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Tierheim




"Denn da hatte sich das Tier gezeigt"

Kleines Bestiarium für Tier- und Lesefreundinnen, 
mit aufgefrischten Fabeln, Gedichten und Geschichten
von Katzen, Kraken, Flöhen, Glühwürmchen und anderen Kreaturen, 
mit Tier- und Menschenphilosophie angereichert 
und ein wenig Wissenschaft zum Schluss 

Von Penelope Papillon



Inhalt: 

 Begünstigte Tiere. Anstelle einer Einleitung 

I. Aufgefrischte Fabeln

Nemo beim Zahnarzt - Das Model und der Frosch - Kingkong und der Popstar - Garfield im Restaurant - Das Moorhuhn und der Bürojäger - Das letzte Einhorn auf dem Ponyhof - Dumbo beim Schönheitschirurgen - Esel beim Psychotherapeuten - Kung Fu Panda und der Geheimagent - haekelschwein im Weltall - Furby und die Feministin - Paul der Krake beim Orakel - Homo Sapiens im Menschenzoo

II. Das Tier im Gedicht

Sym-Biose - Koala - Ameisenbär - Glühwürmchen

III. Tiere im Leben und in der Literatur

Singzikaden, oder: Mein day of the locust - Flöhe, Tragik und ein wenig Kafka. Variationen über eine Parabel - Tod eines Kükens - Annäherung an den Kranich (in drei Schritten)

IV. Tier- als Menschenphilosophie

Katzen-Philosophie - Bonding - Interkulturelle Tiervergleiche - Der Philosoph und sein Hund. Ein österliches Geistergespräch

V. Ein wenig Literaturgeschichte

„Denn da hatte sich das Tier gezeigt“ – Rilkes Tiergedichte

Übergangswesen: Der Yeti. Anstelle eines Schlussworts

  Tier-Register


Leseprobe


Singzikaden, oder: Mein day of the locust

1. Von Singzikaden. Auftakt mit Kortisonbegleitung

Es war am Chemotag, und ich las am Nachmittag diesen Artikel in der NZZ. Doppelseitig war er und vom Thema her etwas abseitig (ich liebe an dieser Zeitung, neben ihren unsterblichen Helvetismen und ihrem Mut zum Unkorrekten, dass sie abseitigen Themen gern Doppelseiten widmet!): Es ging nämlich um die amerikanische Singzikade, Magicicada septemdecim, und relativ gleich zu Beginn stolperte ich über den Satz, dass diese erstaunlichen Tiere kein Hirn hätten. Nun war ich gerade im schönsten Kortison-High, und die Vorstellung, kein Hirn zu haben, schien mir etwas überproportional belustigend, auf jeden Fall jedoch attraktiv genug, den länglichen Artikel zum abseitigen Thema entschieden in Angriff zu nehmen. Und beim Weiterlesen reihte sich Perle an Perle! Dieses wunderbare Tier nämlich, das es nur in den US of A gibt (kein Hirn, soso, nur in USA, schmunzelte es in mir etwas boshaft), hat einen ziemlich einzigartigen Lebenszyklus: Es vegetiert entweder 13 oder 17 Jahre tief unter der Erde dahin und ernährt sich spartanisch von Wurzelsäften, bevor es schließlich – aber nein, überstürzen wir nichts, sondern verweilen ein wenig bei den einzelnen Perlen, bevor sie wie so oft vor die ziemlich quer- und allesfressenden Säue geraten.

Denn das Erstaunliche sind natürlich, vor allem für Mathematiker, die 13 oder 17 Jahre: Primzahlen, die stärkste Symbolsprache der reinen Mathematik. Die Singzikade braucht dafür kein Hirn und auch keinen Supercomputer auf Primzahlensuche, sondern nur einen Instinkt, aber der sagt ihr: Sei bloß nicht so blöd, immer in Jahren aufzutauchen, die durch 2 teilbar sind oder durch eine der anderen niedlich kleinen Zahlen, die die Menschen und komplexere Organismen so lieben für ihre einfachen Uhren und komplizierten Gehirne! Nein, wenn man sich den Primzahlen anvertraut, gerät man erwünschterweise ziemlich ins Abseits; Primzahlen nämlich sind, sozusagen, die Einzelgänger unter den Zahlen. Nicht teilbar, außer durch 1 und durch sich selbst (und ist das nicht ein wahrhaft schönes Identitätsideal?); teilerfremd mit dem großen Rest der Welt, der es heimlich mit den geraden Zahlen hält (immer mindestens noch durch 2 teilbar, na gut, das mag ein Beziehungsideal sein, aber Zikaden haben, wir kommen später dazu, ganz eigene Ansichten über Beziehungen). Zum Beispiel begegnet man ziemlich selten der Nachbarpopulation, die gerade ein Jahr versetzt in ihrem 13er oder 17er-Rhythmus ist, und der ganze Wald gehört einem allein! Das gleiche gilt für die allermeisten Fressfeinde. Nein, 13 oder 17, niemand außer dir hat einen Rhythmus von 13 oder 17 Jahren, lieblichen Primzahlen, aber ein wenig spröde. Das sichert dein Überleben. Das willst du. Du willst nur das!

Und so schlüpfen nur alle 13 oder 17 Jahre (je nach Region) einige Millionen sehr unscheinbare Larven aus der Erde und krabbeln, so schnell sie können, den nächsten Baum empor; zur Not tut es auch ein Verkehrsschild, so betonte der Artikel, Hauptsache: vertikal! Mein kortisonumsäuseltes Gehirn sah Zikadenstraßen, Heere von rotäugig glotzenden Larven Baumstämme und Verkehrsschilder überziehen, derweil sie ihre letzte Haut abwarfen; dann fällt sie nach unten ab, was sie nicht tun würde, wenn man lieber – wie es Menschen so gern tun – die so bequeme Horizontale sucht: Horizontal werden wir im Wesentlichen geboren, und horizontal sterben wir, und der aufrechte Gang dazwischen ist nur eine ziemlich kurze Phase im Angesicht des um sich selbst kreisenden Universums, und wenn wir uns mit immer neuer Kleidung verpuppen, bilden unsere abgestreiften Larven hässliche Müllberge und müssen verbrannt werden. Währenddessen sind die Zikaden in der Baumkrone angekommen; und dann beginnen sie mit ihrem Gesang. Die Männchen natürlich nur; wie immer dient der Gesang, auch wenn der Mythos anderes sagt (dazu später), ausschließlich einem einzigen Zweck, und das ist das Anlocken von Weibchen, mit dem geradlinigen Ziel, möglichst schnell und möglichst viel Sex innerhalb kurzer Zeit zu haben, und dann – nein, schön langsam! Was ist die nächste Perle?

