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Krankenstübchen


  • Klinik und Kommunikation
  • Warum haben Romanhelden niemals Schnupfen?
  • Nacht-Fragmente, oder: Von der Krankheit. Eine Innenansicht (nur für starke Nerven...)


Klinik und Kommunikation

Im Krankenhaus führt man die besten Gespräche. Das ist ein Satz, den ich inzwischen aus leidvoller Erfahrung, aber aus voller Überzeugung sagen kann. Die besten Gespräche insofern, als es die ehrlichsten und existentiellsten sind. Denn sie gehen von einer Voraussetzung aus, und die ist: Wir sind krank, beide. Das ist nicht schön, aber es macht überhaupt keinen Sinn, darum herumzureden; wir sind krank, deshalb sind wir hier, in dieser isolierten Situation, temporär aus dem Leben genommen und zusammengeworfen, Schicksalsgenossen. Wir haben uns auch nicht ausgesucht, hier zusammengeworfen zu werden; wir mögen uns vielleicht oder auch nicht, ist aber egal, weil: Wir sind hier, und wir sind in Not. Und anfangs wollen wir nicht darüber reden, aber dann fragt doch die eine, der andere, zögernd, etwas vorsichtig, man weiß ja nie, ist ja auch so persönlich und so weiter und so weiter; und der andere, die eine antwortet, zögernd, aber dann immer mehr ins Reden kommen, und dann fällt die ganze Geschichte aus einem heraus, ob man will oder nicht (man ist erschöpft hinterher, geistig und körperlich). Und weil man gefragt hat und weil einen das Schicksal zusammengeworfen hat, hört der andere zu; er hört wirklich zu, denn er leidet selbst und er leidet mit, und er weiß, wie es ist zu leiden. Und dabei bildet sich, in dieser seltsamen Blase der Versehrtheit und Abgeschiedenheit, über das Sprechen eine Beziehung heraus, für die man keinen rechten Namen hat. Sie hat mit Vertrauen und wachsender Vertrautheit zu tun, weil man sich Dinge erzählt hat, die man vielleicht fast niemand zuvor erzählt hat (nie hatte jemand richtig gefragt, und zugehört schon gar nicht); und weil man automatisch ehrlich ist in dieser Situation; man lügt ja auch nicht vor seinem Arzt (gelegentlich allerdings versucht man, ihm das Leben leicht zu machen oder ihn zu loben, er ist ja auch nur ein Mensch, der einen schweren, schweren Job macht; das sind aber sehr weiße Lügen, passend zum Arztkittel). Und man weiß ja, dass man sich mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht wiedersehen wird. Was im Krankenhaus war, bleibt im Krankenhaus. Und wenn man sich entblößt hat, in all seiner Menschlichkeit und Verletzlichkeit – es bleibt im geschützten Raum eines Krankenzimmers, einer Klinik, einer Schicksalsgemeinschaft.

Dass man mit Fremden manchmal die besten Gespräche führt, ist eine damit verwandte Erfahrung, die man auch machen kann, wenn man nicht krank ist; und diese Gespräche, die immer zufällig entstehen und keinerlei Konsequenzen haben, gewinnen in der Erinnerung den seltsam traumartigen Charakter völliger Wahrhaftigkeit. Das Krankenhaus-Gespräch ist sozusagen die systematisch gesteigerte Form dieser Erfahrung. Aber wäre es nicht ein nützliches, geradezu heilendes Gedankenexperiment, wenn man sich vorstellte, diese Form der Kommunikation nicht nur für Fremde oder Mit-Leidende zu reservieren? Man wende nicht ein, es gebe sie ja in anderen geschützten Bereichen, in Liebe oder guter Freundschaft; das stimmt nämlich nicht, weil Kommunikation in diesen Bereichen zwar auch einen Sonderstatus und höhere Authentizitätsansprüche hat, aber immer Beziehungskommunikation bleibt – sie kommuniziert den Beziehungsstatus mit, und das nicht immer eine gute Sache, selbst in guten Liebesbeziehungen und sehr guten Freundschaften. Das offene Gespräch mit Fremden hingegen – muss ja keine Rücksicht nehmen auf mögliche Beziehungsschäden. Vielleicht sollte man wenigstens dann und wann versuchen, mit Vertrauten so zu reden, als seien sie Fremde; da man ja auch mit Fremden so reden kann, als seien sie Vertraute? Es muss ja nicht immer sein.


