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 Ding-Gedichte 

 Vor-Garten


Man kannte keinen Namen.
Wollte ihn nicht wissen.
Man wusste nur:
Dies ist ein Gelb, so strahlend wie die Sonne
selbst. Und seine Strahlen
konnte man zählen: einzeln,
und nicht wissen wollen
wie viele genau. Und Weiche ohnegleichen,
in schlanken Gliedern, viele
(ungezählt) im Kreis geordnet, der
die Sonne war: mit Sonnenflecken,
Sommersprossen, leuchtend ganz von innen,
vor einem Grün, das weder tief war
noch bedeutete: nur Hintergrund allein
für dieses Gelb, und rauer Stengel
seinem runden Strahlen.

Hinter dem Haus aber
begann der große Garten:
Gemüse (mit Namen). Früchte,
die man nicht essen durfte,
nur heimlich, lange
vor der Reife,
im Übergang von hellem Grün zu hellem Rot,
mit Arbeit jeden Tag aufs Neue.

Vor-Garten aber: kleines Reich
jenseits des Wissens und des Wollens
aller Großen,
gut versteckt im Offenen,
geordnet in sehr kleinen Kreisen und Quadraten,
umhegt von weißen Latten hin zur grauen Straße,
die hinaus führte (wohin? Ins später).
Nie wieder wird der Flieder riechen
wie damals: als man ihn nicht kannte.


Das Küchenfenster

Der Rahmen war aus weißem Holz.
Ein einfaches Geviert, mit Flügeln.
Man klopfte, es ward aufgetan,
und Düfte senkten sich herab

am Ende einer langen Woche.
Endlich Backtag! Kuchenstücke,
ein einfaches Viereck, mit Streuseln,
frei verteilt, Essenz des Kuchens: Butter. Zucker.

Und jeder durfte klopfen, der
hinanreichte gerade an das Fenster!
Von unten stiegen kleinen Hände auf,
von oben kam Kuchen herab: weiche Gabe.

Keine Rezepte! Im Kuchenstück vereinten sich
Ur-Elemente: Mehl, Zucker, Hefe, Milch,
vielleicht gelegentlich ein Ei,
die Äpfel aufgelesen, nach dem Fall natürlich,

doch alles ungewogen, ungemessen.
gerührt von Händen, frei geformt.
Und backte ohne Uhr. Wusste
die Zeit allein. War fertig und bereit.

Die Hand jedoch, die gab, war hart.
Sie hatte schon gegeben, als
man selbst kaum noch ein Streusel war.
Und sie ein Leid, erzogen von zwei langen Kriegen.

Demut? Wir dankten kaum, wir liefen
schnell wieder fort, mit Kuchen samt
den Streuseln. Schmausten im Garten,
dort, wo er besonders dicht war:

Unter dem alten Apfelbaum.
Verstreute Streusel für die Ameisen.
Mit kleinen Mündern, warm vom Kuchen,
und hefeschnuppernd, zuckertrunken.

War das Kindheit? Vorkosten
von Süße, ein Versteck, man wusste nicht
wovor, die blinde Hingabe an einen Duft,
ohne zu ahnen, dass er bleiben würde?

Am Ende war sie blind. Schwer zu rühren
war sie schon lange Zeit zuvor.
Das Leben hatte kein Rezept für sie, und sicher
keine Streuseln, niemals.

Aber mit einem Fenster,
das sie rahmte: weiß, wie das weiße Haar,
und Ur-Geruch nach Butter und nach Himmel
war sie versöhnt. Verschmolzen.

(Im Himmel wird es Streusel geben, jeden Tag!).

Koala

Er sitzt ganz ruhig. Die Daumen
abgespreizt, nicht zugreifend. Die Nase
ist ein großer schwarzer Knopf. Die Augen
kleine schwarze Knöpfe. Blankpoliert.

Er sitzt, als säße er zwischen den Ästen
seit aller Ewigkeit. Nach innen schauend, lauschend
an allem Lärm vorbei. Sein graues Fell
verschluckt den Schall.

Er sitzt, gehalten ohne Halt, als hätte er
die Welt gesehen von Anfang von. Aufrecht
aus freier Haltung. Damals, die Schlange,
sie umging ihn lange. Dann gab sie auf.

Er sitzt. Kein Ausdruck trübt
das blanke Schauen schwarzer Knöpfe. Gefühle
prallen an ihm ab. Kein Knopfloch in der Welt
kann diese Augen schließen.

Er sitzt. Er hat die Welt verdaut,
jetzt reichen ihm einzelne Blätter.
Koala: der nicht trinkt.
Ihn dürstet nicht mehr.

(Zuhause liegt er, plüschig, weich
auf einem Bett. Ein großer Knopf die Nase,
zwei kleine sind die Augen.
Er kann nicht sitzen.
Zu kurze Beine, hilflos abgespreizt,
ins Leere, Ärmchen, die nicht greifen können,
ausgestreckt ins Leere: Halt mich!
Ach, wer ihn halten könnte!
Doch zappelnd geht die Welt an ihm vorbei)

Ameisenbär

Auf einmal war er da. Im Sprung:
Ein langer Schatten auf dem Fell,
ein schwarzer Riß mitten hindurch:
ein Dreieck, auslaufend

in einen Schwanz, der buschig ist und schwer,
und einen Kopf. Schmal, hingedrängt
zu einer Spitze, noch verlängerbar
in einer Zunge, die hervorschnellt:

sucht er? Nein, er springt, er hüpft,
ein Dreieck auf vier Füßen, lang-
gestreckt, die Ohren winzig, Augen
kaum zu sehen. Und doch

sein mutwilliges Springen im Gelände,
vorbei an kleinen Büschen, jetzt versteckt
in einer Kuhle, jetzt auftauchend wieder,
kreisend, hüpfend, ohne Sinn und Zweck

dem Rhythmus folgend der vier Pfoten nur,
ein Dreieckstanz in einem
ungleichmäßigen Walzertakt,
punktiert gelegentlich:

Synkopen.
Aussetzer
Mitten im Lebensstrom.
Um dann erneut
Ins Kreisen auszubrechen,
springende Dreieckspfeile,
grau-schwarz-weiß,
nur wenig Kopf.
(Das Gleichgewicht kommt aus dem Schwanz).

Uralte Einzelgänger,
seit Millionen Jahren
im Gelände unterwegs.
Das Dreieck: Evolutionäre
Tarnvorrichtung. Es läuft
Aufs Junge zu, den Huckepack,
mit dessen kleinem Pfeil
der große erst vollständig wird.
Verlängert. Ausgezogen
In die Zukunft:

Pfeiles Spitze.