Gesang, man ist sich ja nicht ganz sicher, ob das das richtige Wort ist. Was passiert, ist folgendes: Millionen Zikaden beginnen mittels eines Trommelorgans, einer gewölbten Schallmembran über einem Hohlkörper, der durch Muskelkontraktionen in Schwingungen versetzt wird, ihren himmlischen (für den Mythos und die Dichterfreunde), für die benachbarten Dörfer und Städte in Zikadenregionen jedoch wohl eher höllischen Chor: Nicht entfliehen kann man ihm, Tag und Nacht wird getrommelt, was das Zeug hält, und alle Fressfeinde der Welt schaffen es nicht, dagegen anzukillen. Zu ihnen zählen vor allem Vögel, Eichhörnchen und – Menschen; das Zikadenbarbecue erfreut sich einiger Beliebtheit, ist aber nichts für Zartbesaitete und empfindlich Hörende und wohl eher ein Rache- als ein Genussakt. Aber auch Menschen, die erfolgreichsten Allesfresser des Planeten und gerade in den US of A wohltrainiert in der sportlichen Disziplin des all you can eat, können gegen Zikaden nicht anfressen: predator satiation, das ist ihr fieser Trick; Überfluss, reine Masse, das ist ihr Erfolgsgeheimnis. Gehirn, ach was. Alles, was Gehirn habt, wird früher oder später vom Menschen ausgerottet. Nicht so Singzikaden! 

In meinem Hinterkopf spukte derweil das nächtlich-mechanische Grillenzirpen, das mir in letzter Zeit schon so manche halbschlaflose Nacht instrumentalisiert hatte; aber das ist eine völlig hirnlose Verwechslung. Zikaden sind nämlich weder Grillen noch Heuschrecken; sie fressen die Landstriche, die sie beschallen, keinesfalls ratz-fatz-leer, sondern bleiben auch nach dem Schlüpfen genügsame Veganer und sind Vollzeit mit Singen und Sex beschäftigt. Hübsch anzuschauen sind sie dabei aber nicht direkt: Insekten halt, mit großen gespenstisch roten Facettenaugen und einem seltsamen W-Muster auf den durchsichtigen Flügeln, das schon zu den lustigsten Verschwörungstheorien beflügelt hat (die Menschen, mit Gehirn, nicht die hirnlosen Zikaden), aber trotz Kortison-High verweigert mein Gehirn eine gefällige Assoziation diesmal. Außerdem riechen sie ziemlich übel, die Zikaden, vor allem wenn sie in Scharen tot von den Bäumen fallen. Das ist nämlich das Ende vom Spiel: Nachdem das Geschrei genug Weibchen angelockt und man in einer Dauerorgie so viel Nachkommen gezeugt hat wie eben möglich (es sollen um die fünfhundert Eier pro Weibchen sein), und sobald die lieben Kleinen geschlüpft sind und schon wacker mit den Trommelorganen flattern (nein, das sind natürlich die Falken, die ich in der Falkenkamera beobachtet habe, bis das Küken starb jedenfalls) – direkt nach Erledigung des Reproduktionsgeschäftes also fallen die Eltern tot vom Baum. Lebenszweck erfüllt, und Ruhe ist (endlich, stöhnen die erschöpften Anwohner, ihnen ist noch ganz übel vom Zikaden-Barbecue letztes Wochenende)! Die Kleinen sollen gefälligst für sich selbst sorgen. Was sie auch tun, hirnlos geboren, wie sie sind: Sie gehorchen brav ihren Instinkten, vergraben sich eiligst unter die Erde und bleiben schön dort, 13 oder 17 Jahre lang, den Primzahlen getreu! Erziehung kann so einfach sein!

Nun, das waren bisher die üblichen Bizarrerien der Evolution, wundersam geformte kleine Perlen, auch gut für den einen oder anderen metaphorischen Nebensinn. Aber es kommt noch eine Nebengeschichte und Prachtperle, die wie eine Satire der Evolution auf sich selbst klingt. Es gibt also, so lerne ich gegen Ende des Artikels, einen speziellen Parasiten, der Zikaden gern befällt, Massospora cicadia wird er passenderweise genannt; und er trifft die Zikaden zielsicher an ihrem heikelsten Punkt überhaupt, nämlich: den Genitalien der Männchen. Sie werden dadurch unfruchtbar, aber nicht etwa weniger geil, oh nein: Der Sexualtrieb wird sogar gesteigert! Geradezu hysterisch versuchen die befallenen Männchen nun sogar die Weibchen und ihr typisches Flügelschlagen zu imitieren, um damit noch mehr Männchen anzulocken, mit denen sie sich dann hurtig – pseudo-paaren und die fehlgeleiteten Sexualpartner dabei anstecken! (nein, die sich aufdrängende moralistische Deutung lassen wir aus, das ist alles Natur und sonst nichts). Die beflügelnde Wirkung wird übrigens erzeugt durch einen Stoff, der psychedelischen Pilzen ähnelt, sowie einem Amphetamin-Cocktail; das Stöfflein drosselt den sowieso schmalen Appetit und verstärkt die Konzentration auf das Einzige, was den Zikaden bleibt, nämlich: Sex und noch viel mehr Sex! Es ist Viagra on speed, sozusagen. Natürlich sind gehirnbegabte Menschen deshalb schon lange auf die Idee gekommen, die berauschten Zikaden zu verschlingen, um in einen ähnlich euphorischen Zustand zu gelangen. Klappt aber nicht, predator satiation: Man müsste mehr essen, als man kotzen kann! Ende des Artikels, das Kortison kichert noch ein wenig vor sich hin, und im Garten zirpt eine Grille, wenig melodisch und ganz allein. 

[...]

Tiergeschichten
fabeln_erweitert_2021.pdf (2.8MB)
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Das Bella-Buch

Katzengeschichten und Katzenweisheiten 


 


Inhalt

  • Das Bella-Buch. Geschichte einer Eingewöhnung
  • Katzen-Philosophie
  • Katzen-Aphorismen
  • kater-rap