Krankheit schreiben, oder:
Warum haben Romanhelden niemals Schnupfen? 

Geben wir es ruhig zu: Wenn man Glück hat, kann Krankheit, zwischendurch wenigstens, ein kleines Leseparadies sein. Man sucht sich Reisebegleiter, und mich hat natürlich Goethe als Seelenführer durch dunkle Nächte und längliche Tage begleitet. Und man will ja auch eigentlich eher nichts von Krankheiten lesen, aber irgendwann fällt einem auf: In der Literatur spielen Krankheiten eine bemerkenswert untergeordnete Rolle. Nur selten hat jemand einen Schnupfen im Roman. Kein Held klagt über Bauchweh (höchstens gelegentlich leichtes Gewissensjucken). Kein Gedicht besingt das Zahnweh (das bleibt den Zuhörern überlassen). Natürlich, es wird viel gelitten; Liebeskummer, gebrochene Herzen scheinen überhaupt eine Massendiagnose zu sein, sie sind jedenfalls häufiger als Herzinfarkte. Es wird, vor allem in früheren Literaturen, entsetzlich viel gekämpft, verletzt und gestorben und auch vergewaltigt (Homer! Männerliteratur!), aber Krieg ist höchstens ein Massenwahn (als solcher kann er aber epidemisch sein), und männliche Brutalität mag zwar nicht wenig hormoninduziert sein, aber gehört nun mal dazu. Modernen Helden hingegen setzt eher die Melancholie zu, die bekanntlich auch eine „Krankheit zum Tode“ (Werther! Das Werther-Fieber!) sein kann. Aber genauso wenig, wie in der Literatur auf offener Bühne geboren wird, wird dramatisch geniest oder erzählerisch geschnäuzt. Seelenschäden werden gern ausgestellt; Körperschäden hingegen – vertuscht, vergessen, verschwiegen? (Ausnahmen bestätigen die Regel, wir werden dazu kommen). Ist die Literatur das letzte Paradies einer gesunden Menschheit, der wiedergefundene Garten Eden?

Götter sind niemals krank, oder: Achillessehnen und Hephaistos

Natürlich können, um am Anfang anzufangen, die Götter nicht anders als vollkommen sein. Und das heißt: Nicht nur vollkommen gesund, sondern geradezu Musterexemplare von Stärke, Schönheit, blühendem Leben! Wer unsterblich ist, muss sich ja sowieso nicht besonders um eine gesunde Lebensweise kümmern. Aber halt, hinkt da nicht jemand im Hintergrund durchs Bild, eine massive, etwas verkrümmte, ziemlich bitter dreinschauende Gestalt mit einem Hammer in der Hand? Ach so, es ist nur Hephaistos. Der Schmiedegott, ein grober Kerl, und auf dem Olymp eher geduldet; und macht er nicht wirklich eine lächerliche Gestalt mit seinem Hinkebein? Hermes macht ihn gern nach und zieht die Flügel-schuhe wie gelähmt hinter sich her, und dann gibt es mal wieder ein homerisches, nichtendenwollendes Göttergelächter. Aber man braucht ihn, den hinken-den Hephaistos! Er ist nämlich geschickt, mit den Händen, er strotzt vor Kraft, und hat er nicht allen seinen hämischen Verwandten ganz wunderbare Dinge gebastelt? Aus seiner Werkstatt stammen der Zepter und der Donnerkeil seines Vaters Zeus, die Throninsignien sozusagen (man munkelt aber, Zeus sei gar nicht der Vater gewesen, Hera habe Hephaistos vielmehr selbst gezeugt, Parthogenese, selbst ist die Frau, und dann das missratene Balg, das aus ihrem Schenkel kroch, zornentbrannt vom Olymp herabgeschleudert)? Der jungfräulichen Jägerin Artemis hat er den Bogen geschmiedet und Ares die prächtige Rüstung, für Poseidon den Dreizack geschärft und für Helios den Wagen entworfen, mit dem der Sonnengott nun stolz täglich seine Bahn zieht. Natürlich, das mit dem Netz, in dem er seinen Nebenbuhler Ares bei der schönen Aphrodite im Bett gefangen hatte, seiner Gattin, seinem ganz per-sönlichen Trostpreis für all die erlittene Schmach der ungerechten Göttereltern – das war schon ziemlich frech gewesen! Aber die olympischen Götter hatten dann doch beschlossen, darüber nichtendenwollend zu lachen. Hephaistos, ach, der arme Hephaistos! Was täte man nur ohne ihn?

