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Lessingweg


(Grundlagenvorlesung, noch in der Rohfassung)

Leben und Werk

Geboren wurde Gotthold Ephraim Lessing im Jahre 1729 in Kamenz (in Sachsen) als Pfarrerssohn in eher ärmlichen Verhältnissen. Er besuchte die Fürstenschule in Meißen, ein Elitegymnasium, das er schnell durchläuft; mit 17 Jahren nimmt er ein Theologiestudium in Leipzig auf. In Leipzig trifft sich zu dieser Zeit alles, was Rang und Namen in den schönen Wissenschaften hat: Gellert liest dort als Privatdozent über Moral, Gottsched ist Professor für Ästhetik, und außerdem hat die berühmte Theatergruppe der Neuberin dort ihr Standquartier; sie wird Lessings erstes Lustspiel mit dem Titel „Der junge Gelehrte“ aus dem Jahr 1747 mit Erfolg aufführen. Es erweist sich offenbar schnell, daß das Theologiestudium nichts ist; Lessing wechselt erst zur Medizin nach Wittenberg, bricht dann - natürlich gegen den Willen des Vaters - das Studium ab und arbeitet ab 1748 in Berlin bei verschiedenen Zeitschriften als Rezensent. Seine ersten literarischen Versuche sind Gedichte in der anakreontischen Tradition; zwei kleine Beispiele, die den Witz und auch die kritische Pointierung zeigen, die Lessing diesen kleinen lyrischen Texten gibt:

Auf den Tod eines Affen

Hier liegt er nun, der kleine, liebe Pavian,
Der uns so manches nachgetan!
Ich wette, was er itzt getan,
Tun wir ihm alle nach, dem lieben Pavian.
Eine Gesundheit
Trinket, Brüder, laßt uns trinken,
Bis wir berauscht zu Boden sinken,
Doch bittet Gott den Herrn;
Dap Könige nicht trinken.
Denn da sie unberauscht
Die halbe Welt zerstören,
Was würden sie nicht tun,
Wenn sie betrunken wären?

In Kürze und Lakonik übt er sich außerdem als Epigrammatiker, eine ebenfalls traditionsreiche kleine Gattung schon aus der Antike; das wohl kürzeste Beispiel will ich Ihnen wiederum kurz zitieren; es heißt „Grabschrift auf einen Gehängten“:

Hier ruht er, wenn der Wind nicht weht.

Schließlich und endlich betätigt er sich als Fabeldichter, also in einer der klassischen kleinen Gattungen der frühen und Hochaufklärung; er verfaßt sogar eine Abhandlung über die Fabel. Schon hier zeigt sich jedoch ein entscheidender Unterschied zu den extrem lehrhaften Fabeln, wie sie noch Gottsched verfaßte: Bei Lessing kommt es nicht so sehr auf die Moral an, die die Fabel explizit lehrt, sondern auf den Weg, wie die Moral gefunden wird; die Fabel soll vor allem der Erziehung zum Selbstdenken dienen. Ein Beispiel, an dem Sie sich üben können:

Die Maus
Eine philosophische Maus pries die gütige Natur, daß sie die Mäuse zu einem so vorzüglichen Gegenstande ihrer Erhaltung gemacht habe. Denn eine Hälfte von uns, sprach sie, erhielt von ihr Flügel, daß, wen wir hier unten auch alle von den Katzen ausgerottet würden, sie doc hmit leichter Mühe aus den Fledermäusen unser ausgerottetesGeschlecht wiederherstellen könnte.

Die gute Maus wußte nicht, daß es auch geflügelte Katzen gibt. Und so beruht unser Stolz meistens auf unserer Unwissenheit!

1755 erscheint dann das erste von Lessings bekannteren Dramen, nämlich „Miß Sara Sampson“ - die Geschichte eines jungen Mädchens aus gutem Elternhaus, das mir ihrem bösen Verführer von zu Hause abgehauen ist und nun in der Fremde elendiglich verschmachtet. Mit diesem nach englischen Vorbildern gebauten Stück erfindet Lessing sozusagen das bürgerliche Trauerspiel in Deutschland. Wir werden uns aber mit einem in der Forschung weniger beachteten Einakter Lessigs etwas ausführlicher beschäftigen, nämlich mit „Philotas“ aus dem Jahr 1759. Es ist, wie gesagt, ein sehr kurzer Text, in dem Lessing die Problematik eines jungen Helden darlegt, der sich aus mißverstandenem Heroismus im Krieg selbst umbringt - vielleicht keine Problematik, die uns sehr nahe liegt, aber ein sehr schönes Lehrstück, um mit Lessings Dramentechnik ein bißchen vertraut zu werden. 

Kurz nach der Veröffentlichung des Philotas, im Jahre 1760, zieht Lessing nach Breslau, wo er Regimentssekretär wird; dort verdient er besser, kann sich nebenher um seine literarische Bildung bemühen und ein bißchen seiner heimlichen Leidenschaft, dem Spiel, frönen. In dieser Zeit entsteht Lessings berühmte Komödie „Minna von Barnhelm“ (1766); sie hat einen ganz konkreten zeitgeschichtlichen Hintergrund, nämlich den siebenjährigen Krieg von 1756-1763 zwischen Österreich, Rußland und anderen Staaten und Preußen.

 

1767 wird Lessing dann nach Hamburg gerufen, wo Bürger der Stadt das erste deutsche Nationaltheater gegründet hatten und um Lessings fachkundige Unterstützung baten. In diesem Zusammenhang entstand die „Hamburgische Dramaturgie“; ursprünglich geplant als zweimal wöchentliches Rezensionsblatt, enthält sie auch wichtige allgemeine dramentheoretische Überlegungen Lessings, vor allem in der Auseinandersetzung mit Aristoteles. Das Unternehmen Nationaltheater hingegen scheiterte bald, und so nahm Lessing - wiederum auf Jobsuche - im Jahre 1769 das Angebot an, Bibliothekar in Wolfenbüttel an der berühmtem Herzog-August-Bibliothek zu werden; es war zwar nicht sonderlich lukrativ, aber immerhin ein festes Einkommen, was Lessing umso mehr zustatten kam, als er zum ersten Mal in seinem Leben sich mit dem Gedanken an eine Heirat trug. 1776 heiratete er Eva König; die glückliche Ehe dauerte jedoch nur ein Jahr, Eva König starb wenige Tage nach der Geburt ihres ersten gemeinsamen Sohnes, das Kind selbst hatte die Geburt nur um einige Stunden überlebt. Trotz größter privater und beruflicher Probleme - Lessing gerät immer wieder in Konflikte mit dem Braunschweiger Hof - schreibt er die „Emilia Galotti“ (1772) sowie im Jahre 1779 „Nathan der Weise“.

Die letzten Lebensjahre Lessings in Wolfenbüttel sind außerdem geprägt von seinem streitbaren und polemischen Eintreten gegen die religiöse Orthodoxie, wie sie sich beispielsweise in dem bekannten Reimarus-Streit äußert. Unter dem Titel „Fragmente eines Ungenannten“ hatte Lessing im Jahre 1774 einen Text eines Hamburger Freundes, des Gymnasialprofessors Hermann Samuel Reimarus, veröffentlicht, in dem dieser die Offenbarungsreligion angriff, indem er beispielsweise zahlreiche Widersprüche in der Bibel nachwies. Danach sah sich Lessing scharfen Angriffen von Seiten der Kirche ausgesetzt, er erhielt sogar ein Schreibverbot. Auch auf diese Erfahrungen antwortet er mit seinem Spätwerk, dem „Nathan“ und der „Erziehung des Menschengeschlechts“. Lessing stirbt schließlich im Jahre 1781 in Braunschweig.

Aufklärung und Freimaurertum: Ernst und Falk

Ich will einleitend kurz etwas zur Aufklärung als philosophischer Bewegung sagen, bevor wir zu dem Dialog Ernst und Falk kommen. Vielleicht beginne ich mit einer Nebensache, um Ihnen die vielfältigen Anspielungsmöglichkeiten auch eines so kleinen, nicht-literarischen Textes deutlich zu machen. So hatte ich darauf hingewiesen, daß der Begriff Aufklärung natürlich eine Metapher ist, die mit bestimmten Begriffs- und Bildfeldern immer wieder verbunden wird. In dem Zusammenhang ist es wohl kein Zufall, daß das Gespräch unserer beiden Freunde am Morgen beginnt, der Zeit der aufgehenden Sonne, der zunehmenden Helligkeit.

Als zweites ist darauf hinzuweisen, daß es sich um ein Gespräch handelt (dazu später genauer); privates Gespräch, öffentliche Diskussion, auch polemischer Streit sind wesentliche Instrumente der Aufklärung im Kampf gegen Orthodoxie und dogmatisches Wissen; das „Laut Denken mit einem Freunde“, das Falk hier preist, unterscheidet sich drastisch von Formen monologischer Wissensverkündung wie auch einsamer metaphysischer Grübelei. Ich hatte Ihnen in diesem Zusammenhang als Beispiel die berühmte Aufklärungs-Definition von Immanuel Kant in einer aufklärerischen Zeitschrift genannt, die als Teilnahme an einer öffentlichen Diskussion in einem literarischen Diskussionsforum der Zeit zu verstehen ist. Den Kernsatz der Definition selbst muß ich noch einmal kurz wiederholen, weil sie so wichtig ist: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“; ist also gleichermaßen Erziehung und Ermutigung zum Gebrauch des eigenen Verstandes (sapere aude!) Insofern verhalten sich sowohl Ernst wie auch Falk korrekt aufklärerisch: Ernst, weil er sich nicht scheut, eine Frage zu einem heiklen Thema zu stellen,. um sich selbst eine Meinung zu bilden; Falk, weil er ihn nicht mit einer einfachen Antwort aus seinem persönlichen Geheimwissen abspeist, sondern sich bemüht, ihn durch eigenes Nachdenken auf die Lösung kommen zu lassen.

Nächster Punkt: Das Gespräch demonstriert darüber hinaus auch ein wesentliches Verfahren der Aufklärung, nämlich die Vorurteilskritik. Vorurteile sind, so Kant, Schemata, die den Leuten das Denken abnehmen, indem sie ihm eine fertige Meinung zur Übernahme freundlich anbieten; sie führen jedoch in der Konsequenz zu Denkfaulheit und Intoleranz. Auch Ernst hat einige Vorurteile gegen die Freimaurer (sie geben nie direkte Antworten und tun geheimnisvoll; sie verständigen sich über seltsame Zeichen; sie preisen sich großer Wohltätigkeit etc.), die erst beseitigt und widerlegt werden müssen, bevor Falk eine positive Definition von Freimaurerei gegen kann. Dabei legt Falk großen Wert darauf, daß auch er Ernst nur das präsentiert, was er selbst zu wissen glaubt, und erklärt sicheres, positives Wissen in diesem Bereich für unmöglich: „Nicht zwar als ob ich Mangel an eigener Überzeugung hätte; sondern weil ich mich nicht gern jemanden gerade in den Weg stellen mag“. Seine positive Definition des Freimaurertums basiert dann auf einer, abstrakt gesagt, Idee allgemeinen Weltbürgertums, die sich aus den Grundsätzen der Aufklärung - und zwar zu jeder Zeit - abstrakt als Forderung ergibt.

Soweit zu allgemeinen aufklärerischen Idealen in „Ernst und Falk“; nun zu ihrer zeitgenössischen Ausprägung, zur Aufklärung als Epochenbegriff in diesem Text. Was wäre also in diesem Beispiel typisch für das 18. Jahrhundert, typisch auch für Lessing?

Zunächst ist die Gesprächsform selbst auffällig. Es handelt sich um eine Art von platonischem Dialog - also einem Gespräch mit philosophischen Thema, einer überlegenen Figur, die das Gespräch steuert und dabei versucht, dem anderen Gesprächspartner durch gezielte Fragen zu einer eigenen Erkenntnis zu verhelfen (die sogenannte sokratische Hebammenkunst). Dabei wird ein gemeinsames Erkenntnisinteresse zugrunde gelegt (es geht also nicht um eine Kontroverse, um Siegen oder Verlieren; es geht auch nicht um belanglose Konversation); es geht darum, den richtigen Weg zur Wahrheit zu finden. Das Gespräch erschöpft sich hier jedoch nicht in diesen philosophisch-abstrakten Zielen; es ist auch ein literarischer Text. Zwar sind die Gesprächsteilnehmer kaum andeutungsweise charakterisiert (man hat auch schon versucht, die Namen zu deuten); es gibt jedoch neben dem reinen Inhalt auch eine angedeutete Handlung (z.B. einen gesellschaftlichen Rahmen, in dem das Gespräch statt findet: am Rande einer größeren Gesellschaft, in einer Art Park), Mechanismen der Spannungserzeugung (durch die taktischen Unterbrechungen), und das Gespräch selbst ist stilistisch extrem durchformt. Ins Auge fällt vor allem die rhetorische Zuspitzung vieler Passagen, in denen - nach Art der Stichomythie, der Zeilenrede im Drama (dazu später noch) - die Sätze kurz und knapp aufeinanderfolgen und häufig Formulierungen aufnehmen, die im vorigen Satz enthalten waren; ein Beispiel im Zusammenhang der guten Taten der Freimaurer:

Ernst: Oder soll ich das für ihre Taten nehmen, was sie in diesen Reden und Liedern von sich rühmen?
Falk: Wenn sie es nicht bloß von sich rühmen.
Ernst: Und was rühmen sie denn von sich? Lauter Dinge, die man von jedem guten Menschen, von jedem rechtschaffnen Bürger erwartet [...]
Falk: Ist denn das nichts?
Ernst: Nichts! - um sich dadurch von andern Menschen auszusondern.  Wer soll das nicht sein?
Falk: Soll!
Ernst: Wer hat, dieses zu sein, nicht, auch außer der Freimäurerei, Antrieb und Gelegenheit genug?
Falk: Aber doch in ihr, und durch sie, einen Antrieb mehr.

