: Er hatte lebenslang schwere Krankheiten, physische und psychische, erlitten; er war nicht etwa reich, er lebte nicht im Luxus, der einzige Luxus, den er sich gönnte, waren eben das Hochgebirge und das Meer. An ihnen konnte man wachsen, nicht an dem, was Stubenphilosophen auf akademisch gepolsterten Lehrstühlen absonderten. Und so rang Nietzsche mit dem Leben, so erfand er den Übermenschen: nicht die simple blonde Bestie, die die Nazis aus ihm machten, sondern ein freier Mensch, der tanzen konnte, oh, wie Zarathustra tanzen konnte! Und er machte Gedichte und sang, er lebte mit den freien Tieren in der freien Natur, abseits der Gesellschaft, und er hatte nur ein einziges Ziel: Das Leben zu steigern, immerfort zu steigern, es schöner zu machen und stärker und am Ende so groß, dass er der Wiederholung in der Unendlichkeit ins Auge blicken konnte mit der Gewissheit: Du machst mich nicht klein! Ecce homo, hier siehst du einen Menschen! – so nannte er eines seiner letzten Werke, mit dem er sich endgültig an die Stelle von Christus setzte.
Aber es ist nicht leicht, ein freier Philosoph und Weltenzertrümmerer zu sein, wenn man in dieser Welt der Kleingeister und Moralisten lebt. Man erntet zwar erste Zustimmung hier und da, in Kopenhagen soll sogar einer eine Vorlesung über das Werk halten! Man hat zwar keine Freunde, aber Kontakte, neue, vielversprechende. Es könnte alles noch gut werden, vielleicht ist die Zeit ja doch inzwischen reif für das, was man ihr vor die Füße geworfen hat und was sie mit Füßen getreten hat, anstelle es aufzuheben, mit freiem Geist zu betrachten und nicht nur seine Zerstörungskraft zu sehen, sondern seine befreiende Kraft, seinen Aufruf, das Leben zu steigern, seine ganze neue ‚fröhliche Wissenschaft‘! Aber vielleicht hatte er doch das Universum beleidigt, vielleicht sah irgendwo ein düsterer Schicksalsgott auf ihn hernieder und beschloss, dass es genug sei. Und so begab es sich, dass einer der freiesten und mutigsten Lebensphilosophen aller Zeiten, nachdem er Gott für tot erklärt hatte und den Menschen im Allgemeinen für ein unbedeutendes Insekt in einem abgelegenen Winkel des Universums und allein dasjenige Leben für lebenswert, dass sich selbst feiern und steigern und ewig wiederholen will – es begab sich also, dass dieser Friedrich Nietzsche am 3. Januar 1889 in Turin einem von seinem Herrn geschundenen Kutschpferd weinend um den Hals fiel. Man sagt, dass er danach endgültig wahnsinnig wurde, aber zu vermuten ist, dass er in diesem einen Moment hellsichtig wurde und sein eigenes Leiden als das erkannte, was es war: ein Opfer für eine bis in alle Ewigkeit uneinsichtige und undankbare Menschheit, die lieber auf vermeintlich gefühllose Kreaturen eindrischt, als sich einmal nur am Riemen zu reißen und den Karren selbst aus dem Dreck zu ziehen, in den sie ihn aus Gedankenlosigkeit und Selbstsucht und Schwäche versenkt hat. Vielleicht ist er dionysisch geworden, und sein Wahnsinn war nur die zweite, rauschhafte Hälfte eines Lebens, das sich bis zu diesem Zeitpunkt in außerordentlicher apollinischer Hellsichtigkeit vollzog. Es wäre schön zu denken – aber wahrscheinlich dann doch zu versöhnlich. Lassen wir ihm seine Tragik.
Tatsächlich bin ich mit den Jahren dazu gekommen, den Nachruhm nicht mehr zu verachten, wie man das als Jugendliche gern tut. Natürlich ist er insubstantiell und ungerecht, und wahrscheinlich sollte man lieber daran arbeiten, zivilisiert vergessen zu wer-den zu können (und sowieso daran, nicht für als schlechtes Bei-spiel fortzuleben), und doch, und doch. Nun hat man als Wissenschaftlerin immerhin schon eine bessere Chance als der Normalbürger; schließlich „veröffentlicht“ man sein Gedenke. Am einfachsten ist es als Naturwissenschaftler. Die Krönung ist natürlich eine Naturkonstante mit dem eigenen Namen (Euler); bewährt haben sich auch Formeln (Pythagoras, Einstein) oder Theoreme (Gödel); manch einer schafft es sogar mit einer Katze (Schrödinger). Am allereinfachsten ist es in denjenigen Fächern, die gerade-zu ständig neue Namen vergeben müssen, weil das Auffinden und Kategorisieren neues Species zu ihrem methodischen Kernbestand gehört: Biologen (vor allem Botaniker), Geologen oder Astrologen (ein Komet, das ist auch ganz schön, wenn im Schweif dann der eigene Name mitschwingt für alle Zeiten; Halley). Doch selbst eine ganze Reihe von geisteswissenschaftlichen Autoren hat es in unseren urheberrechtssensibleren Zeiten es geschafft, ihren Namen mit einem kleinen ©-Anhängsel zu verewigen: Reinhart Koselleck erfand die „Sattelzeit“ (gar nicht so leicht, mit Metaphern berühmt zu werden!); Hartmut Rosa die „Beschleunigung“ (noch schwerer ist es mit alltagssprachlichen Begriffen; um ehrlich zu sein, war auch die dazugehörige Erkenntnis auch eher trivial); Pierre Bourdieu das „symbolische Kapital“ (extrem hilfreich und wahrhaft verdienstvoll); die Liste wächst mit jedem Jahrzehnt.