Im Zug. Eine Reimübung

Das Leben genießen
in halbvollen Zügen:
Vorbei fliegen Wiesen,
begleitet von Hügeln,
auf hohen Brücken
mit kurzen Lücken
von Tunneln zum Licht,
vom Dunkel zur Sicht:
auf rauschende Wälder
auf wiegende Felder.
Kirchtürme bekrönen
die Dörfer, die schönen.
Windräder, in Reihen,
Merkzeichen im Freien
des endlosen Raumes
Fliegen vorbei.

Nachbarlich gebahnte Gleise
Summen ihre alte Weise,
summen leise, weise, heiter:
Kurze Halte, eingestiegen!
und dann weiter, immer weiter!
Pfeifen, ruckeln, weiterfliegen!

Gewerbegebiete. Waben,
der Arbeit, Narben
der Landschaft.
Kraftwerke mit Schloten,
der Industrie ragende Boten.
Autowälder, abgestellt:
Warenströme um die Welt.
Vorstädte mit Balkonen,
Menschen, die wohnen.
Am Abend die Fenster:
Ein Rahmen aus Strahlen.
Darinnen Gespenster-
Gestalten, die Straßen
ein Halsband aus Lichtern,
fliegen vorbei.

Nachbarlich gebahnte Gleise
gleiten durch weisende Weichen,
folgen leuchtenden Signalen,
niemals Zweifel, niemals Wahlen:
Und, verleitet von Vergleichen,
fliegt vorbei die Lebensreise.


Meeresleuchten

In Wellen
gesellen
sich Täler und Kronen.
Nieder und wieder auf,
im Wechsel des Weltenlauf,
gesteuert von Monden.

Inmitten
ein Schiff, geritten
von Wesen aus Erde.
Vom Wasser getragen,
nur Möwen beklagen
das Stampfen der Pferde.
Die Fische, die stummen,
sie lachen und mummen
in Tiefe sich ein.

Nur manchmal huscht ein Schatten
verhangen durch die Matten
aus Schleiern, sehr fein.
Der Horizont ein Lineal,
gezogen von dem großen Wal,
der diese Welt erschuf.
Der Himmel eine graue Wüste,
besäumt von dunkelblauer Küste,
nur Leuchttürme hören den Ruf

von Millionen Seelen in den Tiefen,
die dort gestillt und selig schliefen
für alle Ewigkeit.
Sie kennen keinen Hafen,
sie wollen nur schlafen, schlafen,
in alle Ewigkeit.

Ihr schlafendes Atmen ein Wiegen,
von wogenden Wellen beschrieben
im Takte des Meeres.
Kein Blut mehr, das antreibt,
das niemals stehn bleibt,
die Herzen wunschleer.

Doch manchmal weckt sie ein Singen,
von Glocken und Lichtern, ein Klingen
in rauschenden Farben.
Ein tanzender Sonnensturm vermischt
all seine Farbeimer mit Gischt
zu strahlenden Garben.

Zu schwer ist die Erde
fürs sterbliche ‚Werde‘!
Sie fesselt den Blick.
Getürmt zu starren Gipfeln,
allein in wogenden Wipfeln
erahnt man ein Glück.

Wasserfall

Ende von Allem. Fallen
aus unendlicher Unnahbarkeit.
Tanzendes Licht, spielende Strahlen.
Meta-Physik, verschleiert.

Unten ein Auffangbecken,
gerundet, unergründlich, still, ein
Trichter voller Trauer,
zulaufend ohne Abfluss.

Und Wände an den Seiten, wachsend,
schließend, überfließend
vom flüchtigem Grün,
lauschend dem Rauschen.

Tropfenfänger, Klippenspringer,
Mauersegler, Flugartisten,
Sprungbretter aus Moos gepolstert,
Farngeflecht und Felsgesichter.

Ganz unten
sitzt eine, allein,
auf einem Stein.

Umkreist. Verwaist.
Umschlossen. Ausgeschlossen.
Umströmt vom

Immerzu.


 

To Nature

(Samuel Coleridge) 

 

It may indeed be fantasy when I
Essay to draw from all created things
Deep, heartfelt, inward joy that closely clings;
And trace in leaves and flowers that round me lie
Lessons of love and earnest piety.
So let it be; and if the wide world rings
In mock of this belief, it brings
Nor fear, nor grief, nor vain perplexity.
So will I build my altar in the fields,
And the blue sky my fretted dome shall be,
And the sweet fragrance that the wild flower yields
Shall be the incense I will yield to Thee,
Thee only God! and thou shalt not despise
Even me, the priest of this poor sacrifice. 

 

An die Natur 

 

Es mag wohl Phantasie sein, wenn ich
aus allen Dingen, die erschaffen sind,
versuche Freude zu ziehn, tief, herzinnerlich,
und in den Blättern und den Blumen, die
um mich verstreut, die Spuren finde
von Liebe und der ernstesten Verehrung.
So mag es sein: und wenn die weite Welt
auch lauthals dieses Glaubens spottet, macht es mir
nicht Furcht, nicht Dauern, nicht einmal
ein doch vergeblich Unverstehn.
Ich werde meinen Altar in den Feldern bauen,
und blauer Himmel wird meine durchbrochne Kuppel sein,
und lieblichen Geruch der wilden Blumen
bringe ich dir als Weihrauch dar,
dir, meiner einzgen Gottheit!
Und du wirst nicht einmal mich verschmähen,
solchen kargen Opfers Priester.


 


Am Teich I

(Jan Gräfje) 

 

Was tust du? Sitzt du, stehst du, hängst du?

Ich weiß es nicht. Dir ist es gleich.
Was es auch immer sei: Du machst es gut.
Unscheinbar sein in voller Sicht. 

 

 Die Physik macht einen Bogen um dich.
Die Schwerkraft gilt nicht dir.
Durchscheinend überspannt die Flügel, kaum verbunden
Mit Gelenken, schmal genug, um unglaubhaft zu sein, 

 

Bieten sie keinem Hebel einen Druckpunkt.
Du bewegst sie schneller, als mein Auge sehen kann,
katapultierst dich selbst empor, umkreist mich
In rechteckigen Bahnen. 

 

Verlor ich dich? Doch wenn du landest,
kann ich dich entdecken: Sonnenerleuchtet
Das Blenden deines glänzend schwarzen Körpers,
Das tiefe Blau, von dem dein Rücken strahlt. 

 

Das alles siehst du nicht. Du siehst
Die Welt in tausend Splitter facettiert,
Ein jeder zu dem nächsten um ein Winziges verschoben,
Im roten Rahmen des Betrachtungsfensters.

