Oft wird Sterbenlernen als eine Art Reifeprüfung für fortgeschrittenes Philosophentum verstanden. Man denkt dabei vage an Sokrates und fühlt sich gleich ein wenig erhaben. Wie so viele allgemeine Vorstellungen von Philosophie (besonders unter beamteten Philosophen!) ist auch diese größtenteils falsch. Die wenigsten Philosophen bringen es auch nur bis zum Lebenlernen, dabei wäre das die erste Reifeprüfung (denken lernen kann jeder. Fast jeder. Macht halt Mühe und ist mit viel Arbeit verbunden. Man bekommt auch keinen Nobelpreis dafür). Nein, Sterbenlernen ist den meisten Menschen angeboren, es ist eine natürliche Fähigkeit, die wie so viele andere natürliche Fähigkeiten (urteilen, Kinder erziehen, demütig sein) durch zu viel Erziehung verloren geht: Sie liegt unter einem Berg von Geplapper verschüttet, und darüber ist sicherheitshalber eine dicke Schicht Tabu geklebt (niemand darf sterben wollen. Die Verneinung des absoluten Willens zum Leben ist die moderne Todsünde schlechthin). Das kann man zum Beispiel noch gelegentlich an alten Leuten sehen, wenn sie sich irgendwie einen Rest natürliche Vernunft bewahrt oder sie versehentlich im Alter wiedergefunden haben, wenn das Tabu-Pflaster sich endlich abgelöst hat und das Geplapper nicht mehr gegen die gnädige Schwerhörigkeitkeit durchdringt (Goethe, im Alter in einem Brief an seinen Herzensfreund Zelter: „Ich mag weder hören noch sprechen mehr“). Sie sind oft ganz ok mit dem Sterben. Sie haben das Gefühl, dass sie an der Reihe sind, dass es der natürliche Gang der Dinge ist, und dass sich Jüngere gefälligst nicht vordrängeln sollten! Oft ist es gar nicht nötig, dafür alt und krank zu sein (es hilft aber, weil: Gang der Dinge, und wenn man lange genug gegangen ist in seinem Leben, und vor allem: weit genug, dann wollen die alten Knochen endlich Ruhe!). Sie sind einfach fertig. Sie hatten genug Reifeprüfungen, und nun sind sie sterbensreif. Lebenssatt. Schließlich ist der Tod nicht das Ende aller Dinge; er ist nur das Ende eines persönlichen Weges, der sich – schließt?
Denn dass ein Weg endet und sich gleichzeitig ein Bogen schließt, ist gar nicht eine Frage der Länge des Weges, nein: Ein Leben hat viele mögliche Schlusspunkte, man wäre geneigt zu sagen: unendlich viele, aber mit der Unendlichkeit ist das so eine Sache. Einen Schlusspunkt kann man immer setzen, es wäre, es ist, es kann sein: ein wirklicher Akt der Freiheit (geboren werden wir alle unfrei, entgegen einem weiteren verbreiteten philosophischen und politischen Missverständnis). Natürlich tut man dabei einer Lebenslinie einen gewissen Zwang an, biegt sie spontan und abrupt zurück zum Anfang, obwohl sie doch vielleicht ihren Höhepunkt noch gar nicht erreicht hatte. Aber wo sollte er denn sein, der Höhepunkt? Die wenigstens von uns stehen irgendwann auf einem Gipfel, wischen sich den Schweiß von der Stirn und schauen befriedigt umher auf sonnenumglänzte kleinere Gipfel, wo man auch schon mal war! (Die Täler sieht man nicht aus dieser Perspektive, sie sind zu weit weg, oder im Nebel versunken). Vor allem nicht in der Mitte des Lebens, wo die meisten von uns wohl eher mit Dante fühlen: „Als unseres Lebens Mitte ich erklommen, befand ich mich in einem dunklen Wald“. Das kann nun jede ausmalen, wie sie will, und selbst wenn wir es noch nicht fühlen, wird uns das allmächtige Klischee eines Besseren belehren: midlife-crisis hat man zu haben, wie Pubertät oder Altersdepression! Eine Krise ist natürlich häufig ein Wendepunkt, das sagt das Wort schon; aber, was gern dabei vergessen wird: zum Guten oder zum Schlechten, und in so mancher Krankheitskrise steht am Ende der Tod und hebt die siegreiche Faust!