Auffällig an einer Passage wie dieser ist dabei, daß die Wiederaufnahme einzelner Aussagebestandteile diese nicht nur in ihrer Bedeutung erhöht, sondern auch entweder nuanciert - im Sinne der von Falk konstituierten Assoziationsvielfalt einzelner Begriffe - oder eine genauere Formulierung einfordert, also um ständige Präzisierung des sprachlichen Ausdrucks bemüht ist. Offensichtlich besteht also ein großer Teil der aufklärerischen Tätigkeit in einem solchen Gespräch darin, durch Begriffsklärung Mißverständnisse zu vermeiden. Wir sollten uns diese Art der Dialogführung auch deshalb genau ansehen, um bei Lessings Dramen - die eine Vielzahl ähnlicher Dialoge aufweisen - ähnliche Tendenzen und Ziele feststellen zu können.

Soweit zur formalen Gesprächsanalyse; nun noch allgemein zu inhaltlichen Epochenkennzeichen. Der Gegensatz von Empirismus und Rationalismus, von Erfahrungserkenntnis und allgemeinem Vernunftglauben, um es einmal so verkürzt zu sagen, kommt in diesem Text nicht direkt zur Sprache; er liegt ihm aber tatsächlich zugrunde. Auf der Textoberfläche äußert sich das in Anspielungen wie beispielsweise dem Beginn der Unterhaltung, wo auf den Unterschied von Denken und Genießen verwiesen wird - und damit ein deutlicher Schritt von einer sinnlichen Sphäre in eine gedankliche Anstrengung erst einmal vorausgesetzt wird. Damit ist jedoch die sinnliche Sphäre nicht ganz ausgeschlossen aus der Unterhaltung: Sie kehrt z.B. zurück im Übergang vom ersten Gespräch zum zweiten, der über die Bildlichkeit von Schmetterling vs. Ameise das Thema auf eine andere Ebene führt. Denn offenbar ist der erste Anlauf zur Definition des Freimaurertums im ersten Gespräch gescheitert: Was es nun eigentlich ist, kann rein begrifflich - also abstrakt und allgemeingültig - nicht ausgesagt werden; das liegt zum einen an der Vieldeutigkeit der Sprache, die zu einem Begriff verschiedene Assoziationen bei verschiedenen Personen zuläßt.

Zum zweiten jedoch ist nichts gewonnen mit einer abstrakt-allgemeinen Definition von komplexen Sachverhalten; das wird uns im zweiten Gespräch demonstriert. Mit einem typisch aufklärerischen Mittel - einem Gedankenexperiment - versucht man das Verhältnis von Mensch und Gesellschaft zu klären; dazu werden verschiedene philosophische Staatstheorien durchgespielt. Ernst und Falk gehen aus von der abstrakten philosophischen Utopie des besten aller möglichen Staaten; es zeigt sich jedoch schnell, daß dieses theoretische Modell in der Praxis keinen Bestand hat. Dagegen sprechen drei, aus der alltäglichen Erfahrung abgeleitete, Faktoren. Zum ersten wäre dieser Weltbürgerstaat zu groß, um angemessen geführt und verwaltet zu werden; es würde sich zwangsläufig wieder eine Unterteilung in kleinere Einheiten ergeben, die dann wieder - das sagt die Erfahrung - ihre Gruppeninteressen über das allgemeine Interesse stellen würden; man hätte wieder den Nationalstaat (über diese Dialektik kann man wohl auch am Falle des ehemaligen Jugoslawiens trefflich nachdenken). Zum zweiten beruft sich Lessing auf allgemeine psychologische und anthropologische Theoreme der zeit: Zu verschieden sind die äußeren Lebensumstände der Menschen in verschiedenen Regionen der Erde, als daß sich daraus einerlei Kultur, einerlei Religion formen ließe; die Verschiedenheit der Religionen ergibt sich zwangsläufig aus der Verschiedenheiten des Milieus wie des Charakters der Menschen. Zum dritten kann noch nicht einmal innerhalb eines Staates ein einheitliches Interesse der Bürger vorausgesetzt werden, da eine ursprüngliche Eigentums-Gleichverteilung sich schnell wieder verlieren würde; auf dieser basieren aber die Rechtsansprüche des Einzelnen und seine Geltung in der Gesellschaft. All dieses sind begründete Erfahrungswerte aus der Geschichte, die dem abstrakten Modell eines besten Staats gegenübergestellt werden; die Erfahrung (die Empirie) sagt also, daß ein reines Vernunftmodell in dieser Welt keine Überlebenschancen hat - Sie sehen (und damit bin ich wie Falk am Ende meiner Überlegungen und zaubere die Erkenntnis aus der Tasche), es geht auch hier um Empirismus und Rationalismus.


Philotas

Um uns das Dramatische am Beispiel des Philotas klarzumachen, können wir ja einfach mal überlegen, wie der Stoff in anderen Gattungen gestaltet werden könnten. Natürlich ist er gut denbkar als pragmatischer, also nicht-literarischer Text: beispielsweise als Heldenvita aus der Geschichtsschreibung oder auch nur als dokumentarische Überlieferung. Eine solche Heldenvita könnte uns wesentliche Informationen zu Person und Situation des Philotas wie der anderen Figuren geben; sie könnte die Entwicklung des Schicksals beschreiben; sie könnte uns auch deren Charaktere skizzieren. Demgegenüber ist es wohl vor allem ein Vorzug, den die dramatische Gestaltung mit sich bringt: Sie kann uns all dies zeigen, in einer Aufführung direkt vor Augen führen - was uns wahrscheinlich mehr berührt als die trockene Erzählung eines Geschichtsschreibers. damit hätten wir das erste wesentliche Definitionskriterium des Dramas: seine Aufführbarkeit.

Natürlich könnte man die Geschichte des Philotas auch auf andere Weise literarisch gestalten: Beispielsweise erzählerisch - als Heldenepos - oder lyrisch - als Elegie auf einen jungen Helden oder als Hymne für einen jungen Krieger. Was unterscheidet die dramatische Gestaltung von diesen beiden Formen? Gegenüber der lyrischen Darstellung ist das Drama stärker dazu geeignet, tatsächlich einen Handlungszusammenhang darzustellen, der sich aus dem Zusammenwirken verschiedener Personen ergibt; das fällt in monologischen Texten wie in Gedichten gemeinhin schwer; hier ist das Unterscheidende also die Darstellung von Handlung, zu der dramatische Texte besser geeignet sind. Gegenüber einer epischen Darstellung unterscheidet sich der Philotas dadurch, daß nicht ein Erzähler die Handlung darbietet, sondern die Figuren selbst sprechen; was natürlich ebenfalls eine ganz andere Wirkung auf die Leser bzw. Zuschauer hat.

Damit hätten wir also die Vorteile beisammen, die eine dramatische Darstellung gegenüber anderen Formen bietet: Sie kann uns eine Handlung in ihrer Entstehungsweise und in ihrem Zusammenhang auf der Bühne anschaulich vor Augen führen, indem sie die beteiligten Personen selbst zu Wort kommen läßt. Damit verbunden sind jedoch auch einige Nachteile, die wir gleich am Beispiel des Philotas besprechen sollten:

- In pragmatischen Texten ist es kein Problem, eine Vielzahl sachlicher Informationen einzuflechten, die es dem Leser ermöglichen, die Situation besser einzuschätzen; die darstellerische Sprachfunktion ist sozusagen besser ausgeprägt. Das gleiche leistet im Drama die Exposition, die wir in der letzten Sitzung beim Philotas schon analysiert hatten: Im Eingangsmonolog des Philotas schildert dieser selbst seine Situation als Gefangener sowie die äußeren Umstände; er stellt sich gleichzeitig als jugendlich-aufbrausender Charakter dar, der den Tod nicht fürchtet. Die zweite Szene ergänzt dann diesen Eindruck und gibt wesentliche Informationen zur Vorgeschichte; Vorgeschichte wird jedoch auch im weiteren Verlauf des Dramas immer wieder einbezogen, so z.B. die gemeinsame Jugend der Könige. Offensichtlich ist sie also wichtig zum Verständnis des Vorfallenden; sie kann jedoch nicht direkt in die Darstellung einbezogen werden.

- Gegenüber lyrischen Texten haben Dramen grundsätzlich das Problem, daß der expressive Aspekt der Sprache zu kurz kommt. Auch dafür gibt es jedoch mehrere Kompensationsmöglichkeiten. Zum einen können ja auch Dramen ein Versmaß aufweisen (was wir am Nathan noch sehen werden); zum anderen könnte man auch lyrische Elemente integrieren (was im Philotas aufgrund der Thematik nicht ganz nahe liegt), also Lieder oder Gedichte einbeziehen. Aber auch die vielen Monologe des Philotas zielen natürlich in eine ähnliche Richtung, da sie ja sozusagen eine lyrische Grundsituation sind: Ein vereinzeltes Subjekt spricht monologisch über seine Gefühle und Gedanken.

- Zum dritten, der Abgrenzung gegenüber den erzählenden Texten: Epische Texte - wie auch pragmatische Texte - ermöglichen es natürlich auch, theoretische-abstrakte Erwägungen über Sachverhalte anzustellen oder Wertungen abzugeben. Im Drama haben wir keinen Erzähler; wir sind also zur Bewertung der Handlung und der Figuren auf andere Faktoren angewiesen. Nun kann es nicht sein, daß sich die Bewertung der Handlung allein aus der Handlungslogik selbst oder aus der Bewertung der Figuren ergeben kann; sonst kommt man dahin - wie einige Zeitgenossen Lessings - Philotas Heldentod zu feiern und zu begrüßen. Es muß also Anhaltspunkte im Text selbst gehen, die nicht in dieser Handlungslogik aufgehen. Dazu hatten wir ebenfalls verschiedenes zusammengetragen: Beispielsweise die Möglichkeit, sprechende Namen zu verwenden - Philotas als Freundschaft, speziell zwischen Nationen -; das Abwägen von Wertungen, die Figuren im Stück abgeben (darüber werden wir heute noch sprechen anhand der verschiedenen Väter); sprachliche Äußerungen, die ein besonderes Maß von Poetizität im oben skizzierten Sinn aufweisen, also eine Mehrdeutigkeit in das Stück bringen: Das können z.B. bildliche Redeweisen sein; das können auch zentrale Motive sind, die immer wieder auftauchen. All das, was also nicht zwingend im Handlungszusammenhang aufgeht, sondern sozusagen einen Überschuß an Bedeutung dazubringt, ist ein Anhaltspunkt für den Interpreten.

Zur Inhaltsanalyse: Es ist auffällig, daß der Philotas sehr auffällig geprägt ist durch einige grundlegende Polaritäten - beispielsweise die von Jugend und Alter, von Unbedachtheit und Erfahrung; von Person und Beruf; den Wertkonflikt von Ehre und Liebe, Heldentum und Menschenliebe schließlich auf allgemeinster Ebene. Zu dieser Feststellung bedarf es noch keiner erhöhten Deutungsanstrengung; alle Figuren im Stück berufen sich ständig explizit auf diese Kategorien, und daß sie das tun, ist das eigentlich auffällige: Es wäre also zu fragen, was für eine Bewandtnis es hat mit diesen Kategorisierungen, die es offenbar so verführerisch leicht machen, sich in einer komplizierten Situation zurechtzufinden. 

Bezüglich dieser grundlegenden Polaritäten im Stück ist es weiterhin auffällig, daß sie nicht fein säuberlich entlang der Freund-Feind-Linie verteilt sind, die sich ja auch sehr markant durch das Stück zieht (also etwa nach dem Motto: Die einen haben alle guten Eigenschaften, die anderen alle Schlechten; die einen sind die Jungen, die anderen die Alten), sondern geradezu penetrant symmetrisch auf beide Hälften verteilt sind: Bei beiden gibt es Junge, Ehrliebende und Ältere, Erfahrene; auf beiden Seiten gibt es Väter und Könige, Söhne und Prinzen; auf  beiden Seiten gibt es Befehlsempfänger und Befehlende (was den Hinweis auf eine grundlegende Gleichheit nahelegt). Auch ist aus der Handlung keine eindeutige Wertung zu entnehmen, auf welcher Seite das Recht liegt: Aus der Logik des Konflikts und unseren Informationen über die Vorgeschichte ist das nicht ableitbar; weder sind die Jungen immer im Recht, noch die Alten; sowohl die Ehre wie auch die Liebe haben beide ihre positiven und ihre negativen Komponenten. Trotzdem gibt es natürlich jede Menge Reibungspunkte, Werte- und Handlungskonflikte zwischen den jeweiligen Gegensatzpolen - wie wäre das also zu vermitteln? Gibt das Stück dazu irgend einen Hinweis?