 

Warum kamst du gerade her zu mir,
Erwartungsvoll erwartend?
Wartest auch du? Auf was?
Beobachtest- doch wen? 

 

Eine Bewegung nur erkenn ich sicher: Du reibst
Die Vorderbeine, eines an dem anderen,
Und wissend um die Narrheit der Vermenschlichung
muss ich mich dennoch fragen: Lachst du? Über mich? 

 

Am Teich II

 

Rückkehr zum Teich am Nachmittag.
D
ie Sonne steht schon tief. Sie scheint
direkt in meine Augen. Nur noch
farblose Silhouetten um mich her. 

 

Seelilienpatchwork auf dem Wasser.
Dazwischen schwankende Gestalten:
Stockenten, Wasserlinsen streifend,
Schlammtrüb in Farbe und in Wesen.

 

Doch plötzlich, da, ein Neues!
Abtauchend, aber kein Haubentaucher.
Ein Hund? Zu klein, zu träge, zu gemütlich.
Ein Nager? Viel zu groß, zu selbstsicher.
Ein Hase gar? Zu heiter!
Oder doch nur eine Ente, schlammig-trüb?

 

Charming Castor Canadensis
Zieht gelassen seine Bahn.
Landet leicht am dunklen Ufer.
Beißt sich in das frische Schilf.

 

Fasziniert krieche ich näher.
Hasche nach flüchtigen Blicken,
Lausche auf nibbelndes Nagen.

Zeit verfließt. Der Abend fällt.
Zurück nach Hause und zum Schreiben.
Unbeirrt, unverstört, unumwölkt
Verfestigen sich Schemen auf Papier.

 

 

Ode an das Lesebändchen

Oh kleine Freude, bunter Streifen,
seiden und schmal und bunt
in einer grauen Bleiwüste!
Was haben Bücherwürmer schon geschrieben
über den Reiz frischen Papieres.
Sein Weißes (oft jedoch nur billig schmutzig-graues),
seinen Duft (er verlor sich längst, ward überlagert
von abgestandnem Kaffee, Hautschuppen
vielgerunzelter Gestirne
).
Wer weiß denn noch,
wie Druckerschwärze roch? Allenfalls
erinnert man die Tinte aus der Schulzeit:
Schmutzige Finger. Kleckse.
(Der erste Füller war geliebt genauso wie gehasst.)

Du jedoch: farbiger Lichtblick!
Lang und schlank teilst du die Seiten
in Vor- und Nachher. Ab-Schnitte,
nur sanft getrennt. Mit einer Schere
hat man einmal die Bücher aufgeschnitten.
Einschneidend sind bis heute
oft die Seiten, an den Fingern
hinterlassen sie die rote Spur
(selten jedoch nur noch im Kopf).
Lesebändchen aber: Du gibst Kontrast, ja:
contra, allen Buchstaben!
Buch-Staben: Zeichen, Charaktere, mit
Serifen-Füssschen oder ohne.
Mal bauchig, mal gelenkig, mal geschrägt.
Typen sind Charaktere. Man mag sie oder nicht.
Optischer Zoo, gegliedert in Familien,
mit Namen. Arten. Manche streiten, manche
lehnen sich aneinander, verschmelzen.
Doch alle nur druckschwarz vor weißem Grund
(als ob die Welt im Buch schwarz-weiß sei!
Als ob das Denken keine Farben kenne
!).

Dazwischen aber, Bändchen, frischest du
die Wüste auf. Läufst durch, wechselst die Seiten.
Ach, früher, vor der Druckerpresse
(die Klugen wussten gleich: das ist Teufelswerk!),
waren die Ränder bunt. Figuren, Ranken, Tiere, Fabelwesen
schnörkelten sich den Text entlang,
umwuchsen und umwucherten.
Oh, Phantasie des kleinen Bildes!
Oh, Reste von Natur im Buch!
(heut jedoch: Wir müssen draußenbleiben!)
Initiale: vereinnahmt und vergrößert,
das Einfallstor: Initium. Tretet nur ein!
Am Anfang war das Bild. Nicht der Buch-Stabe.
Lettern, littera, alpha-bet: Von A bis Z gereiht, sortiert,
doch auch: in Buchenrinde eingeritzt,
als Talisman und als Orakel.
Bis heute kann man Zeichen sehen
in glatter grauer Buchenrinde: Grimassen, Randzeichnungen
der Natur, Buchstabengeister, gefangen,
doch entronnen aus der Bibliothek.

Wären nicht Lesebändchen denkbar
aus dickem Samt, aus Gobelin gewoben,
mit Büchergeistern bunt bestickt?
Am besten regenbogenfarben, alle Farben
zusammen erst ergeben Weiß.
(Schwarz ist keine Farbe)
Dazwischen Reste, Ränder, Fundstücke
vorheriger Lektüre, eingepresst für alle Ewigkeit:
Postkarten, Leihscheine, Einkaufszettel.
Der Text bricht aus aus seinen Rändern,
Ameisen krabbeln über Buchenstämme
(Gruß aus Karlsbad, Dein Onkel Fritz!
Milch, Maggiwürfel, Zucker!
Rückgabefrist: vor tausend Jahren
)
Das Lesebändchen zuckt. Seine Fransen
streicheln die Seiten und die Hände.
Dann verschwindet es wieder, versteckt sich,
ein kleiner Zipfel nur noch sichtbar.
Es schneidet niemals ein. In Seiten nicht und Finger.
Man kann es um den Finger wickeln, heilend, stillend
nach scharfen Seitenschnitten.
Soll ein Buch nicht schmerzen?
(Kafka: ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns!)

Wohl, wohl. Aber: Es soll auch heilen.
Es soll, so wussten schon die Alten:
belehren und erfreuen. Eines durch das Andere.
Belebtes Grau. Farbdurchwirktes Weiß. 
Ach, unsere Bücher heute wollen keines mehr von beiden.
Kritik ist trostlos. Sie handelt in Schwarz-Weiß,
suhlt sich im Grau-in-Grau. Kleine Freuden
sind nur ein Trostpflaster für Eskapisten.
Sind nicht verträglich mit
großer Moral und großen Worten.
Gebt mehr Lesebändchen! In allen Farben, allen Formen,
weich, mit Fransen oder nicht, und wenn es sein muss:
sogar Schwarz-Weiß vor bunten Buchstaben.
Lesen ist nicht nur Kon-Text!