Und so humpelt der Schmiedegott durch die helle, perfekte, geradezu übergesunde griechische Götterwelt; eine ewige Lachnummer und eine Übergangsgestalt. Denn es gibt durchaus noch dunklere, noch verborgenere Götter: Geschöpfe der Nacht (Nox) und des Chaos, die nicht nur den Schlaf und die Träume, sondern auch das Verderben, den schlimmen, gewaltsamen Tod (Ker; im Gegensatz zu Thanatos, dem guten alten sanften Alterstod) gezeugt haben; dazu das Verhängnis, Nemesis, und die Rache-göttinnen und die uralten Schicksalsgöttinnen der Moiren, die mit ihrer Schere den Lebensfaden kappen. Dunkle Gestalten, einige von ihnen monströs, die meisten hässlich, einige sogar uralt und insgesamt: wenig besungen; kein homerisches Gelächter weit und breit. Aber auch nicht direkt – krank. Denn Hässlichkeit, Alter und Schwäche sind zwar, auch in vielen Sprachen, sehr eng verwandt mit der Krank-heit, aber eben keine Krankheiten im engeren Sinn. Schließlich kann man kerngesund alt werden und wie ein gefällter Baum von einem Moment auf den anderen sterben.

Allerdings bringen die Götter gern Krankheiten. Besonders Apollo, der helle Lichtgott, bringt Seuchen oder Heilung, wie es ihm halt gerade in den bildschönen Götterkopf kommt. Er ist ja auch der Vater von Asklepios, dem Gott der Heilkunst. Asklepios ist auch ein verstoßenes Kind im Übrigen, aber er hat Glück und kommt zum weisen Zentauren Chiron, der ihn in der Heilkunst unterweist, und wird der berühmteste Art der griechischen Antike; sogar Homer macht Werbung für ihn. Statt ins Krankenhaus geht man jedoch zu ihm in seinen Tempel und versinkt dort in eine Art Heilschlaf. Und wenn man Glück hat, erscheint im Traum der Doktor, erstellt die richtige Diagnose und erteilt das heilende Rezept (nützliches Wissen von Wikipedia: kline hießen die Liegen im Tempel, und daher kommt noch unsere Klinik; nur leider kommt das Wissen heute kaum noch im Schlafe, sondern eher aus dem Labor). Aber das sind Leute, Leute werden krank. Helden werden nicht krank, sondern sterben einen Heldentod. Noch nicht einmal die Achillesferse ist eine Erkrankung, sondern eher das Gegenteil davon: Denn die göttliche Mutter des großen Achilles wollte für ihren halbmenschlichen Sohn nur das Beste – also: die göttliche Unsterblichkeit – und tunkte ihn deswegen in den Styx, den Fluss der Unterwelt, was bekannt-lich unverwundbar macht. Allerdings musste sie das Kind dabei ja festhalten, sie hielt es an der Ferse, die Ferse wurde nicht benetzt, und so blieb die Ferse die Schwachstelle des Supermanns Achilles, die dann auch prompt von einem vergifteten Pfeil getroffen wurde. Keine Krankheit, schneller Tod, wie es sich für Helden gehört. Menschen hingegen haben bis heute eine Achillessehne, es ist sogar die stärkste Sehne am menschlichen Körper; aber bei großer Belastung reißt sie auch recht gern, sie kann überlastet werden und sich entzünden. Dann ist man krank. Wenn man kein Held ist, jedenfalls.