Damit wäre unsere Fragestellung also einigermaßen präzisiert; daraufhin haben wir uns die zentralen Szenen des Stückes angesehen, nämlich den Monolog des Philotas in der 4. Szene und die anschließende Unterredung mit Parmenio. Bezüglich des Monologs ist zunächst ganz allgemein auffällig, wie viele Monologe es in diesem doch recht kurzen Einakter gibt. Allein diese formale Gestaltung gibt ebenfalls erste Interpretationshinweise: Zum einen ist es, auf der dramaturgischen Eben, offensichtlich wichtig, daß der Zuschauer intensiv mit Philotas Innenleben, seinen Handlungsmotiven bekanntgemacht wird, die damit wichtiger sind, als die Tat selbst; es geht also um die Darstellung eines inneren Prozesses. Zum zweiten ist es immer fragwürdig, wenn bei Lessing, der so sehr auf den Wert und die Vermittlungsleistung des Gesprächs für die Aufklärung setzt - wie ich es Ihnen am Beispiel von Ernst und Falk zu vermitteln versucht habe -, eine Figur so stark monologisch konzipiert ist. Zu fragen wäre dann, ob sie vielleicht irgendwelche grundlegenden Kommunikationsprobleme hat.

An Philotas Monolog in der 4. Szene selbst sind weitere Dinge bemerkenswert, die ich nur kurz zusammenfasse.

- Zunächst wechselt er zwischen stark emotionalen und stark rationalen Passagen. Philotas stellt seine Idee selbst als spontane Eingebung der Götter dar, die auf ihn eine begeisternde Wirkung hat: Er wird zum Enthusiasten - ein Zustand, der normalerweise das Funktionieren des Verstandes stark behindert. Daneben versucht er jedoch immer wieder, seine Entscheidung durch stark logisches Argumentieren zu unterstützen. Beides steht jedoch unvermittelt nebeneinander; sowohl Kopf wie Herz arbeiten zwar extrem heftig, aber eigentlich aneinander vorbei.

- Der Monolog enthält auf mehreren Ebenen krasse Fehleinschätzungen Philotas’; tatsächlich gibt uns Lessing gleich einen Anfang auf diesen Tatbestand, indem er Philotas sagen läßt: „Wie leicht verblende ich mich selbst“ - Verblendung ist jedoch ein klassischer dramaturgischer Terminus, der ironisch darauf hinweist, daß Philotas tatsächlich in einer Verblendung verfangen ist.

- So ist schon seine Situationseinschätzung extrem subjektiv geprägt und in einigen Punkten definitiv falsch. So unterstellt er, daß sein Vater aus seinem Tod nur Gewinn schlagen könne - und unterschlägt damit, daß sein Vater ihn doch mehr liebt als sein Reich, wie er anfangs selbst gesagt hatten. Er unterstellt weiterhin, daß die Situation sozusagen das Ergebnis einer schicksalhaften Fügung sei, die es ihm nun in die Hand gegeben habe, die wiederhergestellte Gleichgewicht der Kräfte wieder aus den Angeln zu heben; dabei handelt es sich wohl doch eher um einen Zufall - so deutet auch Aridäus in einer anderen Szene das Kriegsglück explizit. So gibt es zu den meisten Sätzen, die Philotas in dieser Szene so emphatisch als ewige Wahrheiten verkündet, mit großer Sicherheit einen entsprechenden Gegensatz irgendwo im Stück; vielleicht am drastischsten Beispiel demonstriert: Nach Philotas ist ein Held dadurch gekennzeichnet,daß er höhere Werte als sein Leben kennt; Aridäus hingegen sagt: „Was ist ein Held ohne Menschenliebe?“ Da Philotas jedoch kaum in eine  echte Kommukation mit seinen Gegner eintritt, gibt er ihnen keine Chance, seine fehlerhafte Situationseinschätzung zu korrigieren, treffen diese gegenteiligen Sätze also nie in einem Gespräch aufeinander; er bleibt in seiner Verblendung willentlich gefangen.

- Augenfällig wird diese für den Leser auch dadurch, daß Philotas mehrere bildliche Ausdrucksweisen verwendet, die sachlich falsch sind. So legt das Bild von Keim und Sprosse gerade nicht nahe, daß ein Keim schon das gleiche leisten kann und muß wie eine vollendete Pflanze; er braucht im Gegenteil Zeit um zu zeigen, was in ihm steckt. Diese Zeit verweigert sich Philotas selbst.

- Schwerwiegende Fehler passieren Philotas auch beim logischen Argumentieren. So wendet er einen Syllogismus an, um seinen Entscheidung zum Heldentod zu verteidigen, aber leider falsch. Ein Syllogismus ist eine logische Schlußfigur, bei der aus zwei Vordersätzen ein dritter Schlußsatz abgeleitet ist. Das berühmteste Beispiel:
a) Sokrates ist ein Mensch; b) alle Menschen sind sterblich; ergo: Sokrates ist sterblich.
Philotas Syllogismus ist etwas komplizierter. Er will folgendes beweisen: Ein Held ist ein Mann, der fürs Vaterland sterben kann - so die Aussage seines Vaters; darin erfüllt er seinen Zweck. Er will nun ein Held sein - ist er aber ein Mann, gilt diese Aussage auch für ihn, den Jüngling? Dazu definiert er zunächst den Jüngling als unvollkommenen  Mann (dieser Schritt ist nicht explizit, wird aber später unterstellt). Jetzt kommt der Syllogismus:
a) Jedes Ding ist vollkommen, das seinen Zweck erfüllen kann (ein Grundsatz der rationalistischen Philosophie)
b) Ich kann meinen Zweck erfüllen, nämlich für den Staat sterben.
c) Ergo bin ich vollkommen, das heißt ein Mann und kein Jüngling.

Das Argument ist zwar logisch schlüssig, enthält aber falsche Voraussetzungen in den Vordersätzen - deshalb stimmt der Syllogismus nicht. Zum einen ist ein Jüngling nicht einfach ein unvollkommener Mann, also ein rein negativ bestimmter Zustand; Jugend hat ja offensichtlich einfach andere Eigenschaften und Werte als Erwachsensein. Zum zweiten ist Philotas offensichtlich kein Ding, sondern ein Mensch; ob ein Mensch aber so definiert werden kann, daß er vollkommen ist, wenn er seinen Zweck erfüllt, erscheint höchst fragwürdig bzw. ziemlich menschenfeindlich, da es den Menschen offenbar auf eine Funktion reduziert. Das wäre an dieser Stelle der kritische Akt, den der Leser zu vollziehen hätte und auch ein Schluß, der offensichtlich für den Philotas als Ganzes von Bedeutung ist: Wird doch im ganzen Stück immer wieder die Beziehung von Mensch und Funktiosnträger - von Vater und König, Sohn und Prinz - thematisiert.

Kontrastiert werden nun sowohl der jugendliche Enthusiasmus des Philotas wie auch seine sophistische Logik durch die Einschätzungen des Parmenio in der nächsten Szene, und zwar in mehrerlei Hinsicht:

* Gegenüber Philotas' Pathos betont er die Lächerlichkeit der Situation (und interessanterweise mit der gleichen Metapher: Während Philotas ganz unter dem Eindruck des Blitzschlags steht, der ihn knapp verfehlt hat und sozusagen noch im nachhinein zittert bei dem Gedanken daran, was hätte passieren können, amüsiert sich Parmenio darüber, daß es wieder einmal danebengegangen ist).

* Gegenüber Philotas' Beharren auf der Verletzung seiner Ehre betont er die Werte von Liebe und Zärtlichkeit, die für ihn für einen jugendlichen Menschen ungleich wichtiger sind.

* Als Philotas versucht, ihn durch einen unbegründeten Befehl auf einen reinen Funktionsträger zu reduzieren, der zu gehorchen hat, setzt er sich zur Wehr und verlangt eine Begründung.

Gegenüber Philotas’ Verstand zeigt Parmenio also Widerstandskraft; er erliegt allerdings, als der junge Mann an sein Vaterherz appelliert und sich mit kindlichen Bitten die Gewährung seiner Bitte erschleicht. Auch Parmenio verfällt also in den Fehler, den auch Aridäus und Strato machen: Sie nehmen Philotas nicht ernst genug, sondern behandeln ihn letztendlich als Kind - eine schwerwiegende Fehleinschätzung. Warum sie so handeln, ist aus dieser Szene allein nicht ersichtlich; das sollten wir heute noch diskutieren, wenn wir auf der Folie des „Briefwechsels über das Trauerspiel“ überlegen, welche Haltung gegenüber unserem jungen Helden nun die angemessene ist.


Briefwechsel über das Trauerspiel

Zwei Dinge sollten wir beachten, wenn wir uns mit einem solchen theoretischen Text eines Dramenautors beschäftigen.

- Zum einen stellt sich Lessing (wie auch seine Mit-Autoren und Briefpartner Nicolai und Mendelssohn; ich sage jetzt und im folgenden nur der Einfachheit halber immer Lessing) damit in eine dramentheoretische Diskussion, die bereits seit Aristoteles geführt wird (um den auch wir nicht ganz drumherum kommen werden, später dann bei der Hamburgischen Dramaturgie), und zwar gerade im 18. Jahrhundert mit besonderer Energie: Da man ja dabei ist, neue Dramengattungen zu erfinden bzw. den alten Tragödienbegriff umzudeuten (in Richtung bürgerliches Trauerspiel) versucht man auch, sich darüber Rechenschaft abzulegen und das eigene Vorhaben zu begründen. Das ist deshalb so wichtig, weil man prinzipiell auch im 18. Jahrhundert immer noch sehr großen Respekt vor den sogenannten „Alten“ - also den Mustern aus der Antike - hat und bezüglich der eigenen Zeit eher so eine Art chronischen Minderwertigkeitskomplex. Man ist also immer, wenn man etwas macht, was so in einer überlieferten Poetik nicht vorkommt, zu besonderer Rechtfertigung aufgefordert, da man von jahrhundertelang gültigen Regeln abweicht, die genau vorzuschreiben, wie eine vorbildliche Tragödie zu sein hat. Im 18. Jahrhundert wendet man sich jedoch zunehmend ab von diesen sogenannten „normativen Poetiken“, die bis ins 17. Jahrhundert hinein maßgeblich und verbindlich für jegliche dichterische Tätigkeit waren. Lessings Poetik hingegen ist eine für das 18. Jahrhundert typische „Wirkungspoetik“; sie gibt also keine Anweisungen darüber, wie poetische Texte zu verfertigen sind, sondern versucht zunächst festzulegen, welche Wirkung man beim Leser/Zuschauer erreichen will, um danach Grundsätze aufzustellen, wie eine solche Dichtung beschaffen sein muß.

- Zum zweiten kann man natürlich normalerweise nicht einfach hergehen und einen theoretischen Text eines Autors einfach auf einen poetischen anwenden, wie ich das Ihnen in der letzten Stunde nahegelegt habe: Der Philotas ist nicht einfach geschrieben als Musterbeispiel für das, was Lessing im „Briefwechsel“ sagt oder auch umgekehrt: Lessings Dramentheorie ist einfach etwas, was er auch seinen eigenen Dramen abgeleitet hat (das Problem stellt sich übrigens noch schärfer dann bei der Emilia Galotti und der Hamburgischen Dramaturgie, über deren Beziehung zueinander es sehr kontroverse Forschungsmeinungen gibt). Beides, sowohl theoretische Texte wie auch poetische, haben durchaus eigene Regeln und Gesetze, und das 18. Jahrhundert glaubt ja eben nicht mehr daran, daß man einen poetischen Text nach einer einfachen Gebrauchsanweisung verfertigen kann. Man kann jedoch aus Lessings theoretischen Äußerungen schon sowohl Wertmaßstäbe zur Beurteilung seiner eigenen Dramen wie auch Interpretationshinweise entnehmen; das ist es, was wir hier versucht haben und was ich Ihnen gleich noch an ein paar Beispielen erläutern will.

Als erstes ein paar kurze Hintergrundinformationen zu diesem Text selbst. Der Briefwechsel über das Trauerspiel mit Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai entstand in den Jahren 1756 und 1757, also ein bis zwei Jahre vor dem Philotas. Es handelt sich nicht etwa um einen fiktiven Briefwechsel, also eine theoretischen Text in Gestalt eines erfundenen Briefwechsels, sondern um eine reale brieflich geführte Diskussion zwischen drei Freunden um einen Gegenstand, dem aus verschiedenen Gründen ihr gemeinsames Interesse galt. Zu den Beteiligten: Lessing - den Sie jetzt schon zur Genüge kennen - befand sich zu dieser Zeit in Leipzig und korrespondierte deshalb mit seinen Berliner Freunden. Friedrich Nicolai ist bekannt geworden vor allem als Herausgeber mehrerer bedeutender Zeitschriften des 18. Jahrhunderts; minderen Ruhm hat er auch als Romanautor erworben, und zwar vor allem durch eine Satire auf Goethes „Leiden des jungen Werther“, einem kleinen Text mit dem schönen Namen „Freuden des jungen Werther - Leiden und Freuden Werthers als Mann“, in dem Nicolai die Handlung vor dem Selbstmord Werthers aufnimmt; dieser bringt sich also nicht um, sondern Albert entsagt Lotte, diese heiratet Werther; man erlebt gemeinsam die Freuden und Niederungen einer alltäglichen Ehe, und Albert tritt sogar als Eheschlichter in Krisensituationen auf. Soviel also zu Nicolai; eine bedeutende Figur im literarischen Leben der Zeit, aber selbst kein großer Dichter. 