Zartfühlend

Was ist eine Hand? Was ist in einer Hand?
Ein Teller mit fünf Zeigern?
Griffen. Zangen. Zungen?
Ein Werk-Zeug nur?
Ungeschickt, geschickt;
geschickt, dann wieder ungeschickt.
Sie hat zugegriffen, ganz am Anfang,
die Finger weich noch, biegbar;
sie hat geklammert
(die Mutter lässt man niemals los),
sie hat gelernt zu werfen und zu halten.
Ein Klötzchen. Die Rassel. Das Schäfchen.
(Vergaßest du das Fühlen nicht allzu schnell?)
Oberflächen-Kontakt. Qualitäten: Was-Heiten.
Weich und Hart. Flüssig und Fest. Warm und Kalt.
Ur-Erfahrungen: zu bald schon abgestriffen.
(Solange man noch Händchen halten durfte, war
die Welt in Ordnung
).

Dann: Hand-Bruch!
Werde Schreib-Hand!
Halte einen Stift!
Ein Gerät, wie gemacht für Menschenhände.
Fingerverlängerung aufs Papier,
die Haut einer fiktiven Welt.
Worte aus Fingerspitzen geflossen,
schöngeschrieben, am Anfang,
als man Worte malte und das A beim Affen blieb.
Mache dir die Welt zuhanden!
Werde zugreiflich! Lerne:
Geräte steuern, lenken,
Tastaturen, Schalter, Apparate bedienen.
(Ab-Schalten war vorgestern. Heute ist Stand-By, für immer)
Lerne Hantieren!
Salutieren, Streicheln. Liebkosen, Ballen.
Flugzeuge fliegen! Musizieren.
Hobeln. Tanzen. Feilen. Malen.
Hand-Arbeit, Hand-Werk. Tag für Tag.

Vögel haben keine Hände, sie haben Flügel.
Fische haben Flossen, Säugetiere Pfoten.
Der Mensch hat einen Daumen: Herrscher
im kleinen Reich der Hand. Abgespreizt, Allein-
gestellt.
Der Mensch befingert erst, dann
begreift er. All-Hands-Phantasien.
Kein Raum für Un-Begreifliches mehr!
Nachts aber schläft die Hand und träumt:
nichts halten zu müssen. Loslassen zu dürfen.
Die ganze Welt, konzentriert,
in einer Fingerspitze:
Antennen fürs Universum.
Und handlos spürst du alles, was du nie begreifen konntest.



Krankheitsgedichte


Die Zukunft ist eine alte Frau


I.
Die Zukunft ist eine alte Frau.
Sie trägt Kompressionsstrümpfe.
Der lange Lauf der Welt hat die Gelenke ruiniert.
Das Blut ist kalt und trocken.

Die Zukunft ist eine alte Frau.
Weiß strahlt ihr Haarkranz durch die Zeiten.
Immer mehr Haare fallen aus.
Dann wachsen schwache neue. Weiß von Anbeginn.

Die Zukunft ist eine alte Frau.
Die Augen liegen schwer in schwarzen Löchern.
Sie verschlingen Zeit.
Zu viele Ereignisse. Kein Ereignis.

Die Zukunft ist eine alte Frau.
Sie spricht nicht mehr. Sie hört nicht mehr.
Keine Wünsche. Keine Ängste. Keine Hoffnung mehr.
Die Hoffnung ist zuerst gestorben.

Die Zukunft ist eine alte Frau.
Sie isst in kleinen Bissen. Kaut sehr lang.
Am schlimmsten ist das Schlucken.
Die Welt ist schwer verdaulich.

Die Zukunft ist eine alte Frau.
Sie kennt kein Begehren mehr.
Sie vermisst es nicht.
Wenn man nur schlafen könnte!

Einschlafen, einmal, und danach für immer.
In Engelsarmen ruhen.
(im Notfall tut es auch ein Teufelchen)
Keine Träume mehr, die Rumpelkammer
all des Unerfüllten, Missverstandenen, Verdrängten.
Einschlafen und Durchschlafen.
Die Ewigkeit verpassen. Nicht dabei sein.
Nicht beladen mehr
mit all den falschen Hoffnungen.
Den dummen Wünschen.
Den eingepflanzten Illusionen.
Heilige Indifferenz!
Sehnsuchtsvolle Wunschlosigkeit!
Nichts ist mehr vergangen.
Die Zukunft dreht sich um.
Absolute
Gegenwart –


II.
Die Zukunft ist eine alte Frau.
Sie hatte viele Kinder, damals.
Die Wünsche sind schon ausgeflogen,
sie waren – unbeherrschbar. Unerziehbar.
Sie schwärmen durch die Welt
und zeugen Enkel, täglich, immer mehr,
doch niemals neue.
Sie ist
wunschlos.

Die Zukunft ist eine alte Frau.
Sie hatte viele Kinder, täglich
kommen neue Hoffnungen gekrochen:
Unerschütterlich. Unwiderlegbar. Unerklärlich.
Die Religionen haben sie adoptiert, gefüttert, groß gemacht,
sie zeugen Heilige
und Terroristen.
Sie ist
hoffnungslos.

Die Zukunft ist eine alte Frau.
Sie hatte viele Kinder, stündlich
werden es mehr Ängste. Sie
verwandeln sich so schnell, dass sie
sie kaum noch kennt: neue Namen,
doch eigentlich: die alten Kleider, aufgetragen.
Sie hält sie dicht bei ihrem Herzen.
Zu häufig werden sie verkannt, verschrien, verlästert.
Doch sie weiß: Es gibt
unendlich Gründe, die zu fürchten sind.
Sie selbst ist
fürchterlich.

Die Zukunft ist eine alte Frau.
Sie hatte viele Kinder, wenige nur
heißen: Bedenken.
Sie steigen in die Köpfe,
nicht ins Herz. Sie machen
Gedanken, schwere, düstere, bedächtige,
die niemand denken mag. Sie
denkt sie mit.

Die Zukunft ist eine alte Frau.
Sie hatte viele Kinder, doch die liebsten
waren ihr die Sorgen-Kinder.
Sorge ist ein schöner Name,
auf den sie stolz ist. Sorgen, das sind:
Mühen, Läste, Nöte, all das,
was unvermeidbar ist im Leben:
Schmerz, Krankheit.
(nicht der Tod. Der Tod ist
keine Sorge. Er ist ein guter Freund, verlässlich
seit jeher. Der Einzige. Für immer. Über den Zeiten
)
Aber auch: die Für-Sorge, die helle Schwester,
die die Mühe sieht. Sie mitträgt. Die die
Nöte lindert, die die Lasten teilt,
Sorge: die sich kümmert.
Bekümmert, unbekümmert.
Sorge: ein Kind, das Einzige, das gelegentlich
erwachsen wird
(Ent-Sorgung ist ein Mythos).