Aber nicht nur der leuchtende Apollo bringt Unheil und Verderben über die Menschen. Gerade der Göttervater Zeus ist besonders phantasievoll darin, sich Körperstrafen auszudenken: Denn war es nicht von ausgesuchter Bosheit, Prometheus – der es gewagt hatte, das göttliche Feuer zu stehlen und zu seinen Schützlingen, den Menschen zu bringen! – nicht nur mit Ketten an den Kaukasus zu schmieden (natürlich handgeschmiedet von Hephaistos, dem Hinkenden, und damit auch unzerstörbar), sondern jeden Tag einen Adler vorbeizuschicken, der dem Verschmachtenden an der Leber pickte – ausgerechnet an der Leber, dem Sitz der Gefühle und der Seele und damit des Lebens überhaupt; demjenigen Organ, aus dem die Priester die Zukunft lesen konnten? Am schlimmsten war aber, dass die Leber über Nacht wieder verheilte (was man gesehen hatte, Naturforscher hatten es berichtet, von Tieren zwar, aber war Prometheus nicht, in gewisser Weise, mit seiner Vor-liebe für diese Menschlein, eine Art Tier?). Die Leber konnte sich regenerieren; so dass die Qual am nächsten Tag von vorn beginnen konnte; es war eine Krankheit, die nicht geheilt werden sollte, sondern immer und immer wieder von neuem ausbrach, eine Wunde, die sich niemals ganz schloss! Ach, nicht die Christen mussten die Erbsünde erfinden; schon die griechische Mythologie wusste, dass nicht der gnädige, gute Tod, sondern die Krankheit, die schwärende Wunde, die bleibende körperliche Schwäche die eigentliche Strafe für die übermütig gewordenen Menschlein waren. Unsterblichkeit mochte ihre Nachteile haben, und ewige Gesundheit war auch nicht viel mehr als ein Spielzeug. Und wenn ein wahrer Held im nun einmal unvermeidlichen Krieg dahingerafft wurde, konnte man ihn immer noch zum Halbgott erheben. Oder eine Nymphe, die ihre Unschuld allzu sehr verteidigt hatte, in einen Baum verwandeln, oder eine entzückende Blume. Aber Krankheit, nein: Das war für die Menschlein! Nichts Halbes und nichts Ganzes, ein Ärgernis und eine Plage, und ein ständiger Beweis dafür, dass sie eben doch noch gar nichts verstanden hatten (ihren Körper zum Beispiel; was aber auch kein Wunder war, da sie sich so viel auf ihren Geist einbildeten und den armen Körper mehr oder weniger als eine Art Lasttier durchs Leben quälten). 

Blinde Dichter und kranke Autoren

Oder für Dichter selbst. In allen Geschichten und Legenden, die sich um ihn ranken, ist Homer blind; man weiß zwar nicht, ob und wann es ihn überhaupt gab und warum aus ihm auf einmal das reinste epische Gold quoll, aber dass er nicht sehen konnte – glasklar. Man munkelte, auch hier, von einer Art Kompensationsgeschäft: Die Musen hätten ihn mit einer so wunderbaren Gabe zum Gesang beschenkt, dass sie ihm dafür etwas hätten nehmen müssen; etwas Wichtiges, das der Größe der Gabe entsprach. Warum nicht das Augenlicht? Denn wozu musste ein Rhapsode die Außenwelt sehen, wo doch die reichste aller Innenwelten in seinem Kopf lebte? War es denn wichtig, ob er Ithaka oder Troja selbst gesehen hatte? Ob er die Schönheit Iphigenies vor dem Opfer oder der Königstochter Kassandra vor der Schändung oder die alles überblendende Superfrau Helena vor der Entführung in Augenschein nehmen konnte? Nein, ein ordentlicher Dichter hatte fortan blind zu sein! Notfalls reichte es auch, irgendwie metaphorisch blind zu sein, realitätsblind zum Beispiel, da Dichter ja sowieso notorische Lügner sind. Dass der bessere Dichter überhaupt der kranke Dichter ist, wurde allerdings erst mit der deutschen Romantik so richtig in; besser noch, der wahnsinnige Dichter (na gut, am besten: der tote Dichter; da sind sich die meisten Nachwelten einig, zumal lebende Dichter einem ziemlich auf die Nerven gehen können, es sind nicht unbedingt die nettesten Mitmenschen erfahrungsgemäß)! Nun wird sich zwar im Nachhinein nie mehr feststellen lassen, wie „wahnsinnig“ Hölderlin wirklich war, zumal psychische Erkrankungen zu den historisch veränderlichsten Diagnosen schlechthin gehören; er war außerdem schon als gesunder junger Mann ziemlich schwerverständlich und einigermaßen überenthusiastisch. Aber er hat viele Nachfolger gefunden, und wenn es zu einem ordentlichen Wahnsinn, zu einer handfesten Neurose oder wenigstens zu einer schweren Melancholie (ja, wir werden auch darauf noch zu sprechen kommen) nicht reichte, konnte man ja immer noch mit Drogen und einer sehr, sehr gesundheitsschädlichen Lebensweise nachhelfen.