Moses Mendelssohn hingegen hatte vor allem philosophische Interessen; als Jude wuchs er in extremer sozialer und vor allem bildungsmäßiger Benachteiligung auf, seine philosophische Bildung erwarb er sich in Berlin und unter Förderung von Lessing und Nicolai; bekannt wurde er durch seine popularphilosophischen Schriften, die versuchen, Erkenntnisse der zeitgenössischen Schulphilosophie in zugänglicher Form auf allgemein interessierende Fragestellungen anzuwenden; einer seiner bekannten Texte beinhaltet z.B. eine Theorie der Empfindungen und Leidenschaften - also eine Fragestellung, die ja auch zentral für den „Briefwechsel über das Trauerspiel“ ist.

Damit nun endlich zum „Briefwechsel über das Trauerspiel“ selbst. Ganz  zentral für diesen Text ist eine neue Definition der Funktion des Trauerspiels (das Lessing hier nicht als bürgerliches bezeichnet, aber letztendlich meint), und zwar, wie gesagt, vor allem bezüglich seiner Wirkung. Lessing nimmt dabei zwei gängige Funktionsbestimmungen aus der Dramentheorie aus: Das Drama soll bessern, indem es die Leidenschaften reinigt (soweit Aristoteles); das Drama soll möglichst heftige Leidenschaften erregen (soweit Nicolai in seinem ersten Brief, mit dem der Briefwechsel beginnt unter Berufung auf einen französischen Dramentheoretiker namens Dubos; dieser hatte am Anfang des 18. Jahrhunderts erstmals gefordert, daß die Funktion der Kunst in der Erregungen von Leidenschaften bestehen solle). Zwischen beiden vermittelt nun Lessing; das Trauerspiel solle auf jeden Fall moralisch bessern, das sei sein Zweck; es sollte dieses aber vermittels der Leidenschaften tun (die also als Mittel durchaus erregt werden sollen) (ansonsten könnte man ja auch, um die Menschen  moralisch zu bessern, Abhandlungen schreiben; Lessing geht es jedoch um eine spezifisch ästhetische Wirkung). Damit ergibt sich die zentrale Frage: Welche Leidenschaften erfüllen diesen Zweck am besten?

Bevor wir diese Frage beantworten, wiederum ein paar Vorüberlegungen. Der Zusammenhang von Drama und Leidenschaften ist ebenfalls schon bei Aristoteles thematisiert; er gibt auch bestimmte Leidenschaften vor, die besonders typisch für das Drama seien. Der Zusammenhang von Drama und Leidenschaften beruht insgesamt wohl darauf, daß das Drama durch die Darstellung von Handlung definiert ist, wie wir gesagt hatten; eine solche Handlung zeigt aber zum einen zumeist Menschen, die aufgrund von starken Emotionen agieren, und sie erzeugt auch eine starke emotionale Wirkung bei uns - das ist also etwas, das das Drama in besonderem Maß auszeichnet. Für das 18. Jahrhundert sind nun jedoch solche Leidenschaften etwas durchaus problematisches und zwiespältiges, da wir einen prinzipiellen Primat der Vernunft haben und Leidenschaften ja meist nicht so problemlos mit Vernunftsätzen in Einklang zu bringen sind. Deshalb muß Lessing jetzt also sehr sorgfältig möglichst moralische Leidenschaften aussuchen, um dieses Gefahrenpotential, das Leidenschaften immer darstellen, gut unter Kontrolle zu halten. Dabei entscheidet er sich für das Mitleid als die moralischste Leidenschaft; er entscheidet sich gleichzeitig gegen das, was Mendelssohn vorschlägt, nämlich die Bewunderung, und das, was Aristoteles sagt, nämlich den Schrecken. Zu seiner Begründung im einzelnen:

* Mitleid ist zunächst nach Lessing der einzige Affekt, den wir direkt empfinden, wenn wir eine dramatische Darstellung zur Kenntnis nehmen. Das liegt daran, so Lessing, daß wir alle anderen Affekte den Personen auf der Bühne sozusagen nur nachempfinden: Wir sind traurig, wenn sie traurig sind, oder fröhlich, wenn sie es sind - beides jedoch nur in abgeschwächter Form, da wir ja nicht selbst betroffen sind. Mitleid hingegen empfinden nicht die Personen auf der Bühne, sondern nur wir selbst, und zwar direkt und unmittelbar. Ein solches direktes und unmittelbares, primäres Gefühl erfahren wir jedoch als angenehmer, da jede Leidenschaft, so Lessing, zunächst als angenehm empfunden wird: Wenn wir fühlen, sind wir uns stärker unserer selbst als Individuum bewußt. Beim Mitleiden fühlen wir uns also in besonderem Maß selbst, das empfinden wir als lustvoll.

* Mitleid kann sich in Stufen entwickeln: Die erste ist der Schrecken - wir werden dadurch überrascht, daß eine Figur, mit der wir uns identifizert hatten, dem Unglück ausgesetzt ist, also daß Philotas in Gefangenschaft geraten ist -; das eigentliche Mitleid äußert sich dann in Tränen und beruht darauf, daß der Betroffene nicht nur in Unglück geraten ist, sondern bei alledem auch noch moralische Verdienste aufzuweisen hat (wenn der Böse ins Unglück gerät, sind wir also nach dieser Theorie nicht mitleidig). Das Mitleid wird zur Bewunderung - und löst sich dadurch selbst auf -, wenn der Betroffene auf sein Unglück in einer übermenschlich moralischen Weise reagiert. Eigentliches Mitleid ist also eine Art Gleichgewichtszustand zwischen einem negativen Element - der unglücklichen Situation, dem fatalen Schicksal - und den positiven charakterlichen Eigenschaften, die die Figur diesem Unglück entgegensetzen kann; es ist deshalb auch eine gemischte Empfindung.

* Damit haben wir zwar einen wesentlichen Unterschied zwischen Mitleid und Bewunderung festgestellt, aber noch nicht dargetan, daß das eine moralisch leistungsfähiger als das andere ist. Dazu argumentiert Lessing folgendermaßen: Bewunderung empfinden wir für heroische Handlungen. Es ist vielleicht sogar möglich, spontan Bewunderung zu empfinden; dann haben wir ein Bedürfnis, diese heroischen Taten nachzuahmen. Dazu haben wir zwei Möglichkeiten: Entweder wir müssen uns die Stärke des spontanen Eindrucks irgendwie erhalten, um dann direkt unter dem Einfluß der Begeisterung zu handeln (was praktisch schwer vorstellbar ist, weil man ja nach dem Ende des Theaterstücks nach Hause geht und schläft); oder man muß die Bewunderung rationalisieren, sich also Ursachen und Gründe klarmachen, um bei Gelegenheit bewußt genauso handeln zu können. Nun motivieren aber zum einen rationale Erwägungen nicht so gut zum Handeln wie Emotionen - da ist sich die zeitgenössische Psychologie schon sehr sicher -; zum anderen könnten die daraus gezogenen Lehren immer nur auf einen vergleichbaren Fall angewandt werden, sind also nicht verallgemeinerbar.

* Demgegenüber hat das Mitleid mehrere Vorteile aufzuweisen: Es bessert laut Lessing „unmittelbar; bessert, ohne daß wir selbst etwas dazu beitragen dürfen; bessert den Mann Verstand sowohl als den Dummkopf“. Es wirkt also auf jeden, unabhängig von der konkreten Situation und den geistigen Fähigkeiten; und es wirkt unspezifischer, indem es nicht nur auf vergleichbare Fälle anwendbar ist, sondern - so Lessing - eine allgemeine Fähigkeit zur Mitmenschlichkeit, zum Verständnis, zur Verständigung schult.

* Das gleiche gilt im übrigen für den Helden. Ein heroischer Held, so Lessing, ist im allgemeinen dadurch gekennzeichnet, daß er unempfindlich ist, also unsensibel für menschliche Gefühle und Bedürfnisse; er ist ein „schönes Ungeheuer“ - aber damit weder ein Gegenstand des Mitleids, noch überhaupt ein guter Mensch. Empfindlichkeit, Sensibilität, Mitgefühl ist also nicht nur ein Wert für den Zuschauer, sondern auch etwas, daß eine Figur aufweisen muß, mit der wir uns identifizieren sollen. Gleichzeitig soll sie jedoch auch einen spezifischen Fehler haben, also nicht völlig unverdient ins Unglück geraten; auch aus ästhetischen Gründen muß ein Zusammenhang zwischen Art des Unglücks und dem Charakter der betroffenen Figur bestehen, da sonst das Stück für Lessing kein Ganzes wäre.

An dieser Stelle sollten wir nun zum Philotas übergehen. Was ist sein Unglück? Nicht eigentlich, daß er in Gefangenschaft geraten ist (daß ist sein Unglück aus seiner eigenen Sichtweise), sondern wohl doch eher aus unserer Perspektive seine fatale Idee, sich umzubringen, die einen jungen blühenden Menschen seiner Zukunft und einen liebevollen Vater seines Sohnes beraubt. Der Zusammenhang dieses Unglücks mit seinem Charakter ist auf der Handlungsebene völlig klar, da er es ja gezielt selbst herbeigeführt hat; es resultiert aber auch darüber hinaus aus eigenen Charakterzügen des Philotas, die wir vorher kennengelernt hatten: Seiner Fixierung auf das Freund-Feind-Schema; seiner Kommunikationsverweigerung und seiner Tendenz zum Monologisieren; der Art, wie er ständig zwischen Begeisterung und Logik, überschwenglichen Empfindungen und sophistischen Überlegungen schwankt; seiner Neigung dazu, sein eigenes Schicksal zum Machtspruch der Götter zu stilisieren usw. Darauf spielt auch in der letzten Szene des Dramas, die wir gemeinsam betrachtet hatten, einiges an: Zunächst die einleitende Erzählung des Strato, die Philotas Vermutungen über den Verlust seines Schwertes an einen vermeintlich goldgierigen Soldaten dementiert (und damit Philotas wieder einer Fehleinschätzung und eines Vorurteils überführt); dann die Art, wie Philotas seinen Selbstmord inszeniert. Er steigert sich nämlich geradezu rauschartig aus einer eigentlich friedlichen Situation in einen Zustand der Bedrohung, indem er sich zurückversetzt in seine Gefangennahme und diese praktisch noch einmal erlebt, aber das vermeintlich unehrenhafte Ende korrigiert, indem er der Gefangennahme diesmal durch seine Selbsttötung zuvorkommt - also wieder eine Handlung aus voller Begeisterung, die erst hinterher - als er schon im Sterben liegt - rational erklärt wird, nämlich als Vorsatz; wiederum finden wir dieses ganz unvermittelte Nebeneinander von Kopf und Herz.

Besonders interessant sind nun die verschiedenen Reaktionen des Aridäus und des Strato, die nacheinander durchgespielt werden: Sie erproben sozusagen gleichzeitig mögliche Reaktionen auf das Trauerspiel, das Philotas ihnen soeben gegeben hat. Die erste Reaktion ist bei beiden ein rationale, die versucht, das Schreckliche zu erklären und damit faßbar zu machen: Der König sagt „Welch wütende Schwermut“ - interpretiert den Vorgang also als Akt der Melancholie, die sich gegen sich selbst richtet, als Krankheit sozusagen; Strato hingegen argumentiert legalistisch, indem er darauf hinweist, daß Philotas seine Pflichten als Gefangener verletzt habe. Als ihnen dann klar wird, daß es sich um eine willentliche, gezielte Aktion handelt, verfällt Aridäus zunächst in wütende Rachegedanken, überläßt sich also sozusagen seinen spontanen Emotionen. So versucht er zunächst, Philotas den Sieg sozusagen streitig zu machen, indem er androht, das Gleichgewicht des Schreckens wiederherzustellen, indem er seinen Sohn opfert. Dabei verletzt er einen Grundsatz, den gerade er vorher immer vertreten hatte, nämlich die grundlegende Gleichheit beider Seiten: Plötzlich behauptet er, nicht so zu sein wie Philotas Vater, und allein im Staatsinteresse handeln zu wollen. Als ihn jedoch Philotas an seine Vaterliebe gemahnt, nimmt er seine Drohung zurück und beschränkt seine Rachegelüste auf die Drohung, Philotas toten Körper nicht zu begraben. 

