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Kindergeschichten


  • Das arme Kind hat immer noch nicht gespielt - ein teachable moment 
  • Manche Leute mögen halt keine Kinder
  • Letztens sah ich einen Fischreiher
  • Von Vätern, Müttern und patzigen Patentanten
  • Geförderte Unterforderung. Ein schulischer Förderwettbewerb
  • Pubertätsverweigerung


Das arme Kind hat immer noch nicht gespielt - ein teachable moment

Es war zu Semesterbeginn, und wie immer war es wenig einschüchternd, vor all den unbekannten Köpfen zu sitzen. Vage bildeten sich erste Eindrücke heraus; relativ viele Männer, womit ich bei dem Thema (›Kindheit und Jugend in der Literatur‹) nicht gerechnet hatte, wieder ein Vorurteil widerlegt, das passiert so selten, dass man es sich merken muss. Damit zusammenhängend, irgendwie, gefühlt, ein etwas höheres Durchschnittsalter als in anderen Seminaren. Hing es doch – nein, wie sollte das mit dem Thema zusammenhängen? Aber nun gut, um das Seminar in Schwung zu bringen und gleichzeitig die üppig vorhandene technische Ausstattung zu nutzen – ein ganzes Whiteboard, zum Glück hatte ich an Stifte gedacht –, machte ich eine Art Umfrage. Was nämlich, so stellte ich in den aufmerksam lauschenden Raum, könnten wichtige Themen oder Motive sein, wenn man von Kindheit und/oder Jugend erzählen wolle? Oder, etwas komplizierter, welche Änderungen in der Erzählweise könnten dabei zu erwarten sein? Wie immer übervorbereitet, hatte ich meine eigene Liste natürlich längst fertig, und eigentlich erwartete ich auch nicht – ich bin eine skeptische Lehrperson, keine sokratische Enthusiastin – etwas Neues oder gar Unerwartetes zu hören. Aber es kam anders. Denn nach einigen Anlaufschwierigkeiten fielen ihnen Themen über Themen auf (weniger Darstellungsprobleme, aber das war zu erwarten gewesen), und eines war komplizierter als das nächste: Kinder sind unschuldig, irgendwie naiv. Sie leben in Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen. Sie drücken ihre Gefühle direkt aus. Sie haben zwar Angst, sind aber furchtlos (das mussten wir ein wenig diskutieren, aber es war ein guter Gedanke). Sie haben noch keine ausgebildete Identität. Sie wissen noch nicht, was Sex ist, haben dann aber Pubertät. Sie bewegen sich gern und viel. Sie müssen in die Schule gehen. Sie erfahren menschliche Grundbedürfnisse auf eine besonders direkte Art und Weise. Sie müssen Initiationsriten durchmachen. Sie wissen nichts vom Tod – ich glaube, es war an dieser Stelle, wo ich meinen großen roten Marker niederlegte, die Stirn runzelte und auf das beinahe schon gefüllte Whiteboard starrte (mir fiel ein, dass ich es am Ende der Stunde mit dem Handy fotografieren sollte). Der Kurs merkte, dass etwas nicht stimmte und wurde auch ruhig. Ich holte tief Luft, dann begann ich mit dem Finger die Punkte durchzuzählen, es waren zu diesem Zeitpunkt 14. »14 Punkte«, sagte ich, »und das arme Kind hat immer noch nicht gespielt!« Ich sagte es nicht vorwurfsvoll, sondern eher ein bisschen verwirrt und bedauernd. Der Kurs starrte mich an. Langsam fiel der Groschen, er machte dabei kleine, unsichere Lachgeräusche. »Also wirklich?« sagte ich noch einmal. Ich sah auf einigen Gesichtern eine Art schlechtes Gewissen, auf anderen Verwirrung, auf noch anderen – Respekt. Ein teachable moment, ich hatte sie in einem teachable moment erwischt, das passiert auch sehr selten, und man muss es sich deshalb merken. Wir lachten dann alle ein wenig, damit das Gespenst aus dem Raum verschwände: Es könnte sein, dass für heutige Jugendliche die Kindheit einfach kein Spiel mehr ist. Sie wissen eher, dass sie nichts vom Tod wissen, als dass sie ein Recht auf Spielen haben.