Und unbesorgt
schließt eine alte Frau
die Augen.


Der Gott der Krankheit


Er wohnt im Jammertal. Ganz hinten.
Bleich sehen Augen tief
aus dunklen Höhlen. Der Blick
geht geradewegs ins Nirgendwo.
Der Mund gepresst zu einer harten Linie.
Er schläft niemals. Ihn umgeben
die Schmerzen, graue Schatten, vielgestaltig.
Schmerzen sind gerecht.
Jedem geben sie das Seine.
Unpersönlich. Wandelbar. Gefühllos.

Die hellen Götter auf ihrem hohen Berg
sehen ihn nicht. Sie trinken, lachen, lieben
und bringen Tod, Verderben, Strafe,
wie es ihnen einfällt. In einem Nebensatz.
Einem Atemzug. Nach Willkür.
Die Grausamkeit Gesunder, Starker,
vom Gipfel ausgeteilt.
Gedankenlos. Fröhlich. Unbeschwert.

Der Gott der Krankheit fordert keine Opfer.
Die zu ihm kommen, haben nichts zu geben.
Die Reichsten nicht, die Ärmsten nicht.
Die Starken sind nicht länger stark,
die Schönsten sind nicht länger schön
(nur manchmal überfällt sie alle
die Anmut des Durchscheinens),
die Klugen sind nicht länger klug
(Anfälle nur von Weisheit, Klarheit
gezeugt aus Schrecken und Verzweiflung)
.
Reduziert. Verkehrt. Umgewendet.

Auf dem Olymp kennt man die Krankheit nicht.
Nicht das Alter, nicht einmal die Schrecken
schmerzhafter Geburt. Hephaistos
hämmert Zeus den Schädel auf, daraus
entspringt Athene. Hephaistos selbst
war eine Missgeburt. Juno schleuderte ihn,
den Selbsterzeugten, Hässlichen, Schwachen
hinab ins handwerkliche Sein.
(Parthenogese erschafft Monster?)
Seitdem lachen die Götter über ihn, den Hinkefuss,
ihr nimmerendenwollendes Göttergelächter.
Homerisch. Himmlisch. Hochmütig.

Der Gott der Krankheit schweigt.
Kein Erbarmen, nirgends.
Nicht des Mitleids
wohlmeinende Herablassung.
Kein leeres Hilfs-Versprechen
(Nichts wird gut. Nie mehr)
Kein falscher Trost, nirgends
die größte Täuscherin von allen: Hoffnung!
(Linderung, gelegentlich, ist alles, was man ersehnen kann).
Der Gott der Krankheit schweigt.
Die Schmerzen ziehen durch das Tal.
Tage und Nächte wechseln ohne Unterschied.
Gleichgültig. Unverwunden. Ehrlich.


Nacht-Anwandlungen


Ich habe Nächte nie verstanden.
Ich bin die Lerche, nicht die Eule,
am frühen Morgen steig ich auf wie neugeboren
aus einem Land, das in Vergessen liegt.

Ich habe Nächte nie verstanden.
Man schläft, am Anfang gut und traumlos,
doch lange nie. Das Leben ist zu interessant.
Am Morgen springt man aus dem Bett.

Ich habe Nächte nie verstanden.
Sie mussten sein, soviel war klar.
Und Wärme war ein kleiner Trost
und Sicherheit in schlechten Zeiten.

Ich habe Nächte nie verstanden.
Selbst wenn man feiern wollte, wie die Andern,
Die Nacht zum Tage machen, laut, verrückt –
am Ende war man müde und betrunken.

Ich habe Nächte nie verstanden.
Doch Sternschnuppen, der Meteor
vor der verschneiten Wiese in der Nacht,
die ISS auf ihrer Bahn: Das war viel.

Ich habe Nächte nie verstanden.
Noch nicht einmal die Liebesnacht:
erhitzte Dunkelheit, ein kleiner Rausch,
doch besser war der Liebesmorgen.

Ich habe Nächte nie verstanden.
Höchstens im Süden, die Milchstraße
und warme Winde überm dunklen Meer.
Doch das war Urlaub. Auszeit.

Ich habe Nächte nie verstanden.
Die Träume flohen mich für lange Zeit.
Als ich sie fand, war es schon Schwäche.
Die Tagträume verlor ich dann.

Ich habe Nächte nie verstanden.
Auf Reisen, manchmal. Fremde Städte
entfalten zweifach ihren Reiz (doch nur beleuchtet).
Geräusche sterben ab. Vereinzeln. Rufen.

Ich habe Nächte nie verstanden.
Die Schmerzensnächte, wenn sie kommen:
Verdoppelung der Qual. Zeitstrafe.
Sie sollen nur vergehen. Mehr Licht!

Ich habe Nächte nie verstanden.
Verlust der Farben und der Formen.
Alles diffus. Räume schrumpfen
ins Unendliche (immerhin: menschenfrei).

Ich habe Nächte nie verstanden,
die Dichter, die sie anriefen (sogar der liebste):
Der Überschwang blieb aus.
Wofür, solang am Tage noch die Blumen blühen?

Ich habe Nächte nie verstanden,
doch immerhin: der Philosoph!
Als in mir das Gesetz schon längst verloren,
blieb der bestirnte Himmel über mir.

Ich habe Nächte nie verstanden.
Doch als die Träume mehr wurden,
die langen, wiederkehrenden, erkenntlichen,
trotz aller Wendungen, manchmal sogar im Schmerz:

Begann ich Nächte zu verstehen.
Sie sind nicht freundlich, lernen einen
nicht langsam ein, so wie ein Kind.
Man betritt sie wie ein fremdes Land,
vertrauensvoll und voller Angst.
Neugierig und unwillig.
Niemand nimmt einen bei der Hand.
Hände weisen mal hierhin, mal dorthin.
Manchmal kann man sogar entscheiden
(oder meint es jedenfalls. Fast wie im Leben).
Bekannte werden unbekannt, ein Fremder
der beste Freund. Man weiß noch nicht einmal,
ob es Ich gibt hier (fast wie im Leben).
Man muss handeln, erstaunlich oft, mit Konsequenzen
(unerwarteten zumeist. Fast wie im Leben).
Man spricht fremde Sprachen.
Am Eingang steht ein Schild:
„Deutungsverbot! Du sollst nicht auslegen!“
Allenfalls lernt man beim Leben für das Träumen.
Und akzeptiert die Nacht als zweite Hälfte:
Jenseits des Denkens, Sehens und Verstehens.