Aber das wahre Kunststück ist es, einen einzigen Begriff so mit Beschlag zu nehmen und durch und durch mit dem Eigenen zu imprägnieren, dass jeder in aller Zukunft ihn so denken muss, wie der große Autor ihn gedacht hat. Ich sage mal: Platon – Idee; Hegel -Weltgeist; Marx – Kapital (welch schöne Trilogie!). Geht ersatzweise auch für Schulen: Stoa – Ataraxie. Man sieht gleich, wie der Trick funktioniert. Man darf nämlich nicht nur den einen zentralen, alles zusammenhaltenden Begriff okkupieren, nein, man muss ihn mit einem System befestigen! Wer kein System hat, kann ein großer Autor sein so lange er will; aber er lässt sich nicht mit einem Wort zusammenfassen. Und ein System meint dabei nicht einfach nur, dass man viel geschrieben hat, oh nein! Aristoteles hat viel geschrieben, sehr, sehr viel; er hat dabei einige wirklich gute Worte sogar mehr oder weniger erfunden (organon; telos; entelechie, zoon politikon; und das sind nur meine ziemlich begrenzten Aristoteles-Kenntnisse), aber er kann eben nicht auf eines von ihnen reduziert werden. Oder, modernes Beispiel: Ein gerade verboser moderner Autor, der nicht nur viel, sondern auch immens wortreich schreibt, ist bekanntlich Peter Sloterdijk. Und er hat einige nützliche Begriffe wiederbelebt, zweifellos (sagen wir mal: Übung) und einige Metaphern recht nützlich erweitert (Immunisierung); aber wenn man ihn jetzt auf die „Blasen“ oder „Schäume“ reduzieren würde, wäre das zwar einigen seiner Kritiker recht Recht, aber doch ziemlich unfair. Oder, letztes Beispiel und nicht Philosoph, aber ziemlich großer Denker: Goethe. Gott, was hat der Mann mit Wörtern machen können! Und komischerweise sind die, die die Autorin für seine besten, tiefsten, weitreichendsten hält (sagen wir mal: Entsagung. Wechselwirkung. Inkommensurabilität. Organismus natürlich auch) – gar nicht diejenigen, die er am meisten verwendet. Der Mann geht nämlich auch noch sorgsam mit seinen Worten um! (Schiller dagegen ist schon ziemlich dicht am System, und die „ästhetische Erziehung“ hat ja auch ihren Markenzeichen-Wert zu Recht).
Ein Sonderfall zwischen beiden sind übrigens Sätze als Markenzeichen; also, nicht Sätze als Formeln, sondern als semantische Sinneinheiten. Ich bin mir noch nicht sicher, was das für die Autoren und ihren Nachruhm bedeutet, wenn sie mit einem Satz über-leben, nicht mit einem Wort, nicht mit mehreren, nicht mit einem System, nein: einer etwas größeren semantischen Sinneinheit. Bei-spiele? Kant, Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit; gutes Beispiel, weil: Definition. Das geht natürlich gut satzförmig. Wie Spinoza: deus sive natura. Heraklit: Man kann nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen. Adorno: Es gibt kein wahres Leben im falschen. Nietzsche: Gott ist tot. Na gut, die Auswahl mag hier schon sehr subjektiv gefärbt sein (aber ich wollte immer schon mal Heraklit, Spinoza und Adorno in einem Absatz unterbringen; Kant kann man sowieso in jedem Absatz unterbringen, insofern ist er eher der Joker; und Nietzsche hat wirklich wichtigere und klügere Sätze gesagt als ausgerechnet den, mit dem er in die Nachwelt eingegangen ist). Oder Sokrates: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Oder, aber hier kommen wir langsam in das Gedränge mit der Autorschaft: Alles mit Maß! – was seit der Antike so ziemlich jeder halbwegs bedeutende Denker gesagt hat, einfach, weil es vollständig wahr ist, immer gilt und nicht oft genug gesagt werden kann. Oder, für die Ethik insbesondere; die goldene Regel: Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu! Man kann auch die etwas kompliziertere Kantische Variante nehmen oder irgendeine beliebige aus eine der vielen Religionen und Volksmünder, die sie überliefert haben: Stimmt immer und ist immer anwendbar (aber nicht immer leicht. Und schon gar nicht leicht zu befolgen!)
Woraus man am Ende auch sieht: Ewige Wahrheit gibt es nur für strukturelle Wahrheiten (man kann sie auch formale nennen, oder abstrakte). Inhalte werden überschätzt, sie haben alle ein Verfallsdatum (auch und vor allem die sogenannten „universalen Werte“ oder „unveräußerlichen Grundrechte“). Aber es gibt ein paar Ideen, Erkenntnisse, Formeln, Regeln – und sie können, wie man an Sokrates ebenso sieht wie an der Maß-Regel (muss man sie selbst mit Maß anwenden oder nicht?) – sogar paradox sein, die ihren Ewigkeitswert verdient haben. Zumindest in dieser menschlichen Welt, die nicht die beste aller möglichen ist (Leibniz), sondern einfach: die möglichste (anthropisches Prinzip; Evolution, ein ziemlicher Meisterdenker).
