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Frauen im Bild


  • Tits Up! The Marvelous Mrs. Maisel, oder: Frau kann nicht alles haben
  • The Queen's Gambit, oder: Frauenpower und Damenopfer
  • Mona Lisa lächelt und Melencolia schweigt. Gemalte Frauen
  • Porträt einer Blumenmalerin, oder: Emanzipation um 1700
  • Damages. Von den Schäden der Macht und des Lebens
  • The Thing about Penny. Zum Ende von Big Bang Theory



Tits up! The Marvelous Mrs. Maisel

Leider ist das Wort wieder einmal völlig unübersetzbar:. Stand-up-Comedy ist nicht nur das, was sich im Deutschen irgendwie mit dem Begriff des comedian verbindet, also: Jemand, der sich auf der Bühne über das Zeitgeschehen lustig macht, und weil er deutsch ist, mit einer etwas gezwungenen Note von Sozialkritik und Empörungs-Bewirtschaftung. Stand-up ist: Sich auf eine meist kleine Bühne stellen, in direktem und sehr nahen Kontakt mit einem zusammengewürfelten Publikum, und sich sehr lustig und gleichzeitig sehr ernst und ehrlich mit dem zu beschäftigen, was man selbst gerade erlebt hat, und was nicht schön war, sondern – leider ist das Wort auch ziemlich verbraucht, aber es muss hier sein: authentisch; aber auch spontan, assoziativ, analytisch, klug, pointiert, und jenseits des komischen Klischees, das überall lauert, aber eben nur für billige Lacher auf Kosten anderer Leute sorgt. Nein, die stand-up-comedienne steht auf für ihr eigenes Leben, und sie stellt es dabei auf den Kopf; und da es ihr eigenes Leben ist, stellt sie gleichzeitig auch noch das aller anderen Personen, die mit dem ihrigen eng verknüpft und verwoben sind (Familie, Partner, Ex-Partner, Zufallsbekanntschaften, Seelenverwandte, Erzfeinde usw.), mit auf den Kopf.

Kunst und Mode
Das alles und noch mehr ist The Marvelous Mrs. Maisel, eine Serie über eine Stand-up-Comedienne in New York in den 50er- und 60er-Jahren (geschrieben von Amy Sherman-Paladino und vielfach ausgezeichnet, vor allem Rachel Brosnahan in der Hauptrolle als Miriam Maisel); angelehnt an real existierende historische Figuren und inzwischen in der fünften und leider finalen Staffel, die gerade gedreht wird. Es ist eine derjenigen period-Serien, die man auch schauen kann allein der Szenerie und der Kostüme wegen. Denn selbst, wenn man sich sonst nicht sehr für die Exzesse der haute couture interessiert: Hier ist alles und jedes, was die Titelfigur Miriam und ihre Mutter Rose (stylish ist ein schreckliches Kunstwort; aber hier ist es am Platze) tragen, eine Kunstform des Selbstausdrucks und der Selbstwertschätzung, vom Handschuh bis zum Hut (die Serie pflegt einen gewissen Hut-Fetischismus, man könnte beinahe bedauern, dass frau keine Hüte mehr trägt!). Aber weil es gleichzeitig eine ehrliche und lustige Serie ist, zeigen verstreute Dialog-Brocken gern den Preis der perfekten Silhouette. In einem Nebensatz nur seufzt der Vater von Miriam (unvergesslich gespielt von Monk, Tony Shalhoub), das sei zu einer Zeit gewesen, als die hyperschlanke Rose noch gegessen habe; sie habe sogar Schokoladenkuchen gegessen damals. Wer aber die Art von Kleidern tragen will, die Audrey Hepburn getragen hat und die Rose und Miriam tragen, kann von Schokoladenkuchen nicht einmal träumen. Es sind Kleider, die Korsette brauchen; Panzer, die das Atmen einschränken und den Stand-Up-Act gleichzeitig zu einer physischen Übung machen.

Kunst und Sex
Aber Tits up! ist das erfrischende Motto von Miriams Managerin, der sehr modefernen und eher quadratisch gebauten Susie, und das ist wie alle gute Kunst wörtlich und symbolisch zu nehmen: Die comedienne weiß, dass sie ein Sex-Objekt ist für jeden Mann im Publikum, zumal wenn sie ihr bestes Show-Korsett trägt und so hinreißend hübsch ist wie Miriam. Und sie weiß, dass sie nur bestehen kann, wenn sie dazu steht, aufsteht, wie zu allem in ihrem Leben, was nun einmal so ist: Tits up! Kunst – und die comedienne macht Kunst, und zwar nicht nur Kleinkunst, daran besteht kein Zweifel – macht sexy, das wird häufig unterschätzt. Das beweisen auch andere Künstler-Figuren, die zwischendurch episodenhaft auftauchen und wieder verschwinden. Der Maler, der keines seiner Bilder verkaufen mag, das perfekte Bild in einer geheimen Kammer versteckt und es nur Miriam in einem beinahe-nüchternen Moment zeigt (eine elegante Anspielung auf Emile Zolas Roman Das Werk von 1885 im Übrigen, für die Bildungshungrigen unter unseren Leserinnen), weil sie etwas von Kunst versteht, also: von wahrer, authentischer, sich selbst preisgebender Kunst: Dieser Maler ist gleichzeitig so sexy, wie Mann nur sein kann, und so einsam, wie ein Mensch nur sein kann, der das perfekte Kunstwerk gemacht hat. Und Miriam versteht das, und sie ist ergriffen, und dann geht sie und erzählt niemand davon. Und sie lernt dabei, schrittweise, schmerzhaft, von Staffel zu Staffel ein wenig mehr: Wenn sie denn wirklich und wahrhaftig eine comedienne sein will, und nicht nur eine Scherze reißende, jüdisch-neurotische New Yorker Hausfrau mit dem perfekten Mann und den perfekten Kleidern und der perfekten Wohnung (sie verliert alles, eines nach dem anderen), dann wird sie einsam sein. Man kann nämlich nicht alles haben, und Frau schon gar nicht.

Kunst und Charakter

Überhaupt ist The Marvelous Mrs. Maisel eine Serie, die nur starke Figuren hat: bis in die allerkleinste Nebenrolle voll ausgebildete Charaktere, die man jeweils zum Zentrum eines eigenen Serien-spin-offs machen könnte. Selbst wenn lustvoll ein comedy-Klischee aufgegriffen wird, wie das des tolpatschigen Duos, wird man im nächsten Moment auf eine völlig unerwartete Weise überrascht: Die beiden Mafia-enforcer sind gleichzeitig Theaterliebhaber und wissen auch über Damen-Mode oder Spaghetti-Rezepte trefflich zu urteilen. Sie sind eben vielseitig interessierte Persönlichkeiten und betreiben die etwas außergewöhnliche Kunstform des Auftragsmordes, und was ist daran eigentlich seltsam? Das polnische Hausmädchen der Maisels, Zelda, ist gleichzeitig ein typisches polnisches Hausmädchen; heimlich aber schmeißt sie den chaotischen Haushalt, erzieht die chronisch vernachlässigten Kinder und ist eine weitere resolute Managerin reinsten Wassers. 

Aber nicht nur die Frauen sind hinreißend, auch wenn sie keine Mode-Ikonen sind. Auch die Männer in Miriams Leben sind jeder einzelne zum Dahinschmelzen: zum Beispiel der comedian Lenny Bruce (Miriams Mentor und gelegentlicher Partner für zweisam-einsame Nächte; und ihn gab es wirklich) mit dem schief-verschmitzten und gleichzeitig tragisch unterlegten Blick, der es schafft, Miriam nach einer gemeinsam durchstreiften Nacht in Las Vegas am frühen Morgen vor seiner Hotelzimmer – wegzuschicken, und die erotische Spannung zwischen beiden ist so stark, dass sie aus dem Bildschirm knistert, und er schickt sie weg. Aber er verspricht, dass man das Versäumte eines Tages nachholen werde, und zwar, die Pointe kommt mit perfektem Timing, in einem Nachsatz, als Miriam schon fast verschwunden ist: „bevor er tot sei“ – und man ahnt (und wenn man nachliest, weiß man es), dass Lenny Bruce sterben wird, ein Opfer seines Drogengebrauchs und seines Künstlerlebens; er ist gestorben in der Realität, und wahrscheinlich wird er auch in der fünften Staffel sterben. „Bevor ich tot bin“ – das hängt einem nach. Nein, solche Männer wie ihn, oder wie den schlaksigen und schlagfertigen Benjamin oder wie Shy Baldwin (auch ein einsamer Künstler) oder wie Miriams Ex-Ehemann Joel: Man hätte sie gern und mehr von ihnen; Männer, die genauso sind, wie sie sind, zum Dahinschmelzen – und die kein Kapital daraus schlagen. „Bevor ich sterbe“.

Kunst und Humor
Nebenbei ist die Serie ein Psychogramm des intellektuellen, schicken Judentums in seiner New-Yorker-Variante: Immer reden alle durcheinander, immer wird das von Zelda so sorgfältig bereitete und zeremoniell aufgetragene Essen kalt. Immer nehmen alle alles wörtlich und persönlich und übertreiben ohne Ende und sind egozentrisch und sophistisch und gnadenlos; kurz: Sie sind das ideale Material für eine stand-up-comedienne ebenso wie für eine TV-Serie, die von superschnellen, pointierten, überraschenden, überwältigenden Dialogen lebt. Stand-up: Die Angst, öffentlich sprechen zu müssen, ist in Umfragen regelmäßig stärker ausgeprägt als die Todesangst (Wissen aus Wikipedia). Ein comedian, der keine Lacher bekommt, ist bombing und ein hack; wenn er jedoch das Publikum in den Griff bekommt, wenn er den Raum richtig liest und ihn bearbeitet (work the room); wenn seine bits in der richtigen Reihenfolge und mit dem richtigen beat kommen (Lenny Bruce schnipst ihn mit den Fingern dazu): Dann ist er killing. Stand-up hat seine eigene Kunstsprache, wie jede Kunstform, sie ist bezeichnend und entlarvend ehrlich in ihrer Drastik. Natürlich hat Stand-up viel gemein mit der klassischen Komödie (fun fact: Der comedian wird eingeführt vom Emcee, dem Moderator, der das Publikum aufwärmt; und der Name kommt tatsächlich von master of ceremonies, dem alten höfischen Zeremonienmeister). Noch stärker sind aber die unerwarteten Parallelen zum Erzählen, dem uralten anthropologischen Muster des geselligen Selbstausdrucks. Miriam Maisel pflegt die schwierigste Form des Stand-Up, den stream of consciousness: einen assoziativen, scheinbar spontan wirkenden Vortrag, gegriffen aus dem vollen alltäglichen Leben, gesättigt aus täglichen Beobachtungen (die sie sorgfältig, wie jede gute Autorin, in ihrem Notizbuch notiert, alles ist Material, und die Künstlerin ist niemals im Urlaub) und so geformt, dass sie nicht mehr nur-persönlich, nur-zufällig, sondern: augenöffnend, einsichtsvoll, verallgemeinerbar sind. Und lustig natürlich, die comedienne lebt für den Moment der Pointe, die wirklichen und nicht nur klischeehaft-pflichtschuldigen Lacher, die zeigen: Die Pointe hat gezündet, und zwar in den Köpfen; manchmal deshalb auch mit einer gewissen Verzögerung.