Aber es gab auch richtig kranke Autoren. Schiller zum Beispiel, er war wirklich den größten Teil seines Lebens krank, nicht irgendwie psychisch labil oder mental überstrapaziert (da war er eher bemerkenswert stabil), sondern einfach: körperlich mehr oder weniger chronisch krank. Es war wohl eine Tuberkulose, die er in seiner Jugend erwarb; die sich lange unerkannt hinzog und dabei viele Organe in Mitleidenschaft zog, und als die Ärzte ihn nach seinem dann doch eher plötzlichen Tod autopsierten, wunderten sie sich, wie er in diesem Zustand überhaupt so lange überlebt (und produziert!) hatte. Aber seine Figuren: topgesund! Lauter junge Draufgänger und Revolutionäre am Anfang, später gestandene Manns- und Weibsbilder: Wilhelm Tell hustete nicht vor dem Apfelschuss, Wallenstein schaute zwar zu viel in die Sterne, stand aber sonst mit beiden Beinen ziemlich fest im Kriegsgeschehen, aber noch nicht einmal die Jungfrau von Orleans zitterte vor dem Scheiterhaufen!

Sein Lebensfreund Goethe immerhin, der viel Verständnis für Schiller hatte und selbst ein bemerkenswert langes zwischen Kuraufenthalten und langwierigen Krankheiten pendelndes Leben führte; Goethe, der fettes Essen liebte und einen guten Wein, aber auch Diät halten konnte und Brunnenwasser trinken, bis es ihm zu den Ohren hinauskam; Goethe, der zudem viel und lange zu Pferd und zu Fuß die Natur durchstreifte, zu allen Tag- und Nacht- und Jahreszeiten; Goethe also interessierte sich vor allem für praktische Medizin. Sein Wilhelm Meister wird Wundarzt, kein Akademiker, sondern ein Praktiker; deshalb kann er am Ende auch den eigenen Sohn vor dem Ertrinken retten. Und Goethe führt tatsächlich, ganz unauffällig, dann und wann kranke Leute in seine Texte ein. Von Werthers „Krankheit zum Tode“ hatte er sich noch selbst durch das Schreiben eines Romans kuriert. In den Wahlverwandtschaften sind Krankheiten gleichzeitig irgendwie gesellschaftlich bedingt und schwer sym-bolisch aufgeladen. Ottilie und Eduard, das unmögliche Liebespaar, leiden an einer Art spiegelbildlich-sympathetischer Migräne; kein gutes Zeichen für ihre Beziehung, auch wenn es zwischendurch so aussieht, es ist aber nur die Vorform einer romantischen Krankheit zum Tode. Während Eduard ihn im Krieg sucht (und nicht findet), bekommt Ottilie gegen Ende des Romans eine schwere Essstörung: Sie hungert sich zu Tode, indem sie sich das Essen einfach abgewöhnt, wie das Leben überhaupt. Mignon in den Lehrjahren stirbt, wörtlich und metaphorisch, jung an gebrochenem Herzen, eigentlich aber an ihrer Sehnsucht nach Italien, ihrer enttäuschten Liebe zu WilHelm und ihrer generellen Lebensuntüchtigkeit. Aber sie ist auch ein Kind aus einer inzestuösen Beziehung, das von einer Zirkustruppe geraubt und misshandelt wurde – viel schwerer kann ein Trauma wohl nicht sein, von den möglichen genetischen Folgeschäden eines so nahen Familieninzests ganz zu schweigen!