An diesem Punkt nimmt die Handlung eine entscheidende Wendung durch eine Äußerung des sterbenden Philotas: Er bemitleidet den König und vertröstet ihn und Strato auf ein ewiges Reich der Tugendhaften und Tapferen, wo alle kriegerischen Gegensätze aufgelöst sein werden. Philotas selbst gibt damit ein Vorbild dafür, wie sowohl Aridäus sich zu verhalten hätte wie auch er Zuschauer: Indem sie - durch Mitgefühl - die vorgeblichen Gegensätze transzendieren im Hinblick auf eine allgemeine Basis menschlichen Verstehens und menschlicher Gleichheit. Auch Philotas hat damit eine erstaunliche Wandlung durchgemacht; er triumphiert im Tod nicht etwa über seine Gegner, sondern versucht, versöhnt aus der Welt zu scheiden. Damit hat er dann letztendlich auch Erfolg: Sowohl Strato wie Aridäus weinen über den „wunderbaren Jüngling“ - bewundern ihn also nicht, hassen ihn aber auch nicht, sondern äußern ebenfalls Mitleid. Und das ist wohl auch die Haltung, die der Zuschauer damit am Schluß des Dramas erreicht haben sollte: Nicht etwa Bewunderung gegenüber dem Opfertod des Philotas - denn wenn das das Ziel wäre, so müßte sich der andere gefangene Sohn auch töten, und das ganze Spiel ginge von vorn los. Sondern Mitleid - das heißt eine allgemeine Haltung von Verständnis und Mitmenschlichkeit, die die Freund-Feind-Gegensätze überwinden kann und die darunterliegende Gemeinsamkeit entdeckt und wieder zu ihrem Recht verhilft - und zwar möglichst schon auf dieser Welt.


Emilia Galotti

Die Handlung von Emilia Galotti geht zurück auf eine Legende aus dem Rom des 5. vorchristlichen Jahrhunderts, die von dem Historiker Titus Livius überliefert wurde. Die Dame heißt in diesem Fall nicht Emilia, sondern Virginia und ist die Tochter eines tugendhaften Soldaten aus dem Plebejerstand; die Rolle von Hettore Gonzaga, dem bösen Fürsten, wird vom dem Tyrannen Appius Claudius, der gerade erst die Macht in Rom an sich gerissen hatte, gespielt. Während einer Abwesenheit des Vaters im Felde versucht er, das Mädchen - das übrigens auch bereits tugendhaft verlobt ist - zur Sklavin zu erklären und in seine Gewalt zu bringen; wegen ihres Widerstandes und des heldenhaften Eintreten ihres Verlobten für sie findet ein öffentlicher Prozeß statt, in dem Appius Claudius schließlich ein Willkürurteil fällt und das Mädchen zur Sklavin erklärt. Daraufhin stößt ihr inzwischen aus dem Feld zurückgekehrter Vater seiner Tochter ein Messer in die Brust, mit dem Ausruf, wie Livius überliefert, daß damit ihre Freiheit gerettet werde; gleichzeitig ruft er durch diese Tat zum Aufstand gegen des Tyrannen auf, der im Verlauf dieser Revolte dann tatsächlich gestürzt wird.

Dieser doch recht aufregende Virginia-Stoff ist seit dem 16. Jahrhundert vielfach dramatisch bearbeitet worden; nach Lessings Bearbeitung entstanden auch im 18. Jahrhundert noch weitere Stücke zu diesem Thema (z.B. vom Bodmer: „Odoardo Galotti, Vater der Emilia).

Lessing selbst hat sich bereits in den 50er Jahre mit diesem Stoff vertraut gemacht; er rezensierte 1750 einige Virginia-Dramen und übersetzte 1754 eine spanische Virginia-Tragödie. 1757 setzt sein Freund Nicolai - den wir ja bereits aus dem Briefwechsel über das Trauerspiel kennen - einen Preis für eine Tragödie in deutscher Sprache aus; in diesem Zusammenhang bearbeitet Lessing wohl erstmals selbst den Stoff und plant eine dreiaktige Tragödie. So schreibt er 1758 an Lessing (indem er verschweigt, daß von sich selbst die Rede ist): „Sein jetziges Sujet ist eine bürgerliche Virginia, der er den Titel Emilia Galotti gegeben. Er hat nemlich die Geschichte der römischen Virginia von allem dem abgesondert, was sie für den ganzen Staat interessant macht; er hat geglaubt, daß das Schicksal einer Tochter, die von ihrem Vater umgebracht wird, dem ihre Tugend werther ist, als ihr Leben, für sich schon tragisch genug, und fähig genug, die ganze Seele zu erschüttern, wenn auch gleich kein Umsturz der ganzen Staatsverfassung darauf folgte.“ Damit ist ein entscheidender Hinweis darauf gegeben, wie Lessing auch später den Stoff behandelt hat: er hat ihn bewußt ganz auf die Tugend-Problematik konzentriert und die - für das römische Vorbild zentrale - politische Wirkung der Tat ausgeklammert. Diese Aussage ist natürlich auch zu berücksichtigen, wenn man über die Konfrontation von bürgerlichen Werten und Adelswerten im Stück untersucht (daß es sich um keine direkte Konfrontation von Bürgertum  und Feudalgesellschaft an sich handeln kann, haben wir schon damit begründet, daß die Galottis nicht bürgerlich sind).

Während seiner Arbeit als Dramaturg in Hamburg nimmt Lessing die Arbeit an der EG wieder auf; im Spätherbst 1771 entsteht - nunmehr bereits in Wolfenbüttel - die endgültige Version des Trauerspiels. Vorab schickt er das Stück an seinen Bruder Karl zur Kritik; dieser kritisiert vor allem den Charakter der Emilia als zu fromm, zu pedantisch, zu kleingeistig. Lessings Antwort darauf gibt interessante Hinweise für die Interpretation der Emilia als Dramenfigur. So rechtfertigt er in einem berühmtgewordenen Satz ihre Charakteranlage mit den Worten: „Ich kenne an einem unverheirateten Mädchen keine höhere Tugenden, als Frömmigkeit und Gehorsam“ - das für alle unverheirateten Mädchen unter ihnen! Emilia ist also von Lessing gezielt als Gestalt angelegt, die keinen starken eigenen Willen hat und sich ganz den Gesetzen der Religion wie auch  ihrer Eltern unterwirft; nur am Schluß, so Lessing, werde sie interessanter und „thätiger“.

Daß das Stück zwar nach eben dieser Emilia Galotti heißt, diese jedoch bis kurz vor Schluß kaum einmal auftritt in dem Drama, hatten wir letzte Woche bei unserer Untersuchung der Handlungsstruktur bereits gesehen. Anhand eines einfachen Handlungsschemas kann man sehen, daß beinahe jeder Akt irgendwie auf eine Figur hin konzentriert wird, die die meisten Auftritte hat; das ist im ersten Akt der Prinz, der sowohl privat wie auch in seinen Dienstgeschäften vorgeführt wird; das ist im zweiten Akt Claudia Galotti in ihrem häuslichen Umfeld; das ist im dritten Akt Marinelli, der die Fäden bei der im Hintergrund ablaufenden Intrige zieht; das ist im vierten Akt Orsina (mit der wir uns überhaupt noch genauer beschäftigen müssen); und im fünften Akt schließlich Odoardo, der nun die Handlung bestimmt und zu einem Ende führt. Schon aus dieser Aktaufteilung lassen sich erste Grundstrukturen der Handlung ablesen: So entspricht der zentralen Rolle des Prinzen im ersten Akt symmetrisch die Bedeutung Odoardos für den 5. Akt; beide Figuren werden übrigens nie direkt miteinander konfrontiert, sondern sind beide ganz auf die Gestalt Emilias ausgerichtet. Dieser Parallelität entspricht auch die von Claudia und Orsina im 2. und  im 4. Akt; der Dreh- und Angelpunkt der ganzen Handlung, Marinelli, hingegen ist logischerweise im 3. Akt dominant. Marinelli hat auch insgesamt bei weitem die meisten Auftritte - was, wie bereits mehrfach betont, nicht wenig zur Problematik der Handlungsentwicklung beiträgt: Da die meisten Figuren vor allem mit Marinelli reden, um Informationen zu bekommen, sind sie gleichzeitig auf die unzuverlässigste Figur im ganzen Stück angewiesen.

Wie bei Philotas kann man also auch bei EG schon wichtige Informationen aus der Art der Figurenkonstellation und den unterschiedlichen Redesituationen ziehen. Philotas hatte das Gespräch mit Aridäus verweigert; in EG bekommen die zentralen Figuren einfach keine Gelegenheit, einmal privat miteinander zu reden oder sich einfach nur gehen zu lassen. Das wird durch eine Analyse von Ort und Zeit bestätigt. Der erste Akt, der ja vor allem die Figur des Prinzen und sein Verhältnis zu Emilia und Orsina exponiert, spielt im Kabinett des Prinzen, wo er seine Besuche empfängt (Conti, Marinelli, Rota); der zweite Akt, der die Welt der Galottis vorstellt, in einem Vorsaal im Hause der Galotti, wo ebenfalls die Besucher ein und ausgehen. Ab dem dritten Akt befinden wir uns wiederum in einem Vorsaal auf dem Schloß des Prinzen; es herrscht wiederum Vorzimmer-Atmosphäre und reges Kommen und Gehen. Noch drastischer jedoch weist die zeitliche Struktur darauf hin, daß es wieder einmal Kommunikationsprobleme gibt: Da alle ständig in besonderer Eile sind, verpassen sie sich gegenseitig immer wieder und vermeiden so entscheidende Gespräche: Odoardo verpaßt Emilia, als sie aus der Kirche kommt; Appiani kommt nicht mehr dazu, den Prinzen zu besuchen, da Marinelli dazwischenkommt; das krasseste Beispiel ist natürlich am Schluß zu finden.

Soviel erst einmal zur allgemeinen Struktur; jetzt noch kurz zu den einzelnen Personen, die uns im ersten Akt vorgestellt werden. Da ist zunächst einmal der Prinz, Hettore Gonzaga; schwer belastet mit Staatsgeschäften, umgeben nicht von einer treusorgenden Familie, sondern von Räten verschiedener Zuverlässigkeit, und frisch verliebt in Emilia Galotti. Sowohl unter Bezug auf die Vorlage des Virginia-Stoffes wie auch im Rahmen eines bürgerlichen Trauerspiels traditioneller Auffassung müßte er eigentlich ein böser Tyrann, Willkürherrscher und Lüstling sein; wir bekommen jedoch mehrere Hinweise darauf, daß das Klischee so nicht ganz stimmen kann. Zum einen handelt er zwar gleich in der ersten Szene recht willkürlich, indem er ein Bittgesuch bewilligt, nur weil die Bittstellerin Emilia heißt; er beklagt jedoch seine Unfähigkeit, nicht allen helfen zu können, ist also prinzipiell seinen Untertanen wohlgesonnen. Den Gegenpol dazu bildet die letzte Szene des Aktes, in der er ein Todesurteil scheinbar leichtfertig unterschreiben will; diese Szene wird gemeinhin als stärkstes Argument für seine charakterliche Verworfenheit angeführt, da sie ja auch sonst keine Bedeutung für die Handlung selbst hat, sondern offensichtlich nur dazu dient, den Charakter des Prinzen zu illustrieren. Ganz so einfach ist die Bewertung jedoch nicht; der Prinz sagt gleich anfangs, er stünde den „Bedenklichkeiten“ Rotas prinzipiell gern zu Diensten; er bedauert, ihm mit der Post nicht „viel Tröstliches“ überreichen zu können. Er hat also sehr wohl sowohl ein Gewissen wie auch gute Absichten; daß er das Todesurteil leichtfertig unterzeichnen will, liegt vor allem an seiner Eile, die ihn den Sachverhalt gar nicht richtig wahrnehmen läßt - auch hier also wieder vor allem ein Hinweis darauf, welche fatalen Folgen eine übereilte Handlung haben kann.

Das gleiche gilt für seine Liebe zu Emilia: Sie entspricht gerade nicht dem klischeehaften Bild höfischer, unverbindlicher, auf sinnliche Befriedigung beschränkte Beziehungen. Dieses Klischee mag noch für seine Beziehung zu Orsina zutreffen (aber wiederum nicht auf deren Verhältnis zum Prinzen); diese unterscheidet er aber gerade kraß gegenüber seiner Liebe zu Emilia. Dabei ist es auffällig, daß von anfang an beide immer in direktem Kontrast erwähnt werden: Als der Prinz die Bittschrift der Emilia Bruneschi liest, kommt der Brief von Orsina; als das Porträt Orsinas überbracht wird, bringt Conti gleichzeitig das von Orsina; als Marinelli von Orsinas Launen berichtet, erzählt er gleich anschließend von Emilias bevorstehender Hochzeit. Extrem kontrastiert werden die beiden auch durch die unterschiedlichen Porträts wie auch deren unterschiedliche Wirkung auf den Prinzen.

