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Tierheim



 


"Denn da hatte sich das Tier gezeigt"

Kleines Bestiarium für Tier- und Lesefreundinnen, 
mit aufgefrischten Fabeln, Gedichten und Geschichten
von Katzen, Kraken, Flöhen, Glühwürmchen und anderen Kreaturen, 
mit Tier- und Menschenphilosophie angereichert 
und ein wenig Wissenschaft zum Schluss 

Von Penelope Papillon



Inhalt: 

 Begünstigte Tiere. Anstelle einer Einleitung 

I. Aufgefrischte Fabeln

Nemo beim Zahnarzt - Das Model und der Frosch - Kingkong und der Popstar - Garfield im Restaurant - Das Moorhuhn und der Bürojäger - Das letzte Einhorn auf dem Ponyhof - Dumbo beim Schönheitschirurgen - Esel beim Psychotherapeuten - Kung Fu Panda und der Geheimagent - haekelschwein im Weltall - Furby und die Feministin - Paul der Krake beim Orakel - Homo Sapiens im Menschenzoo

II. Das Tier im Gedicht

Sym-Biose - Koala - Ameisenbär - Glühwürmchen

III. Tiere im Leben und in der Literatur

Singzikaden, oder: Mein day of the locust - Flöhe, Tragik und ein wenig Kafka. Variationen über eine Parabel - Tod eines Kükens - Annäherung an den Kranich (in drei Schritten) - Partygespräche und Nacktschnecken

IV. Tier- als Menschenphilosophie

Katzen-Philosophie - Bonding - Interkulturelle Tiervergleiche - Der Philosoph und sein Hund. Ein österliches Geistergespräch - Bären-Philosophie

V. Ein wenig Literaturgeschichte

„Denn da hatte sich das Tier gezeigt“ – Rilkes Tiergedichte

Übergangswesen: Der Yeti. Anstelle eines Schlussworts

  Tier-Register

Kleines Bestiarium
(vollständige Version zum Download)
tiergeschichten_2024.pdf (3.13MB)
Kleines Bestiarium
(vollständige Version zum Download)
tiergeschichten_2024.pdf (3.13MB)




Leseprobe


Die Harpyie, schön und schrecklich


Der Vogel starrte mich an. Die Augen waren groß und sehr dunkel; sie hatten eine perfekte Form, wie übergroße Mandeln mit sich freundlich nach oben schwingenden Kajal-Winkeln am Ende; keine Visagistin hätte das perfekter und symmetrischer machen können. Dass die Nase hakenförmig und eigentlich ein spitz gebogener Raubtierschnabel war, fiel kaum auf, so zierlich und gleichmäßig passte sie sich in das beinahe kreisrunde Gesicht ein. Der ganze Kopf war von einem wolligen Mittelgrau überzogen, das in leichte Wellen gelegt war; darüber thronten einige neckisch aufgestellte Löckchen, einen perfekten Kranz bildend, und darüber zum krönenden Abschluss zwei dunkelgraue Plüschohren, die die Wellenbewegung des Kranzes in vollendetem Schwung aufnahmen. Der ganze perfekte Kopf thronte auf einem schlanken Raubvogelkörper in elegantem Schwarz-Weiß. Und er wirkte – gleichermaßen unfassbar weiblich und unfassbar befremdlich. Schön und beängstigend, beunruhigend in höchstem Maße und doch so, dass ich den Blick nicht abwenden konnte. Das Tier, das mich bei meinem Wochenendbesuch im Nürnberger Zoo so in seinen Bann zog, war, wie ich dem Schild entnehmen konnte: eine Harpyie.

Eine Harpyie? Waren das nicht Gestalten aus der griechischen Mythologie? Die Erinnerung war nur sehr vage, aber ich war mir ziemlich sicher, dass es sich nicht um freundliche Wesen handelte, sondern – eben um diffus bedrohliche. Eine Harpyie, bis vor zehn Metern hätte ich gedacht, dass es das doch gar nicht gibt, im wirklichen Leben; und doch saß sie hier, und starrte, und ich konnte den Blick nicht abwenden. Rilke schoss mir durch den Kopf, das bekannte Zitat vom Schönen, das nur des Schrecklichen Anfangs ist (Duineser Elegien, es geht um Engel, nicht um Harpyien), aber vielleicht war es ja auch umgekehrt und das Schreckliche ist nur des Schönen Anfang? Doch jetzt musste erst einmal geforscht werden. Also, die Lektüre einiger Wikipedia-Artikel später:
Die mythologischen Harpyien waren vor den realen da, jedenfalls vom Namen her. Denn erst Carl von Linné benannte im 18. Jahrhundert eine südamerikanische Adlerart so, die vor allem in Mittelamerika in den Regenwäldern lebt und heute beinahe ausgestorben ist; er benannte sie nach den griechischen Mischwesen. Denn die antiken Harpyien waren ihrer Art nach Mischwesen, und sie bestanden: aus einem Frauenkopf auf einem Vogelkörper. Schnell wie der Sturmwind sollen sie gewesen sein: „reißender Sturm, schneller Wind“ ist auch die Wortbedeutung ihres griechischen Namens. Wie immer in der Mythologie, sind ihre Familienverhältnisse reichlich unklar, das lassen wir aus, nicht einmal ihre Anzahl steht so recht fest. Anfangs waren sie schöne und verführerischen Frauen, und später waren sie gorgonenartige hässliche Frauen. Die Geschichten, die von ihnen in diversen Quellen erzählt werden, sind durchgängig beängstigend und/oder unappetitlich. Prinzipiell hatten sie die Aufgabe, im Auftrag des Göttervaters Zeus die Seelen der Toten ins Totenreich zu befördern und dabei noch ein wenig zu quälen (vor allem, wenn sie es verdient haben; Vatermörder und so). Aber manchmal hatten sie auch eine besondere Mission: So durften sie beispielsweise den bilden Seher Phineus quälen (auch er hatte Zeus geärgert), dem jeden Tag eine reichliche Tafel aufgetischt wurde – und kaum griff er nach den Leckerbissen, schnappten die flinken Bestien ihm die Bissen vom Mund weg. Oder sie – äh, entleerten sich darauf. Dann mochte er nicht mehr essen. Soweit Wissen von Wikipedia. Ich blicke wieder auf.

Die Harpyie vor mir blinzelt nicht, sie bewegt nur manchmal eher eulenartig den Kopf; sie ist immer noch weiblich, sie ist immer noch schön, zweifelsohne ist sie schön, und ich werde den Eindruck nicht los, dass sie das auch weiß! Dann ändert sie ein wenig die statuarische Pose, und dann – nun ja, dann entleert sie sich. Ich hatte zum Glück der Versuchung widerstanden, Popcorn oder Salzbrezeln zu kaufen, auch wenn beides außer Reichweite des schön-schrecklichen Tieres gewesen wäre. Dass diese Wesen Menschen tragen können und hässliche Dinge mit ihnen veranstalten, ist im Übrigen durchaus vorstellbar: Es handelt sich um sehr, sehr große Greifvögel, die Weibchen noch deutlich schwerer und kräftiger als die Männchen. Sie sind überzeugte Fleischfresser, die sich vor allem von Faultieren (nein, kein billiger Scherz; Folivora) und kleineren bis mittelgroßen Affen ernähren (wer weiß, was ihnen hier im Zoo in Gefangenschaft aufgetischt wird? Durch die regionalen Zeitungen gingen gerade Geschichten von der Überbevölkerung des Pavian-Geheges….)? Und sie sitzen hier natürlich in bemitleidenswerten kleinen Volieren; was ein Schicksal ist, dass noch nicht einmal blutrünstige fleischfressende Bestien verdient haben (zumal wenn sie im Auftrag des Donnergottes unterwegs sind, des größten Monsters der antiken Mythologie).

Aber die Frage lässt mich nicht los, ob nun die mythologischen Figuren oder die realweltlichen Vögel zuerst waren: zu schlagend sind die Parallelen, im Aussehen, im Verhalten, in der ganzen Imaginationskette, die sie auslösen. Und für viele, wahrscheinlich: für die meisten mythologischen Konstrukte gilt ja, dass sie eine Art natürlichen Kern haben, eine reale Verwandtschaft mit, eine Analogie zu Naturphänomenen; die menschliche Phantasie, selbst die von ganzen Zivilisationen, bringt es nicht auf diejenige Kreativität, die die Evolution ganz nebenbei entfaltet hat (die Kreativität der Evolution heißt: Artenvielfalt). Andererseits ist das Habitat nun tatsächlich falsch, selbst wenn man davon ausgeht, dass die Art früher weiter verbreitet war: Es ist ein amerikanischer Adler. Andererseits, andererseits: ist die Harpyie in die Heraldik – die auch nur eine Art ikonographischer Abkürzung mythologischer Bildtraditionen ist, damit man sie auf Schilde malen konnte – eingegangen als: „Jungfrauenadler“. So heißt der deutsche Fachbegriff, und er meint: einen stilisierten Frauenkopf (einer jungen Frau, deren Unschuld impliziert wird) auf einem stilisierten Adlerkörper. Ist die Harpyie doch ein archetypisches Artefakt der menschlichen Phantasie? Und warum gibt es keinen Jungmannadler?

Die Harpyie schaut mich an. Ach, ihre Augen sind so schön und so schwarz, man könnte versinken in ihnen. Wen interessiert es, dass sie sich auch dann und wann entleeren muss; dass sie einen scharfen Schnabel hat und scharfe Krallen und gerne Affen zum Frühstück isst? Sie baut ihr großes, geräumiges Nest ganz oben in den großen Regenwaldbäumen, nahe am Himmel; sie zieht nur alle zwei Jahre ein Jungtier auf, das von beiden Eltern monatelang gefüttert und umsorgt wird. Und sie ist ein Wesen, das es wahrscheinlich bald wirklich nur noch in der Imagination geben wird. Bevor ich mich zum Gehen wende, schweren Herzens (am liebsten würde ich ein Loch in die Voliere reißen und zusehen, wie sie ihre schönen, schweren Flügel entfaltet), sage ich ihr noch, dass sie in meinem Kopf bleiben wird; nicht nur als totes Zeichen für die Verwandtschaft von menschlicher Imagination und natürlicher Artenvielfalt, sondern als lebendige Erinnerung an ein bisher noch nie erlebtes, sehr gemischtes und sehr besonderes Gefühl von Bedrohung, Faszination und Bewunderung in Einem. Dass das Schöne nur des Schrecklichen Anfang ist (oder umgekehrt), das kann jeder sagen; aber das Gefühl dazu zu finden, ist gar nicht so einfach.

Zuhause

 

 

Sym-Biose

 

Wenn Hunde Philosophen wären,
würden sie mit der Nase denken.
Gerüche sind komplex. Sie ändern sich
mit jedem Atemzug,
Sie sind fälschungssicher.
Darunter ist die Wahrheit
eines Körpers. Einer Umwelt.
Der Hund ist immer auf der Spur.
Sein Leben lang.
Er bleibt ein Skeptiker.

Wenn Elefanten Philosophen wären,
würden sie mit dem Rüssel denken.
Rüssel riechen. Fühlen.
Nehmen. Geben.
Essen. Trinken.
Drohen und liebkosen.
Kämpfen und umschlingen.
Sich putzen. Tauchen!
Prusten! Posaunen!
Am andern Ende hängt ein Körper dran.
Massiv. Verstärkungsmasse.
Resonanzboden
für so viel sinnliche Erkenntnis.
Alles in Einem.
Ich bin ein Rüssel. Also bin ich.

Wenn Vögel Philosophen wären,
würden sie mit den Flügeln denken.
Wer will schon gehen, wenn er Flügel hat?
Sie schweben drüber.
Wissen, woher der Wind weht
und wohin.
Meta-Physik, am Himmel
Linien ziehend,
Muster bildend,
abstürzend, aufsteigend,
erhaschen sie Gedanken im Flug
und reißen sie zu Boden.
Sie bauen Nester aus Ideen
und ziehen weiter.
Systeme sind für Fußgänger.