Mit welchem Wort, mit welchem Satz, mit welchem System möchtest du überleben? Das könnte sogar eine Art Schlüsselfrage für das eigene Denken sein. Darüber muss man wohl länger nach-denken. Ich habe ein paar Tage nachgedacht, wie üblich: zwischendurch, beim Zähneputzen, beim morgendlichen Wachliegen im Bett, beim Rühren des Risotto. Bekanntlich – also: für mich bekanntlich – bin ich keine Anhängerin großer Worte und großer Ideen; sie zerfasern mir schon immer wie Pilze im Mund (Hugo von Hofmannsthal). Aber kleine Worte und kleine Ideen haben nun leider wirklich wenig Ewigkeitswert; jeder kann sie finden, so demütig bin ich inzwischen auch, wenn sie sie nur sucht, zwischendurch, beim Zähneputzen – und halt: Da kam mir die Erleuchtung! War es nicht vielleicht genau dieses zwischen, das mich begleitet, behaglich-unbehaglich, denn: Zwischen den Stühlen (unbekannt) sitzt es sich schlecht, aber es gibt nun mal einen Raum zwischen den Stühlen, zwischen den Gegensätzen, den Partei-en, all den besetzten Räumen, in denen man kaum noch atmen kann vor Geplapper. Dazwischen, im Zwischenraum, kann es still sein. Aber auch einsam. Gelegentlich trifft man einen anderen Denker und kann ein kleines Geistergespräch führen. Der Heinz’sche Zwischenraum: Wir werden das weiterverfolgen!
Wie kommt die Welt in den Kopf hinein? Und wie kommt der Inhalt des Kopfes wieder hinaus in die Welt? Eigentlich könnte man das als Grundfrage der Philosophie überhaupt bezeichnen: Denn ohne Kopf gibt es ebenso wenig eine Erkenntnis der Welt, wie es ohne Welt eine Einsicht des Kopfes geben kann. Wenn es überhaupt eine General-Unterscheidung gibt, die den Grund legt für unser Denken und Erkennen, dann ist das nicht Gut und Böse (eine nachgeordnete Subtilität); nicht Richtig und Falsch (immer abhängig vom Bezugssystem): Es ist Innen und Außen. Innen, das ist da, wo wir zuhause sind, es ist das, was wir meinen zu kennen (können wir es wirklich kennen? Sind wir ihm nicht viel zu nahe?); Außen, das ist das Fremde, das uns Gegenüberstehende, das, was bewältigt und angeeignet werden will. Dann aber kann es, ja: muss es auch wieder nach außen treten – sonst wäre Philosophie ein nimmer endendes Selbstgespräch des Kopfes mit seinen eigenen Verrücktheiten und nicht eine Äußerung, vielleicht sogar: eine Ent-Äußerung, die auf eine Ver-Innerlichung folgt. Innen und Außen: Ohne diese Trennung gäbe es keine Leben auf dieser Welt der Polaritäten (wohl aber ohne Gut und Böse, ohne Richtig und Falsch). Innen und Außen, das ist wie Ein- und Ausatmen, lebendige Kommunikation im Wechsel, und schon die alten Griechen hatten das gleiche Wort für Atem und Geist, Lufthauch und Seele: pneuma. Leben besteht daraus, dass ein Organismus eine Grenze zur Außenwelt aufbaut, eine schützende Hülle, in der sich das Leben entwickeln kann; bekanntlich ein temporärer Zustand, davor und danach gibt es keine Hülle, sondern nur ein großes Fließen. Das Leben hat einen Kern und eine Schale, und eines ist nicht besser oder wichtiger als das andere; beides zusammen erst, im ständigen gleichmäßigen Wechsel, macht das Ganze.
Damit aber ist Leben, und mit ihm: Philosophie als reflektiertes Leben, ein Kommunikationsproblem. Denn wenn es Innen und Außen gibt, wenn es den notwendigen Zusammenhang beider gibt, dann müssen sie sich verständigen können. Irgendwie. Wunderbarerweise ist das schon in der Urszene der Philosophie, dem Platonischen Höhlengleichnis, vollständig erkannt und anschaulich präsentiert: In einer Höhle sitzen wir, einem geschützten, vom bedrohlichen Außen abgeschnittenen Innenraum von geradezu vorgeburtlicher Geborgenheit. Draußen laufen die Gegenständer Welt in einer permanenten Prozession vorbei, in all ihrer lockenden Buntheit und Gefährlichkeit. Aber wir sind gefesselt und sehen nur ihre Schatten, gespiegelt an der Höhlenwand; wir sehen also nicht das wahre Sein. Hier verlassen wir Platon nun, der in einer atemberaubenden philosophischen Volte deshalb gerade das Nicht-Materiell-Seiende, die Ideen, zum einzig Wahren und Wichtigen erklärt; wir bleiben vielmehr bei der Höhle und ihrer prekären Stellung zwischen Innen und Außen und der Frage, wie das Außen, die Dinge, in das Innen, die Köpfe in der Höhle, kommen könnte. Das, was man also bräuchte, wären vielleicht - Fenster, durch die etwas hineinströmt, Materie, noch unbearbeitet, Ein-drücke, wie man schon früh in einer Metapher gesagt hat (wenn man genau hinschaut, beginnen die meisten neuen Erkenntnisse mit einer Metapher). Man glaubte sogar einige Zeit, dass das Gehirn eine eigene Art Höhlenwand sei, auf der sich die Eindrücke mechanisch abdrücken, lauter kleine Realitätsstempel, einer über und unter dem anderen. Wie wir aber die Höhle verlassen könnten, um ins klare, freie Licht der Erkenntnis zu gelangen, zu den Dingen selbst – ach, wir wollen es ja gar nicht. Es reicht uns, durch ein Fenster hinauszuschauen, ein kleiner Ausschnitt, wohlgerahmt, gesichert, am besten mit einer Scheibe verschlossen. Aber sie ist durchsichtig, und je mehr man sie putzt und je feiner man sie fertigt, desto besser wird man durch sie sehen können. Im Alltagsleben aber dominieren die Schlieren; niemals wird ein Fenster ordentlich sauber, das weiß jede Hausfrau. Gelegentlich blendet die Sonne, gelegentlich verdunkelt sich der Himmel; und immer ist irgendwo ein Fliegendreck.