Leseprobe

Bella. Am Anfang hat man sie gar nicht gesehen. Sie hatte sich verkrochen, ganz tief in ihren Korb, so als wollte sie nie mehr wieder herauskommen. Das war nichts Besonderes, das machten die meisten ihrer – nein, man möchte nicht sagen: Leidens-Genossen, denn es war ja zu ihrem Besten, dass sie hier im Tierheim gelandet waren, viele tierliebende Menschen opferten hier ihre Freizeit und ihr Herzblut für diese verstoßenen Kreaturen. Aber leider litten sie dabei, offensichtlich, unvermeidlich, also: Sie litt, wie ihre Leidensgenossen, all die Katzen und Kater, die sich irgendwo versteckten in ihren vergitterten Käfigen, manche sogar im Katzenklo, andere hatten offensichtlich die Fähigkeit sich ganz und gar unsichtbar zu machen. Draußen kläfften die großen Hunde, die es auch schwer hatten, und im Büro trieb der gutherzige Dilettantismus Blüten und das Telefon klingelte unaufhörlich und gelegentlich im Takt zum Bellen der Hunde. Nur ganz hinten im Katzenhaus tollten einige ziemlich minderjährige Katzenkleinkinder mutwillig übereinander und untereinander, die natürlich jeder sofort mitgenommen hätte. Aber wir standen vor ihrem Käfig, irgendwie hatte es sich so ergeben; "Bella" stand auf dem Namensschild, wer hatte sie wohl so genannt, und was hatte er oder sie sich dabei gedacht? Konnte man nicht, wenn man ganz genau hinschaute, ganz hinten ein paar sehr große kugelrunde Augen sehen? Und war es nicht so, wenn man sich den Käfig aufsperren ließ und sich sehr vorsichtig näherte, dass einen die großen kugelrunden Augen fixierten und nicht mehr losließen, gar nicht wehleidig, eher aus Angst entschlossen, aus Schrecken gebannt, pupillenschwarz gewordene Panik? Bella starrte. Man konnte, stellte sich heraus, sehr vorsichtig eine Hand in den Korb stecken; man konnte, sehr vorsichtig, sie berühren, durch das dicke Fell tasten, das man jetzt erst bemerkte, und irgendwann, war es der Stress oder doch ein erstes Erkennen, begann der versteckte Körper hinter und unter den großen Augen sogar vorsichtig zu schnurren. Und dann streckte sie die Pfote ein klein wenig vor, es war die rechte. Mehr konnte man nicht erwarten. Aber es brach einem ein wenig das Herz, wieder zu gehen und die großen Augen zurückzulassen, die nun wieder ins Leere starren würden, auf das Gitter, ins eigene Innere, wer weiß das schon. Draußen kläfften die Hunde immer noch, und wir versprachen ihr, Bella, dass wir wiederkommen. Vielleicht hatten wir gewisse Zweifel, dass wir eine Katze wollten, die irgendjemand Bella genannt hatte, o.k., zugegeben; aber ihr Blick hatte sich irgendwohin gebohrt, zwischen Herz und Verstand, und blickte von innen aus weiter.

[...] 

Vollbild einer Katze. Nach gut einem Jahr ist Bella endlich die geworden, die sie wirklich ist, in einer zweitbesten aller möglichen Welten wenigstens. Sie ist, zum Beispiel, eine großrahmige Maine-Coon-Katze, die schlechtes Wetter mag. Erst wenn es richtig regnet und fröstelt, dängt es Bella vom Billardtisch in den Garten; man bekommt dann nämlich nasse Pfoten und alles Mögliche setzt sich im Fell fest, aber so ist das halt mit Natur, von der nur Leute meinen, sie sei eine Gratis-Schönwetter-Einrichtung zum Grillen und Baden. Wir hoffen sehr, dass es dieses Jahr Schnee gibt, richtig dicken tiefen Schnee, wir wollen sehen, wie sie bis zur Halskrause versinkt und sich weiß und wollig wieder emporkämpft und dicke Fellschuhstapfen auf einer weißen Wiese hinterlässt. Bella ist zudem auch, wir ahnten es ja schon länger, aber inzwischen hat sie es auch selbst bemerkt, ein furchterregender Jäger. Zwar bringt sie bisher nur diverse Kleinmäuse, und sie denkt nicht daran, sie zu fressen. Aber wenn man ihr dabei zusieht, wie sie den kleinen, schon lange leblosen Fellkörper mit einem Tatzenwisch über das glatte Wohnzimmer-Laminat fegt, husch, kaum hast du es gesehen, stoppt er haarscharf vor der Glasvitrine, und die Katze macht einen Luftsprung, als würde ihr ein Elektroschock durchs lange, bekanntlich elektrisch leitfähige Fell schießen, stürzt sich erneut auf das tote Tier, versetzt ihm einen neuen Tatzenhieb, diesmal nimmt der erstaunlich beschleunigungsfähige Körper Fahrt auf in Richtung Couchtisch mit den Weingläsern darauf, und die Katze hinterher, Mord und Spieltrieb in gleichmäßiger Mischung in den Augen – dann schwankt man zwischen Ehrfurcht, Furcht und menschlich-moralischer Empörung. Unser Sohn hat das Spiel Katzen-Crocket getauft, aber auch das ist Natur, nichts als Natur, und in der Wildnis in Maine stehen halt keine Glasvitrinen und Couchtische mit Weingläsern herum.

Als ich allerdings am Morgen nach der Erfindung des Katzen-Crocket noch etwas schlaftrunken in die Küche wankte und nur unscharf einen sehr großen dunklen Schatten auf dem Wohnzimmerteppich wahrnahm, wo noch gestern eine kleine Maus einen sehr unruhigen ewigen Schlaf geschlafen hatte, war ich doch etwas beunruhigt – was hatte der Bella-Jäger denn nun erbeutet, eine Beutelratte? Beim Nähertreten sah ich, dass es ein Vogel war. Es war ein mittelgroßer, recht schöner Vogel, sein Fell war am Bauch glänzend schwarz-weiß mattiert und seine Augen standen offen. Eigentlich lag er da, als sei er völlig unerwartet vom Himmel gefallen und sehr sanft auf unserem Wohnzimmerteppich gelandet (das tun aber nur Lemminge, bei Starkregen), kein Vergleich zur zerzausten Mini-Maus nach dem Crocket. Auch bei näherer Begutachtung fand ich keinerlei Verletzungsspuren. Wie hatte ihn bloß die Katze unverletzt und unzerzaust durch die gar nicht so große Katzenklappe bekommen, die Kellertreppe hoch und bis auf unseren Wohnzimmerteppich, auf dem er nun einen hübschen, aber leider leblosen Kontrast zu den bunten Farbstreifen bildete? War sie doch tief innen ein sanftmütiger Kuscheltiger mit nur gelegentlichen mörderischen Ausfällen, und sie hatte ihm nur einen schönen Platz zum Schlafen suchen wollen? Ach, ich versuchte mich ja doch nur zu tapsig-menschlich zu trösten. Denn tief innen wusste ich, dass das noch im Tode schöne Wesen unsere Amsel war. Sie war die Amsel Furchtlos gewesen, die im Sommer, wenn es sehr heiß war, gern unter den Gartenschlauch sprang beim Gartenwässern; sie war die Amsel Furchtlos gewesen, die unserer vorigen Katze Minka standgehalten hatte, Auge in Auge, und Minka (es muss gesagt werden, Minka war auch ein Jäger, aber sie war daneben auch eine sehr philosophische Katze, was man von Bella beim besten Willen nicht sagen kann) hatte einen Nichtangriffs-Pakt mit ihr geschlossen. Bella nicht. Bella schließt keine Pakte, es liegt nicht in ihrem Ganz-oder-Gar-Nicht-Naturwesen. Bella ist auch nicht mehr ein traumatisiertes Nervenbündel mit einem nur oberflächlich sehr dichten Fell, sondern das Vollbild einer Katze.                                                                                         

 Aphorismen

Die Katzenhaftigkeit des Aphorismus: Er schleicht sich aus dem Nichts an und hinterlässt ein Grinsen, wenn er verschwindet. 
Oder eine neue Narbe.