Wenn Insekten Philosophen wären,
würden sie mit dem Panzer denken.
Exoskelett: hart, eine Stütze, eine Form,
und doch gleichzeitig biegsam und beweglich.
Das Innen ist geschützt. Umhüllt.
Und doch kann es sich wandeln:
Es häutet sich gelegentlich.
Metamorphose.
Nur Menschen bleiben immer
in ihrer Haut gefangen.

Sieben Mägen zählt die Kuh.
Sieben Leben zählt die Katze.
Zehntausend Wimpern hat das Pantoffeltierchen.
Dreißigtausend Einzelaugen die Libelle.
Das größte Lebewesen der Erde ist
ein Pilz.
Ohne Pilze gäbe es keinen Tod.
Sie verdauen. Sie wandeln um.
Sie wachsen unter der Erde, unsichtbar.
Sie gehen Symbiosen ein.

Der Mensch hat ein Gehirn.
Ungezählte Synapsen.
Es kann wahrnehmen.
Und lügen.
Es kann sich erkennen.
Und sich verstellen.
Die Reflexion: ein Spiegelkabinett,
das Selbstbewusstsein: eine Kleiderkammer,
die Seele: eine Schutzbehauptung.
Sein Gehirn ist eine Waffe.
Wenn es nicht tötet,
könnte es lernen.
Mit einem Sprung
zurück
aus dem Glauben
an die eigene Überlegenheit
(über-legen: oben liegen
im Kampf, verwandt zu:
unter-drücken)
in das Wissen
um die
Leistung
eines Tieres.

Sym-Biose: Mit-Leben.

 


Singzikaden, oder: Mein day of the locust

 

1. Von Singzikaden. Auftakt mit Kortisonbegleitung

Es war am Chemotag, und ich las am Nachmittag diesen Artikel in der NZZ. Doppelseitig war er und vom Thema her etwas abseitig (ich liebe an dieser Zeitung, neben ihren unsterblichen Helvetismen und ihrem Mut zum Unkorrekten, dass sie abseitigen Themen gern Doppelseiten widmet!): Es ging nämlich um die amerikanische Singzikade, Magicicada septemdecim, und relativ gleich zu Beginn stolperte ich über den Satz, dass diese erstaunlichen Tiere kein Hirn hätten. Nun war ich gerade im schönsten Kortison-High, und die Vorstellung, kein Hirn zu haben, schien mir etwas überproportional belustigend, auf jeden Fall jedoch attraktiv genug, den länglichen Artikel zum abseitigen Thema entschieden in Angriff zu nehmen. Und beim Weiterlesen reihte sich Perle an Perle! Dieses wunderbare Tier nämlich, das es nur in den US of A gibt (kein Hirn, soso, nur in USA, schmunzelte es in mir etwas boshaft), hat einen ziemlich einzigartigen Lebenszyklus: Es vegetiert entweder 13 oder 17 Jahre tief unter der Erde dahin und ernährt sich spartanisch von Wurzelsäften, bevor es schließlich – aber nein, überstürzen wir nichts, sondern verweilen ein wenig bei den einzelnen Perlen, bevor sie wie so oft vor die ziemlich quer- und allesfressenden Säue geraten.

Denn das Erstaunliche sind natürlich, vor allem für Mathematiker, die 13 oder 17 Jahre: Primzahlen, die stärkste Symbolsprache der reinen Mathematik. Die Singzikade braucht dafür kein Hirn und auch keinen Supercomputer auf Primzahlensuche, sondern nur einen Instinkt, aber der sagt ihr: Sei bloß nicht so blöd, immer in Jahren aufzutauchen, die durch 2 teilbar sind oder durch eine der anderen niedlich kleinen Zahlen, die die Menschen und komplexere Organismen so lieben für ihre einfachen Uhren und komplizierten Gehirne! Nein, wenn man sich den Primzahlen anvertraut, gerät man erwünschterweise ziemlich ins Abseits; Primzahlen nämlich sind, sozusagen, die Einzelgänger unter den Zahlen. Nicht teilbar, außer durch 1 und durch sich selbst (und ist das nicht ein wahrhaft schönes Identitätsideal?); teilerfremd mit dem großen Rest der Welt, der es heimlich mit den geraden Zahlen hält (immer mindestens noch durch 2 teilbar, na gut, das mag ein Beziehungsideal sein, aber Zikaden haben, wir kommen später dazu, ganz eigene Ansichten über Beziehungen). Zum Beispiel begegnet man ziemlich selten der Nachbarpopulation, die gerade ein Jahr versetzt in ihrem 13er oder 17er-Rhythmus ist, und der ganze Wald gehört einem allein! Das gleiche gilt für die allermeisten Fressfeinde. Nein, 13 oder 17, niemand außer dir hat einen Rhythmus von 13 oder 17 Jahren, lieblichen Primzahlen, aber ein wenig spröde. Das sichert dein Überleben. Das willst du. Du willst nur das!

Und so schlüpfen nur alle 13 oder 17 Jahre (je nach Region) einige Millionen sehr unscheinbare Larven aus der Erde und krabbeln, so schnell sie können, den nächsten Baum empor; zur Not tut es auch ein Verkehrsschild, so betonte der Artikel, Hauptsache: vertikal! Mein kortisonumsäuseltes Gehirn sah Zikadenstraßen, Heere von rotäugig glotzenden Larven Baumstämme und Verkehrsschilder überziehen, derweil sie ihre letzte Haut abwarfen; dann fällt sie nach unten ab, was sie nicht tun würde, wenn man lieber – wie es Menschen so gern tun – die so bequeme Horizontale sucht: Horizontal werden wir im Wesentlichen geboren, und horizontal sterben wir, und der aufrechte Gang dazwischen ist nur eine ziemlich kurze Phase im Angesicht des um sich selbst kreisenden Universums, und wenn wir uns mit immer neuer Kleidung verpuppen, bilden unsere abgestreiften Larven hässliche Müllberge und müssen verbrannt werden. Währenddessen sind die Zikaden in der Baumkrone angekommen; und dann beginnen sie mit ihrem Gesang. Die Männchen natürlich nur; wie immer dient der Gesang, auch wenn der Mythos anderes sagt (dazu später), ausschließlich einem einzigen Zweck, und das ist das Anlocken von Weibchen, mit dem geradlinigen Ziel, möglichst schnell und möglichst viel Sex innerhalb kurzer Zeit zu haben, und dann – nein, schön langsam! Was ist die nächste Perle?

Gesang, man ist sich ja nicht ganz sicher, ob das das richtige Wort ist. Was passiert, ist folgendes: Millionen Zikaden beginnen mittels eines Trommelorgans, einer gewölbten Schallmembran über einem Hohlkörper, der durch Muskelkontraktionen in Schwingungen versetzt wird, ihren himmlischen (für den Mythos und die Dichterfreunde), für die benachbarten Dörfer und Städte in Zikadenregionen jedoch wohl eher höllischen Chor: Nicht entfliehen kann man ihm, Tag und Nacht wird getrommelt, was das Zeug hält, und alle Fressfeinde der Welt schaffen es nicht, dagegen anzukillen. Zu ihnen zählen vor allem Vögel, Eichhörnchen und – Menschen; das Zikadenbarbecue erfreut sich einiger Beliebtheit, ist aber nichts für Zartbesaitete und empfindlich Hörende und wohl eher ein Rache- als ein Genussakt. Aber auch Menschen, die erfolgreichsten Allesfresser des Planeten und gerade in den US of A wohltrainiert in der sportlichen Disziplin des all you can eat, können gegen Zikaden nicht anfressen: predator satiation, das ist ihr fieser Trick; Überfluss, reine Masse, das ist ihr Erfolgsgeheimnis. Gehirn, ach was. Alles, was Gehirn habt, wird früher oder später vom Menschen ausgerottet. Nicht so Singzikaden! 

In meinem Hinterkopf spukte derweil das nächtlich-mechanische Grillenzirpen, das mir in letzter Zeit schon so manche halbschlaflose Nacht instrumentalisiert hatte; aber das ist eine völlig hirnlose Verwechslung. Zikaden sind nämlich weder Grillen noch Heuschrecken; sie fressen die Landstriche, die sie beschallen, keinesfalls ratz-fatz-leer, sondern bleiben auch nach dem Schlüpfen genügsame Veganer und sind Vollzeit mit Singen und Sex beschäftigt. Hübsch anzuschauen sind sie dabei aber nicht direkt: Insekten halt, mit großen gespenstisch roten Facettenaugen und einem seltsamen W-Muster auf den durchsichtigen Flügeln, das schon zu den lustigsten Verschwörungstheorien beflügelt hat (die Menschen, mit Gehirn, nicht die hirnlosen Zikaden), aber trotz Kortison-High verweigert mein Gehirn eine gefällige Assoziation diesmal. Außerdem riechen sie ziemlich übel, die Zikaden, vor allem wenn sie in Scharen tot von den Bäumen fallen. Das ist nämlich das Ende vom Spiel: Nachdem das Geschrei genug Weibchen angelockt und man in einer Dauerorgie so viel Nachkommen gezeugt hat wie eben möglich (es sollen um die fünfhundert Eier pro Weibchen sein), und sobald die lieben Kleinen geschlüpft sind und schon wacker mit den Trommelorganen flattern (nein, das sind natürlich die Falken, die ich in der Falkenkamera beobachtet habe, bis das Küken starb jedenfalls) – direkt nach Erledigung des Reproduktionsgeschäftes also fallen die Eltern tot vom Baum. Lebenszweck erfüllt, und Ruhe ist (endlich, stöhnen die erschöpften Anwohner, ihnen ist noch ganz übel vom Zikaden-Barbecue letztes Wochenende)! Die Kleinen sollen gefälligst für sich selbst sorgen. Was sie auch tun, hirnlos geboren, wie sie sind: Sie gehorchen brav ihren Instinkten, vergraben sich eiligst unter die Erde und bleiben schön dort, 13 oder 17 Jahre lang, den Primzahlen getreu! Erziehung kann so einfach sein!

Nun, das waren bisher die üblichen Bizarrerien der Evolution, wundersam geformte kleine Perlen, auch gut für den einen oder anderen metaphorischen Nebensinn. Aber es kommt noch eine Nebengeschichte und Prachtperle, die wie eine Satire der Evolution auf sich selbst klingt. Es gibt also, so lerne ich gegen Ende des Artikels, einen speziellen Parasiten, der Zikaden gern befällt, Massospora cicadia wird er passenderweise genannt; und er trifft die Zikaden zielsicher an ihrem heikelsten Punkt überhaupt, nämlich: den Genitalien der Männchen. Sie werden dadurch unfruchtbar, aber nicht etwa weniger geil, oh nein: Der Sexualtrieb wird sogar gesteigert! Geradezu hysterisch versuchen die befallenen Männchen nun sogar die Weibchen und ihr typisches Flügelschlagen zu imitieren, um damit noch mehr Männchen anzulocken, mit denen sie sich dann hurtig – pseudo-paaren und die fehlgeleiteten Sexualpartner dabei anstecken! (nein, die sich aufdrängende moralistische Deutung lassen wir aus, das ist alles Natur und sonst nichts). Die beflügelnde Wirkung wird übrigens erzeugt durch einen Stoff, der psychedelischen Pilzen ähnelt, sowie einem Amphetamin-Cocktail; das Stöfflein drosselt den sowieso schmalen Appetit und verstärkt die Konzentration auf das Einzige, was den Zikaden bleibt, nämlich: Sex und noch viel mehr Sex! Es ist Viagra on speed, sozusagen. Natürlich sind gehirnbegabte Menschen deshalb schon lange auf die Idee gekommen, die berauschten Zikaden zu verschlingen, um in einen ähnlich euphorischen Zustand zu gelangen. Klappt aber nicht, predator satiation: Man müsste mehr essen, als man kotzen kann! Ende des Artikels, das Kortison kichert noch ein wenig vor sich hin, und im Garten zirpt eine Grille, wenig melodisch und ganz allein. 