Kunst und Lebendigkeit

Stand-up als Kunstform ist, und das ist ein zu wenig gebrauchtes ästhetisches Attribut, das jedoch interessanterweise traditionell gern Frauen zugeordnet wird: lebendig. Lebendig ist wichtiger als schön. Und lustiger. Denn das ist vielleicht die wichtigste Pointe von Stand-up in einer Welt, die meint, alles Wichtige könnte nur mit Trauermiene und dem Unterton empörten Vorwurfes (und deshalb auch immer mit einem gewissen bitter-selbstgerechten Beigeschmack) vorgetragen werden: Humor ist nicht nur ein Sahnehäubchen in einer Welt, die von Schwarzbrot lebt; er ist nicht nur etwas zur Unterhaltung und zur Ablenkung. Und Humor ist ganz gewiss nicht, wenn man über andere Leute lacht, sogar wenn sie es verdient haben. Humor ist: Lachenkönnen über sich selbst, gerade dann, wenn es richtig wehtut. Humor ist eine Erkenntnisform. Humor ist überlebensnotwendig. Humor ist eine Waffe der Frau. Tits-up!

Nachtrag: Kunst und Tragik des Lebens

So, die fünfte Staffel von The Marvelous Mrs. Maisel ist fertig. Ich habe sie zweimal gesehen, wie alle Staffeln vorher, und das Ende ist enttäuschend. Aber es kann nur enttäuschend sein, das weiß jede, die die großen Epen gelesen und die großen Serien gesehen hat: Je besser sie sind, desto mehr Erwartung wird aufgebaut, aber sogar das Leben selbst hat es nicht über einen langweiligen, eigentlich immergleichen Schluss herausgebracht, und Hochzeiten sind nur die Boxen-Stops des Schicksals. Aber nein, im Ernst: Midge stirbt nicht am Ende, auch wenn Lenny Bruce, wie lang geahnt, einen sehr melancholischen Abgang hinter der Bühne hat und von Joel nur noch ein Hochzeitsfoto geblieben ist (das aber einen Ehrenplatz hat, es ist eines der wenigen Dinge, die am Ende bleiben). Und wir spoilern auch noch nicht gleich das Ende, das kommt später; erst einmal zählen wir die Dinge auf, mit denen wir auch noch recht gehabt haben. „Ich kann nicht alles haben“, das sagt Joels Beinahe-Zweitfrau, die kluge und strebsame Mei; und dann verlässt sie ihn, um ihren Lebenstraum zu verwirklichen und Ärztin zu werden, vorher hat sie ihr gemeinsames Kind noch abgetrieben. Es ist eine derjenigen Szenen, die frau wirklich unter die Haut gehen; einfach, weil sie so wahr sind und so traurig und so, sagen wir es ruhig: tragisch. Es ist die richtige Einsicht, aber ist es die richtige Entscheidung?

Ein anderer Moment, der von hinten her ein tragisches und gleichzeitig in der Erkenntnisschärfe fast überhelles Licht auf die Serie wirft: Midges Vater Abe, gespielt von dem grandiosen Tony Shalhoub (Monk), Columbia-Professor für Mathematik, geistreicher Theaterkritiker der Village Voice, virtuoser Pianist und – wie soll man es sagen? Er ist nicht einfach nur stolz auf seine Hochintelligenz, er ist so durch und durch von ihr durchdrungen, von seiner eigenen intellektuellen Überlegenheit, dass er sie geradezu ausdünstet, ausatmet, von ihr lebt und durch sie lebt, und durch sie allein. Und selbstverständlich gilt diese intellektuelle Überlegenheit auch für die eigene Familie; und natürlich hat er sie, wie noch jeder Weissman vor ihm, auf seinen männlichen Nachkommen übertragen (Midges Bruder, definitiv einer der schwächsten Männer in der ganzen Serie), und dieser wird sie selbstverständlich auf seinen eigenen männlichen Nachkommen übertragen, den kleinen Ethan, den wir nie anders sehen, als gemeinsam mit seiner Schwester Esther vor dem Fernseher, sie werden mal hierhin geschoben, mal dorthin, aber immer enden sie vor dem Fernsehen. Ethan jedoch ist in seiner gehobenen Privatschule in der Happy Group; denn seine wesentliche Fähigkeit ist die zum Glücklichsein, und das, das allein reicht aus, um Abe vom Glauben abfallen zu lassen: Noch nie war ein Mann von auch nur mittlerer geistiger Größe glücklich, von der eigenen überdurchschnittlichen Größe ganz ausgeschlossen! Nun, da mag frau ihm nicht widersprechen: Wo die Reflexion ihre müd-schönen Flügel hebt, lauert die Melancholie als kleines Teufelchen auf der Schulter, nicht zufällig, sondern notwendig, und Denken macht vieles, aber nur ganz selten und nur sehr vorübergehend: glücklich. 

Ist das traurig? Ja, definitiv; vielleicht sogar: tragisch? Abe jedoch, in einem Moment wirklicher Größe, erkennt dabei noch etwas, was sein ganzes bisheriges Leben in Frage stellt: Vielleicht haben die Männer, die sich immer – mit der gleichen Sicherheit, wie er selbst – als die unzweifelhaft intellektuell Überlegenen gesehen und mit dieser Sicherheit die Welt regiert haben, seit Jahrtausenden (mit kleinen Ausnahmen); vielleicht haben sie es verkorkst. Vielleicht waren die Frauen die ganze Zeit die klügeren, und niemand hat es gemerkt. Vielleicht hätte er seine Tochter fördern sollen und nicht seinen Sohn, den armen Noah, den er mit seinen Erwartungen überfrachtet und ruiniert hat; und was, was hätte aus dieser seinen Tochter werden können, wenn er sie beachtet, gefördert, unterstützt hätte? Wie konnte es nur sein, dass er – die Welt so grundlegend falsch verstanden hatte? Man sieht in diesem Moment, dass Abe nicht nur intelligent ist, sondern dass er wirklich, wirklich klug ist. Er kann nämlich sogar zugeben, dass er einen großen, einen grundlegenden, einen weltstürzenden Fehler gemacht hat; und er sieht, wie weit der Fehler reicht (das wäre auch ein guter Schluss gewesen für die Serie, im Übrigen).

Sein Enkel Ethan hingegen, der Selig-Unbedarfte, von den Schmerzen der Reflexion Unberührte, springt weiter mit einem Zauberstab in der Hand in der Happy Group um den Tischer herum, und er ist da gut aufgehoben. Esther aber, seine Schwester genauso wenig beachtet, genauso viel hin- und hergeschoben wie er: Esther ist das Wunderkind, wie sich eines Tages völlig unerwartet herausstellt; und sie ist, wie die Vor- und Rückblicke in den verschiedenen Folgen der fünften Staffel zeigen, später gleichzeitig ein wissenschaftliches Genie und ein seelisches Wrack. Hasst sie ihre Mutter? Natürlich hasst sie ihre Mutter. Keine Versöhnung, nirgends. Denn das ist, bei allen weiterhin höchst witzigen und lustigen und hochintelligenten und wunderschönen (Kleidung und Kulissen sind weiter Highlights) Szenen, die Tragik von Midge Maisels Leben, die nicht verschwiegen und nicht verdeckt wird, sondern in dieser fünften Staffel zu einem Leitmotiv erhoben wird, das das ansonsten sehr Collagehafte der einzelnen Episoden verbindet. Am Ende ist The Marvelous Mrs Maisel so berühmt, wie sie immer werden wollte. Sie reist durch die Welt, sie gibt jeden Abend ausverkaufte Vorstellungen vor den größten Hallen, sie hatte die interessantesten Ehemänner, und sie sie lebt in einem Palast, in dem die Köche Köche haben (Zitat aus einer ihrer Vorstellungen; und das alles ist nicht wirklich der Spoiler, es ist eher nebensächlich). Aber sie ist einsam. Die Männer, die sie wirklich geliebt hat (Joel und Lenny) sind tot, und ihre Kinder hassen sie, mit guten Gründen (sie hatte es geahnt). Frau kann nicht alles haben. Midge hat ihre Entscheidung getroffen, vor langer Zeit. War es die richtige?

Ach, wer weiß das schon am Ende. Am Ende hat Midge nur noch Susie, die gute, alte, immer noch quadratische und ins Exotisch-Übertriebene gealterte Susie: eine Arbeitsbeziehung, die in eine Lebensbeziehung gewachsen ist, jenseits von Sex und Küche und Kindererziehung und all den Alltäglichkeiten, die das Leben komplizieren und erinnerungs- und lebenswert machen. Am Ende kann Midge immer noch lachen, sie kann mit Susie lachen, es ist aber ein wenig zum Weinen, wie und unter welchen Umständen sie lachen. Und wenn sie über ihre Wiedergeburt nachdenkt, wäre sie gern ein wilder Mustang. Sagte ich schon, dass das Ende ist immer enttäuschend ist?


The Queen’s Gambit, oder: Frauenpower und Damenopfer



Das der Netflix-Erfolgsserie zugrundeliegende Buch von Walter Tevis war nicht als eine Emanzipationsschrift gemeint gewesen. Leser und Leserinnen sprechen in Online-Rezensionen oft von einem Thriller, den sie nicht mehr aus der Hand legen konnten – und hätte irgendjemand vorher für möglich gehalten, dass es so etwas wie einen Schach-Thriller geben könnte? Dass die Hauptfigur Beth Harmon eine Frau ist in der Männerwelt der „Großmeister“; dass sie zeitweise drogen- und alkoholsüchtig ist, dazu aufgrund ihrer traumatischen Kindheit wie ihrer außergewöhnlichen Persönlichkeit emotional eingeschränkt bis zum Asperger – gehört alles einfach zur Geschichte, die eben eine Waisen- und Wunderkindgeschichte mit weiblicher Heldin ist (Beth selbst sagt in einer Folge: „Ihr interessiert euch doch nur für mich, weil ich eine Frau bin!“, und das ärgert sie sehr). Und doch haben all diejenigen nicht ganz Unrecht, die jetzt in der Verfilmung vor allem eine Frauengeschichte gesehen haben. Denn die Serie lebt von den großen Augen von Beth Harmon, die imaginäre Schachspiele an beinahe jede Zimmerdecke zaubern kann; von ihrer sehr ansehnlichen Bilderbuch-Metamorphose vom hässlichen Entlein zum Model-Schwan, von ihrer grazilen Silhouette, der schlangengleichen Eleganz, mit der sie am Tisch Platz nimmt und die Figuren führt ­ so schnell, so energisch, so hochkonzentriert, dass es irgendwann auch den größten Großmeister aller Zeiten einschüchtert. Und heißt die Geschichte nicht sogar The Queen’s Gambit?