Philosophie könnte solch ein Fenster zur Welt sein. Einige meinen natürlich, sie sei eher eine Tür: Man öffnet sie und geht hinaus und ist dann draußen, bei den Dingen selbst. Es kann aber sein, dass die Tür verschlossen ist und man nicht den richtigen Schlüssel findet; es kann auch sein, dass die Tür sich hinter einem schließt, und niemals wird man zurückfinden. Nein, Türen sind keine Lösung: Türen schließen ein und schließen aus, sie verbarrikadieren ein Inneres, und seit neuestem ist sogar häufig eine Alarmanlage installiert, die bei unkorrektem Denken anschlägt. Fenster hingegen – sind Öffnungen, die verwundbar machen, aber auch schützen. Natürlich kann man auch Fenster öffnen und schließen, man kann sich auch hinauslehnen und wieder zurückziehen, aber man bleibt auf der Schwelle zwischen Innen und Außen, ein wenig geschützt, ein wenig exponiert. Und draußen zieht die Welt vorbei, ein großes Theater der Dinge und Lebewesen, und wir schauen ihr eine Weile zu, wie von einem Logenplatz im Theater aus; es ist eine Aufführung, die sich von Minute zu Minute ändert, und wir kommen kaum hinterher mit dem Schauen und Staunen und Analysieren. Die Begriffe und Kategorien haben wir im Schrank hinter uns verstaut, hinter verschlossenen Türen; es sind nützliche Werkzeuge, aber sie stören beim Schauen, sogar wenn es Fernrohre oder Mikroskope sind: Sehen wir die Welt erst einmal, wie sie ist, bevor wir ihr mit menschlichem Werkzeug zu Leibe rücken!
Philosophie kann ein Fenster zur Welt sein. Natürlich, einige der berühmtesten Philosophen waren bekanntlich anderer Meinung, mit Platon und seiner Ideenwelt angefangen. Der Berühmteste unter ihnen war Leibniz, zweifellos ein Denker und Gelehrter und Universalist, wie es wenige gegeben hat; er hatte jede Menge Spezialwerkzeuge zur Bewältigung der Welt, er hat sogar einige ganz neue Werkzeuge selbst erfunden. Leibniz hatte also einen ganzen Palast voller Fenster, großer und kleiner, geometrischer und weniger geometrischer, alles stand ihm zur Verfügung. Aber im Herzen des Palastes wohnt, ganz für sich und verschlossener als das Paradies, die Monade. Die Monade hat, und es ist nicht nur erstaunlich, sondern sehr bedenkenswert, dass dieses philosophische Zitat wohl das am meisten zitierte Leibniz-Wort ist – die Monade hat, sagt Leibniz, keine Fenster. Sie ist nicht materiell, sie ist deshalb auch nicht teilbar, sondern ein Atom; sie hat keinen Anfang und kein Ende, sondern sie existiert in aller Ewigkeit, ist unsterblich und wird nicht geboren. Sie ist, so könnte man aus ein wenig Distanz sagen und wenn man dabei durch ein etwas skeptisch eingefärbtes Fenster schaut, eine Art Mini-Gott; eine Essenz Gottes, in die Menschen versetzt als Gott-Atom, als unzerstörbarer Kern, geschützt von einer hermetisch abschließenden Schale, der Materie. Die Monade ist, wir blicken weiter durch das skeptische Fenster, das philosophische Wunschdenken in Reinform, die Selbstermächtigung des Menschen über alle Grenzen von Natur und Materie hinaus, das reine Sein (und ist es nicht bedenklich, wie sich das reimt? – aber der Schein, er folgt dem Reim schon auf dem Fuße ...). Sie ist eine weiße black box, die schönste und reinste, die man sich nur vorstellen kann; und wehe, wehe, man versucht sie zu öffnen (undenkbar!).