Manche Leute mögen halt keine Kinder

Der kleine Junge im Regionalexpress will nicht stillsitzen. Er turnt auf seinem Sitz herum, guckt über die Rückenlehne und schmettert den dort Sitzenden ein lautes »Hallo« ins Gesicht. Keine Reaktion. Die Mutter sagt, nicht gerade leise: »Manche Leute mögen halt keine Kinder«. Zwei Minuten später – der Junge will immer noch nicht stillsitzen und turnt auf ihr herum – schnauzt sie ihn an: »Sei endlich still und lass mich in Ruhe!« Er wird still und holt seinen Gameboy heraus. Manche Leute mögen halt keine Kinder. Vor allem die eigenen.


Letztens sah ich einen Fischreiher

Das Kind, es war ein Junge von ungefähr sieben oder acht Jahren, sagte »Wie bitte?« Kurz zuvor hatte es schon einen Satz gesagt, der mich aufhorchen ließ, nämlich: »Letztens habe ich einen Fischreiher gesehen«. Seine Mutter ermahnte ihn, nicht so laut zu sprechen, es war aber gar nicht besonders laut gewesen, sondern eben der etwas aufgeregte Tonfall eines sieben- oder achtjährigen Jungen, der immerhin weiß, was ein Fischreiher ist und wie er aussieht und dass es ihn tatsächlich gibt. Sonst sagte die Mutter nichts zu dem Fischreiher. Sie sagte auch nichts, als der Junge später, weil er durchaus interessiert zum Zugfenster hinausschaute, sechs Störche sah, einen ganzen Schwarm, oder waren es sogar sieben gewesen? Nicht so laut, mahnte sie wieder. Dass die Mutter reden konnte, und durchaus schnell und viel und nicht besonders leise, zeigte sich, als sie wenig später telefonierte, die Geschichte war im etwas aufgeregten Tonfall einer zu jungen Mutter vorgetragen, die irgendwie nicht Recht bekommen hatte, und sie war ziemlich lang. Danach verfiel sie wieder in tiefes Schweigen und schaute auf ihr Handy, sie schaute sozusagen laut auf ihr Handy, wenn man das sagen kann. Draußen hätten Löwen vorbeiziehen können oder Giraffen, und ihr offensichtlich neugieriger und, wer weiß von wem, wohlerzogener Sohn wäre vor Begeisterung übergelaufen, aber sie hätte ihn wahrscheinlich nur ermahnt, nicht so laut zu sein.

Und ich weiß, dass ich diese Geschichte schon mehrmals erzählt habe, aber sie passiert immer weiter, und es ist ein Wunder, dass Kinder überhaupt noch sprechen lernen, da ihre Eltern offenbar niemals mit ihnen sprechen. Sie haben ja schon alles, was sie zu sagen haben, ihrem Handy gesagt.


Von Väter, Müttern und patzigen Patentanten

Der ICE war vor der Einfahrt nach Stuttgart stehengeblieben. Die Menschen stauten sich schon mit ihrem Gepäck in den Gängen, etwas ungeduldig von einem Fuß auf den anderen tretend, und aus dem Familienabteil quollen Kleinkinder, vier Stück, mit zwei Müttern dazu. Und irgendwie war man nun ausgerechnet in dieser Warteposition vor aller Ohren auf die Frage gekommen, warum die zwei Kinder, die zu der einen, jüngeren Mutter gehörten, verschiedene Väter hätten. Denn das hätten sie, gab sie fröhlich zu, das eine sei der Uwe und das andere der Klaus, und die beiden Blondschöpfe nickten von unten dazu. Eines der Kinder aus der anderen Familie fragt leicht verunsichert, wie das denn möglich sei, man könne doch nicht zwei Papas haben! Oh doch, erläuterte die junge Mutter leichtherzig, das sei sozusagen das normalste der Welt. Erst habe sie nämlich den Uwe gemocht und mit ihm den einen Blondschopf bekommen, und dann sei sie mit dem Uwe nicht mehr so gut klargekommen, man habe sich einfach nicht mehr richtig verstanden, und dann sei eben der Klaus gekommen und sie habe mit ihm das zweite Kind gemacht, beide Blondschöpfe nickten wieder cool dazu. Ach so, sagte das andere Kind, etwas verunsichert, und man konnte sehen, wie es in seinem unschuldigen Kopf arbeitete: Das Ganze war also in etwa so, wie wenn man sich ein falsches Kleid kaufte, und dann trug man es einen Tag, und am nächsten mochte man es halt nicht mehr und kaufte sich ein neues. Oder ein neues Spiel, heute noch das Tollste für immer und morgen der Schrott von gestern. So war das also mit den Vätern auch, heute hießen sie Uwe, und morgen Klaus, und wie es im Einzelnen dabei zugehen mochte, darüber dachte man besser nicht lange nach; man hatte ja auch gerade selbst die BFF gewechselt, es hatte kurz ein wenig weh getan und dann war es vorbei. Wer brauchte schon Väter, wenn man heute einen Uwe und morgen einen Klaus (und übermorgen eine Samenbank) haben konnte? Väter, waren das nicht sowieso diese Männer-Monster (die man neuerdings auch „toxisch“ nannte), die seit Anfang der Dinge meinten über Frauen und Kinder herrschen zu können? Die ewig zu viel arbeiteten, ihre eigene Familie überhaupt nicht kannten und die man eigentlich nur brauchte, wenn die Mama meinte, allein nicht energisch schimpfen zu können: Das sag ich aber deinem Vater, du! Ach, wenn das alles nur so einfach wäre. Ist es aber nicht. Selten hatte mir das Patriarchat so leidgetan.