Faust allerdings – ist nur alt, am Anfang zumindest. „Zwei Seelen“ in einer Brust, das ist kein Krankheitssymptom, sondern die conditio humana: Der Mensch als solcher und der Mann insbesondere weiß einfach nicht, was er will (deshalb will er sicherheitshalber alles, und zwar sofort; FOMO, big style!). Dann wird er hexenartig verjüngt. Dann wird er traumatisiert (das von ihm verführte Gretchen verweigert im Kerker die Flucht mit ihm und will lieber mit ihrem toten Kind begraben sein). Nichts jedoch, was durch einen ordentlichen asklepischen Heilschlaf nicht behoben werden könnte! Neugeboren erwacht Faust zu Beginn des zweiten Teils und schlägt sich tapfer bis zu seiner Erblindung als Hundertjähriger. Derweil geht sein Sohn von Helena mit Unfall ab (jugendlicher Leicht-sinn) und das künstliche Geschöpf seines Gehilfen Wagners, der Homunculus, das Menschlein in der Flasche, begeht eine Art Werther’schen Selbstmord aus Liebeskummer (wer hätte gedacht, dass Maschinen dazu in der Lage sind?) Mephisto hingegen hat noch nicht einmal einen ordentlichen Hinkefuß abbekommen. Wird der Teufel etwa gerade so wenig krank wie die Götter?

Vergleichbar viele kranke Romanfiguren gibt es eigentlich erst wieder bei Goethes großem späteren Geistesverwandten, der insofern ein wenig roman-tisch angekränkelt ist, als dass er den Verdacht einfach nicht los wird, um ein wahrer, tiefer, ja: deutscher Künstler zu sein, müsse man ein wenig – romantisch krank sein eben, und nicht goethisch-klassisch-bürgerlich gesund. Krankheit und Gesundheit, Tod und Leben, Bürger und Künstler – das sind die großen Lebensthemen von Thomas Mann, und dementsprechend überbevölkern Kranke seine Ro-mane und Erzählungen. Natürlich im grandiosen Zauberberg, der die Tuberkulose als Zeitkrankheit eines schwindsüchtigen Jahrhunderts erzählt; prominent im Dr. Faustus, der sich dem Teufel verschreibt und sich als Gegenleistung für seine schöpferische Genialität mit Syphilis infizieren lassen muss (wir werden darauf zurückkommen). Nicht nur seiner eigenen Familie, sondern jeder fühlenden Leserin hat Thomas Mann das Herz gebrochen, indem er den niedlichen kleinen Echo (gestaltet nach dem Vorbild seines eigenen Enkelsohnes Frido), den einzigen, der Dr. Faustus zu lieben vermochte, an einer Gehirnhautentzündung medizinisch korrekt geschildert und grauenhaft realistisch dahinsterben ließ. Und ist es nicht geradezu wunderbar, dass in den Buddenbrooks, während die Nachfolgegenerationen immer hysterischer und nervenschwacher werden, der letzte noch halbwegs akzeptable Vertreter der alten, soliden, gesunden Kaufmannstradition der Familie, der Senator Thomas Buddenbrook nämlich, nach einer misslungenen Zahnextraktion stirbt? Thomas Mann selbst, im Übrigen, war trotz seines lebenslangen Kettenrauchens relativ gesund und überlebte sogar den Lungenkrebs, den man ihm verschwieg; er starb 80jährig nicht in Venedig, sondern in einem Schweizerischen Krankenhaus sehr bürgerlich und relativ schnell an einem Aortenaneurysma.