Nun ergibt sich dadurch natürlich das oben bereits erwähnte Kommunikationsproblem; denn wie kommt die Welt in die Monade und die Monade wieder in die Welt, wenn nicht durch – Fenster? Denn interagieren muss man nun einmal, der Mensch lebt, Monade oder nicht im Kern, in einer Welt der Dinge und Materien, die sein Handeln beeinflussen, die er durch sein Handeln beeinflusst; er lebt zudem als Sinnenwesen, nicht nur als Geist- und Verstandeswesen, und wie kommunizieren seine eigenen Sinne also mit dem eigenen Geist, der Monade, wie steuert einer den anderen? Dafür erfand Leibniz einen Zaubertrick, und die Absurdität der Idee zeigt, wie groß das Problem ist: Er heißt „prästabilierte Harmonie“ und geht einfach davon aus, dass beide, Monade und Sinnenwesen, einem vorgegebenen Mechanismus folgen, einer inneren Uhr, einem vorprogrammierten Ablaufplan, wie immer man es nennen mag: Vom Moment der Schöpfung an läuft das große Programm ab, und der größte aller Schöpfer hat dafür gesorgt, dass es vollkommen synchronisiert abläuft, ohne Wechselwirkungen, gegenseitige Beeinflussungen, Unabsehbarkeiten, Systemfehler. Leibniz war der Urvater aller Programmierer, und es ist nur verständlich, dass er von einer Universalsprache träumte, die eindeutig und vollständig das Universum beschreiben würde und endlich, endlich, die Menschheit von der Misslichkeit der Kommunikation befreien würde. Leibniz hätte den Computer geliebt, das steht außer Frage: Eine blinkende blackbox, gefüttert mit Programm, Hardware und Software, und beides im schönsten Einklang. Die platonische Höhle, endlich vollkommen abgesichert von der Außenwelt. Keine Fenster, nur eine Schnittstelle!
John Locke, sein großer Zeitgenosse und Gegner, sah das naturgemäß anders als überzeugter Empirist: Zwar war auch für ihn der Geist eine ziemlich abgeschottete black box, aber sie hatte immerhin kleine, kleine Öffnungen nach außen, Fenster, so sagt auch Locke wörtlich, nämlich: die Sinne. Sinne-Fenster, das ist eine ziemlich naheliegende Analogie, auf die deshalb auch schon massenhaft Leute vorher gekommen sind, allen voran die christliche Theologie, die beispielsweise die menschlichen Augen als „Fenster zur Seele“ auffasste: Wir können niemanden in den Kopf kriechen, aber ein Abglanz der unsterblichen Seele fällt durch die Augen nach außen (und das war die Richtung, die die Religion von jeher mehr interessierte: Wesentlich war das Innen, und nicht das weltlich-kontingente Außen!); und wenn wir jemand ganz tief in die Augen sehen, können wir deshalb bis auf seine Seele blicken, wir sehen ihre Flecken und ihren Glanz. Aber bleiben wir einen Moment bei allen Sinnen, nicht nur bei den Augen. Ist nicht die ganze Schale des Menschen ein großer Sinnesapparat, der ständig Welt prozessiert und nach innen weiterleitet, damit der Verstand seine Arbeit beginnen kann in seiner Dunkelkammer? Haben wir nicht eigentlich sogar viel mehr als nur fünf sparsam unterschiedene Sinne: ein Zeitgefühl, ein Raumgefühl, ein, wie soll man sagen: Verdauungssensorium (der Darm ist bekanntlich ein Teil des Gehirns), sogar, vielleicht, einen natürlichen Sinn für Schönheit, Richtigkeit, Wahrheit, oder, evolutionär kodiert: Gesundheit und Nützlichkeit? Ach, es gibt so viele Fenster am menschlichen Körper, und viele von ihnen könnten besser geputzt, gewartet, benutzt werden! Wäre das nicht eine große Aufgabe für die Philosophie, die immer verzweifelter nach einer neuen Aufgabe sucht, nachdem ihr die Welt so weit abhanden gekommen ist, dass eine Kommunikation kaum noch möglich scheint?
Denn die Philosophie hat sich lange Zeit darauf konzentriert, die Fenster zu verschließen, zu vermauern, für blind zu erklären: Unzuverlässig seien sie, all diese Sinne, Blendwerk, gefärbte Scheiben, optische Verzerrung, Reizüberflutung. Selten wurde bemerkt, dass der Geist, der Verstand, die Vernunft, die Monade oder wie all die Kandidaten für die große schwarze box im Kopf heißen, offensichtlich auch nicht die zuverlässigsten Auskünfte über die Welt liefern: Wie könnte es sonst sein, dass nach gut zweitausend Jahren Philosophiegeschichte eigentlich in keiner wesentlichen Menschheitsfrage eine Einigung erreicht wurde, obwohl die besten und größten Köpfe (Aristoteles! Leibniz! Kant! Wittgenstein!) daran abgearbeitet haben? Aber nein, jeder hat die Box ein wenig anders konstruiert; am Ende war sie schön blankpoliert und systematisch abgedichtet, aber nicht direkt kommunizierbar. Derweilen traten die Sinne ersatzweise ihren Siegeszug in den Naturwissenschaften an, und es öffneten sich jeden Tag mehr Fenster in eine Welt, die Gesetzen durchaus zugetan war und eine schöne Ordnung liebte. Der Geist hingegen blieb allein zuhause. Eingesperrt, ausgesperrt. Sichtschutz, wohin man schaut. In der Höhle, spielend mit Schatten, immer mehr Schatten.