Das ist übrigens, für uns Nicht-Eingeweihte und allerhöchstens Hobby-Spielerinnen, eine sehr verbreitete Eröffnung im Schachspiel, das wie jede gute Geschichte aus einer Eröffnung, einem Mittelteil und einem endgame besteht. Schach ist nämlich keineswegs die große Kombinationsfreiheit auf 64 Feldern; nein, es gibt massenhaft vorgegebene, historisch erprobte Zugkombinationen aus einer reichen Schachliteratur ­ Erfolgsrezepte der Großmeister sozusagen, die man erkennen muss und auf die man in einer mehr oder weniger vorgeschriebenen Art und Weise reagieren muss (und ist es nicht in der Literatur ganz ähnlich? Zehrt davon nicht die Erfolgsgeschichte des Begriffs Narrativ: eben keine individuelle Geschichte, sondern ein wiederholbares Erzählmuster, auf das wir alle immer schon warten?). Beim Queen’s Gambit nun geht es um das Angebot eines Bauernopfers des Damenbauers direkt zu Beginn des Spiels. Der dadurch errungene vermeintliche Vorteil ist aber eine Falle, die mit einem kurzfristigen Gewinn lockt, aber langfristig ins Verderben führt (und schon wieder ist man nicht nur in der Strategie, sondern mitten im Leben und in der Literatur, wo bekanntlich ständig Bauern geopfert werden, damit die Könige ihre Ruhe haben!). Bauern haben übrigens kein Geschlecht im Schach; sie sind noch nicht einmal eine „Figur“, sondern nur ein „Stein“. Sie haben auch die geringste Bewegungsfreiheit: gerade einmal einen Schritt, und den nur nach vorn (kein Bauer darf desertieren, niemals!). Denn es ist schließlich der König, der um jeden Preis geschützt werden muss; alle anderen Figuren haben keinen anderen Endzweck, und wenn der König ermattet dahin fällt, plopp!, fällt das Reich und das Spiel ist aus. Der König aber, und das ist eigentlich ziemlich lustig, ist beinahe noch eingeschränkter als die geschlechtslosen Bauern. Er kann zwar in alle Richtungen ziehen, aber auch immer nur einen Trippelschritt weit. Die Dame hingegen, die Königin, ist die allerbeweglichste, die allerwichtigste Figur: Sie durchquert frei den ganzen Raum, in jede denkbare Richtung. Die Damen führt den Angriff, mit Generälen und Bauern, nicht etwa der König!

Bevor wir aber nun in einen fröhlichen Frauenpower-Taumel verfallen, ein kurzer, wie immer lehrreicher Ausflug in die Geschichte und die Symbolpolitik. Dass Schach ein sehr altes Spiel ist, wissen die meisten irgendwie, vage auch, dass es aus dem Osten kommt, wo das Licht und die Weisheit herkommen (wir erinnern uns an Nathan, der mit dem Derwisch gern ein Spielchen macht; oder an die Parabel von den Reiskörnern, die anderswo erzählt werden wird). Nicht direkt berühmt jedoch ist der frühe Okzident für seine Frauenfreundlichkeit oder seine emanzipatorischen Errungenschaften überhaupt. Dort war die Schach-Dame aber auch ursprünglich überhaupt keine solche, sondern ein Minister: der Wesir nämlich, die mächtigste Figur am Hofe, der Stellvertreter des Herrschers, und das macht auch viel mehr Sinn. Erst als das Spiel im frühen Mittelalter, wohl über die Seidenstraße, nach Europa einwanderte, da mutierte die Figur irgendwann vom Beamten zur Dame. Warum – das weiß keiner so genau, auch die Regeln waren in dieser Zeit noch durchaus in Bewegung. Spekulationsfreudige Kulturhistoriker mutmaßen, dass eindrucksvolle weltliche Herrscherinnen der Zeit das Vorbild waren (Isabella I. von Kastilien wird gern genannt, weil das zeitlich ungefährt passt); oder vielleicht die Blüte der Minnelyrik (die aber die angebetete hohe Frau lieber in die Kemenate einsperrte)? Hätte man trotzdem nicht besser einen General aus dem Wesir machen können, nachdem das Schießpulver erfunden war und damit die Karten auf den realen Schlachtfeldern der Königreiche neu verteilt worden waren? Aber vertrauen wir in diesem Fall lieber der Weisheit des Schachs, und diese sagt: Der König mag zwar unersetzlich sein, aber er ist wenig mehr als ein glorifizierter Bauer in einem goldenen quadratischen Käfig. Mit der Königin jedoch ist zu rechnen; sie ist die freieste Figur und die gefährlichste.

Eine andere Erklärung für die Mutation Wesir-Königin geht übrigens so (etymologisch nämlich, was eine wahre Wunderkerze ist): Der Wesir hieß im Persischen (der zweiten Station des wandernden Schach nach Indien wahrscheinlich) „farzin“, im Arabischen „firz“; die Europäer machten phonetisch „fers“ daraus, was eine vage Hörähnlichkeit wiederum mit dem französischen Wort „vierge“ hat, was für die Gottesmutter steht. Diese aber ist gleichzeitig Jungfrau und Himmelskönigin. Nicht ganz so emanzipatorisch gedacht und auch sehr zweifelhaft wie die meisten Ableitungen aus der Wortgeschichte, aber immerhin ein Versuch. Zudem, so ritterlich war das Mittelalter noch, war vor dem Angriff auf die Dame zu warnen: „gardez!“ – Pass gefälligst auf deine Dame auf! – so wie dem „Schachmatt“ die Ankündigung im „Schach“ vorauszugehen hat. Bauern hingegen werden ungewarnt geopfert; aber es gibt einen kleinen Trick, wie auch ein Bauer Königin werden kann!

Zunächst aber zurück zu Beth Harmon und dem Damengambit. Beth, die geniale Waise, ist zu Beginn der Geschichte maximal eingeschränkt in ihrer Bewegungsfreiheit. Im Waisenhaus sind die Wege genau vorgeschrieben, und schon dass sie sich in den Keller begibt, wo der etwas gollumartige schachkundige Hausmeister wohnt, ist eigentlich ein schwerer Verstoß gegen die Hausordnung. Der Hausmeister aber ist nur äußerlich ein beliebiger Bauer; innerlich ist er mindestens ein Turm, ein Fels in der Brandung jedenfalls für das ernsthafte Mädchen, das am Rand des Feldes steht und sehnsüchtig darauf wartet, endlich eingelassen zu werden in das Spiel, und so lange schaut mit ihren großen Augen, bis er endlich sagt: „Let’s play!“ „Let’s play“, das sind die magischsten Worte überhaupt, denn sobald Beth sich auf das Brett konzentriert, verschwindet die Welt um sie herum und eine neue entsteht in ihrem seltsam mathematischen Kopf unter der strengen Pagenfigur. Von da an, aus dem Kellergeschoss, arbeitet sie sich empor, Schritt für Schritt, Zug um Zug erweitert sie ihre Bewegungsfreiheit, erobert ihre Heimatstadt, erringt die US-Meisterschaft, geht nach Paris (die Kleider werden immer besser) und schließlich nach, die Krönung jeder Schachkarriere: Moskau. Moskau, das ist ein magischer Ort, wo Schach in den Parks gespielt wird und die Paläste und Hotels Schachbrettern ähneln; man ist aber nie allein, sondern verfolgt von dunklen Geheimagenten, und selbst die eigene Regierung lässt einen nicht aus den Augen (Schach ist Politik. Schon immer gewesen). Am Ende gelingt Beth damit das, wovon jeder Bauernstein träumt: Denn wenn er (oder sie) bis in die Grundlinie des Gegners vordringt, wenn es ihr (oder ihm) gelingt, das ganze Feld zu durchqueren, allein, als kleiner Bauer, ungeschützt – dann darf er gewandelt werden; und meistens steht sie dann als Königin wieder auf. Um sie herum fallen derweil die Männer zu ihren Füßen (also: um Beth jetzt). Einer nach dem anderen gibt auf. Auf dem Brett gibt es dafür verschiedene Möglichkeiten: Der König wird gekippt, geschlagen, umgelegt, eine tote Figur. Oder er bietet die Aufgabe an, mit Worten oder Taten, nämlich der ausgestreckten Hand, die der Gegnerin den höchsten Respekt zollt. Beth jedoch wird verlassen. Immer wieder. Keiner hat ihr Opfer, ihr persönliches Damenopfer angenommen; keiner war stark genug dafür; nicht für die Großmeisterin, nein (im Schach bleiben sie ihr durchaus treu); für die Frau.

Dass Beth bei all dem Glück im Spiel keines in der Liebe hat, ist natürlich auch ein bekanntes Narrativ, aber gar kein so beliebtes. Dass sie nicht nur von den Männern, sondern auch von zwei Müttern verlassen wird und nur mit Hilfe einer hartnäckigen, lebensweisen Freundin ihre Sucht in den Griff bekommt – ist aber wohl der Preis für die Macht der Königin. Am Ende der Serie ist sie zu einer Eiskönigin geworden, ganz in modischstes Weiß gewandet, allein im fernen Russland und völlig frei. Doch als sie die Einladung annimmt und sich schlangengleich bei den alten Männern im Park an ihren einfachen Schachtischen niederlässt, und als die magischen Worte fallen: „Let’s play“ – da taut das Eis auf und die Welt versinkt.