Im Regionalexpress eine Stunde später saß ein Mädchen in einem orangefarbenen Tüllkleid, sie mochte etwa neun oder zehn Jahre alt sein. Sie war mit zwei anderen Frauen zusammen unterwegs. Neben ihr saß ein gefühlt 17jähriges Mädchen, wohl ihre Schwester, die dritte im Bunde war eine etwas fülligere Frau mittleren Alters, eine Art Patentante, und man war in Stuttgart zusammen shoppen gewesen. Die Mutter war jedenfalls nicht dabei, das ergab sich aus dem Handy-Gespräch, das die Kleine mit dem Tüllkleid den Tränen nah gerade führte: Sie sei nämlich in Stuttgart mit dem neuen Kleid in einen Brunnen gefallen, berichtete sie, alles sei pitschnass, auch die Schuhe, und sie fühle sich so – die Patin nahm ihr das Handy ruppig aus der Hand. Sie solle nicht so heulen, das interessiere die Mama doch gar nicht, schließlich sei man zusammen in Stuttgart gewesen und habe ein tolles Kleid gekauft, sie persönlich habe es ihr gekauft, es sei ein sehr ordentliches Kleid und nicht billig gewesen, da gebe es doch wohl keinen Grund zum Heulen? Das Tüllkleid schluchzte trotzdem noch ein wenig. Es sah, um ehrlich zu sein, nicht so aus, als wollte es ein Tüllkleid tragen; bei genauerem Hinsehen sah man vielmehr, dass die Patin schon immer von genau diesem Tüllkleid geträumt hatte, schon seit sie ein Kind war, und es hatte sich niemals ergeben, sie war wahrscheinlich schon damals auf der pummeligen und burschikosen Seite gewesen, keine Traumprinzessin. Das Kleid war aber wirklich feucht, die Schuhe auch, es fühlte sich wahrscheinlich einfach Scheiße an, damit jetzt in einem überhitzten Regionalexpress zu sitzen, und nachher würde noch die Mama schimpfen … Jetzt begann auf einmal auch noch die ältere Schwester zu heulen, entweder es waren Hormone oder das Elend der Welt in überhitzten Regionalzügen oder Neid auf das Tüllkleid, wer weiß das schon! (die Schwester übrigens hätte das Tüllkleid tragen können und wollen, ganz sicher, sie war der Typ Märchenprinzessin mit Wespentaille, wenn auch vielleicht etwas erbsenhaft). Jedenfalls saß sie nun still schluchzend neben dem Tüllkleid. Das Tüllkleid hingegen hatte aufgehört zu schluchzen, und dann sagte es ganz sanft und sehr erwachsen und nicht ein Spürchen patzig zu seiner großen Schwester: Es tut mir ganz arg leid, wenn ich es etwas gesagt habe, dass dich verletzt hat (sie sagte es wirklich hochdeutsch und ausformuliert und völlig dialektfrei und noch nicht einmal wehleidig)! Sag mir doch bitte, was habe ich denn Falsches gesagt? Die ältere Schwester schluchzte in ihr perfektes Dekolleté über dem engen ärmellosen T-Shirt. Vorher hatte man übrigens darüber diskutiert, dass sie nun bald von zuhause wegziehen würde, und das Tüllkleid hatte erstaunt gefragt, warum die Schwester denn von der Mama weggehen wolle? Daraufhin hatte sie einen vereinten Vortrag von Schwester und Patin darüber erhalten, dass das der natürliche