Auferstehung


I
Das Warten war sehr lang gewesen.
Die Frauen saßen, klagten, weinten.
Sie hatten ihn empfangen unterm Kreuz.
Sie hatten ihn gewaschen und gewickelt.
Und als die Seele dann entwichen war,
ein Hauch nur an dem offnen Spalt der Höhle,
hatten sie ihn allein gelassen.

Lag wohl der Stein noch dort?
Sie hatten sie gesehen, die Wächter.
Es waren rohe Kerle, wie die unterm Kreuz,
die Würfel werfend, grölend, trinkend.
Er hatte seine Stille jetzt.
Allein war er von Anfang an gewesen.
Doch sanft auch, wie sein fließend Haar.

In aller Früh am dritten Tage gingen sie hinaus.
Lag wohl der Stein noch dort?
Doch als sie näherkamen, war da nur ein Glanz.
Entsprang er aus dem Stein?
Leuchtete er aus der Höhle?
Schon einen Moment später wussten sie es nicht mehr.
Und er war fort. Doch glänzte weiter,
nun innen nun im Zittern ihrer Herzen.

II
Des Wartens ist kein Ende.
Liegt der Stein noch dort?
Die Zähe dieses Jahres, abgemessen
in Zahlen, Wellen, Kurven.
Isoliert ins Eigene.
Wer schiebt den Stein beiseite?
Im Auferstehen erst erwächst Gemeinschaft.
Des Wartens ist kein Ende.

Liegt der Stein noch dort?
Krankheit ist Eingeschlossensein.
Ins Bett. Ins Zimmer. In den Körper.
Ins Kreisen endloser Gedanken.
Wer wendet uns zurück ins Freie?
Im Auferstehen erst hebt man den Kopf.


III
Das Warten höret nimmer auf.
Die Trauer drückt nach innen.
Die Sorge hämmert auf uns ein.
Die Hoffnung lahmt. Der Glaube sinkt.
Ein anderer sagt: Lasst den Stein dort liegen!
Beschwert euch, innerlich.
Der Engel geht durch ihn hindurch.
Ein jedes Warten nimmt ein Ende.
Die Blumen recken ihre Köpfe.
Die Vögel steigen leicht empor.
Die Blüten brechen auf zu neuer Weiße.
Die Erde singt ihr altes Lied vom Frühling.
Sogar die Steine lauschen.
Im Auferstehen erst beginnt Verwandlung.


Gladiatorinnen, oder: Preislied auf die Frauen in der Krebsbaracke

I.
Ihr Frauen, die ihr heldenmütig aufgenommen habt den Kampf
gegen den Gegner in eurer eigenen Brust, seid gegrüßt!
Eingenistet hat er sich, in eurem Inneren. Gewachsen ist er,
heimlich und unbemerkt. Gefressen hat er
von eurem Blut und eurem Fleische,
sich dick und breit gemacht, wo das Weiche wohnt der Frau.
Ein Knoten mit Tentakeln, ein Wesen, das wächst
ohne Ende. Masse ist seine Macht, Vermehrung,
gänzlich ungehemmt, seine perfide Strategie.
Die Wächter haben geschlafen, vielleicht einen Moment nur,
verzeihlich, in der Weiche des schönen Lebens, keiner
kann immer auf der Hut sein mitten im Leben vor dem Erzfeind!
Anderes gewachsen in euch, vielleicht, liebreich Lebendiges,
geboren zur rechten Zeit, freudig empfangen, auch
wenn es Blut gekostet hatte und Schmerz unvorstellbar
den Männern. Und jetzt liegt ihr erneut da, ausgeliefert
dem scharfen Messer, den giftigen Säften, den ätzenden Strahlen.


II.
Doch ihr, Gladiatorinnen, seid alternativlos entschlossen:
Der Kampf wird geführt, ums Leben mit Einsatz des Lebens!
Ihr alle, ob jung oder alt, noch blühend, schon faltig geschrumpft,
ob lebensverwöhnt oder leidensgezeichnet bereits:
Ihr alle, verzweifelt allein oder liebreich getragen
(und oft ist der beste Freund: ein Hund),
stumm in sich gekehrt die einen, wortreich übersprudelnd die anderen;
ach, ich kann die Namen nicht nennen, nicht zählen die Gesichter,
verschwunden unter der Maske ihr Lächeln, stehen die Augen
noch mehr hervor: Verwunderung erst, sich selbst hier zu finden,
bei so vielen anderen, meinte jede doch: unverwundbar zu sein!
Später kommt die Verwundung. Ein Rückzug in Höhlen, gekonnt
übermalt, das war schon lange geübt: Die Schöne zu sein, nicht
die Harte. Doch hart lernt ihr kämpfen. Ihr opfert
als erstes die Haare, die Pracht und den Stolz, in denen
nicht nur beim Heldenmännern die Kraft sitzt. Ein Wachstumsopfer.
Sie fallen nicht einzeln, sondern in Büscheln. Auch das
kann man kunstvoll verdecken, auch das: lang geübt.
Doch Mut braucht man nun für jeden nackten Blick in den Spiegel:
Man kannte die reine Form nicht, nicht die Hügel und Buckel,
nicht den Abfall der Schläfen, das Starren der Ohren.
Dazu die verlorene Linie der Augen.
Ein Kinderkopf, alt vor der Zeit. Ein Greisenhaupt
mit noch zu jungen Augen. Sieht man den Totenschädel schon darunter?
Schnell, verdeckt ihn! Gebt Mützen und Perücken! Jetzt ist es besser.


III.
Und auf in den Kampf, den täglichen, an der Heimatfront zuhause
oder gemeinsam mit den Kameradinnen in der Krebsbaracke.
(Friseursalon, so nenne ich ihn: Gnädiger Euphemismus)
Sie warten schon auf dich. Sie kennen dich, auch wenn du nicht sprichst,
aus Gewohnheit: Einsiedlerkrebs, verkrochen in der Höhle, doch am offensten
zu zweit (nie in der Menge). Sie sind solidarisch. Spontan. Unbedingt.
Wir alle haben die gleiche Krankheit. Wir alle sind
Frauen, glücksverwöhnt oder schicksalsgebeutelt, egal.
Wir kommen aus allen Schichten und Klassen. Der Reichtum
hat uns verraten wie die Liebe, das Lebensvertrauen
ist erschüttert für immer. Sagt mir: Warum seid ihr klaglos?
(wo doch um euch die Klagewut wächst, ungehemmt
wie die Krebsgeschwüre, das Mark unserer Gesellschaft infiltrierend:
Vor Gerichten! In den Zeitungen!
Im großen weiten Internet und auf der Straße!
Gegen die Ärzte, die Politiker, die Reichen, gegen das Schicksal.
Ist gutes Leben nicht ein Menschenrecht? Ein einklagbarer Anspruch
und schützenswert um jeden Preis? Belohnt mit Prämien und Sicherheiten?
Und ausgepolstert bis in den Tod: er aber
ist niemals sanft und lässt sich nicht kaufen.
Er lacht über alle eure Klagen
).
Ihr seid Gladiatorinnen, totgeweiht-tapfer
grüßt ihr die Kameradinnen, die Schwestern, die Ärztinnen,
die Apparate selbst, die Namen, die unaussprechlichen
und doch gehätschelten: Epirubicin (das rote Epi);
Pactlitaxel (die Paclis), wie sie alle heißen: Anti-Körper,
gekocht tagsesfrisch in der Hexenküche der Klinikapotheke,
beschriftet dann, manchmal mit kleiner Sonne auf dem Beutel,
neben der man eignen Namen lieber nicht lesen würde.