Mona Lisa lächelt, und Melencolia schweigt.
Gemalte Frauen


Letzte Woche waren wir, man darf ja endlich wieder in Museen, wo man natürlich auch schon früher häufig ziemlich distanziert war – letzte Woche waren wir also in einer Kunstausstellung: Edward Hopper in der Fondation Beyeler in Basel, ›Landschaften‹. Nun freut man sich ja sowieso über jeden realistischen Maler in der Moderne, und wenn er dann noch so schöne, scharf geschnittene, über und über trivialamerikanische und doch auch ein wenig metaphysisch überscharfe Landschaften malt wie Hopper (der im Übrigen ein verkannter Surrealist ist und den man direkt neben Magritte oder Dali hängen könnte, aber das ist ein anderer Artikel), sind sowieso alle dabei. Wenig Menschen sind zu sehen. Gelegentlich eine Frau, sie steht in einem Erker, trägt ein einfaches, geradezu generisches Kleid und schaut in eine unbestimmte Ferne (Hopper hat auch Menschen gemalt, aber in einer Landschafts-Ausstellung sind sie logischerweise eher unterrepräsentiert). Und nun setzt sich ein kleiner Gedankenzug in Bewegung, er schnauft noch etwas mühsam über sein Nebengleis, aber trotzdem: Von welchem Maler wäre man, nein: wäre ich eigentlich gern gemalt worden, als Frau? Natürlich nicht Picasso; schon beim Ansehen seiner Frauenporträts kriege ich meist einen steifen Nacken, weil ich mich jetzt eigentlich ganz unnatürlich drehen müsste, so dass die Nase neben das linke Ohr kommt und die Augen auf einmal senkrecht übers Gesicht verteilt sind; nein, Modernität und Perspektivenvielfalt hin oder her, als Frau bekommt man bei Picasso Nackenkrämpfe und Gesichtszuckungen, der Mund wird immer schiefer, je mehr man hinschaut, und warum konnte er nicht lieber weiter Weinflaschen, Violinen oder notfalls Clowns malen, auch wenn sie nicht melancholisch, sondern creepy sind, wie alle Clowns? Oder Tänzerinnen, Degas; man fühlt sich gleich ganz schwergewichtig, man möchte ihm die Tutus um die Ohren hauen und die durchgebluteten Ballettschuhe dazu! Die wenigstens möchten wahrscheinlich auch Maria sein, das häufigste weibliche Objekt in der Kunstgeschichte; immer hingebungsvoll schauen auf das meist ziemlich hässliche Baby, von dem man immer noch nicht recht weiß, wie man zu ihm gekommen ist, immer ein wenig blässlich-dümmlich-heiligenhaft selbst. Aber immerhin darf man gelegentlich ein Buch in der Hand halten, wenn der Engel zu einem spricht (eigentlich möchte man aber lieber der Engel sein), man darf in einer ruhigen Kammer sitzen oder in einem umfriedeten Garten, umwachsen von feinen Rosen. An melancholischen Tagen könnte ich ein wenig Maria sein. An anderen hingegen wäre ich dann doch lieber gleich Dürers Melencolia, ein Macht- und Prachtweib, wie es wenige gegeben hat: den schweren, schönen, gar nicht zierlichen Prachtkopf mit dem schweren Haar in die Faust stützend wie noch jeder verzweifelt Denken-Müssende, und ein schafartiges Tier, man wird den Eindruck nicht los, dass es ein zur Strafe verzauberter Mann ist, liegt ihr zu Füßen. Aber, rein statistisch gesehen, wäre man als Frau natürlich eher Venus als Melencolia, da männliche Maler von jeher jede Gelegenheit genutzt haben nackte Frauen malen zu dürfen, nur leicht mythologisch bemäntelt (Eva fällt auch darunter. Dürers Eva ist aber beinahe so imposant und selbstbewusst wie Melencolia). Perfekte Schönheit allerdings ist anstrengend, selbst wenn man nicht die ganze Zeit nackt ist. Wenn schon Venus, dann eher Botticelli als Tizian: Auf der Muschel stehen, an den Füßen spürt man noch die kleinen Wellen spielen, im sanften Wind kräuselt sich das lange Haar, und vielleicht, vielleicht, wenn man großes Glück hat, könnte man einfach umdrehen und zurück ins Meer gehen. Das Schwierigste, der Schwierigste aber ist Cézanne. Er malt seine Frau Hortense, seine langjährige Lebensgefährtin und die Mutter seines Sohnes, sie trägt ein rotes Kleid und sie sitzt in einem grün schillernden Sessel, und der Sessel ist interessanter gemalt als die Frau. Das hat Betrachterinnen und Kunsthistoriker schon immer irritiert; wenn Tizians Venus lasziv auf einem roten Sofa hingeräkelt liegt, ist das Sofa wenigstens nicht interessanter als Venus, und selbst bei Botticelli bleiben die Muscheln Beiwerk. Cézanne aber malt seine Frau so, wie er alles malt: sachlich. Eine optische Erscheinung an einem bestimmten Tag mit einem bestimmten Lichteinfall, zusammengesetzt aus kleinen Farbflecken, taches, die erst im Auge zusammengesetzt werden und damit das vorgefertigte Bild umgehen, das man immer schon im Kopf hat, egal was man gerade sieht. Hortense ist auf diesen Bildern eine Fremde, die man nie verstehen wird, genauso wie man einen Apfel nie verstehen wird oder die Montagne Sainte-Victoire. Und eigentlich, eigentlich: könnte ich mir ganz gern vorstellen, von Cézanne gemalt zu werden. Keine Charaktererforschung, kein liebender Blick, keine mythologische Verbrämung, keine idealistische Perfektion, kein Zwang- und Traum- und Zerrbild des Ewig-Weiblichen, gesehen vom Ewig-Männlichen mit dem Pinsel in der Hand. Nicht Mona Lisa, wie sie unergründlich lächelt – obwohl das Bild, wenn man es nicht allzu ernst nimmt, etwas wirklich Lustiges, geradezu Verschmitztes bekommt, man könnte Leonardo da Vinci sogar zutrauen, dass er es auch so gemeint hat. Aber Cézannes detachierte Frau im Sessel; Hoppers aus Erkern in die Ferne blickenden amerikanische Normalfrauen, vielleicht dazu noch Vermeers lesende Dienstmädchen und Bürgersfrauen, in deren schlichten Perlenohrringen sich die Welt spiegelt – dafür könnte man schon einmal eine kleine Weile zum Objekt werden.


Paul Cézanne: Madame Cézanne im roten Sessel (1887)



Porträt einer Blumenmalerin, oder: Emanzipation um 1700.

Mit kunstgeschichtlichen Anmerkungen und einem sich windenden Exkurs
zu einem Vogelmaler, zu Goethe und in die Botanik

 

Wie so oft beginnt die Geschichte bei Goethe. Dort las ich, ganz nebenbei, in einem der bekannteren ästhetischen Aufsätze (nämlich Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil, für Goethe-Freundinnen), von den „Wunderwerken eines Huysum, einer Rachel Ruysch …, welche Künstler sich gleichsam über das Mögliche hinübergearbeitet haben“. Etwas in mir stockte einen Moment, nein, gleich drei Dinge stockten in diesem Moment, sie stolperten geradezu übereinander: Warum diese außerordentliche Hochschätzung von (so lautet die etwas abschätzige Berufsbezeichnung) „Blumenmalern“? Wer waren eigentlich die derart hochgeschätzten, also „Hyusum“ und „Rachel Ruysch“? Und warum, zum dritten und letzten und stockendsten: Warum nennt Goethe hier eine weibliche Künstlerin, zumal eine, von der ich noch nie in meinem (kunsthistorisch nicht ganz uninformierten) Leben gehört hatte? Wer war Rachel Ruysch, wen sie zuhause war? Welche „Wunderwerke“ erschuf sie, und woher kannte Goethe sie eigentlich? Einige Wikipedia-Artikel samt einer amazon-Bestellung eines billig gemachten, aber trotzdem eindrucksvollen Bildbandes später war ich klüger und noch mehr beeindruckt. Also, zur Rettung einer fast vergessenen Blumenmalerin und mit einem Tusch auf die Emanzipation der Frauen im niederländischen 18. Jahrhundert: 

I.         Malende Frauen, oder: Wer war Rachel Ruysch?

 

 

Rachel Ruysch wurde 1664 als Tochter eines Professors für Anatomie und Botanik in Den Haag geboren, und das war ein Glücksfall für alle Beteiligten. Denn der Vater hatte eine umfangreiche botanische Sammlung, und es stellte sich frühzeitig heraus, dass die Tochter ein ungewöhnliches Talent zum Zeichnen hatte; sie war so gut, dass sie bald ihren Vater und ihren Bruder unterrichtete. Ihre Lehre erhält sie bei einem bekannten Blumenmaler in Amsterdam: Er soll ihr beigebracht haben, die Blumen absichtlich so in einer Vase zu arrangieren, dass es spontan und nicht-künstlich aussieht – was, um ehrlich zu sein, auch nur ein Grundgesetz aller Kunst ist, soweit sie sich irgendwie im weitesten Sinne als Naturnachahmung versteht (siehe Goethe), und dazu eine Technik, die von Frauen weltweit schon seit eh und je praktisch geübt wird. Kaum ist Ruysch 18 Jahre alt, verkauft sie bereits erfolgreich ihre ersten eigenen Blumenstilleben und baut an ihrem Netzwerk, indem sie Kontakte zu bekannten männlichen und weiblichen BlumenmalerInnen ihrer Zeit knüpft. Zwischendurch heiratet sie, einen Maler namens Juliaen Pool, der nicht einmal einen eigenen Artikel in der (deutschen) Wikipedia hat; und sie bekommt nicht weniger zehn Kinder mit ihm, von denen sechs überleben. Ein Porträt zeigt sie das Künstlerpaar: Entspannt, beinahe flegelig sitzt sie im Zentrum des Bildes, einer der Söhne schaut bewundernd und liebevoll zur Mutter auf. Der wohlbeleibte Ehemann steht hinter ihr (hinter jeder großen Frau steht ein Mann?), die Hand etwas besitzergreifend auf ihre Schulter gelegt; mit der anderen zeigt er auf eine Staffelei, die – man kann es nicht ganz genau erkennen, das ist wohl auch Absicht, aber zeigt es nicht? – genau, es zeigt das gleiche Blumenbukett, das neben Rachel auf einem Tisch steht und verdächtig „natürlich“ arrangiert aussieht; also ein Werk der berühmten Frau, nicht eines des eher wenig berühmten Porträtmalers! Rachel hat auch allen Grund, entspannt zu sein. Die zehn Kinder werden, das kann sie sich leisten, von einer Kinderfrau betreut. 1699 wird sie als erstes weibliches Mitglied in die renommierte Malergilde Confrerie Pictura in Den Haag aufgenommen. 1708 erhält sie eine Berufung als Hofmalerin in Düsseldorf; sie erwirkt in ihrem Vertrag, dass sie zu Hause arbeiten darf (home office im frühen 18. Jahrhundert!) und ihre Werke nur gelegentlich ihrem Arbeitgeber in Düsseldorf abliefert. Aus einem Einzelporträt aus dieser Zeit blickt der Betrachterin eine nüchterne, nicht unattraktive Frau mit natürlichen braunen Locken in ihren 30er Jahren entgegen. Das Dekolleté ist sehr freizügig, der samtige Pelzkragen schmeichelt ihrer glatten Haut und erweckt den Eindruck von bürgerlichem Reichtum. Wohlhabend sieht sie aus, entspannt, angekommen. Eine niederländische Geschäftsfrau, die auch in hohem Alter nicht in Rente geht: Denn Rachel Ruysch wird alt, sie stirbt mit 86 Jahren in der Mitte des Jahrhunderts, genau 1750. Bis ins 83. Lebensjahr malt sie; man weiß das, weil sie gelegentlich das Alter mit verzeichnete auf den Bildern. Es gibt sogar noch ein ganz spätes weiteres Eheporträt, einen Stich, der sie als Matrone zeigt, die ihren Ehemann überlebt hat. Ein etwas spöttisches Lächeln gleitet hier über das immer noch ernsthafte, immer noch disziplinierte Gesicht, während der über ihr schwebende Mann (er war schon gestorben zu diesem Zeitpunkt) sorgenvoll die Augenbrauen kräuselt. Und auf dem Medaillon, das ihr Porträt rahmt, ist wieder das Alter verzeichnet: gesegnete 84 Jahre. Seit ihrem 18. Lebensjahr hat sie gemalt, und ihr Werk ist heute noch kaum vollständig verzeichnet. Die Bilder erzielen lange Zeit Höchstpreise auf dem Markt: Überliefert sind zwischen 750 und 1200 Gulden, Rembrandt bekam meist nicht mehr als 500 Gulden. Dass eine Frau auf dem Kunstmarkt besser bezahlt wird als die Männer, wäre heute eine Rarität. Aber nun gut, sie war halt eine Blumenmalerin, ein typisch weibliches und in der Hierarchie der Bildgattungen eher niederes Genre; sie malte hochdekorative, wenig anspruchsvolle Gemälde, die man sich gut in einem höfischen oder gehoben bürgerlichen Ambiente vorstellen mag. Wenig Revolutionäres, wenig Aufregendes, keine Skandale, von „Relevanz“ ganz zu schweigen! Goethe aber sprach, und das ist nicht wenig, von „Wunderwerken“ (wir werden auf die Werke noch zu sprechen kommen). Und malen nicht auch Männer gelegentlich erfolgreich Dekoratives? 