Gang der Dinge sei und dass ganz sicher auch sie selbst, wenn sie denn alt genug sei – wie alt, fragte das Tüllkleid wieder sehr sachlich? – ach, alt genug eben, dann würde auch sie ausziehen wollen, und ganz bestimmt, wenn sie erst einmal einen Mann habe, der wolle doch sicher nicht mit ihr bei ihrer Mama wohnen! Das Tüllkleid versuchte sich das wohl vorzustellen, fragte auch noch mal wegen des Alters und des Mannes nach, aber irgendwie schien es ihr nicht recht einzuleuchten; der Eindruck verdichtete sich, dass sie jetzt wirklich sehr gern zu ihrer Mama zurück nach Hause wollte, Tüllkleid hin oder her, und ein Tag war genau das Maß Trennung von der Mama gewesen, das sie sich vorstellen konnte. Vielleicht war das auch eher der Grund für das leise Weinen gewesen, und das Tüllkleid und die Brunnenkatastrophe waren nur ein Auslöser? Und konnte es denn wirklich sein, dass die Schwester und die Tante gar nichts davon verstanden hatten, sondern immer nur von tollen Kleidern und dem nächsten Shopping und Ausziehen und Selbständigsein und einen Mann finden redeten, Dinge, die so weit an ihr vorbeigingen wie der Mond und orangefarbene Tüllkleider? Sie wollte zu ihrer Mama und ein trockenes Kleid, das hätte sie sehr schön gefunden, sie hatte auch ein wenig Hunger. Aber nun weinte die ältere Schwester immer noch, sie hatte kein Wort auf die doch sehr höfliche und mitfühlende Frage gesagt, sondern nur still weiter geweint. Da griff das Tüllkleid zur letzten Waffe: Soll ich mal einen Witz erzählen, fragte sie? Und als sie, wie zu erwarten, keine Antwort bekam, begann sie Witze zu erzählen. Sie konnte das nicht besonders gut, es waren auch keine besonders guten Witze, die Pointen waren entweder schwerverständlich oder unterwegs verlorengegangen, und niemand lachte. Was nur dazu führte, dass sie immer mehr, immer schneller Witze erzählte, sie kullerten geradezu aus ihr heraus. Man musste doch auf die Großen aufpassen, mit ihren komischen Ideen und ihren komischen Problemen, dachte sie wahrscheinlich, sie sah ein wenig klüger aus als die Erbenprinzessin und die Möchtegern-Prinzessinnen-Tante. Man musste sie halt ein Kleid für einen kaufen lassen, auch wenn man es wirklich nicht mochte und es kratzte, vor allem, wenn es nass war. Und dann wollte man eigentlich nur noch heim und seine Ruhe, aber dann musste man sie auch noch trösten für irgendetwas, das offensichtlich ganz grundlegend falsch gelaufen war. Wahrscheinlich war man halt schuld, was sollte man schon machen, einer musste ja schuld sein, einer musste die Verantwortung übernehmen über einen so gut gemeinten und am Ende völlig verkorksten Tag (dabei waren sie doch gar nicht in den Brunnen gefallen, sie, das Kind, war in den Brunnen gefallen!). Also wer, wenn nicht sie? War sie nicht immer schuld, wenn die Großen mal wieder ein Problem hatten? Und schnell erzählte sie noch einen Witz.