Man krault sich nicht gegenseitig den Bauch, weil man sich mag; man mag sich, weil man sich gegenseitig den Bauch krault.
Beweis aus der Katzenphilosophie.

Jede Katzenklappe hat zwei Seiten. 

Bella-Buch
bella_buch2021_kpd.pdf (983.02KB)
Bella-Buch
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Goethes Tiere


Alles über Walfische. Moby Dick und der Goethe’sche „Wallfisch


Zur Ablenkung von Corona las ich irgendwann Moby Dick. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, irgendetwas zwischen Männerbuch und ewiger Nobelpreiskandidat, whatever. Was ich nicht erwartet hatte, war ein – nun, ein ins Meer versetzter Faust-Kosmos, ein Leviathan von Literatur. Nein, ich meine nicht (nur) Ahab, obwohl er immerhin einen eigenen Mephisto mitbringt (Fedallaha heißt er und Parse ist er, er spricht aber im Unterschied zu Mephisto nicht gar viel) und ganz sicher nicht aufhört, sich strebend zu bemühen, oh nein, im Gegenteil. Ahab hat außerdem eine Art tumben Lehrling an Bord, einen seemännischen Wilhelm Meister (call me Ishmael!) und keine einzige Frau. Dafür haben wir ja Moby Dick, und es spricht einiges dafür, das kann ich jetzt aber nicht in voller Länge darlegen, dass Moby Dick, wie alle Killerwale, eine Frau ist (there she blows! kreischt der Matrose im Ausguck, wenn er endlich den verräterischen Spaut sieht); was wiederum interessant ist, da der Killerwal für Ahab ja auch der Leviathan ist, das biblische Seemonster, und was würde es nun bedeuten, wenn der Leviathan eine Frau – das Ewig-Weibliche gar wäre? 

Aber nein, darüber sprechen wir jetzt nicht. Wir sprechen jetzt über Moby Dick, eine Weltenzyklopädie am Leitfaden des Wales: Was kann man nicht lernen, wenn man Harpunen auswirft vom Wal, umgekehrte Harpunen sozusagen, über Religion, Wirtschaft, Politik? Über Herrschaftsverhältnisse, Geschlechterverhältnisse, Psychopathien und Neurosen? Über Kunst, Literatur und Kannibalismus? Alles kann man lernen am Leitfaden des Wales. Wenn ich Moby Dick dann zum zweiten Mal lese, lese ich auch alles, versprochen; aber bei der ersten Faust-II-Lektüre bin ich auch über den einen oder anderen Mummenschanz hinweggehüpft. Und natürlich ist es ein genialer Trick von Melville, den Leser so lange mit Wal-fun facts zu quälen, dass er am Ende genauso scharf wie der irre Ahab darauf ist, das blöde weiße Monster endlich zu sehen, damit wir es ein- für allemal hinter uns haben! Einmal taucht sogar Goethe auf in Moby Dick, ganz ehrlich. Gespräche mit Eckermann, irgendein Zitat, aber es war nur der endgültige Beweis, dass in Moby Dick alles vorkommt, gelegentlich auch Wale.

Noch mehr gespannt war ich jedoch nach beendeter Lektüre (alle tot, außer Ishmael und Wal, die Fortsetzung demnächst in Farbe), ob bei Goethe eigentlich Wale vorkommen. Im Faust nicht, klar; vielleicht zappelte ursprünglich im Hintergrund einer auf dem durch das verbrecherische Landgewinnungsprojekt freigelegten Meeresgrund, und Philemon und Baucis versuchen noch, ihn mit Wasser zu überschütten, aber es ist zu spät und die Episode wurde in der letzten Korrekturphase von Goethe gestrichen, der Produzent hatte schon gemault wegen der Kosten, jetzt auch noch ein Wal? Oder es hatte sich einer unter das bunte mythologische Meeresgetier gemischt, der Homunculus ist eigentlich an einem Riesenwal zerschellt und dann wieder auferstanden als Ahab, keine Flasche mehr, aber Holzbein? Delphine immerhin springen durch den Faust, sehr schön und lyrisch sogar, die Formulierung erinnert an Rilke, und man möchte sofort zur Delphin-Therapie in die Ägäis starten, aber nein, Corona zieht erst langsam ab (wollten wir doch vergessen!). Eine, um nun endlich auf das Wort zu kommen, Recherche in der Goethe-CD-ROM erbrachte unter „Wal“ – nicht einen Treffer. Umgekehrter Moby Dick, oder was? Na gut, erste Intuition der wortgewieften Redaktorin: Wal schreibt sich wahrscheinlich anders, „Wahl“ oder so, phonetisch halt. Fast richtig. Es schreibt sich „Wallfisch“, und ist das nicht auch viel schöner und imposanter? Zu „Wallfisch“ bekommt frau dann auch erwartungsgemäß das eine oder andere Zuckerle-Zitat. Zum Beispiel die Geschichte vom Walfischkopf, einem übersandten Skelett für die Weimarer Kunstkammer, gut verpackt war das Wundertier angekommen, und Goethe instruiert, dass es in den großen Saal zu den gipsernen Pferdeköpfen kommt; die Schulterblätter des Ungeheuers sind zu seiner Verwunderung mit Schiffen bemalt (machen Walfänger in der Mittagspause, kann man bei Melville lesen, samt einem Vergleich mit der akademischen Walmalerei aller Zeiten und Epochen). Na gut, tote Köpfe, aber echte Fische? Nein, echte Wallfische gibt es nicht bei Goethe. Der Wallfisch existiert für Goethe ausschließlich als naturwissenschaftliche Kuriosität beträchtlichen Ausmaßes (und evolutionäre Vorstudie zum Riesenfaultier, das interessierte ihn mehr, missing link und so) oder als Allegorie: Auf einer Überfahrt nach Sizilien fühlt er sich im Schiff behaglich wie im Wallfischbauch geborgen und plant sein neuestes Drama, mögen die kleinen Schiffe oder Fische draußen vorbeischwimmen, endlich hat man mal Ruhe (erinnern Kreuzfahrtschiffe nicht, irgendwie, an Walfischbäuche? Verschlingen und Ausspeien, Verschlingen und Ausspeien, there she blows!)!