Nein, die Lebenslinien sind ungefähr so beliebig wie statistische Kurven sein können: die Daten ein wenig geschönt, die Parameter ein wenig verschoben, so dass man ein Muster sieht, etwas erkennt, wo vorher nur – Chaos war, ungeordnete Abfolge von Daten und Ereignissen, eben das, was man: Leben nennt. Irgendwann aber könnte man als Mensch, in einer Phase Mittlerer Reife sozusagen, zu der Einsicht kommen, dass es unter diesen Bedingungen möglich ist, einen Schlusspunkt nicht nur am „Ende“ zu setzen: Nur weil alle Romane mit der Hochzeit und viel zu viele Filme mit einem happy end enden, heisst das noch lange nicht, dass das die einzig mög-lichen Lebensschlüsse sind, so ästhetisch befriedigend und herzerwärmend versöhnlich sie auch sein mögen. Nein, die Enden der Literatur sind nur die Muster, nach denen wir unser Leben inzwischen eingerichtet haben; es ist so bequem, mit all den vorgefertigten Stationen und vorgeschriebenen Gefühlen und fertigen Enden, man muss nur noch – nachleben, möglichst vollständig (das Leben ist aber kein All-Inclusive-Paket, auch wenn die Politiker und das allgegenwärtige Marketing daran arbeiten, es so zu verkaufen, sogar mit einklagbaren Grundrechten und einem verbrieften Anspruch auf Lebensglück; es gibt genug Buffets für alle, all you can live jeden Tag, und niemals Bauchweh!). Nein, irgendwann sollte man, kann man, können einzelne (oder viele?) sagen: Nun ist es genug. Aus welchen Gründen auch immer, Begründungen sind auch nur verkleidete Vorwände. Niemand muss den Teller immer aufessen! Das Leben ist keine endlose (unendliche?) bucket list; irgendwann gibt es gar keine Dinge mehr, die ich tun muss, bevor ich sterbe! Mein Leben schließt sich hier. Rundet sich jetzt. Weil ich es will. Von außen kann das sowieso keiner verstehen, und Trauer ist zum größten Teil das Selbstmitleid der Überleben-den.
Das macht sie übrigens weder überflüssig noch verwerflich (alles Mitleid ist im Grunde Selbstmitleid, und der mitleidigste Mensch kann trotzdem der beste bleiben). Aber man kann nicht mitleiden mit Toten. Sie haben fertig gelebt und gelitten, sie haben, und man lasse ihnen: endlich ihre Ruhe. Ruhe in Frieden, das ist der einzig würdige Grabspruch, und er spricht zu den Lebenden mindestens ebenso wie zu den Toten. Aber das lässt den Lebenden natürlich keine Ruhe, im Gegenteil eher: Sie hatte doch noch so viel vor! Sein ganzes (halbes, viertel, etc.) Leben lag doch noch vor ihm! Aber über entgangene Zukunft kann man, sollte man genauso wenig klagen wie über verschüttete Suppe. Uns allen entgehen Zukünfte aller Art, stündlich, minütlich, sekündlich. Es gibt kein Recht auf, keinen Anspruch auf, keinen Schadenersatz für: entgangene Lebenschancen. Verpasste Glücksmomente (von Geburt an verpassen wir Chancen: Todesfurcht ist nur die extremste Form von FOMO).