[...]


Nacktschnecken und Partygespräche

1 Party-Gespräche zwischen Regentropfen und Katzenpfoten

 

Es hatte geregnet, heftig sogar, aber zwischendurch konnte man sich in den Garten wagen, wo es von den Bäumen und dem aufgeschlagenen Zelt tropfte. Das Wetter bildete naheliegenderweise ein dankbares Gesprächsthema, zumal sich die meisten Gäste nicht kannten. Aber man war auch dankbar für die beiden Katzen des Hauses, die sich stoisch zeigten gegenüber Wetterkapriolen und Menschenaufläufen; sie saßen strategisch geschickt unter Biertischen oder tranken zwischendurch besinnlich ein wenig aus dem kleinen Gartenteich, wo sich die Fischer auch nicht daran störten, dass sie nass wurden. Am Teich versammelten sich gelegentlich die (wenigen) Raucher um den einzigen Aschenbecher; es war ein getöpfertes Tier aus lang vergangenen Jugendzeiten, wo man sich so etwas unter Kreativität vorstellte, aber immerhin: Es hatte überlebt, bis hin zu diesem runden sechzigsten Geburtstag der Gastgeberin ¬ der eigentlich nicht genannt werden sollte, aber unausgesprochen über dem tropfenden Garten schwebte und ebenso wie die Anreisemodalitäten (im Stau gestanden? eine der unzähligen Bahn-Schauergeschichten erlebt, die jeder, der es bis in dieses Alter geschafft hatte und sich noch in einen Zug bewegen konnte, in reicher Auswahl vorweisen konnte?) die Gespräche durchflocht. Später kam noch ein Hund, das war eine willkommene Abwechslung, denn alle Katzengeschichten waren inzwischen erzählt, und das Wetter blieb wechselhaft, und jetzt waren auch alle angekommen. Es hatten sich die ersten Grüppchen gebildet, entweder von Leuten, die sich kannten, oder von Leuten, die sich gerade kennenlernten, und man konnte viele Gespräche auffangen, die nach dem Muster „Braut oder Bräutigam?" versuchten, die Beziehung des jeweiligen Gegenübers zum ungenannten Geburtstagskind zu eruieren: Schon seit der Schulzeit, wirklich? (Schulzeit, immer ein guter Gesprächsstoff, auch wenn man sich unter werdenden Frührentnern aufhält) Beim Studium, das war doch damals in Erlangen, richtig? Vergangenheiten taten sich auf, tiefere und näherliegende; Beziehungsmuster entstanden, und zwischendurch erwog der Gastgeber launisch, ein Preisausschreiben zu starten nach dem Muster: Wer kann die originellste Geschichte erzählen, wie er das (nicht so genannte) Geburtstagskind kennengelernt hat? Und es hätte einen klaren Favoriten gegeben, nennen wir ihn: den Grafen von Malabar, er war hochgewachsen, gut gekleidet, angenehm vorgealtert und ein unprätentiöser Quell von abwegigem Wissen und guten Geschichten (darunter viele Reisegeschichten; auch ein ergiebiges Gesprächsthema, vor allem unter älteren Bessergestellten, wenn sie mit dem Thema ‚Frührente‘ fertig sind). Aber dazu kommen wir erst später, wenn wir nicht mehr ganz so nüchtern sind.

Inzwischen näherte sich die Nicht-Geburtstagsfeier ihrer gefühlten Mitte; der Grill begann zu glühen, die Katzen hielten immer noch wacker durch, erste zungenlösende Effekte des Alkohols waren zu beobachten. In der Raucherecke stand wieder ein kleines Grüppchen, der Grafen von Malabar war auch dabei, und beobachtete fasziniert und etwas fassungslos, wie zwei Nacktschnecken, die sich mit ihren Artgenossen des Wetters erfreuten, langsam am Rand des Töpfer-Tieres (sollte es vielleicht eine Ente sein?) hochkrochen, um sich dann über die Zigarettenstummel herzumachen (spätere Google-Recherchen erbrachten, dass das Phänomen bekannt ist, es wurde vor allem auf Partys beobachtet; und keiner weiß, was sich die Schnecken dabei denken, wirklich!). Die eine oder andere interessante Vermutung über den Sinn und Zweck dieses Tuns wurde geäußert; und eine der Umstehenden wagte die These, dass die Nacktschnecken insgesamt doch, irgendwie, einen Nutzen im großen Ganzen der Natur haben müssten, da die Evolution da bekanntlich sehr streng vorgeht und alles rausschmeißt, was nicht irgendwo gebraucht wird, und sei es auch in einer sehr entlegenen Kette.

Und um diese Frage seriös zu klären, machen wir hier eine (Nichtraucher-)Pause und schauen in unsere geliebte Wikipedia, auf das wir bei der nächsten Party mit unserem profunden Wissen über den Nutzen von Nacktschnecken damit prahlen können, vorausgesetzt natürlich, dass es genug regnet und sich noch ein oder zwei Raucher finden.

2) Die Nacktschnecke, das unbekannte Wesen

Also, die wichtigste Erkenntnis gleich vorweg: Nacktschnecken sind natürlich keine einheitliche taxonomische Gruppe im biologischen Sinne, nur unser grober Menschenverstand packt diese ungeliebten Schleichgenossen einfach zusammen und schaut nicht in die DNA (oder auf die Geschlechtsorgane, nach denen viele Schneckenarten bestimmt werden). Aber ihre auffälligste Gemeinsamkeit und der Grund für das Zusammenwerfen in einen großen Nacktschnecken-Topf (wenn er mit Bier gefüllt ist, sterben sie; Schneckenbekämpfungsmethoden sind ein unappetitliches, aber auch beliebtes Thema für Partygespräche) ist natürlich das Fehlen des Schneckenhauses; es fehlt aber gar nicht, zweite wichtige Erkenntnis, sondern ist zu unterschiedlichen Teilen nach innen verlegt (es gibt deshalb auch „Halbnacktschnecken“. Ehrlich"!). Bleiben wir nun noch für einen Moment bei dieser unscharfen Einteilung bleiben und überlegen, mit Wikipedia, Vor- und Nachteile dieser speziellen Gehäuse-Taktik. Kein äußeres Schneckenhaus, das bedeutet: Man kann sich nicht mehr in sein Schneckenhaus zurückziehen und ist deshalb Feinden schutzloser ausgeliefert. Es bedeutet auch: Man ist nicht mehr vor Austrocknung geschützt; weshalb ja Nacktschnecken nach allgemeiner Wahrnehmung auch nur bei Regenwetter aus dem Feuchten entstehen und bei Trockenheit – sich vollständig in Rauch auflösen, in einer Schleimpfütze verschwinden, was auch immer. Andererseits, denn jede Schnecke hat zwei Seiten (nein, das Schneckenhaus ist eine Spirale, aber das ist ein anderes Thema, siehe unten): Man ist leichter ohne Haus, das spart Energie; man ist beweglicher, man kommt voran, will sagen, evolutionär gesprochen: Man erreicht andere und mehr andere Nahrung. Und nein, wir machen jetzt noch keine metaphorische Ausdeutung, obwohl sie sich immer mehr aufdrängt (the plot thickens, sagen die Engländer).

Wir bleiben vielmehr noch einen Moment bei der handfesten Biologie und gehen jetzt zu den beiden Nacktschneckenarten, die in Europa besonders verbreitet sind bzw. waren: der Roten Wegschnecke (Arion rufus) und der Spanischen Wegschnecke (arion vulgaris) nämlich! Beide werden mittelgroß und können unterschiedliche Farben auf einer Skala zwischen hellorange und dunkelbraun annehmen. Beide fressen vor allem Laubteile (und sind dabei spezialisiert auf besonders leckere, wie zum Beispiel jungen Salat oder Basilikum), gelegentlich aber auch Artgenossen; Kannibalismus ist verbreitet, und man benutzt die Raspelzunge dafür. Besonderen Wert legt Wikipedia – aus Sachgründen! – auf den Fortpflanzungsakt: Er beginnt mit einem, man stelle es sich vor: Paarungstanz, bei der jede Menge bitterer Schleim abgesondert wird, und zwar von beiden. Denn Nacktschnecken sind zweigeschlechtlich, Zwitter: Und wenn sie nach dem Paarungstanz ihre ausgestülpten Geschlechtsorgane (anhand derer man sie auch bestimmen kann) ineinanderschieben, verschmelzen sie für mehrere Stunden mehr oder weniger zu einem Organismus. Dann, und man stelle sich das Geräusch dabei besser nicht vor, entschmelzen und entknoten sie sich wieder und kriechen ihrer schleimigen Schneckenwege und legen nach ein paar Wochen viel zu viele Eier. Denn wenn das Wetter schön feucht und schneckenfreundlich ist, gibt es leicht Schneckenplagen; in England sollten im Sommer 2007 bis zu tausend Exemplare pro Quadratmeter gezählt worden sind, und in Dänemark gab es einmal einen nationalen Schneckenbekämpfungsplan. Nützt aber alles nichts, denn auf den Transportwegen des globalen Warenverkehrs werden die ansonsten gar nicht so ausbreitungsfreudigen Tierchen immer weiterverbreitet. Zumal sie wenig natürliche Fressfeinde haben, ihres bitteren Schleims wegen; Igel machen angewidert einen Bogen, und lediglich Enten scheinen dagegen immun zu sein (getöpferte auch?). Die Nacktschnecke hat es auch auf kein nationales Wappen geschafft; sie ist niemandes Lieblingstier, es gibt keine Plüschtiere in Nacktschneckenform, und sie taugt nicht einmal für eine ordentliche Fossiliensammlung, des nach ihnen verlegten Restskeletts wegen; und also kann man auf Wikipedia den recht schönen Satz lesen: „Liebhabersammlungen von Nacktschnecken existieren deshalb so gut wie gar nicht“!
Nun haben wir erst einmal genug gelernt und Stoff für einige weitere Partygespräche gesammelt, auch wenn es kein arg appetitlicher ist. Aber unsere Grund- und Ausgangsfrage ist immer noch unbeantwortet, auch wenn die Zigaretten im getöpferten Tier inzwischen alle ausgeglüht sind, obwohl die Stummel sich reichlich vermehrt haben: Wofür sind Nacktschnecken gut im großen Gang der Dinge? Was hat sich Gott bei der Nacktschnecke gedacht? Nun, auch dafür hat Wikipedia zum Glück eine Antwort. Denn der Mensch, das erfindungsreiche Wesen und der verlängerte Arm der Evolution, hat herausgefunden, dass man Nacktschnecken als Versuchstiere benutzen kann; für Stoffe die Schleimhäute reizen oder vaginal eingeführt werden sollen nämlich. Sie können außerdem, das wurde eher zufällig beobachtet, große Mengen an giftigen Schwermetallen aufnehmen, wenn sie sich über solche Böden bewegen. Und damit gehen wir fließend, nein: kriechend über zur symbolischen Bedeutung: Denn was will es uns sagen, wenn wir für ein Wesen, das ein eher zurückgezogenes Dasein führte, bis es sein Haus verlor, vor allem einen Nutzen gefunden haben: Wir können es stellvertretend für uns selbst vergiften?