II.        Schießende Männer, oder: ein vergleichender Exkurs zu John James Audobon

 

 

Der Zufall wollte es nämlich (es muss ja nicht immer nur Goethe sein), dass ich ungefähr zur gleichen Zeit einen amerikanischen Vogelmaler kennenlernte. Und da Vergleiche immer nützlich und erleuchtend sind, selbst wenn sie ein wenig hinken oder von sehr weit hergeholt sind, soll auch seine Geschichte kurz erzählt werden, kontrastiert sie doch im Gegenlicht aufs schönste die mit derjenigen der niederländischen Blumenmalerin. John James Audubon also wird knapp hundert Jahre später als Rachel Ruysch (im Jahre 1785) als Sohn eines Schiffskapitäns und Plantagenbesitzers auf Haiti und einer Kreolin geboren. 1803 geht er mit einem falschen Pass nach Amerika (wahrscheinlich, um dem Wehrdienst in Napoleons Armee zu entgehen), wo er klug heiratet. Man zieht auf das Familiengut bei Philadelphia, die Ehefrau ernährt die Familie als Privatlehrerin, während Audubon für seine etwas diffusen wirtschaftlichen Aktivitäten auch schon mal im Gefängnis landet. Aber dann entdeckt er seine Leidenschaft für Vögel; nein, genauer: Eigentlich ist es anfangs eher eine Leidenschaft für alles, worauf sich schießen lässt. Audubon ist nämlich ein passionierter Jäger, und ein Tag, an dem er nicht mindestens hundert Vögel geschossen hat, ist für ihn ein verlorener Tag (das ist anekdotisch von ihm selbst überliefert, vielleicht war es nur geschicktes Selbst-Marketing). Aber irgendwann scheinen sie ihn dann doch um ihrer selbst willen zu interessieren, die bunten Vögel Amerikas, und er beginnt sich systematisch mit ihnen zu beschäftigen: So führt er beispielsweise die ersten Vogelberingungen durch und entdeckt dadurch das Zugvogelverhalten. Und er zeichnet die erlegten Vögel. Dabei entwickelt er eine eigene Methode, wie man – nun ja, erschossene Vögel künstlerisch möglichst so arrangiert, dass sie lebendig wirken (ja, genau wie Blumen). Man nehme zum Erlegen möglichst feinen Schrott, um das bunte Federkleid intakt zu erhalten; und dann bringe man die möglichst frischen Kadaver mithilfe von Drähten in eine natürlich scheinende Position (eine Technik, die man bis heute bei einige Blumen anwendet, Gerbera zum Beispiel, die leicht zum Kopfhängerischen neigen). Dann zeichne man sie. Und zwar vollständig, jede Art, männliche und weibliche Exemplare, in ihrem verschiedenen Federkleid, in ihrer natürlichen (aber natürlich künstlerisch überformten, sogar ein wenig: abstrahierten) Umgebung. Das hat nebenbei den Vorteil, dass man viel reisen darf, ja sogar muss, kreuz und quer durch Amerika, bis man alle Vögel vor den Pinsel bzw. die Schrotflinte bekommen hat. Mit den Birds of America, 435 handkolorierten Tafeln mit der Darstellung von mehr als tausend Vögeln, hat Audubon einen großen wirtschaftlichen Erfolg, der bis heute anhält; er wird ein berühmter Mann. Noch im Dezember 2010 wurde ein Exemplar der Birds für ca. 8,72 Millionen Euro bei Sotheby’s versteigert (es gibt aber auch einen handlichen Neudruck bei amazon); damals das teuerste gedruckte Buch aller Zeiten. Derweil rümpft die ornithologische Fachzunft die Nase über den Dilettanten, der sogar Biographien der Vögel verfasst (Kunst und Wissenschaft, wir werden bei Goethe darauf zurückkommen). Audubon wird trotzdem Mitglied verschiedener wissenschaftlicher Akademien, und bis heute zeugen die weit verbreiteten Audubon-Gesellschaften in den USA von seinem bleibenden Ruhm; sie haben sich aber inzwischen dem Naturschutz anstelle der Jagd verschrieben. Goethe konnte ihn logischerweise nicht kennen, aber er hätte Audubons Bemühungen um zeichnerische Exaktheit verbunden mit dekorativer Anordnung ebenso wie seine genaue Beobachtungsgabe und den wissenschaftlichen Ansatz außerhalb exklusiver Fachdiskurse sicherlich geschätzt. Ein Porträt des Vogelmalers als junger Mann weist lustigerweise eine Reihe von auffälligen Ähnlichkeiten mit demjenigen von Rachel Ruysch auf: ein eher schmales Gesicht mit aufmerksamen Augen und freien braunen Locken über einem weißen Kragen und einem samtigen Pelz; wesentlicher Unterschied: Der Mann trägt ein Gewehr und einen Gurt mit Patronenhülsen über der Brust. Aber hier hinkt der Vergleich dann doch: Denn auch die Blumen, gepflückt von weiblicher Hand, sind in gewisser Weise getötet worden für die Vase.

III.      Goethe, oder: der botanisch-künstlerische Weg zum „lebendigen Begriff“ 

Damit zurück zu Goethe und dem Zusammenhang von Kunst und Wissenschaft. In einem Schema (Goethe war ein großer Verfertiger von Schemata, nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Kunst, und das sollte schon einen Hinweis auf deren Verwandtschaft liefern) hat er unter dem Titel „Ästhetische Pflanzen Ansicht“ seine persönliche Beziehungsgeschichte zur Blumenmalerei mit einer Gesamtgeschichte dieser Kunst in didaktischer und ästhetischer Hinsicht verbunden. Er beginnt also seiner eigenen Lebensgeschichte; nicht, weil er so gern von sich selbst spricht, sondern weil er sich und sein Leben als repräsentativ versteht und weil für ihn alle Erkenntnis und alle Kunst überhaupt ohne persönliche, erlebte und dann durch Reflexion anverwandelte Darstellung nicht denkbar, ja geradezu unsinnig sind: Was nicht im Leben war, wird nicht nur niemals Kunst, sondern auch niemals (produktive, allgemeine, nicht spezialisierte) Wissenschaft. Das Schema beginnt also mit Goethes Kindheit und Jugend in Frankfurt; schon in dieser Zeit besuchte er nicht nur naturgeschichtliche Sammlungen, sondern auch das eine oder andere Künstleratelier: 

Von Kindheit auf in Bezug mit Staffeleimalerei. Besonders einem Blumenmahler. Verhältnis zum Blumenmahler, näher ausgeführt in Wahrheit und Dichtung. 

Von hier aus geht es fließend über zum historischen Teil, wo wir – nun schon etwas informierter – Rachel Ruysch wieder begegnen. 

Geschichte der Blumenmalerei. Der höchste Punkt in den Niederlanden. Huysum, Rachel Ruysch. Versenkung in die Schönheit. Enthusiasmus dafür. Blumistische Gärtner. Höchster Wert auf die Schönheit der Kronen, ihre regelmäßige Zeichnung Glanz und Fülle gerichtet. Dem Künstler vorgearbeitet. Ihm einen würdigen Gegenstand verschafft. 

Aus der „Geschichte der Blumenmalerei“ leitet Goethe ästhetische wie ethische Kategorien ab. Der „blumistische“ Gärtner (wahrscheinlich abgeleitet vom niederländischen bloemist) schätzt nicht nur die Schönheit (besonders der Blumenkronen, die auch in Goethes Metamorphose der Pflanzen ein Höhepunkt in mehrfachem Sinn sind), er ist sogar ein „Enthusiast“ – was ein häufig unterschätztes Ingredienz aller Kunst ist, sowohl beim Künstler als auch bei der Betrachterin: Ohne Enthusiasmus geschähe nicht nur überhaupt nichts Großes auf dieser Erde (so ein bekanntes philosophisches Diktum), sondern auch kein Künstler würde auch nur den kleinsten Pinsel rühren. Der sammelnde Hobby-Gärtner und „Blumist“ arbeitet damit dem Künstler vor: Er verschafft ihm durch seine Tätigkeit einen „würdigen Gegenstand“. Würdige Gegenstände jedoch sind für einen Klassizisten wie Goethe unabdingbar für große Kunst; sie werden traditionell nur Gattungen wie dem religiösen Bildnis oder den Porträts großer Persönlichkeiten zugeschrieben, während Genres wie die Blumenmalerei eher als Kleinkunst gelten – und gleichzeitig eine Domäne malender Frauen, was die Abwertung in beide Richtungen noch verstärkt: Kleinkünstlerinnen haben niedliche kleine Gegenstände zu malen! 

Das sehen auch die Botaniker so, die nun mit ihren eigenen, wissenschaftlich beschreibenden Verfahren der Blumenmalerei Konkurrenz machen, so Goethe weiter: 

Fortschreiten der beschreibenden Botanik, welche die  Abbildungen unnütz zu machen sucht. Diese zuletzt nicht abzulehnen. Bei dem unaufhaltsamen Trieb nachbildender  Talente. Sodann aber doch höchst bequem zu schneller Überlieferung des Complexes sowohl als der Einzelnheiten eines organischen Körpers. Und des zuletzt aus Bild und Wort zusammentretenden lebendigen Begriffs. 