Doch wenigstens, so sagten die Philosophen, könne der Geist sich selbst erkennen, und gebe es eigentlich Bedeutenderes in der Welt als die Krone der Schöpfung: das menschliche Selbstbewusstsein? Nun wurde im schmerzhaften Verlauf der realen Geschichte (nicht der des Geistes!) durchaus eine gewisse Empfindlichkeit gegenüber dem Prozess der Selbstkrönung entwickelt. Nicht unbedingt gilt es mehr als Erweis besonderer Führungsstärke, wenn man sich selbst zum Herrn des Universums erklärt und alle anderen zur Unterwerfung verpflichtet. Doch was anderes ist diese philosophische Obsession auf Selbstermächtigung des Subjekts, im Namen des Ideals, des Geistes, des Unreduzierbaren und Schlechthin-Komplexen, als eine kontinuierliche und nur in immer neuen Farben und flavours inszenierte Selbstkrönung? Warum soll man der Objektivität eines Wesens trauen, das sich selbst über alle andere Wesen erhebt? Warum sollte man jemand glauben, der die eigene Kernkompetenz ohne jegliche Begründung zur Königsgattung alles menschlichen Tuns erklärt; die Begründung ist, in einen sauberen Syllogismus verpackt: Der Mensch ist das einzige Wesen, das denken kann; Denken ist höchste aller Fähigkeiten; der Mensch ist das Höchste Wesen (ja, intendierte Bedeutungsgroßschreibung!) Wie immer steht und fällt der Syllogismus, eine sehr unzuverlässige logische Krücke, mit den Vordersätzen: Wir haben Denken sehr sorgfältig so konstruiert, dass es nur auf das zutrifft, was Menschen mit ihrem Gehirn tun; es ist sehr wohl möglich, dass andere Wesen weit besser denken mit ihren, zugegebenermaßen: kleineren Gehirnen, aber wir werden es nie erfahren können. Also denken sie nicht, logisch. Jede Biene, die die Produktion von Honig zur höchsten aller Fähigkeiten erklären würden, würden wir unter die ideologiekritische Lupe nehmen und, sieh da! Die Biene hat ein Interesse daran, dass Honigmachen die höchste Kompetenz schlechthin ist. Menschen aber … Wäre es nicht wirklich Zeit, sich perspektivisch einmal aus dem Zentrum des Universums hinauszunehmen und zu gestehen, dass man auch auf sich selbst, das heilige Individuum und sein allerheiligstes Innerstes, nur – durch ein Fenster blicken kann, in Ausschnitten, aus der Distanz? Dass die Sinne uns nicht nur die Welt zeigen, sondern auch der einzige Weg in die Höhle sind? Dass wir sind, was wir wahrnehmen, fühlen, erleben, tun, und dass unser Denken nur der Schleier ist, den die barmherzige Evolution um die Wahrheit gelegt habt, damit wir ihr nicht ausgeliefert sind in ihrer Nacktheit weit jenseits von moralischen Mäntelchen?
Denn Philosophie ist nicht nur ein Fenster zur Welt, sie ist auch ein Fenster in unser Inneres. Sie ist die Reflexionsinstanz, die hinter dem Fenster steht und die Daten verarbeitet, die uns ein bestimmter, begrenzter Weltausschnitt bei diesem Licht und in dieser konkreten räumlichen und zeitlichen Situation geliefert hat, mit allen Sinnen unseres ganzen Körpers. Aber natürlich muss die Welt auch wieder aus dem Kopf herauskommen, muss die Monade, die wir nun mit den Fenstern der Sinne ausgestattet haben, Leibniz möge uns verzeihen, mitteilen, kommunizieren, letztlich und leider: sprechen. Denn wäre es nicht schöner, sauberer, nützlicher, wenn wir direkt wieder ein anschauliches sinnliches Gebilde nach außen spiegeln könnten, eindeutig, vollständig, vielfältig, und unser Gegenüber würde es direkt wieder so erfassen durch die Fenster seiner vielfältigen Sinne? Aber Menschen müssen reden. Sprache ist alles, was wir haben, und wir tun uns viel darauf zu gut, fast so viel wie auf den Geist, aber sie ist ein sehr ungehobeltes Werkzeug. Jeder geht mit ihr um, wie er will. Schonen sollte man die Worte, achten auf ihre spezifische Bedeutung, hören auf ihren besonderen Klang. Aber wir gehen mit ihnen um, als seien sie bessere Putzschwämme: Wird schon noch eine Bedeutung mehr hineinpassen, auch wenn sie mit der ursprünglichen immer weniger und am Ende gar nichts mehr zu tun hat; und wenn man das Wort einmal versehentlich auspresst, kommt all der unverdaute gedankliche Müll wieder zum Vorschein. Eigentlich sollte man alle Wörter einmal pro Jahrhundert, mindestens, umtauschen, recyceln, wenigstens generalsanieren; was im Übrigen nichts und gar nichts mit politischer Korrektheit zu tun hat, die eher das Gegenteil einer reflektierten und verantwortete Sprachgestaltung ist, nämlich eine Sprachstanzmaschine, aus der nur noch bedeutungslose Schablonen fallen, konturlos, formlos, reduziert auf: moralische Richtigkeit (Wörter sind nicht moralisch, das liegt nicht in ihrer Natur; sie sind Bezeichnungen, die sich auf eine Sache, nicht auf einen Wert beziehen). Und je abstrakter und weniger gegenständlich ein Wort wird, desto saugfähiger wird es. Ein „Fenster“ ist, auch wenn es durchaus verschiedenen geformt und von verschiedener Größe, Machart, Durchsichtigkeit sein kann, ein Fenster. Was ist der menschliche „Geist“? Schon beim Sprechen beginnt der Mund zu schäumen. 150 Seiten braucht der Artikel im Wörterbuch der Deutschen Sprache der Brüder Grimm, und hinterher ist man definitiv noch viel verwirrter als vorher. Geben wir das Wort auf. Es bedeutet – alles und nichts. Wahrscheinlich kann man es noch nicht einmal nutzbringend recyclen, es würden nur lauter kleine Ungeister herausfleuchen.