3) Die Nacktschnecke, eine verborgene Metapher, zum ersten

Aber das sagt mehr über das Wesen des Menschen aus als über das der Nacktschnecke, das ein Weichtierartiges, Bodennahes und Schleimiges ist; nicht der Stoff, aus dem schöne Symbole oder heroische Allegorien gemacht werden. Aber vielleicht eine kleine, bodennahe, sich weich windende ausgebaute Metapher? Denn das Wesen, von dem wir jetzt schon deutlich zu viel gesprochen haben für ein einfaches Partygespräch (dessen Wesen ja eher ein Flüchtiges ist, vielleicht wäre es als Libellenartig zu beschreiben?), hat sein Haus verloren, beinahe gänzlich; die Reste hat es in sein eigenes Inneres verlegt, aber im Großen und Ganzen ist es: unbehaust und damit auch: ungeschützt, nackt den Blicken aller ausgesetzt, unverborgen wie unverberglich. Es hat dadurch an Beweglichkeit gewonnen, zweifellos; aber für größere Strecken benötigt es immer noch technische Hilfsmittel. Mit ihnen aber hat es sich über die ganze Welt ausgebreitet; es wechselt dabei gelegentlich ein wenig die Farbe, aber ist zufrieden, solange es ein feuchtes Fleckchen findet. Fühlt es sich dann allerdings zu wohl, und findet es etwas, was seinen wählerisch unterscheidenden Geschmacksnerven besonders mundet – dann frisst es und vermehrt sich und frisst und vermehrt sich und so weiter – bis es nichts mehr zu fressen gibt, außer kümmerlichen Stummeln. Gelegentlich frisst es sich auch selbst, aber das ist der schwierigste Teil der Metapher, zugegeben. Aber vielleicht hat das, auf eine dunkle und nicht ganz zu erklärende Art, auch etwas zu tun mit dem großen Wert, den es überhaupt auf Sex legt, auf lange und komplizierte Paarungsrituale bis hin zur temporären Vereinigung zum Doppelwesen? Und mit der Zweigeschlechtlichkeit, die ja ironischerweise dazu führt, dass es keine Geschlechtlichkeit mehr gibt – mit der Aufhebung des heteronormativen Dualismus hat man im besten Falle eine diverse Masse Einzelner, und im schlechtesten Falle: einen Einheitsschleim erzeugt. Denn die Schleimigkeit, das ist überhaupt der innerste Wesenskern unseres Weichwesens, das bitteren Schleim erzeugt, absondert und alles mit ihm überzieht; unverdaulich für andere und kein schöner Anblick; aber verschwindend in der Sonne – die das Wesen flieht. Doch es überlebt Cadmium und Nikotin. Eine Zeitlang zumindest.

4) Die Nacktschnecke, eine verborgene Metapher, gewendet und zum zweiten

Ist die Nacktschnecke nicht ein wunderbares Wesen? Ohne Scheu, ohne Verstellung zeigt sie ihr Wesen vor: Hier, das bin ich, nackt, wie der Schöpfer mich gemacht hat. Ihr mögt euch in euren Häusern verstecken und sie immer größer, immer stärker, immer höher machen; es sind doch nur Spiralen ins Nirgendwo, eine Wendeltreppe ins Unendliche, ein metaphysischer Fortsatz. Aber haben wir nicht auch Farben? Glänzen wir nicht tropfenfeucht im Regen, und manche von uns haben ein strahlendes Gelb, andere wieder ein tiefes Orange oder ein sattes Braun – warme Farben, Erdfarben, dem Boden angepasst, auf dem wir bleiben, unser Leben lang. Nichts treibt uns hinauf in die verwegene Vertikale; der Horizont ist unsere Lebenslinie, und jedes Blatt gibt uns Schutz und Heimat. Unsere Fühler sind feine Werkzeuge, Antennen zum Universum der Sinne; unser Schleim ist ein Kunstwerk, und die Linien, die wir mit ihm ziehen, könnt ihr nicht berechnen. Wir fressen nur die feinsten, aromatischsten, zartesten Kräuter; wir sind nachtaktiv und paaren uns gern im Dunkeln, aber dafür verschmelzen wir mit all unseren Organen ineinander. Wir lieben das Feuchte und das Warme, aus dem wir alle kommen, egal ob wir harte Schalen haben oder weiche Körper. Wenn eure Häuser zu Ruinen zerfallen sind, werden wir noch da sein; doch unsere Spuren vergehen mit uns.

5) Der Graf von Malabar und seine Nacktschneckenzucht

Und damit können wir jetzt, dritter und letzter Teil der Party, nach reichlich Alkoholgenuss und mit vollem Magen, wenn auch etwas fröstelnd ob des bleibend feuchten Wetters, zur großen Abschlussgeschichte ausholen. Sie handelt vom Grafen von Malabar, der einem heute beinahe unbekannten mecklenburgischen Adelsgeschlecht entsprossen ist. Über den Namen existieren mehrere Legenden. Einige wollen ihn auf eine junge indische Sklavin zurückführen, die eine frühe Kolonialisierungswelle in den kalten und beinahe noch gänzlich unerschlossenen Osten Europas geführt hatte, eine Art indische Pocahontas und ihre Nachkommen; andere auf ein Missverständnis einer französischen Redewendung für schlechte Kneipen (mal à bar). Dieser Graf von Malabar nun hatte einen großen Lebenstraum: Während all seine Nachbarn sich gerade auf die Seidenspinnerzucht geworfen hatten und Maulbeerbaumplantagen auf dem mecklenburgischen Sandboden angelegt hatten, wollte er eine Nacktschneckenzucht aufbauen. Er hatte nämlich eine Theorie entwickelt, dass die Spanische Wegschnecke, wenn man sie mit tabakgetränkten Salatblättern fütterte, nicht nur um ein Vielfaches größer werden würden, sondern auch einen speziellen Schleim produzieren könnten, der dem mecklenburgischen Bier einen ganz eigenen Geschmack geben würde. Leider kamen die eigens aus den spanischen Provinzen importierten Wegschnecken allesamt in der kurzen Erwärmungsphase, die der damaligen ‚kleinen Eiszeit‘ vorausging, ums Leben, sie verkümmerten ebenso wie die Maulbeerbäume der Nachbarn, die sie in einem letzten Akt der Verzweiflung noch überfallen hatten. Und es haben sich nur wenige Spuren von diesem kühnen Plan und den Experimenten erhalten, die der Graf von Malabar mit seinen Nacktschnecken unternahm. Überliefert ist lediglich ein handschriftliches, schwer leserliches Manuskript, Von der Hand-Zucht und Inokulation Großer Spanischer Wegschnecken zum Zwecke einer Verbesserung des mecklenburgischen Brauwesens, mit dem der Graf einen Preis bei einer der großen europäischen Akademien zu erhalten hoffte. Das Deutsche Museum verwahrte eine Zeitlang einen Inokulationsapparat, mit dem er die Tabakpflanzenextrakte den Nacktschnecken direkt in die ausgestülpten Geschlechtsorgane injiziert haben soll. Seine Echtheit ist jedoch zweifelhaft, und seitdem militante Tierschutzorganisation ihn in einer Protestaktion mit einem giftigen Schleim aus Kartoffelbrei und Sekundenkleber überzogen hatten, wurde er in einen der vielen dunklen Kellerräume unter der Isar verbannt. Dort wartet er darauf, dass einer der – bekanntlich wenig verbreiteten –Nachtschneckenliebhaber sich vielleicht doch zu einer Spende hinreißen lässt, die die Wiederherstellung des Artefakts und seine Präsentation in einfacher Sprache in der Ausstellung erlauben würde. Eine ehrenvolle Plakette wäre ihm sicher!

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Goethes Tiere


Begünstigte Tiere, oder: Die Bremer Stadtmusikanten mit vertauschten Köpfen


Vier Tieren auch verheißen war,
Ins Paradies zu kommen,
Dort leben sie das ew'ge Jahr
Mit Heiligen und Frommen.

Den Vortritt hier ein Esel hat,
Er kommt mit muntern Schritten:
Denn Jesus zur Prophetenstadt
Auf ihm ist eingeritten.

Halb schüchtern kommt ein Wolf sodann,
Dem Mahomet befohlen:
»Laß dieses Schaf dem armen Mann,
Dem Reichen magst du's holen!«

Nun, immer wedelnd, munter, brav,
Mit seinem Herrn, dem braven,
Das Hündlein, das den Siebenschlaf
So treulich mitgeschlafen.

Abuherriras Katze hier
Knurrt um den Herrn und schmeichelt:
Denn immer ist's ein heilig Tier,
Das der Prophet gestreichelt.

Man meint die Bremer Stadtmusikanten geradezu vor sich zu sehen. Zwar ist der Hahn durch einen Wolf ersetzt, aber nun gut, Hähne haben vielleicht wirklich nichts im Paradies zu suchen, wo auch die Bäche nur sehr still vor sich hinmurmeln. Denn um das Paradies geht es in diesem „munteren“ Gedicht; es geht bekanntlich im ganzen West-Östlichen Divan, dem das Gedicht entnommen ist, gar nicht wenig um das Paradies, und natürlich gibt es viele Paradiese, eines davon christlich, eines muslimisch, und wie sieht es eigentlich aus mit den Tieren im Paradies? Gute Frage, wir vertagen sie erst einmal, um festzustellen, dass das Tiergedicht nicht gar so allein dasteht, wie überhaupt alle Divan-Gedichte sehr stark verknüpft, um nicht zu sagen: vielverschlungen sind. Es wird vorbereitet, angekündigt, angebahnt durch "Berechtigte Männer" (was die Frage beantwortet, wie Männer ins Paradies kommen: nämlich indem sie eine Art Rechtsanspruch erwerben, im Wesentlichen durch Heldentod) und "Auserwählte Frauen" (genau, Frauen werden nicht berechtigt, sondern auserwählt; durch was? Durch erwiesene Treue natürlich, dem Manne gegenüber).

Bleiben wir ruhig noch einen Moment bei den Frauen, den auserwählten, die Auswahl ist nämlich ganz interessant, auch im Blick das Tiergedicht. Natürlich ist sie ost-westlich, also muslimisch-christlich, das war zu erwarten: Sie beginnt mit Suleika (der moralisch nicht besonders gut beleumdeten Frau von Potiphar in der Josephsgeschichte, erzählt sowohl im Koran wie in der Bibel), die aber durch spätere Entsagung gerettet werden kann. Sie setzt sich fort mit der christlichen Maria, der absoluten Mutter; paart sie mit Mohammeds erster Gattin Chadidscha, der einzigen, mit der der Prophet in Einehe lebte, bis sie starb, sie war gleichzeitig seine Financieuse, eine seiner ersten Anhängerinnen und seine lebenslange Verteidigerin. Abgerundet wird die erlauchte Runde opferbereiter Weiblichkeit schließlich mit Fatima, einziger überlebender Tochter von Mohammed und Chadidscha und selbst ein Muster aller Weiblichkeit im Islam bis heute, geradezu kultartig verehrt. Nein, eine gelehrte Frau war wohl nicht zu erwarten, auch keine emanzipierte. Aber immerhin, eine Sünderin (wie Gretchen, sehr viel später)! Zwei muslimische Treue-Ikonen in einer Religion, die die Vielweiberei kennt und das Paradies der berechtigten Männer mit willigen Huris in großer Menge ausstattet! Wer mehr will, muss sich wohl schon selbst in einen künftigen Divan einschreiben!

Tiere nun, um nach dieser orientalisierenden Arabeske nun endlich zum Thema zu kommen, werden „begünstigt“; ein netter kleiner Orientalismus, denn natürlich ist der orientalische Despotismus die Blütezeit der Günstlingswirtschaft (nein, gab es auch im Okzident, so ist das halt mit Stereotypen, sie fallen überall auf fruchtbaren Boden). Man kann aber nicht sagen, dass Tiere in der Bibel „begünstigt“ werden; sie werden vielfach strikt dem Menschen untertan gemacht, und was daraus geworden ist, kann man ja sehen (kein Paradies, nirgends). Allerdings kommen Tiere durchaus vor in der Bibel, aber meist als schlechtes Beispiel oder besondere Strafe (die Schlange. Die Heuschrecken). Ausnahme, und damit sind wir schon mitten im Gedicht: der vortretende Esel, auf dem Christus im Koran und in der Bibel in die heilige Stadt Jerusalem einreitet, das Volk begrüßte ihm mit Palmwedeln, heiligen Pflanzen, und sah darin, dass er nicht auf einem kriegerischen Pferd einritt, ein Zeichen der Demut und des zukünftigen Friedens. Zwar gilt der Esel sonst gemeinhin nicht als „munter“, sondern eher als etwas störrisch. Aber immerhin bekommt er von Gott eine Stimme verliehen, als der brutale Bileam sie (es war eine Eselsstute) schlägt, nur weil sie vor einem Engel gescheut hatte! Na gut, Esel werden berechtigt begünstigt!