Ich will kurz auf die verschiedenen Kunstauffassungen hinweisen, die in dieser Szene vertreten werden, und die auf den ersten Blick sehr schwer in die Dramenhandlung integrierbar wie auch interpretierbar sind. Bezüglich des Porträts von Orsina erfahren wird, daß der Prinz es für geschmeichelt hält, da alle negativen Charakterzüge der Gräfin ins Positive in der Darstellung gewendet sind; der Maler verteidigt sich: Die Kunst müsse malen, wie sich „die plastische Natur das Bild dachte“, ohne die Einbußen, die die Zeit ihm hinzugefügt habe; der Künstler muß also idealisieren (ist denkender Künstler!); dabei jedoch, so wendet der Prinz zu Recht ein, gehen die eigentlichen Charakteristika des dargestellten Gegenstandes verloren (Prinz als Kritiker). Für das Porträt Emilias gilt das alles nicht. Hier muß nichts idealisiert werden, da der Maler in Emilia das ganze „Studium der weiblichen Schönheit“ sieht; hier geht im Gegenteil auf dem Wege der Darstellung etwas verloren, da der Maler das, was er als Idealbild sieht und empfindet, nicht stofflich angemessen verwirklichen kann. Und auch der Prinz betätigt sich hier nicht als Kritiker, sondern als unmittelbar Genießender und Empfindender:  Seine Seele ist ganz in seinen Augen. Wir haben also zwei diametral entgegengesetzte Kunstauffassungen in einer Szene, die sich an zwei verschiedenen Gegenständen festmachen: Bei der einen betätigt sich der Künstler als denkender Künstler, der einen nicht besonders idealen Stoff in der Darstellung idealisiert; der Rezipient hingegen betätigt sich als Kritiker; bei der anderen versucht der Maler, eine Vision von Schönheit möglichst unmittelbar in eine stoffliche Darstellung umzusetzen und scheitert dabei; der Rezipient nimmt unmittelbar mit den Augen auf und kritisiert nicht, sondern empfindet.

Im zweiten Akt lernen wir Odoardo kennen; gleich in den ersten Szenen tritt er uns als impulsiver, argwöhnischer, dabei äußerst sittenstrenger Mann entgegen; er lebt nicht bei seiner Familie in der Stadt, sondern auf seinem Landgut, was offenbar ein permanenter Streitpunkt zwischen  ihm und seiner Frau Claudia ist. Beider Charaktere wie auch Positionen in diesem Streit werden ausführlich exponiert in der 4. Szene. Dort geht es zunächst um den Entschluß des Bräutigams Appiani, sich mit Emilia vom Hofe zu entfernen und in fernen Alpentälern ganz sich selbst zu leben; vor allem Odoardo interpretiert diesen Entschluß als Akt tätiger Hofkritik ganz im Sinne des gängigen Klischees: Man kann seine persönliche Integrität wie auch Unabhängigkeit nur bewahren, indem man sich vom Hof mit seinen verwerflichen Tugendmaximen und seinen Zwang zur Verstellung und Heuchelei entfernt. In diesem Zusammenhang ist es nicht uninteressant, was Lessing selbst zum Thema Hofkritik denkt und auch einmal geäußert hat. Er hat nämlich einen klassischen Traktat zum Thema Hofkritik eines Herrn Guevara mit dem Titel "Das vergnügte Land- und beschwerliche Hofleben" (Angaben sind nicht weiter wichtig) besprochen und dabei befunden: "Die Menschen sind am Hofe und in der Stadt und auf dem Lande Menschen; Geschöpfe, bei welchen das Gute und Böse einander die Waage hält. Schwachheit und Laster zu fliehen, muß man nicht den Hof, sondern das Leben verlassen". Der Bezug, der sich von diesem letzten Satz zur Emilia Galotti als Ganzem herstellen läßt, ist offensichtlich und häufig auch so hergestellt werden: Auch Emilia entschließt sich ja dafür, sicherheitshalber das Leben selbst ganz zu verlassen. Odoardo hingegen glaubt an dieser frühen Stelle noch daran, daß ein Rückzug aufs Land und in die eigene Innerlichkeit genügt, um die Moralität der Lebenshaltung sicherzustellen. Daß es jedoch mit dieser eindeutigen Gut-Böse-Entscheidung - am Hof die Schlechten, auf dem Land die Guten - nicht so einfach ist, auch hier also (wie wir es bereits auch am Beispiel des Prinzen gesehen hatten) keine einfachen Frontstellungen möglich sind, demonstriert Lessing an einer ganzen Kleinigkeit: Odoardos heroisch-tugendhafte Ausführungen über die Freiheit gegenüber dem Gehorchen werden dadurch ironisch konterkariert, daß er im nächsten Atemzug dem Diener einen sinnlosen Befehl gibt. Offensichtlich sieht er also leicht die Fehler an anderen, während er für die eigenen einigermaßen blind ist. So kann er - ein anderes Beispiel aus dieser vielsagenden Szene - Claudia zwar Egozentrik im Bezug auf ihre Tochter vorwerfen - "Vermenge dein Verngügen an ihr nicht mit ihrem Glücke" -, verhält sich aber selbst völlig genauso, als er von Emilias Bekanntschaft mit dem Prinzen erfährt und sich die daraus möglichen fatalen Folgen imaginiert - und zwar allein in bezug auf seine Person, und nicht für Emilia. Odoardo wird so zwar als Gestalt mit einem rigorosen moralischen Anspruch aufgebaut - Claudia spricht von "strenger Tugend"; Odoardo selbst äußert im Zusammenhang mit Emilias Alleingang zur Kirche: "Ein Schritt ist genug zu einem Fehltritt", neigt also offensichtlich zu harten moralischen Urteilen und weniger zu Nachsicht und Verständnis -, daneben jedoch einiger offensichtlicher Fehlurteile und falscher Situationseinschätzungen überführt. Weder haßt ihn der Prinz - wie er er meint -, noch ist der Prinz einfach der "Wollüstling", für den er ihn hält. Sein eigener Argwohn verführt ihn dazu, nur sich selbst - und seinen Lieblingssohn Appiani - für moralisch einwandfrei zu erklären, allen anderen gegenüber stets das Schlechteste zu glauben. Schon von Anfang an also erscheint Odoardos Gestalt eher zwiespältig - was wir für die Interpretation des Schlusses im Auge behalten sollten: In diesem Lichte kann ja auch sein Verhalten dort eher befremdlich als vorbildlich erscheinen.

Seiner Frau Claudia wirft Odoardo in dieser Szene einiges vor, und zwar im wesentlichen, daß sie auch bezüglich ihrer Tochter vor allem im eigenen Interesse handelt; er bezeichnet sie als "eitle törichte Mutter" (ein Urteil, das die Forschungsliteratur oft allzu nachsichtig übernommen hat). So verdächtigt er sie, die Nähe des Hofes vor allem um ihrer eigenen Zerstreuung willen gesucht zu haben; Claudias Argument, daß Emilia schließlich  hier ihr Glück gefunden habe, wehrt er ab mit dem Argument, daß der gute Ausgang allein noch nicht die Mittel rechtfertige. Diese Thematisierung einer Zweck-Mittel-Relation in bezug auf moralisches Handeln ist nicht uninteressant; wír sollten sie ebenfalls für die Interpretation des Schlusses im Kopf behalten (wo zwar die Prinzipien ehrenhaft sind, der Ausgang aber nicht gut) bzw. darauf achten, was die anderen Figuren zu diesem Thema sagen. Claudia hingegen ist offenbar sehr viel kompromißbereiter und pragmatischer als ihr Mann; sie teilt auch nicht seinen prinzipiellen Argwohn; sie schätzt Situationen häufig realistischer und angemessener ein als er. Das zeigt sich in der 6. Szene, in der Emilia ihre Begegnung mit dem Prinzen in der Kirche schildert: So redet Claudia Emilia gut zu, als die sich - in dem gleichen übertriebenen moralischen Rigorismus wie ihr Vater - sich eine Mitschuld am Erlebten zuschreibt; sie überbewertet das Geschehene auch nicht, sondern schlägt angemessene Verhaltensweisen vor. Einen schlechten Rat gibt sie allerdings, als sie Emilia empfiehlt, ihr Erlebnis dem Bräutigam Appiani zu verschweigen: Dieser Rat erwächst nämlich diesmal auch bei ihr aus Mißtrauen und Argwohn (gegenüber der Wankelmütigkeit der Männer), also zwar vielleicht aus eigener Erfahrung, aber aus deren unlässiger Veralllgemeinerung. Außerdem benutzt auch sie zur Rechtfertigung klischeehafte Argument der klassischen Hofkritik, denen wir ja inzwischen skeptisch gegenüberstehen: So erklärt sie Sprache des Hofes für lügenhaft; daß der Prinz jedoch nicht nur die Sprache des Hofes, sondern durchaus auch eine bürgerlich-empfindsame beherrscht, hatten wir ja bereits gesehen. Überall, wo die Figuren solchen Klischees unkritisch und ohne Beachtung der Situation auf den Leim gehen, resultieren leicht Fehlentscheidungen mit schlimmen Folgen in der EG.

Schließlich haben wir in dieser Szene endlich auch Emilia selbst kennengelernt, wenn auch völlig in Panik und "von Sinnen", wie sie selbst sagt. Ihr Gebet um Taubheit, von dem sie spricht, war tatsächlich so erfolgreich, daß sie sogar nicht nur einen unvollständigen, sondern sogar einen falschen Bericht dessen gibt, was in der Kirche passiert war; vom Prinz selbst erhalten wir im 3. Akt die Korrektur. So hat Emilia vor lauter Panik überhört, daß der Prinz sie sogar um Verzeihung für den Vorfall bat; wiederum ist dadurch eine Chance zur Verständigung vergeben worden. Ansonsten zeigt sich Emilia hier, wie gesagt, zum einen als würdige Tochter ihres Vaters - in ihren strengen moralischen Ansichten wie auch in ihrer Neigung zur Argwohn und ihrer leidenschaftlichen Reaktion - wie auch als gehorsame Tochter ihrer Eltern; sie unterwirft sich dem Willen ihrer Mutter und ist kurz darauf auch wieder völlig selbstbeherrscht und geradezu fröhlich ihrem Bräutigam gegenüber (treffend wird Claudia sie im 4. Akt charakterisieren, wir hatten das Zitat bereits erwähnt: "ihrer ersten Reaktionen nie mächtig, aber dann die Entschlossenste ihres Geschlechts").

Statt einer Diskussion des vielinterpetierten Schlusses wollen wir uns einige zeitgenössische Reaktionen auf das Stück ansehen.

So bemängelt Moses Mendelssohn im Gespräch mit Lessings Bruder Karl ,daß der Prinz anfangs „thätig und tugendhaft“, am Schluß jedoch ein „unthätiger Wollüstling“ sei; Karl verteidigt jedoch Lessings Konstruktion als notwendig für die Schlußtat: Seine Tugend würde vielmehr gerade von Marinelli auf die Probe gestellt; er würde dort versagen und „daraus entsteht dann die schreckliche Handlung des alten Galotti, welcher sosnt unmenschlich an seiner Tochter handelte, wenn sie von ihren Verführurngen anders gerettet werden könnte“. Hier wird also etwas angesprochen, was wir ja auch behandelt hatten: Ist Emilias Unglück wirklich sicher? Denn wenn nicht, so auch Karl Lessing, wäre die Tat nicht zu verantworten; so ergäbe sie sich aber logisch aus der psychologischen Entwicklung des Prinzen, läge also in der „Ökonomie des Stückes“ - eine bezeichnende Formulierung, die darauf hinweist, daß das Stück nach rationalen, einsichtigen, effektiv angewandten - eben ökonomischen - Gesetzen sorgfältig geformt ist.

Herder wiederum rechtfertigt ebenso den Schluß als logisch aus der Charakterisierung der Personen hervorgehend, ohne ihn darum auch moralisch rechtfertigen zu wollen. In einer etwas eigenwilligen Charakterisierung des weiblichen Geschlechts behauptet er, daß Frauen sowieso in Gegenwart hoher Personen von Stande ihres Verstandes nicht mehr mächtig seien: „Das flatternde Vögelchen fürchtet nicht etwa nur den anziehenden Hauch der nahen großen glänzenden Schlange; es fühlet denselben schon, sieht ihren auf sie gerichteten Blick“ - Emilia also ist ebenso fixiert auf den Prinzen und dessen offensichtliche Macht über sie, daß sie ihr drohendes Schicksal einfach voraus als gegeben annimmt - und dann wiederum logisch handelt. Sie ist damit jedoch ebenso wie ihr Vater kein moralisches Vorbild: „Ihr Tod ist lehrreich-schrecklich, ohne aber daß dadurch die Handlung des Vaters zum absoluten Muster der Besonnenheit werde. Nichts weniger! Der Alte hat eben so wohl, als das erschrockene Mädchen, in der betäubenden Hoflust den Kopf verloren“ - auch das entspricht also durchaus unseren Eindrücken und Überlegungen, daß sowohl die gedrängte Zeit eine Rolle spielt wie auch die überstürzten Handlungen von Emilia und Odoardo, die eben beide in der Hofatmosphäre - nach den Worten Orsinas - ihren Verstand verloren haben.