Leibniz hatte von einer universalen, widerspruchsfreien Sprache geträumt, obwohl seine Monaden das doch eigentlich gar nicht nötig hatten. Die menschliche, sprachlich vermittelte Erkenntnis hingegen sei, so kategorisierte Leibniz schön in seiner universalwissenschaftlichen Art, entweder klar oder dunkel, entweder verworren oder deutlich – und das sind wohlunterschiedene Begriffe! Eine Einsicht, die uns klar vermittelt wird, erkennen wir wieder; einer dunklen sind wir ausgeliefert, wir werden sie niemals wiedererkennen, und wenn sie uns bis in unsere Träume verfolgt. Noch besser jedoch ist es, wenn eine Erkenntnis deutlich vermittelt wird: Dann können wir ihre einzelnen Teile unterscheiden und ihre Merkmale aufzählen. Nicht jedoch bei der verworrenen Erkenntnis, wo alles durcheinander purzelt; zwar hat sie durchaus ihre einzelnen Teile und Merkmale, aber die werden eben nicht – deutlich. Nun gibt es Dinge, die werden, zumindest in der menschlichen Sprache, niemals deutlich erkannt werden können, sondern nur klar, in einem einzigen, ganzheitlichen Erkenntnisakt – sagen wir: die Monade? eine Persönlichkeit? ein sinnlicher Gesamteindruck? ein Kunstwerk? Andere hingegen sind durchaus der Deutlichkeit fähig, und man verschenkt eine wichtige Erkenntnismöglichkeit, indem man alle begriffliche Deutlichkeit schlechthin und jeden Versuch einer genaueren Definition dessen, was ein bestimmtes Wort meint, dieses spezifische, eine Wort – zur unnötigen Wortklauberei erklärt, ich wisst doch schon, was ich gemeint habe, gell? Mit jeder Unterscheidung öffnet sich ein neues Fenster; es ist nicht immer ein Panoramafenster, sondern manchmal nur ein Mansardenfenster, aber man fühlt sich gerade in Mansardenfenstern ganz heimelig. Der Ausschnitt ist klein, aber präzise begrenzt. Man sieht nur ein kleines Stück Welt, aber das sieht man genau, wenn man richtig hinschaut jedenfalls und nicht in die Luft guckt und nach Luftschlössern Ausschau hält.
Ein wenig bekannter Philosoph des 19. Jahrhunderts, Friedrich Albert Lange hieß er und er wurde berühmt geworden durch seine Geschichte des Materialismus, hat in einer schönen Passage eben derselben eine Art Variante des platonischen Höhlengleichnis gegeben: „Denken wir uns […] einen Menschen, der ein Kaleidoskop für ein Fernrohr hält. Er glaubt höchst merkwürdige Gegenstände außerhalb wahrzunehmen und widmet ihrer Betrachtung allen Fleiß. Er soll nun in einen engen Raum eingeschlossen sein. Nach der einen Seite hat er ein Fensterchen, welches ihm einen beschränkten und getrübten Blick nach außen eröffnet; nach einer andern Seite ist das Rohr, mit welchem er in die Ferne zu sehen glaubt, fest in die Wand eingeschlossen. Diesen Ausblick liebt er ganz besonders. Er reizt ihn mehr als das Fensterchen; unablässig sucht er auf diesem Wege seine Erkenntnis von einer wunderbaren Ferne zu vervollkommnen. Das ist der Metaphysiker, der das enge Fenster der Erfahrung verschmäht und sich von dem Kaleidoskop seiner Ideenwelt täuschen läßt“. Niemand würde ein Kaleidoskop benutzen, um sich in der Welt zu orientieren, aber natürlich schauen wir alle lieber durch bunte Kaleidoskope als durch enge, getrübte Fenster. Philosophie aber, und damit variieren wir unsere Metapher ein wenig, sollte daran arbeiten, die Fenster zu putzen. Denn in der Höhle sind wirkliche Menschen, draußen werden wirkliche Gegenstände vorbeigetragen und wirkliche Konflikte verhandelt, und wenn wir uns verständigen, sollten wir das mit wirklichen Worten tun, nicht mit ausgelutschten Bedeutungsschwämmen. Philosophie ist die Putzfirma, die dafür sorgt, dass die Scheiben streifenfrei sind; sie ist der Architekt, der sich darum kümmert, dass genug Licht ins Gebäude fallen kann; sie ist der Hausmeister, der dafür sorgt, dass sich das Fenster gut öffnen und schließen lässt und nicht aus dem Rahmen fällt. Sie stellt auch Fenster zur Verfügung, historische, aktuelle, unterschiedlich geschnittene, die man ausleihen kann, nein: die jede und jeder ausleihen kann. Denn das Gute an Fenstern ist, dass jede und jeder ein natürliches Gefühl dafür hat, wie man mit Fenstern umgeht. Man braucht keinen Schlüssel für ein Fenster, keine Bedienungsanleitung, keine Sicherheitsbelehrung. Man muss nur hinaussehen wollen und dann möglichst unbefangen davon berichten, was man gesehen hat. Dann darf man auch wieder in die Höhle zurück.