Wölfe hingegen –mit der dritten Strophe ist so eine Sache. Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, ist Hobbes und nicht direkt christlich gedacht, wenn auch historisch ziemlich erfahrungsbewehrt. In der Bibel tritt der Wolf bemerkenswerterweise fast nie ohne das Schaf auf, immerhin; und der Prophet Jesaja prophezeit eine neue Zeit, ein wiedergekehrtes goldenes Zeitalter sozusagen, in dem Wolf und Lamm zugleich weiden werden. Was hingegen Mohammed mit dem Wolf zu tun hat, da streiten die Quellen ein wenig; es gibt eine unterschiedlich überlieferte Legende, in der er einen Wolf davon abbringt, eine Hindin zu reißen, aber ihr dafür ein attraktiveres Opfer anbietet. Na gut, der Wolf im Gedicht ist ja auch nur „halb schüchtern“ geworden; ob er sich von der Robin-Hood-Logik wirklich überzeugen lässt, da fragen wir besser seine andere, nicht-schüchterne Hälfte. Aber trotzdem nehmen wir mit, dass das Almosengeben im Islam eine der fünf Glaubenssäulen ist und durchaus einen gewissen Umverteilungsgedanken transportieren mag.

Aber dann, das Hündchen, das Hündchen! Das Hündchen ist eine wichtige Gestalt im Divan. Im letzten Gedicht, Gute Nacht, steht es ganz am Ende, das Hündlein, das treue. Es ist, und natürlich ist die Geschichte wiederum christlich und muslimisch überliefert, das Hündchen aus der Siebenschläferlegende, die im Divan selbst erzählt wird und deshalb hier nicht nachgeplappert werden muss. Wichtig ist nur: Bei den sieben jugendlichen Glaubenshelden, die in einer Höhle ihre Verfolgung verschlafen, schläft nur in der islamischen Variante ein Hündchen mit (manchmal sind es auch drei oder vier, es kommt nicht darauf an). Die Treue, das unbedingte Vertrauen in Gott, das die jungen Glaubenshelden zeigen, wird sozusagen potenziert durch das Hündlein, das über seinen Herrn vermittelt Gott vertraut; dabei immer schön schwanzwedelnd, munter und brav, ganz die fröhliche Hundenatur, sogar im Schlaf sieht man die Schwanzspitze noch ein wenig zucken. Auf jeden Fall berechtigt, vergünstigt und auserwählt! Nicht jedoch in der christlichen Variante. Sie kennt kein Hündchen, gar keines.

Am Ende hingegen steht die Katze, und das ist schon ein wenig tückisch (Katzen halt). Katzen haben jetzt nicht so einen guten Ruf, allegorisch und so (in der Bibel kommen sie praktisch nicht vor). Ein Tier, das um seinen Herrn „knurrt“ und ihm „schmeichelt“ – das ist wohl ein klassischer Günstling, um nicht zu sagen: eine Berufsopportunistin, auf sanften Katzenpfoten schleicht sich die Katze in unser Herz, aber ganz sicher sein kann man sich ihrer nie. Sie wedelt auch nicht mit dem Schwanz, ihre Sprache ist überhaupt viel komplizierter. Aber deshalb kann man ja trotzdem ein „Abuherrira“ sein, ein „Katzenfreund“ nämlich, wie einer der Gefährten Mohammeds, Prophet auch er; er überlieferte genauso christliche Legenden wie muslimische, und er mochte eben Katzen, was ihm den Namen eintrug, unter dem er bis heute bekannt ist. Wahrscheinlich hat Abuherrira seine Katzen gestreichelt, wenn sie ihm umschmeichelt haben. Macht ihn das zu einem besseren oder schlechteren Menschen? Oder einem hellsichtigeren Propheten? Oder doch nur zu einem von Mohammeds Günstlingen? Denn Mohammed mochte auch Katzen. Es ist sogar der Name seiner Lieblingskatze überliefert, Muezza soll sie gehießen haben. Und Mohammed soll es auch gewesen sein, der dafür sorgte, dass Katzen immer mit vier Pfoten auf den Boden fallen, indem er Muezzas Rücken nach der Rückkehr vom Gebet dreimal streichelte. Seitdem fällt die Katze auf die Pfoten. Katzen sind weder berechtigt noch auserwählt ins Paradies zu kommen; sie sind eben einfach begünstigt.

Das kann man für eine zweifelhafte Moral halten. Oder für – nun ja, eine Art von Inklusivität, die dem Fremden seine Fremdheit lässt und es nicht ins eigene Moralsystem einkleidet? Goethe hätte aber wahrscheinlich über beides die Schultern gezuckt. Im Gute-Nacht-Gedicht, das den Divan abschließt, schreibt er sich ein wenig selbst zur Ruhe. Er zieht sich zurück in seine ganz persönliche Siebenschläfer-Felsspalte; um dann, nach langem Schlaf, wieder zum Paradies zu erstehen, „mit Heroen aller Zeiten“, „frisch und wohlerhalten“. Dabei ist, wie könnte es anders sein: das Hündlein gar, das treue (dem Goethe auf der Bühne ja bekanntlich nicht so gewogen war). Denn der Dichter, der west-östliche, er ist „gern gesellig“, dem „Genusse“ nicht abgeneigt und nichts weniger als ein Moralist oder ein Dichter für eine intellektuelle Elite: „Daß die Unzahl sich erfreue“, das ist der Zweck des Divan (na gut, einer der Zwecke, ein halber vielleicht). Die „Unzahl“. Wie erfreut sich eine Unzahl? Das zur gefälligen Meditation allen Berechtigten, Auserwählten und Begünstigten in ihrer persönlichen Felsspalte.


Gute Nacht!

Nun, so legt euch, liebe Lieder,
An den Busen meinem Volke!
Und in einer Moschuswolke
Hüte Gabriel die Glieder
Des Ermüdeten gefällig;
Daß er frisch und wohlerhalten,
Froh, wie immer, gern gesellig,
Möge Felsenklüfte spalten,
Um des Paradieses Weiten,
Mit Heroen aller Zeiten,
Im Genusse zu durchschreiten;
Wo das Schöne, stets das Neue,
Immer wächst nach allen Seiten,
Daß die Unzahl sich erfreue.
Ja, das Hündlein gar, das treue,
Darf die Herren hinbegleiten.


Alles über Walfische. Moby Dick und der Goethe’sche „Wallfisch

Zur Ablenkung von Corona las ich irgendwann Moby Dick. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, irgendetwas zwischen Männerbuch und ewiger Nobelpreiskandidat, whatever. Was ich nicht erwartet hatte, war ein – nun, ein ins Meer versetzter Faust-Kosmos, ein Leviathan von Literatur. Nein, ich meine nicht (nur) Ahab, obwohl er immerhin einen eigenen Mephisto mitbringt (Fedallaha heißt er und Parse ist er, er spricht aber im Unterschied zu Mephisto nicht gar viel) und ganz sicher nicht aufhört, sich strebend zu bemühen, oh nein, im Gegenteil. Ahab hat außerdem eine Art tumben Lehrling an Bord, einen seemännischen Wilhelm Meister (call me Ishmael!) und keine einzige Frau. Dafür haben wir ja Moby Dick, und es spricht einiges dafür, das kann ich jetzt aber nicht in voller Länge darlegen, dass Moby Dick, wie alle Killerwale, eine Frau ist (there she blows! kreischt der Matrose im Ausguck, wenn er endlich den verräterischen Spaut sieht); was wiederum interessant ist, da der Killerwal für Ahab ja auch der Leviathan ist, das biblische Seemonster, und was würde es nun bedeuten, wenn der Leviathan eine Frau – das Ewig-Weibliche gar wäre? 

Aber nein, darüber sprechen wir jetzt nicht. Wir sprechen jetzt über Moby Dick, eine Weltenzyklopädie am Leitfaden des Wales: Was kann man nicht lernen, wenn man Harpunen auswirft vom Wal, umgekehrte Harpunen sozusagen, über Religion, Wirtschaft, Politik? Über Herrschaftsverhältnisse, Geschlechterverhältnisse, Psychopathien und Neurosen? Über Kunst, Literatur und Kannibalismus? Alles kann man lernen am Leitfaden des Wales. Wenn ich Moby Dick dann zum zweiten Mal lese, lese ich auch alles, versprochen; aber bei der ersten Faust-II-Lektüre bin ich auch über den einen oder anderen Mummenschanz hinweggehüpft. Und natürlich ist es ein genialer Trick von Melville, den Leser so lange mit Wal-fun facts zu quälen, dass er am Ende genauso scharf wie der irre Ahab darauf ist, das blöde weiße Monster endlich zu sehen, damit wir es ein- für allemal hinter uns haben! Einmal taucht sogar Goethe auf in Moby Dick, ganz ehrlich. Gespräche mit Eckermann, irgendein Zitat, aber es war nur der endgültige Beweis, dass in Moby Dick alles vorkommt, gelegentlich auch Wale.

Noch mehr gespannt war ich jedoch nach beendeter Lektüre (alle tot, außer Ishmael und Wal, die Fortsetzung demnächst in Farbe), ob bei Goethe eigentlich Wale vorkommen. Im Faust nicht, klar; vielleicht zappelte ursprünglich im Hintergrund einer auf dem durch das verbrecherische Landgewinnungsprojekt freigelegten Meeresgrund, und Philemon und Baucis versuchen noch, ihn mit Wasser zu überschütten, aber es ist zu spät und die Episode wurde in der letzten Korrekturphase von Goethe gestrichen, der Produzent hatte schon gemault wegen der Kosten, jetzt auch noch ein Wal? Oder es hatte sich einer unter das bunte mythologische Meeresgetier gemischt, der Homunculus ist eigentlich an einem Riesenwal zerschellt und dann wieder auferstanden als Ahab, keine Flasche mehr, aber Holzbein? Delphine immerhin springen durch den Faust, sehr schön und lyrisch sogar, die Formulierung erinnert an Rilke, und man möchte sofort zur Delphin-Therapie in die Ägäis starten, aber nein, Corona zieht erst langsam ab (wollten wir doch vergessen!). Eine, um nun endlich auf das Wort zu kommen, Recherche in der Goethe-CD-ROM erbrachte unter „Wal“ – nicht einen Treffer. Umgekehrter Moby Dick, oder was? Na gut, erste Intuition der wortgewieften Redaktorin: Wal schreibt sich wahrscheinlich anders, „Wahl“ oder so, phonetisch halt. Fast richtig. Es schreibt sich „Wallfisch“, und ist das nicht auch viel schöner und imposanter? Zu „Wallfisch“ bekommt frau dann auch erwartungsgemäß das eine oder andere Zuckerle-Zitat. Zum Beispiel die Geschichte vom Walfischkopf, einem übersandten Skelett für die Weimarer Kunstkammer, gut verpackt war das Wundertier angekommen, und Goethe instruiert, dass es in den großen Saal zu den gipsernen Pferdeköpfen kommt; die Schulterblätter des Ungeheuers sind zu seiner Verwunderung mit Schiffen bemalt (machen Walfänger in der Mittagspause, kann man bei Melville lesen, samt einem Vergleich mit der akademischen Walmalerei aller Zeiten und Epochen). Na gut, tote Köpfe, aber echte Fische? Nein, echte Wallfische gibt es nicht bei Goethe. Der Wallfisch existiert für Goethe ausschließlich als naturwissenschaftliche Kuriosität beträchtlichen Ausmaßes (und evolutionäre Vorstudie zum Riesenfaultier, das interessierte ihn mehr, missing link und so) oder als Allegorie: Auf einer Überfahrt nach Sizilien fühlt er sich im Schiff behaglich wie im Wallfischbauch geborgen und plant sein neuestes Drama, mögen die kleinen Schiffe oder Fische draußen vorbeischwimmen, endlich hat man mal Ruhe (erinnern Kreuzfahrtschiffe nicht, irgendwie, an Walfischbäuche? Verschlingen und Ausspeien, Verschlingen und Ausspeien, there she blows!)!