Aber die Blumenmalerei (ebenso wie die Vogelmalerei eines Audubon) wird durch die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem „würdigen Gegenstand“ nicht etwa überflüssig, wie es die wissenschaftlichen Fachgilden gern hätten! Nein, Blumenmalerei ist nötig: Zum Einen, weil es so viele „nachbildende Talente“ einfach gibt – ohne frühe Förderung und Anerkennung ihres spezifischen Talents wäre Rachel Ruysch nicht erfolgreiche Blumenmalerin und frühe wirtschaftlich emanzipierte Frau geworden. Zum anderen hat die künstlerisch genaue Darstellung der Blumenmalerinnen auch Vorteile für die Wissenschaft selbst: Sie überliefert sowohl das Ganze (den „Complex“) als auch die Teile eines „organischen Körpers“ – also eine rational nicht vollständig erfassbare und deshalb für die Wissenschaft in ihren letzten Gründen unzugängliche Wechselwirkung von Teil und Ganzem, die alles organische Leben (und sonst gar nichts) auszeichnet. Und erst diese Wechselwirkung nach beiden Seiten schafft das, was für Goethe das Höchste aller Wissenschaft wie Kunst überhaupt ist, nämlich: den „lebendigen Begriff“! 

Zum Abschluss kehrt Goethe noch einmal zurück zum historischen Verhältnis von Kunst und Wissenschaft bei den „Blumisten“ – und vollzieht zudem eine interessante ästhetische Volte: 

Die Kunstliebhaber sind zugleich Botanophilen. Der Künstler hat sich nach ihnen zu richten.
Die Holländer wollten das Schöne, Ausgezeichnete. Gegenwärtig verlangt man das Wahre, das Merkwürdige. Jene beschränkten sich in einen gewissen Kreis. Diese müssen sich um das höchst mannichfaltige bemühen.

Hieraus geht hervor, daß damals die Kunst mehr begünstigt war, daß Composition zu Licht und Schatten, Gestalt und Farbe leichter zu erreichen gewesen. 

Es gibt also zweierlei Arten von Ansprüchen an die Blumenmaler: einen ästhetischen auf Schönheit ­und „Auszeichnung“ – wie ihn „die Holländer“ bevorzugen; und einen botanischen auf Wahrheit und „Merkwürdigkeit“. Beide Ansprüche sind legitim (Goethe ist nichts weniger als ein Dogmatiker)! Sie führen jedoch zu einer unterschiedlichen Art von künstlerischer Wertschätzung, und das ist die ästhetische Volte: Die holländischen Blumisten entwickeln gerade wegen ihres spezifischen Gegenstandes, dessen Alltäglichkeit und Kleinheit, eine erhöhte ästhetische Sensibilität für eher abstrakte Kunstprinzipien – für Dinge wie Komposition, Licht- und Schattenverteilung, Gestaltbildung und Farbgebung. Etwas überspitzt könnte man sagen: Die Blumenmalerei im holländischen Sinne, und damit auch: in den „Wunderwerken“ der Rachel Ruysch, ist eine ästhetische Erziehung hin zur abstrakten Kunst, die den Gegenstandsbezug beinahe vollständig aufgegeben hat, um rein ästhetische Kriterien in den Vordergrund zu rücken! (Genauer führt Goethe das aus in einem eigenen Aufsatz namens Blumen-Malerei, aber für unsere Zwecke reicht das Schema). Und gleichzeitig ist die Blumenmalerei eine wissenschaftliche Erziehung hin zum vollendeten Botaniker; eines durch das andere, komplementär wechselwirkend. 

IV.      Rachel Ruyschs Blumenstilleben, oder: Ästhetische Erziehung durch Betrachtung

 

 

 Das hört sich in der Theorie schön an, aber stimmt das auch in der Praxis? Wenn man sich die von Details überquellenden Werke von Rachel Ruysch anschaut, ist man zuerst überwältigt: So viel Leben, so farben-prächtig (das Wort gewinnt eine ganz neue sinnliche Bedeutung!), so sinnlich-vielfältig ist das alles – dass wir lieber noch einmal Goethe zu Wort kommen lassen: „Die pelzige Pfirsche, die fein bestaubte Pflaume, den glatten Apfel, die glänzende Kirsche, die blendende Rose, die mannichfaltigen Nelken, die bunten Tulpen, alle wird er nach Wunsch im höchsten Grade der Vollkommenheit ihrer Blüthe und Reife in seinem stillen Arbeitszimmer vor sich haben; er wird ihnen die günstigste Beleuchtung geben; sein Auge wird sich an die Harmonie der glänzenden Farben, gleichsam spielend, gewöhnen, er wird alle Jahre dieselben Gegenstände zu erneuern …“ – aber nein, ästhetische Erziehung muss man schon selbst auf sich nehmen! Also, schauen wir selbst und sehen: ein Tierleben neben dem Pflanzenleben, das Farbige Funkeln der Schmetterlinge, das Durchsichtige der Libelle, das imponierende Geweih des Hirschkäfers, und da, schaut die Eidechse nicht ein wenig dämonisch drein, genau wie bei Hieronymus Bosch? Sogar die Kreuzspinne baut ungestört an ihrem Netz, ein weiteres Kunstwerk der Natur. Aber dann, die Hauptdarsteller, die Blumen: die üppigen Paradiestulpen, immer geöffnet auf dem Höhepunkt ihrer Pracht, aber beinahe meint man schon zu sehen, dass die Blätter demnächst fallen werden. Dazu die gefüllten Rosen und Nelken, Sammlerobjekte wie Kunstobjekte wie Wissenschaftsobjekte! Die Fülle und Unordnung, die immer eine schöne ist und nie eine chaotische! Fleischige Blätter füllen die Lücken zwischen den hervorstehenden Blüten, Grünwerk in allen denkbaren Formen; doch das Üppige ballt sich meist im Herzen des Bildes, von dort aus führen einzelne, zierliche Linienstengel nach außen, greifen aus in den dunklen Hintergrund – und geben der überwältigen Betrachterin eine kleine Hilfestellung zur Orientierung: Linien, Perspektiven, Proportionen – kennt man das nicht alles aus anderen, mehr klassischen, aber auch: mehr abstrakten Gemälden? Finden wir einen goldenen Schnitt, ein gleichseitiges Dreieck, miteinander korrespondierende oder komplementäre Formen und Muster? Natürlich finden wir das alles. Es sind ästhetische Grundprinzipien, egal ob man eine Madonno oder eine Blumenvase darstellt; es sind, wahrscheinlich, sogar anthropologische (wie die Symmetrie, die nicht nur ein Kunst-, sondern auch ein Naturprinzip ist). Wir finden aber auch, wenn wir uns wieder auf die Ebene der Gegenstände hinablassen: neben all den kostbaren Kunstblumen Wildblumen; sogar ein Kaktus verirrt sich gelegentlich zwischen die Sammler-Kostbarkeiten der „Blumisten“, und eine Sonnenblume wird zum Gegengewicht der Prachttulpe, die das ganze Bild in eine Art dynamisches Kreisen um seine verschiedenen Zentren versetzt (was man hervorragend in abstrakte Kunst versetzen könnte, man denke sich das Ganze als Mondrian!). 

Und da, schon wieder dieser blaue Fleck, kennen wir ihn nicht schon, kehrt er nicht immer wieder, setzt er nicht einen farblich ganz singulären Effekt in der Orgie von warmen Rot-, Gelb- und Grüntönen, ist er vielleicht eine Art – Markenzeichen? Das lässt sich überprüfen, sogar in unserem billigen Bunt-Nachdruck von amazon. Tatsächlich kehrt der blaue Fleck wieder, beinahe in jedem Gemälde; und da Kataloge dazu tendieren, das Dargestellte gelegentlich auch botanisch zu charakterisieren, lernen wir (wir kannten die Form aber schon aus dem eigenen Garten): Es ist eine Winde, botanisch Convolvulus. Was hat es, und damit nähern wir uns einer gewundenen Bewegung dem Schluss dieser ästhetisch-botanisch-lebensgeschichtlichen Blumenreise, auf sich mit dem Convolvulus? 

V.        Convolvulus, oder: die wiedergefundene blaue Blume



Convolvulus, oder: die gemeine Winde, ist eine sehr interessante Pflanze, und zwar botanisch wie ästhetisch wie symbolisch. Es ist eine große Artenfamilie mit beinahe weltweiter Verbreitung; eine Wildpflanze, einjährig und so ausdauernd und fortpflanzungsfreudig, dass sie heute häufig als Unkraut gesehen wird (beispielsweise die auch in Deutschland und in meinem Garten verbreitete Ackerwinde). Wie beinahe alle Pflanzen hat sie medizinische Anwendungen; zudem enthält sie LSD-ähnliche psychoaktive Substanzen. Aber hier drängt sich die Symbolik etwas zu massiv auf, wir konzentrieren uns lieber auf die eher gebändigten syn-ästhetischen Potentiale. Viele Winden verströmen einen sehr starken, süßen Geruch. Sie sind auch ansprechend geformt, wie kleine Herzen. Es gibt sie in vielen Farbvarietäten; besonders beliebt und auffällig sind die blauen Varianten, Ruyschs „Markenzeichen“: Die Blüten strahlen in einem kräftigen Blau (die blaue Blume ist keine Erfindung der Romantik, sondern hier sehr real),das sehr selten ist in der Pflanzenwelt und zu dem das Reinweiße des inneren Kelchbereichs aufs schönste kontrastiert – es ist eine sozusagen beinahe vergeistigte Pflanze schon in der Farbgebung, die Kombination von reinem Blau und strahlenden Weiß gemahnt an allerhöchste Gegenstände der Kunst, beispielsweise: die klassische Madonnendarstellung, mit blauem Mantel (als Zeichen der Geistigkeit) und weißer Lilie (als Zeichen der Jungfräulichkeit). Dazu kommt der Name: Convolvulus, lateinisch für: das sich Umschlingende, Windende, was auf der Sachebene die Wachstumsform mit den langen dünnen Stengeln beschreibt, die Halt brauchen, an Zäunen, Stäben, Ackerpflanzen. Auf der Bildebene aber gemahnt die umschlingende Winde aber auch an den den starken Baum umschlingenden Efeu, schon seit der Antike ein traditionelles Symbol des Weiblichen als des Anschmiegsamen, Haltsuchenden in der traditionellen – aber halt! Hat sich Rachel Ruysch denn wirklich als eine anschmiegsame Künstlerinnengattin gesehen, die sich um ihren Mann schmiegt? Die Porträts erzählen eine andere Geschichte, genauso wie ihr Leben. Warum also kehrt der sich windende Convolvulus immer wieder, einmal abgesehen von seinen unbestreitbaren ästhetischen Qualitäten, warum sticht er gerade aus den Farbsymphonien hervor? Vielleicht reizt sie genau das? Die Winde ist eine Einzelgängerin, ein fremd leuchtender Einzelakzent in der Fülle des warmen Blütengewirrs und -geschwirrs, zwischen all den Prachttulpen und Zuchtrosen, die sich in den Vordergrund drängen, kostbare Raritäten und Blumisten-Objekte. Sie ist ein wenig – anders; aber auf eine unübersehbar attraktive und Aufmerksamkeit erzeugende Art und Weise. Und ist sie nicht auch, man lerne noch einmal von der Botanik: eine Eintagspflanze? Die blaue Winde blüht nur einen Tag und folgt dabei, sich windend, der Sonnenbewegung; ohne Sonne wird sie niemals blühen, und wenn man sie an ihrer natürlichen windenden Bewegung um die Sonne hindert, wird sie eingehen.