Alle anderen Bäume waren schon lange gefallen. Sie stellten eine zu große Gefährdung dar für die Menschen, hieß es. Immer wieder fielen einmal Äste herab, das führte zu Verletzungen und Klagen und Schadenersatzforderungen, die die Gemeinden irgendwann nicht mehr bezahlen konnten. Und wer wusste schon, was da alles kreuchte und fleuchte im Unterholz, Zecken, Fuchsbandwürmer, Eichenprozessionsspinner zwischen potentiell giftigen Pilzen und Schlangen? Und war vor fünfzig Jahren nicht noch ein Tollwutbiss tödlich geendet? Nein, die Bäume waren gefallen, einer nach dem anderen, die vier Flüsse waren voll von toten Ästen, die überreifen Früchte am Boden verströmten einen modernden Geruch, und Tiere hatte schon lange keiner mehr gesehen; bis auf die Schlange natürlich, aber war sie nicht doch nur ein Mythos? Allein ein einziger Baum stand noch, ganz in der Mitte: Knorrig streckte er seine Äste bis weit in den Himmel hinein, beinahe konnte man die Spitzen nicht mehr sehen!
Die Fälltruppen befiel, als sie sich mit ihren schweren Werkzeugen dem Monster näherten, ein seltsames Gefühl, sie erkannten es kaum, war es – Zweifel? Aber sie waren doch nur Befehlsempfänger, niemals hatten sie daran gezweifelt, dass sie auf der Seite der Guten waren; es war doch nur gut gemeint, dass die Menschen geschützt werden mussten vor diesen bösen Baummonstern, mit ihren unberechenbaren Verzweigungen und Verästelungen, die immer nur wuchsen, einfach wuchsen, in den Himmel wuchsen. Doch da war dieses seltsame Gefühl, und als sie anfingen, den Baum genauer zu betrachten, die großen Motorsägen schon vor Erwartung zitternd in den Händen, erkannten sie, dass er zwei Hälften hatte. Ein sehr kräftiger Blitz musste ihn irgendwann einmal gespalten habe, der Riss ginge mitten durch die Mitte, man sah noch die schon seit langem verkrustete Wunde. Und über dem Riss hatten sich zwei Hälften gebildet, die unabhängig voneinander weitergewachsen waren. Die eine war ganz überwuchert von Schmarotzern, die ihn von allen Seiten umrankten und umschlungen hatten; abgestorbene Äste hingegen seltsam verdreht hinab, andere schossen bizarr ins Nichts, und es herrschte eine unheimliche Ruhe in den Verzweigungen und leeren Höhlen. Die andere Hälfte war kleiner und schwächer geblieben, fast kümmerlich sah sie aus. Aber einige Vögel schienen dort noch bis vor kurzer Zeit ihre Nester gebaut zu haben, und hingen ganz weit oben nicht noch einige Früchte?
Während die Arbeiter noch schauten und die Motorsägen schon vibrierten und heulten, entspann sich auf einmal ein Streit unter ihnen. Es sei doch klar, dass man zuerst den schwachen Teil entfernen würde; das sei eine leichte Aufgabe, es sei wenig Widerstand zu erwarten, und schon bald würde man die erste Pause machen können, so sagten die einen. Die anderen spürten ein seltsames Ziehen am Herz, als sie die kümmerliche Hälfte betrachteten; aber um das unangenehme Gefühl zu verdrängen, schrien sie umso lauter: Nein, zuerst den Monsterteil natürlich, jetzt seien sie noch kräftig und ausgeruht, und vielleicht würde man dann ja den kleinen – aber da wurden sie schon von der ersten Gruppe über-stimmt: Wie man denn nur auf so eine böse – seltsamerweise sagten sie "böse", sie wussten selbst nicht recht warum – auf eine so böse Idee kommen könnte? Es sei doch offensichtlich eine gute Idee, zuerst den schwachen – aber da konnte man schon kaum noch ein Wort verstehen, so laut heulten die Sägen auf, als sich die beiden Gruppen drohend aufeinander zu bewegten. Durch den Baum ging ein warnendes Rauschen, die wenigen Vögel flogen kreischend auf, und schlüpfte da nicht eine Schlange, beinahe wirkte es so, als habe sie Beine bekommen –
Ganz am Ende sahen zwei einzelne Arbeiter auf das Schlachtfeld zu Füßen des immer noch verzweifelt rauschenden Baumes nieder. Sie hatten sich, als das Gemetzel losging, schnell aus dem Staub gemacht; nicht, weil sie Feiglinge waren, aber aus irgendeinem Grund wehrte sich etwas in ihnen gegen diesen sinnlosen Streit, war es denn nicht egal, musste man sich denn immer auf eine Seite schlagen, sahen die anderen denn nicht, dass es nur ein Baum war, ein einziger alter Baum mit einer tiefen Wurzel; die Wurzel, das ahnten sie schon, wäre das eigentliche Problem gewesen, nicht die Äste oder der verknorrte Stamm? Hatten sie denn gar nichts verstanden von den Bäumen?
Aus einem Impuls heraus warfen sie ihre Schutzkleidung von sich, sie rissen sich die Helme von den Köpfen, ja, sie begannen sogar, die Sägen zu demontieren. Der Baum beruhigte sich langsam dabei, einzelne Vögel kamen langsam zurück, zuerst ein Rabe. Und als sie die Metallskelette sorgfältig vergraben hatten und hochschauten, hatten sie das seltsame Gefühl, dass der Baum begonnen hatte, wieder zusammenzuwachsen. Er wuchs von unten her zusammen, die Wunde hatte schon begonnen sich zu schließen, und die Äste beider Seiten wiegten sich beinahe harmonisch im sanften Wind.
Man erzählt von den beiden, dass sie die Urahnen eines neuen Geschlechts waren. Es bebaute unter Schweiß den Boden und pflanzte neue Bäume. Und als ihre Nachkommen die ersten Früchte ihrer Arbeit ernten konnten, sahen sie: dass es gut war. Aber es interessierte sie nicht besonders.