Überhaupt bewundert Goethe am Wallfisch, das zitiert er mehrfach, dass dieser den Strom vertilgt, und nicht etwa umgekehrt. Man sieht geradezu vor sich, wie Goethe sein großes Maul aufsperrt, und dann marschieren die gesamten französischen Revolutionäre hinein, zielstrebig den Schlund hinunter, und am Ende macht Goethe das Maul zu, und der Strom ist weg, ein kleiner Rülpser nur noch, eine halb verdaute Kokarde kommt wieder hoch und verfängt sich zwischen den Barten. Wer aber Wallfische fangen will und nicht etwa kleine Fische, der braucht Harpunen (längeres technische Kapitel bei Melville)! Und Goethe will, symbolisch gesprochen, Wallfische fangen, auch wenn er zwischen den einen oder anderen kleinen Fisch mitnimmt (Maximenschwärme, ungeordnet). Deshalb wirft er seine Harpunen, weit wirft er sie, scharf sind sie, lang ist das unzerstörbare Seil; aber trifft er auch, weithin, wird es gelingen, so wie die übermenschlichen vollkörpertätowierten Kannibalen bei Melville weithin werfen und trotzdem treffen? – aber nein, da springt und bläst sie immer noch, die verdammte Farbenlehre dieses Newton, der einzige mathematisch-physikalische Leviathan, auf den es Goethe wirklich abgesehen hatte, gnadenlos, immer wieder mit Harpunen schmeißend und selbst geradezu ahabmäßig auf mangelhaften Instrumenten dahinhinkend. Newton aber: Das ist ein Strom, den kann man nicht einfach durchlaufen lassen! Wie schön war‘s doch im Wallfischbauch, verseschmiedend und die Welt vergessend! Aber schließlich ist man kein Dichter, der seine Kunden nur mit Honig ködert und süßen Pillen, Dichter sind allerhöchstens Schleier- oder Paradiesfische, gelegentlich mischt sich ein Butt mit ein, und selten nur trifft man einen ordentlichen Raubfisch. Goethe aber, wenn er nicht gerade den Leviathan Newton harpunierte, war selbst ein Wallfisch; eine Art Welt-Leviathan, der die Welt einfach in sich einströmen lässt, einiges bleibt in den Barten hängen, anderes rumort unverdaulich im großen Wallfischbauch und wird wieder ausgespien, eine kleine Xenie verfängt sich dabei immer, aber meistens strömt es, es strömt und fließt, und man muss es strömen lassen, durch sich hindurchfließen, das Große und das Kleine, das Gute und das Schlechte, das Leichte und das Schwere.

Goethe ist aber auch Ishmael, der reisende Schreiber des Wal-Universums, der wandernde Wilhelm Meister aus Nantucket, den es zwischendurch nach Italien verschlagen hat. Und als er (also: Goethe, nicht Ishmael) eines Abends dort vom Bildungs- und Wiedergeburtswerk ausruht, am Himmel flanieren ein paar Wölkchen, die Grillen zirpen herzzerreißend, da schreibt er: Er fühle sich doch einmal in der Welt zu Hause; nein, eigentlich fühle er sich so wie einer, der von einem Wallfischfange aus Grönland in seine eigentliche Heimat, das Land seiner Geburt, zurückkehrt. Der Vergleich ist, gelinde gesagt: unerwartet. Man sitzt in der Toskana, die Brunnen plätschern brav, der Wein ist wohltemperiert und das wohlbestrumpfte Bein dekorativ übergeschlagen, und man imaginiert sich: Grönland? Wale? Harpunen? Eben. Deshalb sind wir nicht Goethe. Wir kommen immer nur bis zur Toskana (und noch nicht mal das seit einiger Zeit). Mehr können wir nicht schlucken.


Mit Goethe auf Vogelfang

Alle Vöglein sind schon da, und man kann sie endlich schießen. In dieser sommerlichen Jagdstrecke von Vogelfang bis Vogelzunge zeigt sich der jägerische, dem geselligen, auch volkstümlichen Geschehen gar nicht abgeneigte Goethe, der sogar das Vogelschießen in Weimar, wie das Fronleichnamsfest in Erfurt (Fronleichnam und Vogelschießen??!!) bunt, bedeutend und anziehend machen möchte: buntes Getümmel allenthalten, ganz osterspaziergangs-mäßig (Goethe erfindet übrigens auch vogelmäßig, und man hätte doch gedacht, alle Komposita auf -mäßig seien Erfindungen der gern semantisch vagen Gegenwartssprache), alle Stände von Weimar sind da, „in einem mäßigen Bezirk“ (anderes „mäßig“, wohldefiniert), und man vergnügt sich ganz unschuldig – bis auf einmal, keiner hat es gesehen, ein junger Bursche auf der Erde liegt, „so todt als je einer“, einen anderen hat es am Arm gestreift, und hätte nicht – jeder von uns totgeschossen werden können? Na gut, dann gehen wir lieber doch auf Vogelfang und Vogelstellen, definitiv ungefährlicher zumindest für die Menschen; der Vogelherd ist schon gerichtet (ein erhöhter Platz), die Leimruten ausgelegt, auf denen die Drosseln zappeln werden, ganz so wie der unbotmäßige Chor im Faust II, dem Phorkyas droht; auf den Leim gegangen sind sie nämlich, und da hilft kein Vogelgeschrei und kein Vogelgesang und kein anrückendes Vogelheer.

Aber natürlich sind die Vögel nicht nur zum Schießen und zum Singen da, oh nein! Man kann sie auch sezieren, den Vogelschnabel oder den Vogelkopf oder das Vogelskelett. Man kann ihre schön changierenden Vogelfedern für die Farbenlehre untersuchen oder die Vogelmilch in der Botanik auffinden (den Wald-Gelbstern). Man kann sogar Vogelnester essen, wie die Indianer (die eigentlich natürlich Inder sind), Goethe lässt sich eines schicken: Das sind mit Schwalbenleim zusammengefügte Schwalbennester aus Indien oder China, läuft einem das nicht das Wasser im Munde - ? Nein, tut es nicht. Springen wir lieber schnell zum Vogelnestgewölbe, was die feinverästelten spätgotischen Kreuzrippengewölbe englischer Kathedralen sehr anschaulich werden lässt. Die Vogelperspektive bleibt hingegen eher schwach, immerhin jedoch ein poetologischer Beleg: Die „wahre Poesie“ nämlich erhebe den Menschen mit all seinem irdischen Ballast in solche Höhen, dass ihm die „verwirrten Irrgänge der Erde“ wie aus der Vogelperspektive erschienen. Wenn sie es doch nur täte! Heutzutage zeigt sie einem eher die verwirrten Irrgänge des Einzelnen aus der Froschperspektive. 

Aber nun gut, dafür hat das Wort Vögeln immerhin Eingang in den allgemeinen Sprachschatz gefunden, auch wenn es bei Goethe nur der lose Hanswurst verwenden darf, der die Mädels mit dem Werther aufgeilt, um sie dann – nun, des Nachts zu „vöglen … das alles kracht“. Oder ein armer holländischer Anatom, der doch nur über unschuldige „Vöglein“ sprechen wollte; aber wer sich im Deutschen verspricht, den bestraft das Leben, und eine Woche später lag er da und musste seine STD mit Merkurium auskurieren! (Akronyme, so praktisch! Und immer korrekt! Geradezu ein Vogelflug über komplizierte Wörter, man erhascht nur die Anfangsbuchstaben und baut ein ganz kleines neues Nest davon! Nur mit Sprachleim!)

Die Vöglein bringen noch mehr Sprachfang ins semantische Netz: den Vogelplanet nämlich, den Goethe gesprächsweise erfindet, neben dem Fischplaneten (und damit mehr Phantasie beweist als viele Science Fiction-Autoren bis heute, die es nur zum Planet der Affen gebracht haben; wenn die Außerirdischen wirklich menschenähnlich wären, möchte man sie schon gar nicht kennenlernen!). Oder die Vogelhecke. Das ist nämlich, lernt die Redaktorin staunend in unser aller Grimmschem Wörterbuch, ein eigenes Wort für die Fortpflanzung der vögelnden Vögel, zugleich der Ort, wo selbige geschieht (muss aber nicht unbedingt eine Hecke im verbreiteten Wortsinn sein) sowie die dabei entstehende Vögelbrut als solche! Der junge Goethe, damals in Sesenheim auf der Pirsch nach den hübschen Sommervögeln, hatte sich bei einem Besuch im strengen Pfarrhaus den Hut weit ins Gesicht gezogen, um sich zu vermummen. Und eines der losen Pfarrmädel führt ihn beim Vater ein mit einem Wortspiel, das so schön ist, dass man es doch eher dem losen jungen Goethe zuschreiben und damit dem Dichtungs-Teil von Dichtung und Wahrheit zuschlagen möchte: Der junge Mann habe nämlich eine Vogelhecke unter dem heruntergezogenen Hut, „die möchten hervorfliegen und einen verteufelten Spuk machen: denn es sind lauter lose Vögel!“ Hört man da nicht schon fast Mephisto herausgrinsen? 

Die armen Vögel, die losen vor allem, aber sind frei: vogelfrei nämlich. Ach, frei wie ein Vogel die Vogelperspektive genießen, Vogelhecken brüten und niemand auf dem Leim gehen! Oh nein, denn: Wer frei ist wie ein Vogel, der war, in Zeiten, wo Leben noch ein echtes Risiko war, eben auch: ungeschützt. Durch keinen Lehnherrn, kein Recht, gar nichts. Noch der einfachste Leibeigene war, zum Glück, unfrei und geschützt. Dass der Vogelfreie dann auch noch geächtet wurde, hat sich wohl erst seit Martin Luther ins kulturelle Gedächtnis eingegraben; Goethe jedoch konnte noch sagen, dass Verleger und Autoren sich fatalerweise selbst für vogelfrei erklärt hätten und nun niemand mit ihnen rechten könnte. Nein, vogelfrei will auch der Autor nicht sein, vor allem: wenn er ein erfolgreicher ist und viel Geld verdienen könnte, wenn die fallenstellenden Nachdrucker nicht wären! Beim Nachdenken darüber könnte man einiges über Freiheit lernen, wenn auch nicht so viel über Vögel, sondern eher über Menschen, die gern Vögel schießen und ihnen Fallen stellen und sich selbst dabei für frei halten.
Am Ende kam der Vogelscheu (nein, keine Vogelphobie) samt seiner Nachfolgerin, der Vogelscheuche. Ein Briefzitat dazu, an den Großherzog Carl August, aus dem Jahr 1826, also zwei Jahre vor dessen Tod. Goethe schickt seinem langjährigen Freund und ehemaligem losen Vogel, inzwischen aber politisch hochdekorierten Arbeitgeber und Erbfürst, zwei Exemplare eines „unerfreulichen Werks“; unerfreulich deshalb, weil die Königliche Hoheit samt dero Gemahlin (Goethe spricht immer akten- und protokollmäßig von hochgestellten Personen, es ist ihm selbstverständlich) darin als „Vogelscheuchen der schlimmsten Art aufgestellt“ seien. Dabei sei es jedoch gleichzeitig „merkwürdig“ (und auch das meint Goethe immer wörtlich), dass gerade die Eigentümlichkeiten der dargestellten Personen (ob positive oder negative, wird nicht gesagt, es spielt auch keine Rolle) dabei „in’s Widerwärtige gezogen“ seien. Laut Goethe-Forschung konnte nicht ermittelt werden, um welches unerfreuliche Werk es sich handelte, und das lässt der Redaktorin natürlich keine Ruhe; wozu hat man schließlich google und damit das Wissen der Welt nicht nur aus der Vogel-, sondern aus jeder nur denkbaren Perspektive? Ein paar geschickte Flugmanöver später fand ich den Deutschen Regenten-Almanach auf das Jahr 1827 mit einem ausführlichen biographischen Artikel zu Großherzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach. Erschienen in Ilmenau, also direkt in der Nachbarschaft, Goethe war oft zum Jagen dort (und die Redaktorin gerade auch, nicht zum Jagen). Herausgegeben, der Almanach also, von Bernhard Friedrich Voigt, Sohn eines langjährigen Weimarer Freundes von Goethe. Na gut, 1827, und der Brief datiert vom 18.4.1826; aber wäre es nicht denkbar, dass Goethe der Artikel vorab zugekommen war, die Vögel fliegen schnell und häufig zwischen Weimar und Ilmenau, und ob sie schreien oder singen, kommt ganz auf den Hörer an? Natürlich lobt der Artikel den Großherzog, sonst würde er sowieso nicht erscheinen; aber wäre es denkbar, dass Goethe hier schon das Vogelscheuchen-Mäßige des personality-Kultes und der Regenbogenpresse und der social-media erkannt hat? Es kommt gar nicht darauf an, ob man gelobt oder getadelt, in den Himmel gehoben oder in den shitstorm gerissen wird; es ist einfach peinlich, solche Dinge öffentlich zu tun, und erst recht: das Verdienst öffentlich zur Vogelscheu aufzustellen. Jede Eigentümlichkeit, so ansprechend und reizend sie im persönlichen Umgang sein mag, wird vergröbert, wenn die unter Fürstenkronen brütenden Vogelhecken, egal ob lieblich oder furchterregend, ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt. Der Vergleich ist eigentlich gar nicht so schlecht, wenn man darüber nachdenkt. Vogelscheuchen, wir sind umstellt von pseudo-berühmten, mit allerlei Mäntelchen behängten und dann an eine Stange geleimten Vogelscheuchen. Na gut, wie immer unfair gegenüber den Vögeln: Sie haben das alles schon längst durchschaut und führen ungerührt ihre lieblichen Vögelgespräche (Titel eines berühmten Werkes eines persischen Dichters des 12. Jahrhunderts, das wir gleich bestellt haben, und dieser neue literarische Vogelfang allein war all diese seltsamen Überflüge wert, die wahrscheinlich eine gute Vogelschau ihres derzeitigen krankheitsgetrübten Geisteszustandes ermöglichen würden: eher mittel-mäßige Auspizien).