Rachel Ruysch war sicherlich keine Eintagsmalerin. Aber wenn man sie daran gehindert hätte, ihrer Sonne zu folgen, ihr Talent nicht nur auszubilden, sondern auch in wirtschaftlichen Erfolg und eine emanzipierte Lebensform umzusetzen, wäre sie sicherlich verkümmert. So aber strahlt sie aus ihren Blumenbildern, die „Wunderwerke“ der Natur und der Kunst sind, bis zu uns hinüber.

 

 

Damages.
Von den Schäden der Macht und des Lebens     


 

Daniel Chester French: Asia (New York Custom House)

Damage – das bedeutet im Englischen: Schaden oder Verlust. Damages hingegen, das Wort im Plural, bedeutet: Schadenersatz, Entschädigungssumme. Wer den Schaden hat, braucht nämlich nicht nur für den Spott, sondern auch für den Ersatz nicht zu sorgen. Das tun, vor allem in den USA, seine Anwälte, die dabei auf jeden Fall reich werden, ohne den Schaden zu haben. Je größer dabei der Schaden, desto größer auch der Ersatz für den Anwalt, desto größer nämlich die eigenen Einnahmen. Diese ironische Wendung macht sich die gleichnamige amerikanische Anwaltsserie Damages zunutze, die seit 2007 produziert wird und mit der fünften season inzwischen ihr Ende gefunden hat; es war – aber das können wir hier natürlich nicht erzählen! Oder können wir doch? Denn ein wesentliches filmisches Mittel der Serie war von Beginn an ihre zeitliche Nicht-Linearität: Das Ende steht schon am Anfang jeder Staffel, in unscharfen Szenen, ausschnittsweise und immer hochdramatisch – am Ende, so weiß die erfahrene Zuschauerin bald, wird ein ultimativer Schaden stehen. Meist ist es der ultimative Schaden schlechthin, nämlich ein Menschenleben. Die damages, sie haben ihr Opfer gefordert; allerdings nicht für die Anwältin Patty Hewes, die nämlich ist nur noch ein Stückchen reicher, mächtiger und berühmter geworden.

Nun hätte sie das wahrlich nicht nötig. Zum einen, weil Patty Hewes, die zentrale Gestalt der Serie, sowieso schon so mächtig, reich und berühmt ist, wie das eine Frau in einer renommierten New Yorker Anwaltskanzlei nur werden kann. Sie ist allerdings nicht ganz unberührt von persönlichen damages. Von ihrer Kindheit erfahren wir nur Weniges und nichts Gutes (kann eine Seriengestalt jemals eine wenigstens passable Kindheit gehabt haben? gibt es keine Größe ohne damages?), ihren Sohn hat sie so vermurkst, wie man ein Kind nur durch maximalen Einsatz eines fatalen Verstandes und persönlicher Vernachlässigung der Karriere wegen vermurksen kann, und ihre Ehe (kann eine Seriengestalt jemals eine auch nur passable Ehe haben?) – reden wir lieber gar nicht erst davon.

Zum zweiten, und das bringt uns natürlich dazu, die Serie trotz ihrer sehr passablen Vorgänger (von Ally McBeal bis hin zu Boston Legal und The Good Wife) treu zu schauen, wird Patty Hewes von Glenn Close gespielt. Closes einzige Bedingung für die Mitwirkung war, dass die Serie in New York gedreht werde; und ihre Motivation war durchaus eine feministische: Nach der Lektüre des Drehbuchs beschloss sie, dass dies eine Serie über Frauen und Macht werden würde. Das hatten wir zwar schon in The Devil wears Prada (2006), aber damals ging es um Mode, trotz aller der berühmten Männer im Mode-Geschäft doch ein wenig – ein Frauenthema. In Damages aber geht es um Macht, um Geld und – gelegentlich – um Recht; und die damages, die dadurch entstehen. Im doppelten Sinn.

Patty Hewes, von Glenn Close mit einer hinreißend manipulativen Mikro-Mimik bis in die kleinsten Bewegungen der nicht ganz weggeschminkten Augenfältchen gespielt, ist eine zweifellos ziemlich beschädigte Persönlichkeit. Aber in ihrem rücksichtlosen Kampf gegen die bullies dieser Welt, die allseits bewunderten Machtmänner (Vorbilder für die jeweils eine season übergreifenden Fälle waren beispielsweise der Finanzspekulant Bernie Madoff, der Gründer von Blackwater, Erik Prince, oder Julian Assange von Wikileaks), wird sie zu einer Dampfwalze des Rechts, die alles tötet, was sich ihr und ihrem Erfolg in den Weg stellt: Familienmitglieder, Kollegen, Freunde, Geliebte, Täter, Opfer, Zeugen, Unbeteiligte gleichermaßen. Am Ende jeder season ist Patty – allein, aber siegreich. Das Blut tropft zwar nicht von ihren Händen, aber reichlich von denen ihrer willigen Werkzeuge (Männer meistens, übrigens; selbst die mächtigsten Frauen lassen ihre Dreckarbeit lieber von Männern machen). »When I am through with you /there won’t be anything left«, so klingt der subtil bedrohliche Sound zur Serie von The Vla, und besser könnte man es nicht sagen. Übrig ist nur Patty, und sie hat einmal mehr gewonnen. Aber was ist übrig von ihr?

Neben Glenn Close spielt eine ziemlich handgepickte Riege bekannter Serien-Darsteller. Ihre Gegenspielerin, die zuerst reichlich naive junge Anwältin Ellen Parson (Rose Byrne), macht vor den Augen der Zuschauerinnen einen Schnellkurs nicht nur in weiblicher Machttechnik, sondern auch in schauspielerischer Präzision bei Minimalausdruck durch. Je mehr sie im Verlauf der Serie als zierliche, unschuldige Audrey Hepburn ausgestattet wird (es gibt Mäntel, die kann nur Audrey Hepburn tragen; und Rose Byrne, wie wir jetzt wissen), desto stärker wird ihr Kampf darum sichtbar, ihre persönlichen damages zu reduzieren (ihr Verlobter war gleich der ultimative Schadenfall in der ersten Staffel, und um sie herum fallen die Schläge ziemlich dicht). Am Ende – aber nein, wir sparen die Schlussszene aus. Eines der besonderen Verdienste der Serie ist im Übrigen, dass sie gelegentlich geradezu charmant verschweigt, wie es wirklich war; warum sollten es die Zuschauerinnen auch besser wissen als die Anwältinnen, die täglich mit unzähligen Varianten von Geschichten konfrontiert werden, ohne jemals wissen zu können, wie es denn tatsächlich gewesen ist? Macht lebt, auch das kann man lernen, von Unsicherheit. Wer die Wahrheit nicht weiß, manipuliert besser.

Die geistigen Väter der Serie, Todd A. und Glenn Kessler sowie Daniel Zelman, wollten ursprünglich vor allem das Mentor-Verhältnis zwischen der machtgestählten Patty und der noch ein wenig kükenhaften Anfängerin Ellen in den Vordergrund stellen; eine bisher eher wenig dramatisierte, aber zweifellos angesichts der Blüte von Mentoring-Programmen immer bedeutungsvoller werdende Machtdynamik (mit der die Autoren, wie sie zugaben, im Unterhaltungsgeschäft durchaus ihre eigenen Erfahrungen gesammelt hatten). Damages und Mentoring – auf den ersten Blick ein ungleiches Paar, aber auf den zweiten: ein ziemlich intim verbundenes. Denn es ist ein Machtverhältnis ganz besonderer Art, subtil, persönlichkeitsprägend, wie jedes Erziehungsverhältnis; Erziehung ist, noch in ihren vermeintlich anti-autoritärsten Provinzen, immer auch ein Machtspiel.

Dass Damages dann doch, zumindest in zweiter Linie, ein Schauspiel über Frauen und Macht wurde, mit Glenn Close als einer Art weiblichem, selbst als Monster noch charmanten J.R. Ewing oder einer modernisierten Lady Macbeth – das war wohl spätestens nach der Besetzung der Hauptrolle nicht zu vermeiden. Ob sich die Macht dabei ändert, wenn sie von reiferen Frauenhänden subtil manipuliert wird, das wäre die eigentlich interessante Frage. Und während man noch hin- und her überlegt, und während man die Mentorin und ihr Protegé mit all der geballten männlichen CEO-Macht vergleicht, die in den einzelnen Staffeln vorgeführt wird (die meisten von ihnen: geschädigte Persönlichkeiten, kann ein CEO jemals eine nicht-geschädigte Persönlichkeit haben?), läuft das Intro vorbei, eine Reihe von Monumentalplastiken in einer glasklaren blau-schwarzen nächtlichen Stimmung. Filmisch bewegt es sich deutlich auf den Spuren von House of Cards (und konnte man in dieser Serie nicht mindestens ebenso viel über damages lernen wie über den Genreunterschied von weiblicher und männlicher Macht, mit der phänomenalen Robin Wright?). Es ist von der gleichen ästhetischen Perfektion, verschoben nur im Ort: New York statt Washington, das Recht statt der Politik. Von den Statuen sieht man nur geschickt gewählte Ausschnitte mit in Stein gemeißelten großen Gesten. Eine imposante Frauenfigur, ganz in Gold, auf der Spitze eines imposanten Gebäudes; barfuß und mit wehenden Gewändern steht sie auf der Erdkugel, und in der Hand trägt sie einen Zweig und eine Krone (sie stellt die Civic Fame dar und steht auf dem Manhattan Municipial Building in New York). Frauen beherrschen die Welt, sagt die Statue, sie stehen ganz oben, vielleicht barfuß, aber sie brauchen auch keine Waffen, sondern Kronen und Lorbeerzweige. Das ist vertraute Ikonographie, wir kennen Justitia und Athene. Aber im nächsten Schnitt taucht eine weniger bekannte Plastik auf: ebenfalls eine Frau, sie sitzt statuesk und imposant auf einem Thron, und neben ihr – beugt sich ein Mann herab, kniend, nackt bis auf einen Lendenschurz, alt, mager, ein Sklave, ein Besiegter? Denn die Frau sitzt, so sieht man im nächsten Schwenk, auf einem Podest von drei Totenköpfen; und zu ihren Füßen liegt eine weitere männliche Gestalt, unterworfen, demütig, gesichtslos (es handelt sich um die Darstellung von Asia am Alexander Hamilton U.S. Custom House, und auf den kulturgeschichtlichen Hintergrund gehen wir jetzt lieber nicht ein). Damages, hier kann man sie am Werk sehen; verübt von einer ausdruckslosen, machtbewussten Frau, die auf Leichen sitzt. Und wenn im nächsten Schnitt dann Glenn Close den wohlfrisierten Kopf hebt und der Zuschauerin direkt in die Augen schaut, selbstbewusst, eine neue Athene, und danach Rose Byrne zum Leben erwacht, eine zierliche, aber durchaus gnadenlose Justitia – dann ist das auch ein wenig gruselig. Waren Frauen vielleicht schon immer die eigentlichen Herrscherinnen, und wir haben es nur nicht gemerkt?