Überhaupt bewundert Goethe am Wallfisch, das zitiert er mehrfach, dass dieser den Strom vertilgt, und nicht etwa umgekehrt. Man sieht geradezu vor sich, wie Goethe sein großes Maul aufsperrt, und dann marschieren die gesamten französischen Revolutionäre hinein, zielstrebig den Schlund hinunter, und am Ende macht Goethe das Maul zu, und der Strom ist weg, ein kleiner Rülpser nur noch, eine halb verdaute Kokarde kommt wieder hoch und verfängt sich zwischen den Barten. Wer aber Wallfische fangen will und nicht etwa kleine Fische, der braucht Harpunen (längeres technische Kapitel bei Melville)! Und Goethe will, symbolisch gesprochen, Wallfische fangen, auch wenn er zwischen den einen oder anderen kleinen Fisch mitnimmt (Maximenschwärme, ungeordnet). Deshalb wirft er seine Harpunen, weit wirft er sie, scharf sind sie, lang ist das unzerstörbare Seil; aber trifft er auch, weithin, wird es gelingen, so wie die übermenschlichen vollkörpertätowierten Kannibalen bei Melville weithin werfen und trotzdem treffen? – aber nein, da springt und bläst sie immer noch, die verdammte Farbenlehre dieses Newton, der einzige mathematisch-physikalische Leviathan, auf den es Goethe wirklich abgesehen hatte, gnadenlos, immer wieder mit Harpunen schmeißend und selbst geradezu ahabmäßig auf mangelhaften Instrumenten dahinhinkend. Newton aber: Das ist ein Strom, den kann man nicht einfach durchlaufen lassen! Wie schön war‘s doch im Wallfischbauch, verseschmiedend und die Welt vergessend! Aber schließlich ist man kein Dichter, der seine Kunden nur mit Honig ködert und süßen Pillen, Dichter sind allerhöchstens Schleier- oder Paradiesfische, gelegentlich mischt sich ein Butt mit ein, und selten nur trifft man einen ordentlichen Raubfisch. Goethe aber, wenn er nicht gerade den Leviathan Newton harpunierte, war selbst ein Wallfisch; eine Art Welt-Leviathan, der die Welt einfach in sich einströmen lässt, einiges bleibt in den Barten hängen, anderes rumort unverdaulich im großen Wallfischbauch und wird wieder ausgespien, eine kleine Xenie verfängt sich dabei immer, aber meistens strömt es, es strömt und fließt, und man muss es strömen lassen, durch sich hindurchfließen, das Große und das Kleine, das Gute und das Schlechte, das Leichte und das Schwere.

Goethe ist aber auch Ishmael, der reisende Schreiber des Wal-Universums, der wandernde Wilhelm Meister aus Nantucket, den es zwischendurch nach Italien verschlagen hat. Und als er (also: Goethe, nicht Ishmael) eines Abends dort vom Bildungs- und Wiedergeburtswerk ausruht, am Himmel flanieren ein paar Wölkchen, die Grillen zirpen herzzerreißend, da schreibt er: Er fühle sich doch einmal in der Welt zu Hause; nein, eigentlich fühle er sich so wie einer, der von einem Wallfischfange aus Grönland in seine eigentliche Heimat, das Land seiner Geburt, zurückkehrt. Der Vergleich ist, gelinde gesagt: unerwartet. Man sitzt in der Toskana, die Brunnen plätschern brav, der Wein ist wohltemperiert und das wohlbestrumpfte Bein dekorativ übergeschlagen, und man imaginiert sich: Grönland? Wale? Harpunen? Eben. Deshalb sind wir nicht Goethe. Wir kommen immer nur bis zur Toskana (und noch nicht mal das seit einiger Zeit). Mehr können wir nicht schlucken.


Mit Goethe auf Vogelfang

Alle Vöglein sind schon da, und man kann sie endlich schießen. In dieser sommerlichen Jagdstrecke von Vogelfang bis Vogelzunge zeigt sich der jägerische, dem geselligen, auch volkstümlichen Geschehen gar nicht abgeneigte Goethe, der sogar das Vogelschießen in Weimar, wie das Fronleichnamsfest in Erfurt (Fronleichnam und Vogelschießen??!!) bunt, bedeutend und anziehend machen möchte: buntes Getümmel allenthalten, ganz osterspaziergangs-mäßig (Goethe erfindet übrigens auch vogelmäßig, und man hätte doch gedacht, alle Komposita auf -mäßig seien Erfindungen der gern semantisch vagen Gegenwartssprache), alle Stände von Weimar sind da, „in einem mäßigen Bezirk“ (anderes „mäßig“, wohldefiniert), und man vergnügt sich ganz unschuldig – bis auf einmal, keiner hat es gesehen, ein junger Bursche auf der Erde liegt, „so todt als je einer“, einen anderen hat es am Arm gestreift, und hätte nicht – jeder von uns totgeschossen werden können? Na gut, dann gehen wir lieber doch auf Vogelfang und Vogelstellen, definitiv ungefährlicher zumindest für die Menschen; der Vogelherd ist schon gerichtet (ein erhöhter Platz), die Leimruten ausgelegt, auf denen die Drosseln zappeln werden, ganz so wie der unbotmäßige Chor im Faust II, dem Phorkyas droht; auf den Leim gegangen sind sie nämlich, und da hilft kein Vogelgeschrei und kein Vogelgesang und kein anrückendes Vogelheer.

Aber natürlich sind die Vögel nicht nur zum Schießen und zum Singen da, oh nein! Man kann sie auch sezieren, den Vogelschnabel oder den Vogelkopf oder das Vogelskelett. Man kann ihre schön changierenden Vogelfedern für die Farbenlehre untersuchen oder die Vogelmilch in der Botanik auffinden (den Wald-Gelbstern). Man kann sogar Vogelnester essen, wie die Indianer (die eigentlich natürlich Inder sind), Goethe lässt sich eines schicken: Das sind mit Schwalbenleim zusammengefügte Schwalbennester aus Indien oder China, läuft einem das nicht das Wasser im Munde - ? Nein, tut es nicht. Springen wir lieber schnell zum Vogelnestgewölbe, was die feinverästelten spätgotischen Kreuzrippengewölbe englischer Kathedralen sehr anschaulich werden lässt. Die Vogelperspektive bleibt hingegen eher schwach, immerhin jedoch ein poetologischer Beleg: Die „wahre Poesie“ nämlich erhebe den Menschen mit all seinem irdischen Ballast in solche Höhen, dass ihm die „verwirrten Irrgänge der Erde“ wie aus der Vogelperspektive erschienen. Wenn sie es doch nur täte! Heutzutage zeigt sie einem eher die verwirrten Irrgänge des Einzelnen aus der Froschperspektive. 

Aber nun gut, dafür hat das Wort Vögeln immerhin Eingang in den allgemeinen Sprachschatz gefunden, auch wenn es bei Goethe nur der lose Hanswurst verwenden darf, der die Mädels mit dem Werther aufgeilt, um sie dann – nun, des Nachts zu „vöglen … das alles kracht“. Oder ein armer holländischer Anatom, der doch nur über unschuldige „Vöglein“ sprechen wollte; aber wer sich im Deutschen verspricht, den bestraft das Leben, und eine Woche später lag er da und musste seine STD mit Merkurium auskurieren! (Akronyme, so praktisch! Und immer korrekt! Geradezu ein Vogelflug über komplizierte Wörter, man erhascht nur die Anfangsbuchstaben und baut ein ganz kleines neues Nest davon! Nur mit Sprachleim!)