Natürlich trauern wir trotzdem, und das ist auch ganz richtig so, nämlich: über einen Teil unserer eigenen entgangenen Zukunft, die mit der gestorbenen Person dahin ist, die ein – kleiner oder großer, das ist im Prinzip egal, nicht aber im Empfinden – Teil unseres Wesens war; und genauso über einen Teil unserer entschwindenden Vergangenheit. Mit den Eltern stirbt uns eigene Kindheit (ein ultimatives Trauma, dem nur diejenigen entgehen, die schon vorher ein wenig selbst an diesem speziellen Grab schaufeln: Ruhet in Frieden!). Mit den Geschwistern stirbt die gemeinsame Jugend, die verbliebene Familie, ein Teil des Selbst, der instinktiv vertrauter und näher war, als einem die besten Freunde je kommen konnten (Ruhe in Frieden!). Was mit dem eigenen Kind stirbt, ist jenseits von Worten, ein nicht zu denkender Gedanke, ein bodenloses Grab. Immer jedoch stirbt etwas von uns selbst, selbst bei äußerlich Fernstehenden: eine geteilte Erinnerung und eine ungelebte Zukunftsmöglichkeit, beides in einem, und selten fällt die Zeit so in sich zusammen wie an einem Grab.
Deshalb aber, und der Trost mag so schwach sein wie Trost aus Worten naturgemäß ist, lernt man Sterben im Leben (und nur dort) Man lernt es nicht nur mit den Menschen, die uns verlassen; man lernt es auch mit Tieren, mit Pflanzen, mit Dingen sogar, die Vergangenheit speichern können, Erlebtes, Erfahrenes, Erinnertes, und deshalb kann man auch untröstlich sein über die zerbrochene Lieblingstasse oder den eingegangenen Kaktus: Ruhet in Frieden! Könnte man das irgendwann akzeptieren, wäre Sterben nicht mehr die groteske Singularität, die Fehlkonstruktion im Universum, als die es heute empfunden wird: Es wäre ein gradueller Prozess wie alles Natürliche (nur Berufs-Philosophen sind Schwarz-Weiß-Denker), man könnte es lernen, erst an kleinen, dann an großen Dingen, erst an entfernten, dann an nahen Menschen - und mit der Zeit gewöhnt man sich, es ist wirklich wahr, an jeden Gedanken und sogar an die meisten Gefühle. Und es ist ja noch nicht einmal logisch so, dass der Tod das einzige Unumkehrbare im Leben ist. Es gehört zwar zu den vielen Pseudo-Weisheiten des Alltags (die nicht alle grundfalsch sind, das nicht), dass man aus seinen Fehlern lernen kann, dass man geschehenes Unrecht wieder gut machen kann, dass man verpasste Chancen nachholen kann, ach, all die Wunder und Wunderlichkeiten der menschlichen Freiheit im Kampf gegen die unergründliche Bosheit des Determinismus! Faktisch kann man aber nicht. Die zerbrochene Tasse setzt sich nicht wieder zusammen, das sagt nicht nur der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik. Das verwundende Wort wird durch die Entschuldigung allenfalls mit einem Pflaster verarztet, die Wunde bleibt und schwärt. Und was man heute hätte besorgen können und auf morgen verschoben hat, wieder einmal, wird man niemals nachholen können, weil: Morgen ist anders. Die Welt ist morgen anders. Jeder Mensch ist morgen anders. Niemand steigt jemals in den gleichen Fluss, den gleichen Tag, den gleichen Seelenzustand. Das Leben besteht aus (unendlich vielen?) verpassten Chancen und sehr, sehr wenig zufällig verwirklichten. Das muss reichen.
Vielleicht wäre es das ideale Ende, wenn alles, woran man jemals sein Herz gehängt hatte, mit starken oder schwachen Fäden, vorausgegangen wäre, in Frieden vorausgegangen ist, und auf uns wartete. Aber vielleicht wäre es das auch nicht, und das perfekte Ende wäre: die Freude auf einen völligen Neubeginn im Nichts, endlich ein Anderer, und nicht – frei, aber gefangen in einem anderen Käfig? Man soll sich den Schluss offenhalten. Wenn man kann.