IV.
Kriegsnamen, das bräuchte man, nicht zum Verstecken dahinter,
nein: für den gepanzerten Mut, den man auch innen spüren muss, wäre man doch
sonst keine Gladiatorin im ungleichen Krieg gegen den eigenen Körper,
jede Woche geführt auf dem gleichen Schlachtfeld
und wissend um die unvermeidlichen Kollateralschäden (Neben-wirkungen?).
Werft die Alltagsnamen fort, schont sie,
seid nicht mehr Susanne, Bärbel, Bettina, Andrea, Jutta:
Werdet Amazonen, die Brust habt ihr doch schon geopfert!
Folgt Artemis, der unermüdlichen Jägerin,
Hekate, der dunklen Göttin der tödlichen Zauberkunst; werdet
Moiren statt Musen, strickt unerbittlich am Schicksal, seid
keine spielenden Nymphen mehr, verfolgt von leichtlebigen Satyrn,
durch Vergewaltigung verwandelt: zum Baum, zur Blume, zum Windhauch.
Nein, verwandelt euch selbst: in Tyche, die Göttin des Schicksals.
Ihr seid die Parzen. Ihr spinnt den Lebensfaden und schneidet ihn ab.
Ihr seid die Erinnyen: Jagt die Verbrecher mit aufzehrender Erinnerung.
Ihr seid Kassandra: Ihr seht die Zukunft, ungeschönt und klar, wie niemand sie sehen will.
Ihr seid Gorgonen: mit vielen Köpfen, nicht nur neu wachsen die Haare, nein,
der ganze Kopf gleich, wird er mal wieder abgeschlagen im Geschlechterkampf.
Als Sphinx hütet ihr das unerforschliche Rätsel des Lebens.
Vergesst Aphrodite, die Allzu-Liebliche! Sie ist
eine Schaumgeborene, sie liebt den Schein, das Meer,
nichts ist euch ferner hier. Doch immerhin, gebildet wird sie meistens nackt,
mit der zarten Hand bedenkt sie die straffen, immer jugendlichen Brüste.
Oder fühlt sie doch heimlich nach Knoten, nach Wucherungen?
Der Spiegel aber schweigt. Er kennt noch keine Strahlen, die unter die Haut gehen.
Die unheilbringende Brust ist noch ein schwelendes Geheimnis.


V.
Vergesst Aphrodite und werdet Athene:
Göttin der Weisheit wie des Krieges, der Spinnerinnen wie der Strategen,
Beschützerin der Städte, lebenslang Jungfrau und Kämpferin.
In voller Rüstung tritt sie auf, wohlbehelmt, auf dem Schild
starrt die Gorgone dem Feind ins Gesicht. Ihre großen Augen glänzen:
kuhäugig, sagen die einen, helläugig-klar, die anderen.
Eine Gladiatorin schon von Geburt: Flink entschlüpfte sie
dem gespaltenen Haupt des Vaters (über Hauptweh hatte er geklagt,
der Göttervater. Das kommt vom Verschlingen der Kinder
).
Werdet Athene. Dann seid ihr besser unsterblich.


Der ständige Begleiter


Er kam im Handgepäck.
War eingeschmuggelt, unverzollt.
Getarnt als Therapie. Not-wendendes Übel.
Der Krebs selbst ist ein stiller Gast.
Er fällt kaum zur Last.
Dass er sich häuslich eingerichtet hat,
merkt man erst spät. Er zehrt nur wenig, anfangs.
Erst wenn er Gänge baut, Wege erforscht,
Knoten einnimmt, Säfte infiltriert,
wird er bemerkbar. Durchschaubar.
Er muss vertrieben werden! Hinausgeschmissen!
Abgeschnitten von den Lebensquellen!
Langsam wird er vergiftet, und noch einmal,
und noch einmal. Und dann bestrahlt.
Verbrannte Erde, in die er sich tief einschrieb.
Ausgelöscht.

(Ob es gelang? Nie wird man es wissen.
Vielleicht ist er nur überschrieben.
Bleibt als Palimpsest. Hat sich nur
tiefer noch verpuppt und wartet
auf die Auferstehung
).

Geblieben jedoch ist der ständige Begleiter.
Solange der Krieg währte, dachte man:
Vorübergehend einquartiert. Ein Notbehelf.
Kollateralschäden sind unvermeidlich,
die Zivilbevölkerung muss mitleiden.
Man räumt ihm einen Raum ein,
not-gedrungen. Man akzeptiert,
dass er sich ausbreitet. Raum greift,
bis er dröhnt und hallt im ganzen Körper.
Irgendwann gibt man das Unterscheiden auf:
Erweiterung der Kampfzone! Doch sicherlich
hat jeder Krieg ein Ende?
Danach wird repariert.