Die Vöglein bringen noch mehr Sprachfang ins semantische Netz: den Vogelplanet nämlich, den Goethe gesprächsweise erfindet, neben dem Fischplaneten (und damit mehr Phantasie beweist als viele Science Fiction-Autoren bis heute, die es nur zum Planet der Affen gebracht haben; wenn die Außerirdischen wirklich menschenähnlich wären, möchte man sie schon gar nicht kennenlernen!). Oder die Vogelhecke. Das ist nämlich, lernt die Redaktorin staunend in unser aller Grimmschem Wörterbuch, ein eigenes Wort für die Fortpflanzung der vögelnden Vögel, zugleich der Ort, wo selbige geschieht (muss aber nicht unbedingt eine Hecke im verbreiteten Wortsinn sein) sowie die dabei entstehende Vögelbrut als solche! Der junge Goethe, damals in Sesenheim auf der Pirsch nach den hübschen Sommervögeln, hatte sich bei einem Besuch im strengen Pfarrhaus den Hut weit ins Gesicht gezogen, um sich zu vermummen. Und eines der losen Pfarrmädel führt ihn beim Vater ein mit einem Wortspiel, das so schön ist, dass man es doch eher dem losen jungen Goethe zuschreiben und damit dem Dichtungs-Teil von Dichtung und Wahrheit zuschlagen möchte: Der junge Mann habe nämlich eine Vogelhecke unter dem heruntergezogenen Hut, „die möchten hervorfliegen und einen verteufelten Spuk machen: denn es sind lauter lose Vögel!“ Hört man da nicht schon fast Mephisto herausgrinsen? 

Die armen Vögel, die losen vor allem, aber sind frei: vogelfrei nämlich. Ach, frei wie ein Vogel die Vogelperspektive genießen, Vogelhecken brüten und niemand auf dem Leim gehen! Oh nein, denn: Wer frei ist wie ein Vogel, der war, in Zeiten, wo Leben noch ein echtes Risiko war, eben auch: ungeschützt. Durch keinen Lehnherrn, kein Recht, gar nichts. Noch der einfachste Leibeigene war, zum Glück, unfrei und geschützt. Dass der Vogelfreie dann auch noch geächtet wurde, hat sich wohl erst seit Martin Luther ins kulturelle Gedächtnis eingegraben; Goethe jedoch konnte noch sagen, dass Verleger und Autoren sich fatalerweise selbst für vogelfrei erklärt hätten und nun niemand mit ihnen rechten könnte. Nein, vogelfrei will auch der Autor nicht sein, vor allem: wenn er ein erfolgreicher ist und viel Geld verdienen könnte, wenn die fallenstellenden Nachdrucker nicht wären! Beim Nachdenken darüber könnte man einiges über Freiheit lernen, wenn auch nicht so viel über Vögel, sondern eher über Menschen, die gern Vögel schießen und ihnen Fallen stellen und sich selbst dabei für frei halten.
Am Ende kam der Vogelscheu (nein, keine Vogelphobie) samt seiner Nachfolgerin, der Vogelscheuche. Ein Briefzitat dazu, an den Großherzog Carl August, aus dem Jahr 1826, also zwei Jahre vor dessen Tod. Goethe schickt seinem langjährigen Freund und ehemaligem losen Vogel, inzwischen aber politisch hochdekorierten Arbeitgeber und Erbfürst, zwei Exemplare eines „unerfreulichen Werks“; unerfreulich deshalb, weil die Königliche Hoheit samt dero Gemahlin (Goethe spricht immer akten- und protokollmäßig von hochgestellten Personen, es ist ihm selbstverständlich) darin als „Vogelscheuchen der schlimmsten Art aufgestellt“ seien. Dabei sei es jedoch gleichzeitig „merkwürdig“ (und auch das meint Goethe immer wörtlich), dass gerade die Eigentümlichkeiten der dargestellten Personen (ob positive oder negative, wird nicht gesagt, es spielt auch keine Rolle) dabei „in’s Widerwärtige gezogen“ seien. Laut Goethe-Forschung konnte nicht ermittelt werden, um welches unerfreuliche Werk es sich handelte, und das lässt der Redaktorin natürlich keine Ruhe; wozu hat man schließlich google und damit das Wissen der Welt nicht nur aus der Vogel-, sondern aus jeder nur denkbaren Perspektive? Ein paar geschickte Flugmanöver später fand ich den Deutschen Regenten-Almanach auf das Jahr 1827 mit einem ausführlichen biographischen Artikel zu Großherzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach. Erschienen in Ilmenau, also direkt in der Nachbarschaft, Goethe war oft zum Jagen dort (und die Redaktorin gerade auch, nicht zum Jagen). Herausgegeben, der Almanach also, von Bernhard Friedrich Voigt, Sohn eines langjährigen Weimarer Freundes von Goethe. Na gut, 1827, und der Brief datiert vom 18.4.1826; aber wäre es nicht denkbar, dass Goethe der Artikel vorab zugekommen war, die Vögel fliegen schnell und häufig zwischen Weimar und Ilmenau, und ob sie schreien oder singen, kommt ganz auf den Hörer an? Natürlich lobt der Artikel den Großherzog, sonst würde er sowieso nicht erscheinen; aber wäre es denkbar, dass Goethe hier schon das Vogelscheuchen-Mäßige des personality-Kultes und der Regenbogenpresse und der social-media erkannt hat? Es kommt gar nicht darauf an, ob man gelobt oder getadelt, in den Himmel gehoben oder in den shitstorm gerissen wird; es ist einfach peinlich, solche Dinge öffentlich zu tun, und erst recht: das Verdienst öffentlich zur Vogelscheu aufzustellen. Jede Eigentümlichkeit, so ansprechend und reizend sie im persönlichen Umgang sein mag, wird vergröbert, wenn die unter Fürstenkronen brütenden Vogelhecken, egal ob lieblich oder furchterregend, ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt. Der Vergleich ist eigentlich gar nicht so schlecht, wenn man darüber nachdenkt. Vogelscheuchen, wir sind umstellt von pseudo-berühmten, mit allerlei Mäntelchen behängten und dann an eine Stange geleimten Vogelscheuchen. Na gut, wie immer unfair gegenüber den Vögeln: Sie haben das alles schon längst durchschaut und führen ungerührt ihre lieblichen Vögelgespräche (Titel eines berühmten Werkes eines persischen Dichters des 12. Jahrhunderts, das wir gleich bestellt haben, und dieser neue literarische Vogelfang allein war all diese seltsamen Überflüge wert, die wahrscheinlich eine gute Vogelschau ihres derzeitigen krankheitsgetrübten Geisteszustandes ermöglichen würden: eher mittel-mäßige Auspizien).