Überhaupt ist der Vogel bei Goethe, spätestens seit der Aristophanes-Übersetzung (frei und frech an Weimarer Verhältnisse angepasst), eher ein Schimpfwort. Überall sieht er den oder, schöner, weil altertümlicher: das Chor der Vögel, wie es den vermeintlich so klugen, den Gelehrten, den nase- und schnabelweisen Kritikern vor allem, alles nachplappert, und jeder auch nur mittelbegabte Manipulator bringt alle Vöglein zum Schnattern, und das, was dabei den Schnäbeln entfleucht, ist eben- Geschnatter, kein schöner Gesang, sondern Lärm, Chaos, Massenhysterie. Am schönsten schnattern sie Beifall, wenn man ihnen ein Wolkenkuckucksheim verspricht, wie es gerade mal wieder in den schnatterreichsten Vorwahlzeiten Mode geworden ist; und frau muss kein Schuhu sein, um hier düsteres Unheil zu wittern: Denn wenn Wolkenkuckucksheim einstürzt, wird sich herausstellen, dass es dagegen doch keine Universal-Schadens-Versicherung gab und die zerschmetterten Träume noch am leichtesten zu verkraften sind. Nein, Goethe will meist gar nicht recht ein Vogel sein, weder ein freier noch ein loser, und im Chor der Vögel singt er sein Leben lang nicht mit. Erst spät wird er Hudhud entdecken, den wahrlich unwiderstehlichen Wiedehopf, aber vielleicht hat er sich auch nur in das Wort verliebt.


Fisch-Gezappel

Zappeln. Noch ein kleiner Bildungs-Beifang, weil wir gerade im Schwunge sind. Es geht also um das Zappeln, auch ein Urtrieb des Menschen, aber nicht nur des Menschen; denn zappelfüßig sind die Ameisen; das vielfüßige, emsige Kollektiv; sie sind sogar zabblich und krabblich! Und die Fische, und ein solcher hatte sich in dem Netz der Redaktorin verfangen; der Meister sprach nämlich fol-gendes: „wenn man die abgestorbenen Redensarten aus eigener Erfahrungs-Lebendigkeit wieder anfrischt, so geht es wie mit jenem getrocknetem Fisch, den die jungen Leute in den Quell der Verjüngung tauchten und als er aufquoll, zappelte und davon schwamm, sich höchlich erfreuten, das wahre Wasser gefunden zu haben“. Das mochte die Redaktorin natürlich des Anfrischens abgestorbener Redens-Arten wegen, das ihr ja ein höchstpersönliches Anliegen ist. Aber wie genau funktionierte nun die Geschichte mit dem Fisch eigentlich, und woher war sie angeschwommen? Irgendwie musste es sich ja um eine der endlosen Jungbrunnen-Varianten handeln, und nach einigem google-Gezappel (auch nicht schlecht, oder?) fing sich die altorientalische Sage vom Lebenswasser, das Al-Chidr (eine Art Dämon-Prophet-Unsterblicher) bei seinen vielen Wanderungen eher zufällig fand (die GPS-Daten gab das Netz nicht raus). Al-Chidr und sein Begleiter Elias nämlich (ja, der aus dem Alten Testament; ja die Religionen verkreuzen sich wie die Mythologien gern) waren durstig, wie man es leicht wird, wenn man durch die Wüste streift. Und als sie einen Brunnenquell finden, halten sie zuerst den mit-genommenen gedörrten Fisch unter das freundlich sprudelnde Wasser, um ihn etwas schmackhafter und leichter verdaulich zu machen. Doch zu ihrem Erstaunen beginnt der tote Fisch auf einmal zu zappeln, ja, er will sogar entkommen! Sie haben doch tat-sächlich das Lebenswasser gefunden, und ein toter Fisch hat es ihnen gezeigt! Eigentlich aber war er eine abgestorbene Redewendung (Schau hi, da liegt a toter Fisch im Wasser!), und eine persönliche Lebenserfahrung (der Versuch, Stockfisch irgendwie essbar zu machen) hat ihn wiederbelebt! Ach, wie gern würde man das öfters sehen! Zwar trinken alle ohne Ende aus ihren inzwischen beinahe angewachsenen Wasserflaschen, aber man ist sprachlich umgeben von den allerdörrsten Fischen und wahrhaft unsterblich ist nur die allertoteste Metapher (Beispiele sind der tagesaktuellen Zeitung zu entnehmen, sie finden sich vor allem in den Kommentarspalten, wo gedörrte Fische ein geradezu unheimliches Weiterleben führen). Lasst die Wörter wieder zappeln! (den Satz hat sich die Redaktorin redlich erschrieben, jetzt kann sie Suppe kochen gehen und hoffen, dass die Bohnen dabei nicht ins Zappeln geraten, wenn sie ins Wasser gleiten).
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Zänkerei. Nein, ein Fisch noch. Es ist kein kleiner. Es geht um die Rezension eines Buches, das dem Meister – naja, nicht sonderlich gefallen hat, aber irgendetwas kann man immer lernen, und manchmal mehr aus mittelmäßigen als aus glanzvollen. Dieses philosophische Werk also wird als Beispiel für eine alte gelehrte Zänkerei angeführt, nämlich den wahrhaft unsterblichen Streit um den freien Willen, oder, zeitgemäß gesprochen: die moralische Freiheit. Und Goethe holt etwas aus und – erzählt uns eine Geschichte, eine Fabel, eine lehrreiche und ein wenig lustige. Also: „Man weiß aus der ersten Ausgabe, daß dieses Buch die Lehre von der moralischen Freiheit geradezu widerlegt. --- Es waren einmal einige Vögel in einer weitläufigen Voliere. Ein Buchfink sagte zu seinem Nachbar Zeisig, der von einem Bäumchen zum andern munter herumflatterte: Weißt du denn, mein Freund, daß wir in einem Käfig stecken? Was Käfig, sagte der Zeisig; siehe wie wir herumfliegen! Dort ist ein Käfig, wo der Kanarienvogel sitzt. --- Aber ich sage dir, wir sind auch im Käfig. Siehst du dort nicht das Gegitter von Draht? --- Das ist dort, aber siehe, so weit ich auf allen Seiten sehen kann, steht keins! --- Du kannst die Seiten nicht alle übersehen. --- Das kannst du auch nicht! --- Aber denke nur, fuhr der Buchfinke fort, bringt uns nicht unser Herr alle Morgen dort in den Trog Wasser, streut er uns nicht hier auf die Ecke Samenkörner; würde er das thun, wenn er nicht wüßte, daß wir eingeschlossen sind und nicht davon fliegen können? --- Aber, sagte immer der Zeisig, ich kann ja freilich davon fliegen! So stritten sie noch lange; bis endlich der Kanarienvogel aus seiner Ecke rief: Kinder, wenn ihr streiten müßt, ob ihr im Käfig seid oder nicht? so ist's so gut, als wäret ihr nicht darinnen! --- Seitdem uns ein alter Philosoph diese Fabel gelehrt hat, seitdem haben wir allen Streit über Freiheit aufgegeben. Es ist vielleicht auch keine gelehrte Zänkerei weniger gründlich behandelt worden, als diese. Meist hat man auf der einen Seite Begriffe nach Willkür geschaffen, und meist auf der andern Einwürfe aus schiefen Inductionen geholt. Am Ende war Spott hier, und Anathema dort der Beschluß des sehr entbehrlichen Dramas“. Da könnte man vieles zu sagen. Oder auch nicht. Wir lassen es hier einfach mal so stehen, um das Getwitter um den freien Willen nicht unnötig zu vermehren. Und gehen lieber Zeisige und Buchfinken und Kanarienvögel schauen.

Würmer, Würfel und Geld

Würmer. Die armen Würmer, totale Niete im Schöpfungsgewürfel der Natur, ein Wurf, der einfach nicht abheben wollte, und seitdem kriechen sie daher, in jeder Kette das unterste Glied, vielfach getreten, aber wenn man sie tritt – dann krümmen sie sich (wir werden später dazu kommen). Durch die Bibel kriecht der Wurm ganz gewaltig, nämlich als Bild für die Unbedeutendheit des Menschen schlechthin im Angesicht Gottes (oder des Universums): „Siehe, auch der Mond scheint nicht hell, und die Sterne sind nicht rein vor sei-nen Augen – wie viel weniger der Mensch, eine Made, und das Menschenkind, ein Wurm!“ Buch Hiob, natürlich. Dazu kommt seine Verwandtschaft mit der Schlange, dem Würger schlechthin, das hilft auch nicht, imagemäßig. Und trotzdem, man soll es nicht glauben, erweist sich Goethe gerade beim Blick auf den Wurm allen Übels als Tierrechtler: „Jedes Wesen das sich als eine Einheit fühlt, will sich in seinem eigenen Zustand ungetrennt und unverrückt erhalten. Dieß ist eine ewige nothwendige Gabe der Natur, und so kann man sagen, jedes Einzelne habe Charakter bis zum Wurm hinunter, der sich krümmt wenn er getreten wird“. Würmer sind, würde man heute sagen, also empfindungsfähige Wesen, und dementsprechend: als Lebensform mit eigenem Wert zu würdigen (Würmer sind Freunde, und kein Vögelfutter!) Andererseits sind da die Krankheitswürmer, Bandwürmer und ähnliches Ungeziefer. Auf den Märkten schnitten die Wurmschneider den Bürgern den Wurm, was von vage gesundheitlich-positivem Wert sein sollte, aber statt Würmern nur Geld geschnitten hat. Das hat sich nicht gekrümmt, niemals. Geld nämlich hat, im Unterschied zu Würmern, keinen Zweck in sich selbst, und das ist eine Lektion, die sogar ziemlich wichtig sein könnte.