Geförderte Unterforderung. Ein Wettbewerb

Tatsächlich soll es ja Kinder und Jugendliche geben, die trotz des ach so schrecklichen G8-Stress, ihrer Hubschrauber-Mutter und der unabweisbaren Notwendigkeit, mehrere Stunden täglich mit Computerspielen zuzubringen, um von der Peer Group nicht völlig gemobbt zu werden, nicht ausgelastet sind. Für diese bemitleidenswerten Wesen hat die Bildungspolitik die Wettbewerbe erfunden. Jugend trainiert für Olympia, Jugend forscht, Jugend debattiert, Jugend musiziert; für die technisch-naturwissenschaftlich Orientierten dazu das Känguru der Mathematik, die Mathematik-Olympiade oder die Physik-Olympiade. Die Programmatik der entsprechenden Internet-Portale schäumt vor Förder-Ambition geradezu über: Hier sollen sich die versteckten Talente entfalten, die künftigen Genies schon einmal Anlauf nehmen, Höhenluft schnuppern, auf dass sie auch weiter streben und später einmal die krankende Wirtschaft und das aussterbende Vaterland mit neuen Ideen, hoch innovativen und kreativen natürlich, retten. (Nebenbei bieten Förderwettbewerbe auch eine prächtige Gelegenheit zur Profilierung der weiterführenden Schulen und der jeweils zuständigen Fachlehrer im Kollegenkreis; aber das sind natürlich höchstens sekundäre Motive).
Mein Sohn (er kommt leider ganz nach seinen Eltern, ist neugierig und lernt gern) war heute beim Bundeswettbewerb Fremdsprachen. Er fand in einem Gymnasium in der Großen Kreisstadt statt, das sich besonders seines französisch-bilingualen Zugs rühmt; das fördere unvergleichlich nicht nur die fremdsprachliche, sondern auch die interkulturelle Kompetenz der zukünftigen jungen Europäer, heißt es im geläufigen Förderjargon auf der Homepage. Mein Sohn hatte sich trotz Schneefalls pünktlich samt seiner CD mit den geforderten Leseproben im Sekretariat des Gymnasiums eingefunden, wo er sich zwecks weiterer Verfügung melden sollte. Die erste Herausforderung an die interregionale Kompetenz war dabei offensichtlich, das natürlich nicht ausgeschilderte Sekretariat zu finden; die zweite (Sozialkompetenz!), dem Sekretariat, das sich sofort für unzuständig erklärte, die Auskunft zu entlocken, wer denn zuständig sei. Sobald man dann immerhin zum richtigen Gebäudekomplex geschickt worden war, fand sich tatsächlich auch eine kleine Ausschilderung zum Ort des Geschehens (Vorschlag: das nächste Mal zum Finden des Prüfungsortes als Geo-Caching einbeziehen! Am besten auf Chinesisch! Das fördert die Orientierungskompetenz ungemein!).
Dort hatten sich zur offiziellen Anfangszeit des Wettbewerbs immerhin vier weitere Schüler und Schülerinnen des gesamten Landkreises versammelt (es ist aber kein kleiner Landkreis, sondern eher ein ziemlich großer); es handelte sich offensichtlich um eine sehr enge Auswahl aus den üblichen Verdächtigen, die es gewagt hatten, sich der Herausforderung zu stellen, gleich zwei Sprachen abprüfen zu lassen. Kaum hatte man sich jedoch großzügig auf die Tische verteilt und die erste Sprache in Ruhe absolviert, stürmten weitere ca. 40 Teilnehmer den Saal – die Zwangsverpflichteten aus der entsprechenden Jahrgangsstufe der gastgebenden Schule, die ihre Wahl des bilingualen Zweiges offenbar mit einer Zwangswettbewerbsteilnahme für wenigstens eine Sprache (in diesem Falle eben: Französisch) bezahlen mussten und dementsprechend stark motiviert bei der Sache waren. Und gleich war alles, Wunder über Wunder, wie im normalen Unterricht: Eine kleine unbelehrbare Minderheit will arbeiten, die große unbelehrte Mehrheit will Spaß. Leider ist Jugend trainiert für den Superstar der einzige Wettbewerb, der das Mehrheitskriterium zwar vollständig erfüllen wurde, aber von uneinsichtigen Bildungspolitikern noch nicht lanciert wurde. Die Teilnehmerzahlen wären sicherlich, auch ohne Zwangsmaßnahmen, erfreulicher.
Der Test selbst gestaltete sich, wie mein Sohn mit seiner üblichen Eloquenz beklagte, über weite Strecken absurd. Vorbereitet werden sollte, neben den abzugebenden Leseproben auf CD, die Themen ›Ordensgemeinschaften‹ (für den Lateinteil) sowie ›Südafrika‹ (für Englisch). Südafrika war zu diesem Zeitpunkt (mein Sohn besucht die 10. Klasse) bereits in drei vorigen Klassenstufen im Unterricht behandelt worden; über die Apartheid sind deutsche Schüler insgesamt wahrscheinlich besser unterrichtet als über die deutsche Teilung. Ordensgemeinschaften hingegen sind zwar einerseits kein vergleichbarer Unterrichtsschwerpunkt (schade, eigentlich), andererseits aber für einen prinzipiell