Überhaupt ist der Vogel bei Goethe, spätestens seit der Aristophanes-Übersetzung (frei und frech an Weimarer Verhältnisse angepasst), eher ein Schimpfwort. Überall sieht er den oder, schöner, weil altertümlicher: das Chor der Vögel, wie es den vermeintlich so klugen, den Gelehrten, den nase- und schnabelweisen Kritikern vor allem, alles nachplappert, und jeder auch nur mittelbegabte Manipulator bringt alle Vöglein zum Schnattern, und das, was dabei den Schnäbeln entfleucht, ist eben- Geschnatter, kein schöner Gesang, sondern Lärm, Chaos, Massenhysterie. Am schönsten schnattern sie Beifall, wenn man ihnen ein Wolkenkuckucksheim verspricht, wie es gerade mal wieder in den schnatterreichsten Vorwahlzeiten Mode geworden ist; und frau muss kein Schuhu sein, um hier düsteres Unheil zu wittern: Denn wenn Wolkenkuckucksheim einstürzt, wird sich herausstellen, dass es dagegen doch keine Universal-Schadens-Versicherung gab und die zerschmetterten Träume noch am leichtesten zu verkraften sind. Nein, Goethe will meist gar nicht recht ein Vogel sein, weder ein freier noch ein loser, und im Chor der Vögel singt er sein Leben lang nicht mit. Erst spät wird er Hudhud entdecken, den wahrlich unwiderstehlichen Wiedehopf, aber vielleicht hat er sich auch nur in das Wort verliebt.


Tod eines Kükens


Man sah gleich, dass es tot war. Irgendetwas fehlte, wie es so da lag, in einer gleichzeitig verkrampften und entspannten Stellung, die Klauen schon weich anmutend, bevor sie sich überhaupt ausformen konnten, den Hals weit vorgestreckt, als wollte es noch etwas sehen, was es noch nie gesehen hatte. Aber am schlimmsten waren die Augen. Sie waren halb geschlossen; nicht mehr der verschwommene Küken-blick, schon gar nicht der große wache Raubvogelblick der Falkenmutter, oder auch nur der gelbe Deckel, der sich abends manchmal schützend darüber legte, nach einem langen Tag des harten Mutterseins: Saß man wirklich dicht genug um den sorgsam zusammengeschobenen vier und wenig später fünf Eiern? Hielt man sie gut genug zusammen, nachdem die Viere geschlüpft waren, das Fünfte sich aber Zeit ließ? Das war wohl der Zeitpunkt, an dem sich zum ersten Mal die allzu menschliche Sorge, die sich so gern an das Zurückgebliebene, Kleinste, Ungeschützte anhängt, neben dem geradezu automatischen Lächeln über die vier weißflaumigen tapsigen Wesen breitmachte: Würde die Zeit reichen? Würde die Mutter durchhalten? War das Ei überhaupt be-fruchtet? Fast wäre das leichter gewesen, das kommt immer wieder vor, und schließlich essen wir auch sorg- und gedankenlos Hühnereier und Hähnchen-brüste (gerade in Zeiten der Krankheit gut verträglich, ja geradezu therapeutisch!), nicht aber blinde weiße Küken-Nachkömmlinge.

Plötzlich jedoch war es dann da, ein schwer zu findender weißer Wuschel mehr unter den schon kräftig gewachsenen Vieren, die immer noch reichlich unartikuliert und orientierunglos übereinander stolperten. Häufig starrten sie an die Wand oder drängten sich in die Ecke, als wäre der Blick aus dem Kirchturm schon zu gefährlich. Aber das kannten wir schon von den Wanderfalken, die wir einige Wochen vorher beobachtet hatten und die dann doch erstaunlich schnell den Sturzflug ins Freie wagten, nachdem sie vorher wacker einige Tage Flügelschlagen geübt hatten. Die Dinge entwickelten sich allerdings deutlich langsamer bei unseren Turmfalken im Nachbardorf. Wir machten uns wieder Sorgen, als die Falkenmutter immer noch tagelang auf den nun voll-ständigen Fünfen saß; der Vater war noch nicht einmal aufgetaucht mit den doch sicher benötigten Futterrationen, vorher hatte er wenigstens dann und wann kurze halbstündige Elternzeiten eingelegt. Doch auf einmal begannen die Mäusekadaver einzutreffen (wir waren dankbar dafür, dass die Kamera schon immer relativ unscharf war), und von nun an versiegte die Versorgung nicht mehr, auch bei deutlich wachsendem Appetit und immer weiter aufgerissenen Schnäbeln. Mama zerrupfte zur Fütterung sorgfältig die Beute in handliche Fetzen, die sie – wie es uns schien, darunter nagte die Sorge eben doch weiter – relativ gerecht verteilte. Und immer wieder suchten wir den kleinen, noch fast kahlen Kopf zwischen den deutlich größeren Flaum-Schädeln der sich vordrängenden Großen. Er war sehr schwer zu finden, aber dann tauchte er doch wieder auf, nur für einen kurzen Moment. Derweil wurden die Augen der Großen langsam wacher und fokussierter; und auch die Flügel begannen sich mit kleinen Muskeln abzuzeichnen unter dem immer noch perfekt weißen Flaum.