Tod eines Kükens


Man sah gleich, dass es tot war. Irgendetwas fehlte, wie es so da lag, in einer gleichzeitig verkrampften und entspannten Stellung, die Klauen schon weich anmutend, bevor sie sich überhaupt ausformen konnten, den Hals weit vorgestreckt, als wollte es noch etwas sehen, was es noch nie gesehen hatte. Aber am schlimmsten waren die Augen. Sie waren halb geschlossen; nicht mehr der verschwommene Küken-blick, schon gar nicht der große wache Raubvogelblick der Falkenmutter, oder auch nur der gelbe Deckel, der sich abends manchmal schützend darüber legte, nach einem langen Tag des harten Mutterseins: Saß man wirklich dicht genug um den sorgsam zusammengeschobenen vier und wenig später fünf Eiern? Hielt man sie gut genug zusammen, nachdem die Viere geschlüpft waren, das Fünfte sich aber Zeit ließ? Das war wohl der Zeitpunkt, an dem sich zum ersten Mal die allzu menschliche Sorge, die sich so gern an das Zurückgebliebene, Kleinste, Ungeschützte anhängt, neben dem geradezu automatischen Lächeln über die vier weißflaumigen tapsigen Wesen breitmachte: Würde die Zeit reichen? Würde die Mutter durchhalten? War das Ei überhaupt befruchtet? Fast wäre das leichter gewesen, das kommt immer wieder vor, und schließlich essen wir auch sorg- und gedankenlos Hühnereier und Hähnchen-brüste (gerade in Zeiten der Krankheit gut verträglich, ja geradezu therapeutisch!), nicht aber blinde weiße Küken-Nachkömmlinge.

Plötzlich jedoch war es dann da, ein schwer zu findender weißer Wuschel mehr unter den schon kräftig gewachsenen Vieren, die immer noch reichlich unartikuliert und orientierunglos übereinander stolperten. Häufig starrten sie an die Wand oder drängten sich in die Ecke, als wäre der Blick aus dem Kirchturm schon zu gefährlich. Aber das kannten wir schon von den Wanderfalken, die wir einige Wochen vorher beobachtet hatten und die dann doch erstaunlich schnell den Sturzflug ins Freie wagten, nachdem sie vorher wacker einige Tage Flügelschlagen geübt hatten. Die Dinge entwickelten sich allerdings deutlich langsamer bei unseren Turmfalken im Nachbardorf. Wir machten uns wieder Sorgen, als die Falkenmutter immer noch tagelang auf den nun voll-ständigen Fünfen saß; der Vater war noch nicht einmal aufgetaucht mit den doch sicher benötigten Futterrationen, vorher hatte er wenigstens dann und wann kurze halbstündige Elternzeiten eingelegt. Doch auf einmal begannen die Mäusekadaver einzutreffen (wir waren dankbar dafür, dass die Kamera schon immer relativ unscharf war), und von nun an versiegte die Versorgung nicht mehr, auch bei deutlich wachsendem Appetit und immer weiter aufgerissenen Schnäbeln. Mama zerrupfte zur Fütterung sorgfältig die Beute in handliche Fetzen, die sie – wie es uns schien, darunter nagte die Sorge eben doch weiter – relativ gerecht verteilte. Und immer wieder suchten wir den kleinen, noch fast kahlen Kopf zwischen den deutlich größeren Flaum-Schädeln der sich vordrängenden Großen. Er war sehr schwer zu finden, aber dann tauchte er doch wieder auf, nur für einen kurzen Moment. Derweil wurden die Augen der Großen langsam wacher und fokussierter; und auch die Flügel begannen sich mit kleinen Muskeln abzuzeichnen unter dem immer noch perfekt weißen Flaum.

Dann kam der Tag, als sich unsere Sorge kurz verlagerte: Eines der größeren Küken hatte eine wunde Stelle am Hals, sie würden sich doch nicht, futterneidisch, gegenseitig angefallen haben? Oder war es von der nun schon ziemlich kräftigen Morgen-sonne verbrannt, gegen die die Mutter kaum noch alle hinter den schützenden Flügeln verstecken konnte? Aber es war nicht das Kleine, Nachgekommene, mühsam fand man es endlich wieder, den im-mer noch deutlich zu kleinem Kopf, ganz weit unten im Haufen. Vielleicht schützten die Geschwister es ja auch? Ach, die allzu menschliche Projektion, gepaart mit dem unwiderstehlichen Beschützerinstinkt! Denn kaum hatten wir uns ein wenig entspannt, es war auch anderes zu regeln einige Tage lang, öffnete ich eines endlich sommerlich gewordenen nachmittags die Falkenkamera – die Singvögel im Garten kamen kaum noch nach mit der Versorgung ihrer Nester in den Hecken, die Grillen zirpten schon am Morgen unermüdlich, und ich hatte eine echte Zauneidechse vom Strandkorb aus über die sonnengewärmte Mauer unter den Weinreben schlüpfen sehen: Und es war passiert. Man musste es nicht suchen, man sah es sofort. Es lag da, ungeschützt, in der Mitte, die halbblinden Augen schienen minütlich mehr einzusinken in dunklen Höhlen; nie würden sie sich schließen unter einem schützenden gelben Deckelt, nie den scharfen schwarzen Falkenblick schweifen lassen. Keine Muskeln unter dem schon schäbig werdenden weißen Flaum, der jetzt ein Totenhemd war, das allerärmlichste. Der Schnabel zu stark vortretend, verkrustet, wie in einem stillen Totenkampf. Wie lang war es wohl schon so dagelegen? Die Mutter war unterwegs, Nahrungssuche, die Geschwister hatten sich in die Ecken verteilt und starrten die Wand an. Einmal nur hatte man es gleich gefunden, das Kleinste, Versteckte; und es war tot.

Nun, das war nur natürlich, Selektion eben, Arterhalt, fünf waren sowieso zu viel gewesen, und der Mäusenachschub schon ein sehr anstrengendes Geschäft geworden. Die Mutter kam auch bald wieder von erfolgreicher Jagd, man scharte sich zur Fütterung halb um, halb über dem kleinen Leichnam, keine Spur von -Betroffenheit, Mitleid, Pietät, ja, was hatte man denn erwartet? Was man hier sah, war nur eine Nahaufnahme des menschlichen Emotionskinos im eigenen Kopf, für die gefühlsmäßig besonders Begriffsstutzigen unter uns (also: für mich): Denn auf einmal verstand ich so viel besser, was wir Menschen in unseren schwachen, kleinen, auch schon fast aus-gestorbenen Sterbensritualen mühsam zusammenkultiviert hatten: Die Augen schließen, damit niemand für ewig immer trüber ins Nichts schauen muss. Die Glieder richten, bevor sie die Starre in eine bizarre und zufällige Stellung einfriert für immer. Den Körper gnädig verdecken, in dem sofort der große Verfall beginnt. Einen Platz der Würde schaffen, mit Raum für die Trauer drumherum; nicht allzu nah. Hier aber stolperten unbekümmert weiter wachsende Geschwister über den verkrümmten Körper, waren die Augen nicht schon wieder ein Stück weiter eingesunken seit der letzten Kameraeinstellung? Der Raum hatte ein Zentrum bekommen, aber es war ein totes.

Eigentlich wollte ich gar nicht hinschauen, aber wie unter Zwang rief ich die Seite immer wieder auf. Es war eine Mischung aus – makabrer wissenschaftlicher Neugierde, wie würde der Verfall wohl weitergehen? –, aus Schau- und Sensationslust, einer Spannung auf den „Ausgang“. Würde die Mutter den Kleinen entsorgen? Würde der Wächter der Kamera des Nachts eingreifen? Sie würden doch nicht anfangen, den Kleinen mit den Mäusen zu verwechseln? Dazu ein wohlig schillerndes Gefühl der Trauer, im 18. Jahrhundert mit seinen melancholisch-empfindsamen Unterströmungen nannte man das den „joy of grief“; ein seltsamer Cocktail aus Verlust, Empathie, ein wenig Wut über den allzu natürlichen Gang der Natur. Keine feststellbare Beimischung aus übertragener Todesangst im Übrigen, sondern vor allem: das Empfinden der Erbarmungswürdigkeit der völligen Einsamkeit und des Alleingelassenseins. Da liegt ein Kadaver in der Mitte, und das Leben geht über ihn hinweg, blicklos, gedankenlos. Mit jedem Moment wurde das Küken toter; wusste die Mutter überhaupt noch, dass es einst fünf Schnäbel waren, in die sie Mäuseteile stopfte? Warum hatte sie ihn nicht schon aufgegeben im Ei? Spürten die anderen Küken, irgendwie, das etwas fehlte ganz unten im Haufen? Aber sie wuchsen so schnell jetzt!

Als ich am Abend ein letztes Mal einschaltete, war der Kadaver verschwunden. Es waren auch insgesamt, wie sich nach langem Beobachten herausstellte, nur noch drei, jetzt ziemlich groß und gesund aussehende Küken, der mit der wunden Stelle am Hals war nicht mehr dabei. Und es schien mir geradezu symbolisch, dass der Größte von allen inzwischen die erste falkenartig gemusterte Schwanzfeder entwickelt hatte, die einen deutlichen Kontrast zum immer noch weißen Flaum bildete. Hatte die Mutter die beiden Schwachen aus dem Kirchturm gestoßen? Der Falkenmeister würde es uns wohl schonend er-klären, demnächst im Falkentagebuch; wie natürlich das sei, und nur für uns Menschen schockierend. Weil menschliche Gefühle halt so seltsam sind, so unberechenbar – und das meine ich gar nicht im üblich pathetisch-sentimentalen Sinn (keine Maschine kann das jemals ersetzen, jaja), sondern rein sachlich: unkalkulierbar. Was man in einer bestimmten Situation fühlen wird, weiß man selbst immer erst hinterher, so wenig kennt man sich selbst oder gar „den Menschen“. Gefühlsprognosen sind das Material, aus dem schlechte Romane und Filme gemacht sind, auf der Basis eines sehr vagen Kalküls aus viel zu wenig Daten und Phantasielosigkeit, dazu einer großen Dosis Wunschdenken. Man kann es gar nicht vorher wissen, weil es so eine bizarre Mischung ist. Und nun weine ich, beinahe automatisch, doch ein wenig beim Schreiben in den frühen Morgenstunden noch unter dem Einfluss des segensreichen, aber schlafabwendenden Kortisons bei der gestrigen Chemo, um meinen sehr kleinen Freund mit seiner sehr schwachen Totenwürde. Aber dann erinnerte ich mich an das kluge Wort eines entfernten Freundes nach dem Tod meiner Schwester, die Toten hätten ihren Frieden (es war das Einzige gewesen, das geholfen hatte damals): Und auf einmal konnte sich sie sehen, die Totenwürde des kleinen Falken und seinen winzigen tapferen Falkenfrieden.

Und schon der zweite Abwesende rührte mich nur noch auf eine sehr schwache Weise, so brutal bin ich nämlich auch: Er war zwar nicht von Anfang an totgeweiht gewesen, so versuche ich das zu rationalisieren, aber er hatte eine Krankheit bekommen, und war das nicht irgendwie schon das Kainsmal der Schuld? Er hatte immerhin eine Zeitlang zum Haufen gehört, er war nicht ausgesondert von Anfang an, er hatte schon mitgedrängelt. Und wahrscheinlich hat er einen schnellen Tod bekommen, keine langsame Auszehrung. Er war das nötige Opfer zum Gedeihen der Geschwister, der Fortsetzung der Generation, dem Überleben der Gattung. Aber von Anfang an schon zu viel sein; ein Irrtum der Natur mehr als eine Schwäche; zu sterben, ohne das Licht der Sonne gesehen zu haben, weil man immer ganz unten im Haufen war, und wenn man die Augen einmal öffnete, schmerzten sie wahrscheinlich von dem grellen Licht; und am Ende da zu liegen, ausgesetzt auf einmal, immer weniger werdend, während der Tod in einem wächst – das schien mir ein schon fast menschliches Sterben.

Zuhause