geschichtsinteressierten und mit arte-Dokumentationen überfütterten Schüler auch nicht direkt eine Herausforderung. Nun hatte mein Sohn, so klug ist er nämlich auch, die Vorbereitung sicherheitshalber nicht besonders ins Weite oder gar in die Tiefe getrieben; langjährige Erfahrung hat ihn belehrt, dass die konzentrierte Lektüre jedes besseren Wikipedia-Artikels absolut hinreichend zum Bestreiten eines einfachen Referats in den meisten Fächern ist (und man braucht ja schließlich, auch als Streber, noch Zeit zum Computerspielen!). Was er nicht ahnte – so klug ist er nämlich nicht – war, dass er besser noch die fun facts zu Südafrika gelesen hätte: Denn es ging, immerhin, in einer Frage auch um die Apartheid; aber welche Pflanze die Nationalblume von Südafrika ist und wie die berühmteste Rugbymannschaft heißt, hätte ihn wahrscheinlich auch eine weitere Lektion in Politik, Geschichte, Ökonomie und Kultur Südafrikas nicht gelehrt. Um die Frustration trotzdem gering zu halten, hatte man zudem aber glücklicherweise auf das in jeder Hinsicht billigste Prüfungsverfahren zurückgegriffen: multiple choice (womit man, bei halbwegs intelligenter Auswahl der Optionen, wenigstens die Chance eines educated guess hat, wie der Engländer so schön sagt).
Ebenso eher überraschend war, dass der zu übersetzende Text aus dem Lateinischen eigentlich nur eine einzige Beziehung zum Thema Mönchsorden aufwies: Er spielte in einer Mönchszelle. Auf traten ein gewisser Hl. Martin und der Teufel; in einer anderen Frage war immerhin auch der Hl. Hieronymus mit seinem Löwen gegenwärtig, aber ohne, dass seine Ordenszugehörigkeit zur Sprache gekommen wäre. Ein Glück, dass mein Sohn sich nicht in die Ordensregeln des Hl. Benedikt vertieft hatte! Vielleicht gar auf Latein!
Offensichtlich sollte die Bildungslatte also nicht zu hochgelegt werden, es ging eher um eine Art Bildungslimbo nach dem Motto: Drunterbleiben! Erfolgserlebnisse sind schließlich pädagogisch wichtig, und Kinder, die damit aufgewachsen sind, dass sie enthusiastisch dafür gelobt werden, wenn sie zum ersten Mal ein Spielzeugauto selbständig kaputt gemacht haben, sind ein wenig verwöhnt in dieser Hinsicht und dementsprechend leicht zu frustrieren. Was meinem – in dieser Hinsicht nicht so sehr verwöhnten, mea culpa! – Sohn jedoch die Zornesröte ins Gesicht trieb, war ein Test, bei dem man im italienischen Sonnengesang des Hl. Franz von Assisi Wörter, die aus dem Lateinischen stammten, finden und in ein danebenstehendes Bild übertragen sollte (immerhin: noch ein Mönch! und dazu eine pädagogisch hoch wertvolle Transferleistung!). Sicherheitshalber waren die zu findenden Wörter fett gedruckt. Ähnliche Aufgaben hatten wir früher gern in Vorschul-Heften bewältigt (Suche aus dem Text alle Wörter heraus, die mit Autos zu tun haben, und male anschließend ein Bild von den Gegenständen!); dort waren die Lösungen aber nicht fett gedruckt. Vielleicht war es ja ein besonders subtiler Trick? Dann hat mein Sohn ihn nicht verstanden. Er hat die fett markierten Wörter von der Text- auf die Bildseite abgeschrieben und ist still vor sich hin verzweifelt.
Zwischendurch, das kennt mein Sohn aber schon von anderen Wettbewerben, ist vor allem die hohe Kunst des Wartens gefragt; die Organisation ist meistens eher schlechter als bei vergleichbaren Sportereignissen in der Freizeit (aber schließlich haben die Lehrer ja Zeit und keinen Unterricht, solange sie Wettbewerbe betreuen; was natürlich auch für Schüler keine unwesentliche Motivation zur Teilnahme an Wettbewerben ist). Und man lernt einmal eine andere Schule kennen – und dadurch vielleicht die eigene etwas mehr schätzen: Denn dass es in einem gar nicht so armen Bundesland und einem eigentlich recht wohlhabenden Landkreis (wenn auch einer verarmten Kommune) auch Gymnasien gibt, in denen die Türen der Toiletten nicht geschlossen werden können, einfach weil sie zu groß sind und nicht in den Rahmen passen – das würde man ja doch wieder für eine dieser Geschichten halten, die ewig unzufriedene Eltern erfinden, nur um auf gut gemeinte, aber schlecht konzipierte und noch schlechter durchgeführte Förderwettbewerbe und vielleicht gutwillige, in der Sache aber ziemlich inkompetente Kulturpolitiker schimpfen zu können. Ist aber nicht erfunden, sagt mein Sohn. Wie diese ganze Geschichte nicht erfunden ist; auch wenn sie erfunden sein könnte, vielleicht in einem Wettbewerb Jugend erfindet absurde Wettbewerbe. Dann hätte sie auf jeden Fall gute Chancen!