Dann kam der Tag, als sich unsere Sorge kurz verlagerte: Eines der größeren Küken hatte eine wunde Stelle am Hals, sie würden sich doch nicht, futterneidisch, gegenseitig angefallen haben? Oder war es von der nun schon ziemlich kräftigen Morgen-sonne verbrannt, gegen die die Mutter kaum noch alle hinter den schützenden Flügeln verstecken konnte? Aber es war nicht das Kleine, Nachgekommene, mühsam fand man es endlich wieder, den im-mer noch deutlich zu kleinem Kopf, ganz weit unten im Haufen. Vielleicht schützten die Geschwister es ja auch? Ach, die allzu menschliche Projektion, gepaart mit dem unwiderstehlichen Beschützerinstinkt! Denn kaum hatten wir uns ein wenig entspannt, es war auch anderes zu regeln einige Tage lang, öffnete ich eines endlich sommerlich gewordenen nachmittags die Falkenkamera – die Singvögel im Garten kamen kaum noch nach mit der Versorgung ihrer Nester in den Hecken, die Grillen zirpten schon am Morgen unermüdlich, und ich hatte eine echte Zauneidechse vom Strandkorb aus über die sonnengewärmte Mauer unter den Weinreben schlüpfen sehen: Und es war passiert. Man musste es nicht suchen, man sah es sofort. Es lag da, ungeschützt, in der Mitte, die halbblinden Augen schienen minütlich mehr einzusinken in dunklen Höhlen; nie würden sie sich schließen unter einem schützenden gelben Deckelt, nie den scharfen schwarzen Falkenblick schweifen lassen. Keine Muskeln unter dem schon schäbig werdenden weißen Flaum, der jetzt ein Totenhemd war, das allerärmlichste. Der Schnabel zu stark vortretend, verkrustet, wie in einem stillen Totenkampf. Wie lang war es wohl schon so dagelegen? Die Mutter war unterwegs, Nahrungssuche, die Geschwister hatten sich in die Ecken verteilt und starrten die Wand an. Einmal nur hatte man es gleich gefunden, das Kleinste, Versteckte; und es war tot.
Nun, das war nur natürlich, Selektion eben, Arterhalt, fünf waren sowieso zu viel gewesen, und der Mäusenachschub schon ein sehr anstrengendes Geschäft geworden. Die Mutter kam auch bald wieder von erfolgreicher Jagd, man scharte sich zur Fütterung halb um, halb über dem kleinen Leichnam, keine Spur von -Betroffenheit, Mitleid, Pietät, ja, was hatte man denn erwartet? Was man hier sah, war nur eine Nahaufnahme des menschlichen Emotionskinos im eigenen Kopf, für die gefühlsmäßig besonders Begriffsstutzigen unter uns (also: für mich): Denn auf einmal verstand ich so viel besser, was wir Menschen in unseren schwachen, kleinen, auch schon fast aus-gestorbenen Sterbensritualen mühsam zusammenkultiviert hatten: Die Augen schließen, damit niemand für ewig immer trüber ins Nichts schauen muss. Die Glieder richten, bevor sie die Starre in eine bizarre und zufällige Stellung ein-friert für immer. Den Körper gnädig verdecken, in dem sofort der große Verfall beginnt. Einen Platz der Würde schaffen, mit Raum für die Trauer drumherum; nicht allzu nah. Hier aber stolperten unbekümmert weiter wachsende Geschwister über den verkrümmten Körper, waren die Augen nicht schon wieder ein Stück weiter eingesunken seit der letzten Kameraeinstellung? Der Raum hatte ein Zentrum bekommen, aber es war ein totes.

Eigentlich wollte ich gar nicht hinschauen, aber wie unter Zwang rief ich die Seite immer wieder auf. Es war eine Mischung aus – makabrer wissenschaftlicher Neugierde, wie würde der Verfall wohl weitergehen? –, aus Schau- und Sensationslust, einer Spannung auf den „Ausgang“. Würde die Mutter den Kleinen entsorgen? Würde der Wächter der Kamera des Nachts eingreifen? Sie würden doch nicht anfangen, den Kleinen mit den Mäusen zu verwechseln? Dazu ein wohlig schillerndes Gefühl der Trauer, im 18. Jahrhundert mit seinen melancholisch-empfindsamen Unterströmungen nannte man das den „joy of grief“; ein seltsamer Cocktail aus Verlust, Em-pathie, ein wenig Wut über den allzu natürlichen Gang der Natur. Keine feststellbare Beimischung aus übertragener Todesangst im Übrigen, sondern vor allem: das Empfinden der Erbarmungswürdigkeit der völligen Einsamkeit und des Alleingelassenseins. Da liegt ein Kadaver in der Mitte, und das Leben geht über ihn hinweg, blicklos, gedankenlos. Mit jedem Moment wurde das Küken toter; wusste die Mutter überhaupt noch, dass es einst fünf Schnäbel waren, in die sie Mäuseteile stopfte? Warum hatte sie ihn nicht schon aufgegeben im Ei? Spürten die anderen Küken, irgendwie, das etwas fehlte ganz unten im Haufen? Aber sie wuchsen so schnell jetzt!

Als ich am Abend ein letztes Mal einschaltete, war der Kadaver verschwunden. Es waren auch insgesamt, wie sich nach langem Beobachten herausstellte, nur noch drei, jetzt ziemlich groß und gesund aussehende Küken, der mit der wunden Stelle am Hals war nicht mehr dabei. Und es schien mir geradezu symbolisch, dass der Größte von allen inzwischen die erste falkenartig gemusterte Schwanzfeder entwickelt hatte, die einen deutlichen Kontrast zum immer noch weißen Flaum bildete. Hatte die Mutter die beiden Schwachen aus dem Kirchturm gestoßen? Der Falkenmeister würde es uns wohl schonend er-klären, demnächst im Falkentagebuch; wie natürlich das sei, und nur für uns Menschen schockierend. Weil menschliche Gefühle halt so seltsam sind, so unberechenbar – und das meine ich gar nicht im üblich pathetisch-sentimentalen Sinn (keine Maschine kann das jemals ersetzen, jaja), sondern rein sachlich: unkalkulierbar. Was man in einer bestimmten Situation fühlen wird, weiß man selbst immer erst hinterher, so wenig kennt man sich selbst oder gar „den Menschen“. Gefühlsprognosen sind das Material, aus dem schlechte Romane und Filme gemacht sind, auf der Basis eines sehr vagen Kalküls aus viel zu wenig Daten und Phantasielosigkeit, dazu einer großen Dosis Wunschdenken. Man kann es gar nicht vorher wissen, weil es so eine bizarre Mischung ist. Und nun weine ich, beinahe automatisch, doch ein wenig beim Schreiben in den frühen Morgenstunden noch unter dem Einfluss des segensreichen, aber schlafabwendenden Kortisons bei der gestrigen Chemo, um meinen sehr kleinen Freund mit seiner sehr schwachen Totenwürde. Aber dann erinnerte ich mich an das kluge Wort eines entfernten Freundes nach dem Tod meiner Schwester, die Toten hätten ihren Frieden (es war das Einzige gewesen, das geholfen hatte damals): Und auf einmal konnte sich sie sehen, die Totenwürde des kleinen Falken und seinen winzigen tapferen Falkenfrieden.

Und schon der zweite Abwesende rührte mich nur noch auf eine sehr schwache Weise, so brutal bin ich nämlich auch: Er war zwar nicht von Anfang an totgeweiht gewesen, so versuche ich das zu rationalisieren, aber er hatte eine Krankheit bekommen, und war das nicht irgendwie schon das Kainsmal der Schuld? Er hatte immerhin eine Zeitlang zum Hau-fen gehört, er war nicht ausgesondert von Anfang an, er hatte schon mitgedrängelt. Und wahrscheinlich hat er einen schnellen Tod bekommen, eine langsame Auszehrung. Er war das nötige Opfer zum Gedeihen der Geschwister, der Fortsetzung der Generation, dem Überleben der Gattung. Aber von Anfang an schon zu viel sein; ein Irrtum der Natur mehr als eine Schwäche; zu sterben, ohne das Licht der Sonne ge-sehen zu haben, weil man immer ganz unten im Haufen war, und wenn man die Augen einmal öffnete, schmerzten sie wahrscheinlich von dem grellen Licht; und am Ende da zu liegen, ausgesetzt auf einmal, immer weniger werdend, während der Tod in einem wächst – das schien mir ein schon fast menschliches Sterben.

Zuhause