Am Anfang und am Ende des Intros jedoch steht ein jugendlicher Hermes, mit Flügelschuhen tanzt er daher. Er verkörpert die Glory of Commerce (auf dem Grand Central Terminal New York), und er streckt eine friedliche, versöhnliche Hand aus. Sollen wir ihm besser trauen, dem Götterboten, der so jugendlich-frisch zwischen Mann und Frau schwebt? Oder George Washington, dessen Worte das New York County Courthouse zieren, einen ganz traditionellen Palast des Rechts, der ebenfalls Teil des Intros ist: »The true administration of justice is the firmest pillar of a good government«. Hermes lächelt ironisch. Das Recht ist eine Machtfrage. Das ist die einzige Gewissheit, mit der man Damages verlässt. Nein, eine zweite noch: Ein Schaden, der durch Schadenersatz geheilt werden kann, ist höchstens ein Verlust. Schäden aber – sind geschlechterunabhängig und weder heil- noch vermeidbar. Ein Lebensrisiko, das keine Versicherung abdeckt und kein Anwalt einklagen kann. Der Mensch ist und bleibt ein Schadensfall: damaged goods.


 

The Thing about Penny.
Zum Ende von Big Bang Theory


Bartholomäus Spranger: Triumph der Weisheit
über die Unwissenheit (1590-1592)

Nun ist es also vorbei. Wie immer ist man ein wenig traurig, wenn langjährige Serien tatsächlich zu Ende gehen; wie immer ist man ein wenig enttäuscht, denn das Ende ist immer enttäuschend (wirklich, musste es der Nobelpreis sein, den Wissenschaftler bekanntlich erst bekommen, wenn sie alt genug sind, um damit umgehen zu können und kein ewig frühreifes cry baby wie Sheldon mehr sind? Wirklich, musste es faustdick sentimental sein? Die Freunde sind die einzig wahre Familie, jaja, aber irgendwie haben wir die Kinder von Bernadette und Howard nie gesehen, und es bleibt ein Rätsel, wie sie sich alle weiterhin allabendlich um den Tisch bei Leonard und Penny scharen können, während die Babys allein zuhause, ja was? – suspension of disblief, sagt mein ewig frühreifer Sohn [er ist aber kein Sheldon, und eckige Klammern sind nur zulässig, wenn man über wenigstens vage naturwissenschaftlich-mathematisch konnotierte Themen schreibt]) – wo waren wir? Penny also, the thing about Penny. Die ewige Blondine, das wandelnde Klischee auf attraktiv geformten Beinen (und man könnte immerhin die Drehbuchschreiber dafür ein wenig loben, dass sie ihr fast nie die High Heels verordnet haben, die die Frauen sogar bei Verfolgungsszenen in crime series zu wandelnden Wackelpuddings machen); Penny, illiterat von Grund auf, wissensabstinent, belehrungstolerant; Penny, so stellt sich am Ende heraus (man hätte es aber ahnen können), war die Klügste von allen. Denn während die Serie sich selbst überlebt und wir ziemlich viel disbelief suspendieren müssen, um die ewige Jugend der anderen zu verkraften, wird Penny – na ja, zu einer Art Meta-Penny. Penny ist die einzige, die es schafft, irgendwann ab Staffel 10, Penny dabei zu spielen, wie sie Penny spielt. Sie lächelt in unbeobachteten Momenten hin zum Kameramann (wahrscheinlich ist er ein Mann, so ist Hollywood halt, aber man sagt wohl inzwischen besser: Kameraperson), und er hält einen winzigen Moment zu lange hin, genau so lang, wie Penny braucht, um zu kommunizieren, in den Mundwinkeln und den Augen: Ich habe euch alle längst durchschaut. Ich spiele das Dummchen, weil ihr das Dummchen wollt und braucht. Ich lache über eure Nerd-Scherze, weil ihr euch so freut, dass ich lache; ich tue dumm, damit ihr euch freut, dass es immer noch Leute auf der Welt gibt, die dümmer seid als ihr, ihr dummen Alleswisser! Ich lache aber eigentlich mit den Drehbuchschreibern und den Kamerapersonen über euch und vor allem: über mich selbst (was sowieso das einzige wahre Kennzeichen von Klugheit ist: über sich selbst lachen zu können, und zwar nicht nur gelegentlich, sondern hauptsächlich). Ich lache darüber, wie wir alle spielen, was wir schon längst nicht mehr sind: not a care in the world. Carefree. Ewige Jugend, ewige Freundschaft; immerhin, das muss man loben, haben die klugen Drehbuchschreiber die Idee von ewiger Liebe schon ziemlich früh aufgegeben, das hätte niemals für zwölf Staffeln gelangt, nein, aber die wahren Utopien sind sowieso: ewige Jugend und ewige Freundschaft. Ach, wie gern glauben wir das, möchten wir das glauben! Nur wenn Penny auf diese etwas seltsame Art lächelt und mit den Augen zur Kameraperson zwinkert, geraten wir einen Moment in einen winzigen Zweifel, es ist aber nur ein Hauch von einem Zweifel, und er wird vom nächsten Nerd-Gag davongepustet (na gut, es gibt noch eine zweite Stelle, wo ein Zweifel sich verdichtet, und das ist so subtil gemacht, dass vielleicht doch eine der Kamerapersonen eine Frau gewesen ist: wenn sich die Mädels abends, bevor sie zu ihren sehr verschiedenen Partnern in ihre sehr verschiedenen Betten steigen, die Hände eincremen. Tun sie, alle. Jede Frau weiß, dass das der Zeitpunkt ist, an dem man definitiv erwachsen geworden ist).

Aber Kameraschwenk zurück zu Penny. Als der Höhepunkt der letzten Staffel naht (wenn man nicht die übersentimentale Nobelpreis-Szene am Schluss, die mehr absurdes Theater ist, als solchen fälschlich bezeichnen will), als also der wirkliche Höhepunkt naht, nämlich: als sich der Aufzug im dritten Stockwerk automatisch und lautlos öffnet, zum ersten und (beinahe) zum letzten Mal in den insgesamt 12 Staffeln; als der ewig kaputte Aufzug, das Symbol einer unabgeschlossenen Jugend, in der man noch genug Kraft hatte, um Treppen auf und ab zu laufen, mit Einkaufstüten oder Wäschebündeln im Arm und mit pfeilscharfen Gags auf der Zunge, jede Treppenwendung ein neuer Schuss; als dieser ewig moribunde Aufzug auf einmal wundersam geheilt ist – da entsteigt ihm Penny, im Business-Kostüm auf flachen Pumps, und grinst wortlos (sie schafft es sogar, dabei ein wenig an Botticellis Geburt der Venus zu erinnern, auch ohne Muschelschale). Beinahe bekommt man den Gag nicht mit, so unerwartet ist er. Dann aber überstürzen sich die Ereignisse. Sheldon fällt in seine Nobelpreis-Krise – die Welt verändert sich, die Welt soll sich nicht verändern; wenn man einen Nobelpreis bekommt, ist man wohl unwiderruflich erwachsen geworden, das darf doch nicht sein? –, und Amy bekommt die Haare schön (darauf hatten wir eigentlich mehr gewartet als auf die Aufzug-Reparatur, es war schon eine beinahe Penny-mäßige schauspielerische Meisterleistung, so konsistent eine unattraktive Frau zu spielen, wenn man genauso gut eine attraktive hätte spielen können, man hätte nur eine kleine Verschwörung mit der Kameraperson gebraucht). Um die Krise zu bewältigen, geht Penny mit Sheldon auf ein therapeutisches Beziehungsgespräch in die Cheesecake Factory. Dorthin, wo alles begann, also in die Ursuppe des Beziehungs-Big-Bang sozusagen. Und ganz unaufgeregt kuriert sie Sheldon von seiner Veränderungs-Phobie, weil sie eben eine kluge Frau ist und ihren Sheldon definitiv Lichtjahre besser kennt als er sich selbst. Danach geht man nach Hause, vielleicht fährt man sogar gemeinsam mit dem Aufzug in den dritten Stock – aber hier haben die klugen Drehbuchschreiber eine kleine Auslassung vorgenommen, eines der wichtigsten dramaturgischen Mittel der Weltliteratur, nicht nur in sitcoms. Denn etwas später werden wir erfahren: In dieser Nacht wird Penny von Leonard geschwängert. Offensichtlich war keine Zeit für die üblichen Vorkehrungen geblieben, sondern berauscht von ihrem Gespräch mit dem kriselnden Sheldon (ja, es war Alkohol im Spiel. Ja, auf Pennys Seite, nicht auf Sheldons, der bekanntlich diet coke für eine Ausschweifung hält. Ja, kluge Menschen wissen, wann es keine andere Wahl als Alkohol gibt, nur langweilige und dumme Menschen sind immer auf der sicheren Seite) war die blonde und gigantisch unterschätzte Penny über ihren kleinen Leonard hergefallen, und sie hatten ein Kind gezeugt (wird es demnächst, neben Young Sheldon, dann Young Leonard geben? Ach, vielleicht doch besser Young Penny?)

Aber nur literarisch völlig verbildete Nicht-Blondinen denken bei der Vorstellung dieser ausgelassenen Zeugungsszene an Goethes Wahlverwandtschaften. Dort begegnet ein altes Ehepaar, sehr abgeklärt und eigentlich anderweitig verliebt, sich eines nachts völlig neu, weil im Nebenzimmer ein halb-offizieller Ehebruch stattfindet und sie in der Ehe im Kopf die Ehe brechen können. Und, ebenfalls völlig unabsichtlich, zeugen sie ein Kind, das, wahlverwandt, vier Eltern hat (es ertrinkt später im See. Dramaturgische Gründe, verletzte Aufsichtsplichten. Kein Spin-off). Natürlich waren das eigentliche Liebespaar schon immer Penny und Sheldon, die Schöne und das Biest, und auch das arme Kind von Penny und Leonard wird vier Eltern haben, mindestens. Aber unter Erwachsenen ist das eigentlich kein Problem. That’s the thing about Penny: She’s a grown up.

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