Pubertätsverweigerung

Gelegentlich sieht man heutzutage, dass Kinder ihre Eltern erziehen. Das kann in jedem Alter vorkommen, meistens jedoch sind es Jugendliche. Es scheint eine Art von Trotzreaktion darauf zu sein, dass man heute als Jugendlicher, vor allem im aufgeklärten, besserverdienenden und fortschrittlicher denkenden Familienmilieu, geradezu verpflichtet ist, ‚Pubertät‘ zu haben. Unvernünftig zu sein, zu rebellieren, gegen die Eltern zu trotzen, gegen das establishment, gegen alles. Ohne Grund, einfach so, weil das Gehirn ja bekanntlich umgebaut wird und die Hormone verrücktspielen. Tatsächlich jedoch kann die Pubertät auch mehr oder weniger ausfallen, oder später stattfinden, oder sie äußert sich in einem Anfall außerordentlicher Vernünftigkeit: Dann erkennt man nämlich, dass der maximale Trotz gegen die planmäßig erwartete Unvernunft ist, sie zu verweigern, ja geradezu gnadenlos vernünftig zu sein und im Notfall sogar gegenüber den Eltern deren eigene Erziehungsmaximen einzufordern (warum habt ihr wieder nicht aufgeräumt? wie sieht es denn hier aus? müsst ihr wirklich schon wieder so viel Wein trinken?)! Man geht allerdings ein erhöhtes Risiko ein, zur Psychotherapie geschickt zu werden: Schließlich kann es nicht sein, dass jemand einfach so ohne Grund vernünftig ist, wahrscheinlich unterdrückt und verdrängt sie nur alles, und das ist ja so viel gefährlicher als ordentlich gelebte Unvernunft! Aber wenn das Gehirn sich noch ein Stück weiter umgebaut hat, erkennt es sogar, warum alle so interessiert daran sind, dass Jugendliche Pubertät haben: Alles, was einem selbst einen Grund liefert, ebenfalls nicht vernünftig zu sein, wird gern befördert. Weshalb schon kleine Kinder gelegentlich vernünftiger sein können als ihre Eltern und gerade keinen Trotzanfall vor der Supermarktkasse kriegen: Weil nämlich eigentlich die Großen das Schokoladen-Überraschungsei wollen, und nein, man hat wirklich keine Lust auf Schokolade, und meist ist sowieso was ganz Doofes drin, und wenn ihr eins haben wollt, kauft doch selbst eines! Das Kind im Kind kann ein ganz anderes sein als das Kind im Erwachsenen, das allzu häufig eine Art Zombie ist, den man nicht sterben lässt, weil er noch ge- oder vielmehr: missbraucht werden könnte (jedenfalls bis die Midlife-Crisis kommt. Oder die Wechseljahre. Oder die Altersschwäche).


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