Doch er bleibt da, der ständige Begleiter.
Friedensverhandlungen kümmern ihn nicht.
Mit jedem neuen Tag erwacht er wieder,
nachts verfolgt er mich im Traum.
Er hat sich Glieder gepachtet, er knirscht in den Gelenken,
er spannt in den Lymphen, er brennt auf der Zunge.
Mit entnervender Treue
besucht er alle alten Wunden regelmäßig.
Sie sind Brandmarken seiner Macht.
Er lässt sich nicht vertreiben, kaum einmal betäuben:
Gnädige Pillen! Ach, sie werden schwächer, von Mal zu Mal.
Verbünden sich mit ihm, dem ständigen Begleiter.
(Neben-Wirkungen, die Haupt-Wirkungen werden)
Er hat den Kopf erobert. Die Schaltzentrale.
Dort sitzt er nun und brütet, verpestet die Gedanken,
lässt sie kreisen, nur um sich selbst,
kennt nur eines: seine eigne Stärke.
Wenn man ihn vergisst für gnädige Momente,
kehrt er gestärkt zurück: Mich
vergisst man nicht ungestraft!
Ich wohne jetzt bei dir! Bin Teil
geworden. Bin der, den du so lange schon gefürchtet hast
(als Kind, die Kopfschmerzen, dunkle Ahnung).
Bin der, den du mit Denken nicht vertreibst,
dem stumpfen Schwert des Kopfes.
Ich habe es geschärft,
es steht jetzt in meinem Dienst.
Bin der, den du nicht verdrängst, wie sonst,
mit Tun, mit Arbeit oder Lust:
Ich bin immer schon da.
Ich verderbe den Geschmack an allem. Ich habe
unheilvolle Allianzen im ganzen Körper.
Bin niemals übermächtig, arbeite exakt
entlang der Schwelle: Zermürbungstaktik.
Bin der, an dem man niemals sich gewöhnt.
Denn ich bin eingewohnt bei dir.
Bin routiniert: In Zyklen, wiederholten, spiele ich
mein dunkles Lied, die ewig gleiche Leier.
Bist du nicht jetzt gesund? so fragen sie,
so voller Hoffnungsfreude. Gesundheit aber
ist ein fremdes Land geworden. Eine Fata Morgana.
Man wäre gern einmal dort, allein,
ganz ohne Handgepäck und ständigen Begleiter.
Für Tage nur.
Doch niemals wird man mehr allein sein.

Vom Ende her gedacht

Closure
Ist ein Mythos
(das wissen nicht nur Krimis)
Zu Ende ist hier nichts, auch wenn
gelegentlich etwas zum Ende geht.
Von allem Anfang an war Ende
Ein Versprechen nur.
(Gab es einen Anfang?)
Versöhnend gar?
Ach.
Der Schluss ist immer nur enttäuschend.
Das Publikum erwartet zwar
Kanonendonner
Oder wenigstens:
Poetische Gerechtigkeit
(ein andrer Mythos)
Das Böse wird bestraft!
(es freut sich sehr. Es lebt von Strafen)
Das Gute wird belohnt!
(Aller Lohn ist nie genug)

Die Dichter aber
Müssen schließen. Abschließen. Enden
(Nur Dilettanten hören niemals auf, können
Kein Ende finden.
Sie haben schon den Anfang nicht gefunden)
Geständnis? Nur Entlastung.
Willkürlich ist der Schluss. Notwendig.
Der Vorhang sinkt. Ende“
Ein Signal:
Die Täuschung ist vorbei. Zurück
Ins Leben! Wenigstens
Ist da der Schluss gewiss:
Er produziert
Exit Lines.
Mehr Licht! Ich oder die Tapete!
Es ist vollbracht!

 

Letzte Sätze
Kann man nicht korrigieren.
Die Nachwelt schreibt sie auf, beflissen,
denn man selbst ist tot. Unkorrigierbar.
Alles wird gut. Als würde irgendetwas wieder gut,
was einmal nur zerbrochen war, zerstört, enttäuscht!

Heilung vielleicht.
Heil werden von den Lebensbrüchen,
vom Streben, von dem Immer-Wollen,
von der Unruhe des Immer-Weiter,
vom Unfrieden des Nie-Genug.
Anti-Finale. Die Katastrophe
Fällt heut aus.
Oder doch lieber Utopie?
Die allerletzte Hoffnung:
Kein Ort, nirgends.
Keine Zeit, niemals.
Dort gehen wir hin.
Zum Nicht-Ort, in die Nicht-Zeit.
Nichts schließt sich.
Am weißen Himmel glänzt
Die Mittags-Sonne.
Keine Tragik. Stillstand.
Keine Sprache. Stumm.
Kein-Wort.

Doch Sprache, Fluch der Menschheit,
Kommt nie an ein Ende.
Sätzen geht niemals
Die Luft aus.
Worte drängen sich, eins
Gibt das andere, das andere, das andere.
Wider-Spruch? Ach, allzu selten.
Geplapper allenthalben.
(Floskeln sind unsterblich,
Schlagwörter nicht totzukriegen
)
Nie ist alles gesagt.
Nichts wird geklärt.
Doch immerhin, im Krieg,
am Morgen nach der Schlacht, des Tods gewiss,
kann Einer sagen:
Ich freue mich des guten Kampfs, der kommt,
die frischen Morgenlüfte atm‘ ich durstig
und preise dieses Leuchten aus der Höh,
als wär es mir allein geschenkt.
Das Leben ist die Fülle, nicht die Zeit
“!
Das Schlachten hört zwar nimmer auf
(so wenig wie das Reden)
Aber die Schlacht. Erschöpfung. Nieder-lage.
Ein langer Schlaf. Wortloser Traum.
Kein Erwachen.
(Ach, wenn man einmal nur aufwachen könnte
Zu alter Kraft. Verlorner Jugend. Wenigstens:
Schmerzlosigkeit:
„Schlafe, Träume, Flieg, ich wecke
Bald dich auf und bin beglückt
“).

Am Ende spricht
Einer, allein,
über das Ende. Sein Ende.
Konstruiert, wie alle Enden.
Vorläufig. Schein-Schlüsse.
Ich glaube jeder Mensch hat einen großen Lebensfehler, der ihn abhält
sein Wesen zur möglichen Vollendung zu bringen“.

Das Ende ist meist
Schlamperei.
Der Mensch braucht Rituale, Schleier,
eine Hängebrücke
Über den Abgrund.
Denn unversöhnlich
Wäre allein der Sprung
In die Verblüffung.
(Bin ich’s? Bin ich’s nicht?)


Some Things to Do When One is Dead


Ruhig sein.
Nicht wollen.
Still sein.
Nicht denken.
Zufrieden sein.
Nicht hoffen.
Verteilt sein.
Nicht konzentrieren.
Alles sein.
Nicht Ich sein.
Ausgeglichen sein.
Nicht Partei ergreifen.
Unbeschäftigt sein.
Nicht handeln.
Besitzlos sein.
Nicht haben.
Zeitlos sein.
Nicht erinnern.
Sprachlos sein.
Nicht nennen.
Gedankenlos sein.
Nicht wissen.
Ziellos sein.
Nicht ankommen wollen.
Mühelos sein.
Nicht arbeiten.
Sinnlos sein.
Nicht deuten.
Schmerzlos sein.
Nicht leiden.
Frei sein.
Nicht atmen.