Auch bei Herder also: Rechtfertigung des Schlusses aus der Logik des Stücks und der Charaktere heraus; jedoch keine Rechtfertigung der Handlung des Vaters als moralisch. Die härteste Kritik übt schließlich Johann Jakob Engel , indem er die EG mit ihrem römischen Vorbild, dem Virginia-Stoff, vergleicht. So bemängelt er zum einen, daß Emilias Tod im Vergleich zu Virginias folgenlos bleibt, also keine politische Wirkung nach sich zieht; zum zweiten, daß Odoardo doch sinnvollerweise den Prinzen als den eigentlichen Bösewicht ermorden hätte sollen; die Ermordung des eigenen Kindes sei das „unnatürlichste Mittel“ in der gegebenen Situation. Weiterhin zweifelt er energisch an, daß Emilias Situation wirklich so aussichtslos gewesen sei und macht eine Menge sinnvolle Vorschläge, wie die Lage verbessert hätte werden können; außerdem traut er Emilia durchaus zu, mit der Situation allein fertigzuwerden; er resümiert: „Muß nicht in seiner [Odoardos] Seele, sobald er den fürchterlichen Gedanken faßt, den er ganz durchzudenken so wenig Zeit hat, jede rnoch so schwache Anlaß zur Hoffnung wichtig, jedes noch so unwahrscheinliche Mittel zu anderweitiger Rettung wahrscheinlcih werden? Muß ihm nicht der Dolch, den er im ersten Augenblicke der Wuth gezückt hatte, im zweyten Augenblicke der Überlegung wieder sinken?“ Auch Engel betont also die fatale Zeitknappheit; bezweifelt die Unausweichlichkeit von Emilias moralischem Fall; kritisiert Odoardos überstürzte und dazu noch untaugliche Handlung.]

Die ersten  drei Kritiker - Mendelssohn, Herder und Engel - sind im weitesten Sinne Zeitgenossen Herders und der Aufklärung zuzurechnen; tatsächlich ist auch das, was sie an EG loben bzw. tadeln, typisch aufklärerisch. Lobenswert erscheint ihnen so die genaue psychologische Motivierung der Handlung und die Charakterisierung der Figuren, eben die „Ökonomie des Stückes“; sie bewerten darüber hinaus das Stück und den Schluß vor allem in moralischer Hinsicht. Ganz auffällig ist es, daß späteren Kritiker, die eher Klassik oder Romantik angehören, diese Wertung genau umkehren; am krassesten in dem berühmten Diktum von Goethe: „EG ist auch nur gedacht, und nicht einmal Zufall oder Caprice spinnen irgend drein. Mit halbweg Menschenverstand kann man das Warum von jeder Scene, von jedem Wort, mögt ich sagen, auffinden“. Genau das, was die Aufklärer also loben -die subtile Motivation der Handlung, die die fatalen Schluß unausweichlich erscheinen läßt -, kritisiert Goethe hier; ebenso August Wilhelm Schlegel, der die Emilia als „gutes Exempel der poetischen Algebra“ bezeichnet, und sein Bruder Friedrich Schlegel, der von einem „mit so ungemeinem Verstande herausgerechneten Drama“ spricht. Dabei gilt dieser Vorwurf ja offenbar nicht den Figuren - die handeln nun wahrlich nicht nach dem Verstand -, sondern eben Lessing als Autor: Er habe das Stück so angelegt, daß es mit geradezu mathematischer Genauigkeit seinen Zweck erfülle, daß jedes Wort seine bestimmte Bedeutung habe, die mit dem Verstand auffindbar sei. Was ist daran nun so schlimm? Ganz einfach: Den Romantikern fehlt das Unberechenbare, das Eigensinnige, das eigentlich Poetische, das nicht im Verstand aufgeht: Als „Zufall oder Caprice“ bezeichnet es Goethe, als „poetischen Verstand“ Fr. Schlegel, als „Zauber der Einbildungskraft“ A.W. Schlegel. Bezüglich des Schlusses bedeutet das für sie: Auf der Oberfläche gibt es zwar eine zwingende Logik des Geschehens; diese ist jedoch nur ein Verstandesprodukt des Dichters und hat keine innere Logik, wie beispielsweise die Natur: So sagt Friedrich Schlegel: „Gräbt man aber tiefer, so zerreißt und streitet alles, was auf der Oberfläche so vernünftig zusammenzuhängen schien“; oder A.W. Schlegel: „Die sichtbare Sorgfalt, alles zu motivieren, fodert zu näherer Prüfung auf, wobey man durch keinen Zauber der Einbildungskraft gestört wrid; und dieser Prüfung kann der innere Unzusammenhang in diesem mit so ungemeinem Verstande herausgerechnetem Drama nicht entgehen“. Auch hieraus kann man natürlich eine Wertung des Schlusses herleiten: Zwar überzeugend motiviert auf der Handlungsebene und im Dialog, aber völlig unsinnig und unnatürlich als Handlung außerhalb des Dramas.


Hamburgische Dramaturgie

Lessing entwickelt hier an Beispielen aus der Theaterpraxis wie auch in der Auseinandersetzung mit der Poetik des Aristoteles seine Theorie des Trauerspiels. Methodisch orientiert er sich an der Methodik der zeitgenössischen Naturwissenschaften: Er leitet aus Beobachtungen an einem konkreten Untersuchungsgegenstand (den in Hamburg aufgeführten Stücken) allgemeingültige Gesetze des Trauerspiels ab. Dieses Verfahren steht durchaus im Gegensatz zu bisherigen Poetiken, die eben normative Poetiken waren, also abstrakte Regeln zur Verfertigung von Dichtungen vorgaben; es steht auch im Gegensatz zu den zeitgenössischen Verfahren der Philosophie, die versuchten, ein Thema vollständig und in einem systematischen Zusammenhang darzustellen und in diesem Systemcharakter geradezu ein Kennzeichen der Wahrheit sahen. Nicht so Lessing: kein System will er aufstellen, kein verbindliches Regelwerk, sondern Gedanken ausstreuen, den Geschmack des Publikums bilden, zum Selbstdenken anregen. Dabei verwendet er auch einige Methoden, die Ihnen eher unfein vorkommen mögen: So ist ein großer Teil der Schrift als Polemik zu verstehen (eine ehrwürdige Tradition), nämlich gegen die verbreiteten französischen Klassizisten wie auch als Propaganda für den - noch gar nicht übersetzten - Shakespeare. Lessing argumentiert deshalb gern mit zugespitzten Gegensatzpaaren, übertreibt ein bißchen, deutet ein bißchen um - aber dies alles sind für ihn durchaus legitime Mittel, die gerade zum Widerspruch anregen sollen, provozieren sollen.

Mit diesem mangelnden Systemcharakter hängt es zusammen, daß man sich dieser umfangreichen Schrift auch schwer systematisch nähern kann; ich werde deshalb versuchen, in dieser Zusammenfassung einen möglichen Zusammenhang zu rekonstruieren, einfach der besseren Faßbarkeit halber. Ich werde mich dabei einer gängigen literaturtheoretischen Terminologie bedienen und zunächst auf Lessings hier entworfene Produktionsästhetik (den Genie-Begriff), dann seine Werkästhetik (Charaktere, Handlung) und schließlich auf die wirkungsästhetische Komponente (Mitleid, Schrecken, Katharsis) eingehen; dies alles unter dem Gesichtspunkt des Begriffes von Natur, den Lessing hier verwendet.

Zunächst zum Genie. Sie müssen sich klar machen, daß die HD 1767 entsteht - also noch vor der Zeit des Sturm und Drang mit ihrem emphatischen Genie-Begriff in Deutschland. Lessing erfindet also sozusagen hier den Genie-Begriff für die Poetik (der Begriff war bisher eher neutral belegt und bedeutete einen großen, einfallsreichen Kopf, ein besonderes Talent, ohne sich auf einen bestimmten Bereich zu beziehen); er steht dabei in engem Zusammenhang mit seiner Regelpolemik gegen die klassizistischen äußerst regeltreuen französischen Dramen. Lessing muß legitmieren, daß ein Drama auch auf andere Weise als durch die buchstabengetreuen Anwendung von Regeln entstehen kann; das Genie ist deshalb bei ihm dadurch definiert, daß er die Regeln intuitiv kennt und einfach anwendet, ohne sie abstrakt formulieren zu können. Wie ist das möglich? Wie kann jemand allgemeingültige Gesetze intuitiv und ohne Instruktion wissen? Ganz einfach, weil es sich bei diesen poetischen Gesetzen nach Lessing um Naturgesetze handelt: Sie bestimmen sowohl den Gang der Dinge in der Welt wie auch im Drama. Das Genie ist, so Lessing in einer Formulierung, die sowohl sehr typisch ist wie auch breit rezipiert wird und in der Folgezeit immer wieder auftaucht, eine Art verkleinerte Version Gottes als Schöpfer: Er ahmt das „höchste Genie im kleinen nach“, „versetzet vertauschet, verringert, vermehrt die Teile der gegenwärtigen Welt, um sich ein eigenes Ganze daraus zu machen, mit dem es seine Absichten verbindet“.

Damit gehen wir schon über zu Bestimmungen, die das Wesen des Trauerspiels selbst betreffen. Es ist also in der Weise realistisch, daß es sozusagen ein Auszug, ein Modell der großen Welt der Schöpfung ist, von seinem Schöpfer, dem Dichter, zweckhaft zu einem Ganzen gerundet: ES funktioniert nach den gleichen Gesetzen der Kausalität und der psychologischen Wahrscheinlichkeit wie auch die große Welt. Beide Bestimmungen, Kausalität und psychologische Wahrscheinlichkeit (Lessing spricht auch von „poetischer Wahrheit“) gelten auch für die Gestaltung von Charakteren und Handlungen, den beiden wesentlichen Elementen eines jeden Dramas. Die Charaktere müssen zum ersten, gerundet, mit sich selbst konsistent, psychologisch einsichtig sein; sie müssen, zum zweiten, nicht eindimensional gut oder schlecht sein, sondern sogenannte gemischte Charaktere. Das hat wiederum einen zweifachen Grund: Zum einen entspricht es eher der Realität, der alltäglichen Erfahrung, fällt also unter das Wahrscheinlichkeitsgebot; zum anderen ist es die Voraussetzung dafür, daß unser Mitleid geweckt wird (dazu später). Das gleiche gilt für die Handlung, die Lessing als „Verknüpfung von Begebenheiten“ definiert (im Anschluß an Aristoteles): Sie muß in sich abgeschlossen, einfach und kausal nachvollziehbar sein. Daran knüpfen sich die Gebote der Einheit von Ort und Zeit, die Lessing nur als Folgewirkung dieser ursprünglichen Bestimmung der Einheit der Handlung sieht: Beide tragen nämlich, richtig beachtet, ebenfalls zur Verstärkung der Einheit und Geschlossenheit wie auch der Wahrscheinlichkeit der Handlung bei - was aber bei einer rein mechanischen Befolgung nicht gegeben ist.

Beides zusammen, sowohl die Ähnlichkeit der Charaktere mit unseren eigenen (bzw allgemein menschlichen) wie auch die Modellhaftigkeit der Handlung für Natur und göttliche Schöpfung im Ganzen, soll nach Lessing die gewünschte Wirkung der Tragödie gewährleisten. Hier stützt er sich nun ganz auf Aristoteles; ich will Ihnen die entsprechenden Stellen noch einmal im Wortlaut zitieren. Zunächst den Aristotetes-Text nach einer neueren Übersetzung von 1982: Fuhrmann (1982): „Die Tragödie ist die Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung - Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt“;
Lessing: „Die Tragödie ist die Nachahmung einer Handlung, die nicht vermittelst der Erzählung, sondern vermittelst des Mitleides und der Furcht die Reinigung dieser und dergleichen Leidenschaften bewirket.“

Offensichtlich hat also Lessing für seine Zwecke Aristoteles etwas umgedeutet - ob absichtlich oder nicht, lassen wir einmal beiseite, da es uns im folgenden vor allem um Lessing und nicht um korrekte Aristoteles-Interpretation geht; ich hatte Ihnen ja das Konzept, das man heute vertritt, kurz geschildert: Also die Tragödie als eine Art Geisterbahn, in der man durch die Darstellung hefetiger Leidenschaften einem Schockerlebnis ausgesetzt wird, das befreiende Wirkung auf den Organismus (und vor allem auf diesen!) hat; also so ähnlich, wie wenn man heute zum Fußball geht, um sich auszutoben. Lessing hingegen geht es darum, die moralische Wirkung der Schaubühne genauer zu begründen und sie dadurch auch gesellschaftlich aufzuwerten (ist ja verrufen zu diesem Zeitpunkt; Noch Schiller versucht mit seinem einige Jahre später entstandenen Aufsatz „Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet“ das gleiche). Da es ihm jedoch nicht mehr darum geht (wie beispielsweise noch der Frühaufklärung) direkt auf dem Theater moralisch zu belehren, also moralische Lehrsätze aufzustellen, sondern vielmehr zum Selbstdenken anzuregen, muß er auf andere Mittel sinnen; die Stücke müssen moralisch sein, ohne daß sie zu einer reinen Fabel mit Nutzanwendung verkommen; sie müssen auch auf eine andere Art und Weise moralisch sein, als es ein philosophischer Text oder eine Erzählung sein könnten. Deshalb versucht er, seine Theorie der moralischen Wirkung zum einen auf eine emotionale Wirkung zu stützen - die seiner Meinung nach eher bei der dramatischen Darstellung zu erwarten ist als bei einer berichtenden, z.B. bei einer Erzählung; daraus ergibt sich jedoch das Problem, daß die Emotionen, auch Leidenschaften genannt, einen schlechten Ruf in der Moral haben, da sie häufig unbeherrschbar und von der Vernunft unkontrolliert sind. Gesucht wird also eine sozial akzeptierbare, von der Vernunft beherrschbare und trotzdem intuitiv nachvollziehbare Leidenschaft - und hier finden wir dann das Mitleid. Dadurch, daß die Figuren auf der Bühne Menschen wie du und ich sind, leiden wir mit ihnen, wenn sie ins Unglück geraten; dadurch, daß wir dieses Unglück auf uns selbst beziehen, nach dem Motto „Könnte uns ja auch passieren“ geraten wir in Furcht. 

Das allein ist aber noch nicht hinreichend zu einer moralischen Wirkung, sondern diese Leidenschaften müssen jetzt mit einem aristotelischen Begriff einer Katharsis unterzogen werden; sie müssen gereinigt, geläutert werden. Wir hatten über die Probleme gesprochen, die sich aus Lessings eher vager Definition ergaben, die Katharsis sei die Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten; am ehesten ist sie wohl noch zu verstehen, wen wir sie auf den oben erläuterten Handlungs- und Naturbegriff beziehen (das ist jetzt meine Interpretation, die finden Sie nicht in der Forschungsliteratur). Demnach stellt uns das Trauerspiel ja ein verkürztes Modell der Welt dar, in dem Figuren agieren, die aufgrund eines Fehlers nicht ganz unverschuldet, aber doch bemitleidenswert ins Unglück geraten. Dabei geschieht jedoch alles nach den Gesetzen der Natur, die uns hier sogar in besonders einsichtiger Weise vorgeführt werden. Indem wir nun diese quasi naturgesetzlich sich vollziehende Handlung verfolgen, wird zwar zunächst spontan unser Mitgefühl bzw. unsere Furcht aktiviert; indem wir jedoch mit dem Verstand bemerken , daß sich die Handlung nachvollziehbar und logisch entwickelt und die inneren Zusammenhänge zur Kenntnis nehmen, wird unser Mitleid sozusagen gemildert bzw. auf eine rationale Grundlage gestellt: Wir bedauern jetzt nicht mehr das unerklärliche Schicksal der armen, frommen, tugendhaften Emilia, sondern sehen, wie ein unerfahrenes, falsch erzogenes, verunsichertes Mädchen aufgrund dieser Tatsachen ins Unglück gerät. Dafür empfinden wir zwar immer noch Mitleid, jedoch weder zuviel noch zu wenig: Wir werden sie weder als Märtyrerin beweinen, noch wird sie uns gleichgültig sein; wir werden vielmehr versuchen, aus ihrem Fall moralische Maximen für unser eigenes Leben abzuleiten (z.B: Glaube niemals bedingungslos deinen Eltern) und dadurch tugendhafte Fertigkeiten zu erwerben.

Nathan der Weise

 

Leider bleibt uns jetzt für den Nathan nur sehr wenig Zeit, so daß wir nur Bruchstücke einer Deutung erarbeiten können. Dazu hatte ich das letzte Mal versucht, Ihnen das Problemlösungsmodell des Nathan ansatzweise an der Exposition in den ersten beiden Szenen, die wir zusammen durchgegangen waren, vorzustellen. Es kommt mir dabei vor allem darauf an, Ihnen wenigstens andeutungsweise die Veränderungen klarzumachen, die den Nathan gegenüber den Stücken, die wir vorher zusammen interpretiert hatten, nämlich dem Philotas und der Emilia Galotti, auszeichnen. Dazu hatten wir zunächst kurz über die Form nachgedacht, die den Nathan ja schon von diesen beiden unterscheidet: Als dramatisches Gedicht steht er zwischen der Komödie und der Tragödie, hat Elemente von beiden. Das prägt auch die Handlung: So ist es auch im Nathan immer möglich, daß das Ganze sich zum Bösen wendet; tatsächlich werden aber alle im Handlungsverlauf entstehenden Konflikte einvernehmlich und friedlich aufgelöst. 

Woran das liegt, hatten wir, wie gesagt, versucht, uns an den ersten beiden Szenen klarzumachen, wo die Schwärmerin Recha von ihrem Engelsglauben geheilt wird - nämlich in einer ausführlichen Diskussion, innerhalb derer ihrer zum einen Argumente gegen diesen ihren Glauben präsentiert werden (für den Kopf), zum anderen aber drastisch die Folgen ihres schwärmerischen Annahmen suggeriert werden (fürs Herz). Dadurch, daß sich die Personen also die Zeit nehmen, entstehende Probleme gründlich und offen durchzusprechen, werden schlimme Folgen von Anfang an vermieden (Sie erinnern sich ja daran, daß wir gesagt hatten, daß im Philotas bsp. seine Tendenz zum Monologisieren und seine Verweigerung, sich mit der Sicht der anderen zu identifizeiren bzw. überhaupt mit ihnen offen zu diskutieren, die fatale Lösung herbeigeführt hatte; in der Emilia Galotti standen immer alle so sehr unter Zeitdruck und waren so sehr in ihren Vorurteilen gefangen, daß ein offenes Gespräch ebenfalls niemals zustande kommen konnte). Der Nathan gibt also sozusagen nun positive Beispiele für Problemlösungsstrategien in prinzipiell dramatischen Situationen.

Das gleiche gilt für die Ringparabel, die wir zusammen kurz andiskutiert hatten. Saladin hatte Nathan eine Fangfrage gestellt, auf die offensichtlich keine positive, endgültige Lösung möglich war (jede eindeutige Antwort hätte ihn in die Falle tappen lassen); er rettet sich durch die Parabel, die eben keine endgültige Antwort gibt, sondern das Problem auf eine andere Ebene hebt, dadurch es erlaubt, von der konkreten Situation zu abstrahieren und damit zu freieren Urteilen zu kommen - und deren Interpretation schließlich nicht eindeutig ist, sondern auch die Mitarbeit Saladins fordert. Die Bezüge zur Handlung sind dabei offensichtlich: Zum ersten geht es um die Frage des Verhältnisses der Religionen - was ja auch die Figuren immer wieder beschäftigt; zum zweiten um deren Überlieferung durch Tradition und Familie - was ja im Zshg. der Religion Rechas von großer Bedeutung ist -, zum dritten um die Handlungsnormen, die sich aus der Zugehörigkeit zu einer Religion ergeben (nämlich gut zu handeln statt andächtig zu schwärmen, wie es im 1. Akt bei der Schwärmerheilung Rechas heißt; das gleiche lehrt die Ringparabel dadurch, daß die Träger sich des Ringes durch gute Taten würdig erweisen sollen statt ihn einfach nur auszunutzen: „Es strebe jeder von Euch um die Wette / die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag zu legen! Komme dieser Kraft mit Sanftmut, mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, mit innigster Ergebenheit in Gott zu Hülf!“). Auch das ist bezeichnend für den Nathan: Zentral sind die guten Taten, die Umsetzung von Überzeugung in konkretes Handeln - und zwar durchaus auch spontan und direkt aus dem Herzen.

Offensichtlich spricht also auch die Ringparabel prinzipiell für die Notwendigkeit von Religionen (es geht also nicht um einen reinen Vernunftglauben, sondern durchaus um innigste Ergebenheit in Gott, wie sie Nathan beispielhaft verkörpert); im Verlaufe der Zeit ändern sich diese Religionen jedoch offensichtlich nach den Bedürfnissen und Vorstellungen der Menschen. Lessing hat zur gleichen Zeit, als er den Nathan schrieb (oder vielleicht etwas früher) auch ein philosophisches Modell für diese Entwicklung der Religionen entwickelt. Es behandelt sozusagen das gleiche Problem wie die Ringparabel - nämlich das Verhältnis der verschiedenen Offenbarungsreligionen zueinander - auf einer abstrakten Ebene.

Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780)

(zirkulierte zunächst nur unter Freunden; erschien später mit Lessing als Herausgeber
Entstehung wahrscheinlich vor Nathan; fortgeschrittenere Position im Nathan durch Bezug auf den Einzelnen?)
Vorbericht:
gibt seine Absicht preis: Interpretation der positiven Religionen (was ist das???) als Entwicklungsmodell, an dem sich der menschliche Verstand entwickelt hat
positive Religion: positiv im Sinn von handfest, vorhanden, nachweisbar, konkret, konventionell (positives Recht); Gegenbegriff: nicht negativ! in der Zeit: Naturreligion, Naturrecht
damit impliziert:
- zentriert Religionen auf den Menschen
- teleologisches geschichtliches Konzept
- Erziehungsproblematik
behandelt damit zentrale Fragestellung des 18. Jahrhunderts, nämlich das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung
Verhältnis Vernunft - Offenbarung:
Problem dabei: Versuch der Aufklärung, alles Vorhandene mit Hilfe des Verstandes zu durchdringen und zu erklären; gegen alles Wunderbare, Unerklärliche
greift damit natürlich den Kernbestand der Religionen an (wird durch Autorität überliefert und beglaubigt; beruht auf Prophezeiungen, Wundern etc)
Offenbarung: per se der Gegenbegriff zu rationaler Erklärbarkeit; wird gegeben von höherer Autorität, nicht hinterfragbar
deshalb: Bemühung, auch die Religion auf Vernunft zu gründen (Naturreligion)
Grundsatz:
„Was die Erziehung bei dem einzelnen Menschen ist, ist die Offenbarung bei dem ganzen Menschengeschlechte“
= Parallelisierung Individuum - Gattung; machen beide Entwicklung durch (Voraussetzung); insgesamt: Aufbau einer Analogie
worin besteht die Analogie?
- beides Varianten der Vermittlung von Erkenntnis, und zwar durch Besser-Wissende: Mittel, Erkenntnis schnell und rationell zu vermitteln (§4)
- beides muß in einer gewissen Reihenfolge geschehen (s. Philotas)
damit Trick: Umdeutung von Offenbarung durch analoges Phänomen
Schritte der Offenbarungs-Erziehung:
* Zerlegung des Begriffs von Gott in einzelne Teile = Vielgötterei
* Unmöglichkeit, diesen Irrtum jeweils einzeln zu widerlegen = deshalb auserwähltes Volk, und zwar das roheste (und damit bildungsbedürftigste wie auch -fähigste)
* erster Gottesbegriff: Gott der Väter; Gott als Mächtigster; Gott als Einziger; entspricht jedoch nicht dem wahren Einheitsbegriff, der sich transzendental und vernünftig aus dem Begriff der Unendlichkeit ergibt (= Vernunftanalogie!)
- Rolle von Sanktionen und Strafen: orientiert zunächst am diesseitigen Wohlergehen und Glück
* Verstoßung in die Fremde; Wunder und Prophezeiungen im AT
* AT insgesamt als „Elementarbuch“ - enthält noch kaum positive Bestimmungen, aber auch nichts, was diesen entgegensteht
* damit insgesamt erzogen zu heroischem Gehorsam und qualifiziert als Erzieher für die späteren
- erste Erhellung durch die Vernunft in der Fremde: Vergleich mit dem Gott der Perser (reinere Vernunftlehre Zarathustras); werden dort auch mit der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele vertraut
- neue Mittel: Vorübungen, Anspielungen, Fingerzeige (Gewöhnung an den Gedanken einer langen Zeitdauer); Einkleidung in Bilder; bedeutsamer Stil = alle Eigenschaften eines guten Elementarbuchs
- sobald das Kind alt genug ist: neue Pädagogik durch Christus
* wesentlich neue inhaltliche Lehre: von der Unsterblichkeit der Seele - damit Abstraktion von diesseitigen Lohn und Strafen erforderlich
* NT als zweites Elementarbuch (aber immer noch Elementarbuch!); wird immer noch gepredigt und nicht gelehrt als Resultat menschlicher Schlüsse!
-> muß deshalb von der Vernunft noch anders hergeleitet werden können
Beispiele:
* Dreeinigkeit: Verdopplung wie im Spiegel; macht erst ein vollständiges Bild von Gott und zugleich seiner - ebenfalls vollständigen - Vorstellung von sich selbst
* Erbsünde: zeigt, daß Menschen auf einer rohen Entwicklungsstufe nicht Herren ihrer Handlungen
* Genugtuung des Sohns: Möglichkeit der Verzeihung
-> damit Muster für „Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Vernunftswahrheiten“
- Rechtfertigung dieser Spekulationen als „schicklichsten Übungen des menschlichen Verstandes“ (ontologischer Status des Modells?)
- Endstufe: gutes Handeln um seiner selbst willen, auch nicht um jenseitiger Belohnungen willen = „neues ewiges Evangelium“ als letzte Stufe
vgl. gut Handeln im Nathan: geschieht nicht mit Absicht auf Belohnung, sondern spontan um seiner selbst willen
darf jedoch nicht überstürzt werden, sonst Schwärmerei (s. Philotas)
- Beziehung auf den Einzelmenschen: durchläuft vielleicht auch mehrere Stufen
insgesamt:
- Modellcharakter der Äußerungen (Gedankenspiel?) - vgl. Struktur des Nathan (Utopie, Parabel, Gleichnishaftigkeit)
- Parallele Einzelner - Menschengeschlecht:s. Rolle der Familie im Nathan; vermittelt zwischen beiden Begriffen als Paradigma
- Erziehungsgedanke:  übertragbar auf den Nathan; Rolle der Erziehung dort (Erziehung Rechas; Wandlung des Tempelherren im Verlauf der Handlung; Überzeugung Saladins)
- teleologisches Denken