Erzählte Krankheiten: die drei großen Erbsünden der Menschheit

Was sind nun die wesentlichen Krankheiten in der Literatur, und wo findet man sie? Corona ist noch nicht angekommen, und Pest kann man nicht erzählen. Man kann nur die Flucht vor der Pest erzählen, wie es Boccaccio tut. Alle großen Epidemien zerstören den einzelnen Menschen so schnell und so vollständig und so völlig erbarmungslos, dass nicht einmal Zeit für eine kleine Erzählung bleibt. Menschheitsseuchen sind allerhöchstens der Stoff, aus dem Mythen und Religionen gemacht sind; aber sogar Götter lassen die Menschheit lieber durch Sintfluten wegfluten oder durch andere großräumige Naturplagen abräumen (das Erdbeben von Lissabon hat Voltaire immerhin satirisch erzählt: als Theodizee-Satire, oder auch: Gottesbeweis durch vollständige Vernichtung).

Allerdings kann man Krankheit ziemlich gut als Lachnummer erzählen, wie schon Hephaistos zeigt. In der Komödie und im Schelmenroman, dort sind die Kranken seit alters her zuhause; vor allem die eingebildeten Kranken natürlich (aber muss eine eingebildete Krankheit weniger schmerzen?) mit den ihnen seltsam verwandten aufgeblasenen Ärzten und deren medizinischen Allerweltswissen. Niedere Helden dürfen jegliches Gebrechen haben, Hauptsache, man kann sich darüber hinreichend lustig machen. Es darf aber nicht allzu schwer sein, um kein Mitleid aufkommen zu lassen, deshalb erfreut sich die Gicht, genannt auch das Podagra oder das Zipperlein, so großer Beliebtheit: Verkrümmte Gliedmaßen, ein zippelnder Gang, aber nichts wirklich lebensbedrohliches, nur einfach sehr, sehr schmerzhaft, zudem eine Art Lifestyle-Krankheit und somit auch eine Strafe für den verfehlten Lebenswandel! Auch Stottern wird gern gesehen, es führt zu den schönsten Sprachspielereien, also: im Text, nicht in der Realität. Bei Frauen natürlich Hysterie, ständig wird dekorativ in Ohnmacht gefallen und mit diversen Riechsalzen in engem zwischengeschlechtlichem Körperkontakt wiederbelebt. Und Geschlechtskrankheiten, aber dazu kommen wir später noch. Und schließlich kann man Alter erzählen, schon immer. Alter ist ein beliebtes Thema auch und gerade in religiösen Texten, und die Demenz ist gerade dabei, in der modernen Literatur ziemliches Terrain zu gewinnen – was aber nur in einer erzählerischen Experimenten gegenüber aufgeschlossenen Epoche funktioniert, die das realistische Erzählen sowieso schon längst als allzu gesund und philisterhaft abgetan hat.

Es gibt aber drei „echte“, ernstzunehmende, in gewisser Weise sogar existentielle Erkrankungen, die es dann doch zu einer halbmäßig repräsentativen Darstellung in der Literatur geschafft haben. Sie alle haben, wenig erstaunlich, nicht nur eine relativ starke Verbreitung in allen Zeiten und Regionen, generieren vielfältige Symptome und bewirken großes Leid und schwere Einschränkungen über die Lebens-zeit hinweg; sie alle sind dazu noch unschwer symbolisch aufladbar und damit „literaturfähiger“ als der Schnupfen, der Magen-Darm-Infekt oder eine ordentlich philisterhaft-bürgerlich erworbene Diabetes. Die drei „großen Krankheiten“ sind eher Variationen der conditio humana schlechthin: ererbte wie erworbene Ursünden, Wunden, die sich niemals schließen.

Die erste von ihnen ist eine Krankheit der Reflexion: Nennen wir sie den „melancholischen Formenkreis“, der alle Erscheinungsweisen psychischer Störungen umfasst, die sich auf der Schwelle zwischen handfestem „Wahnsinn“ (sagen wir: schweren Psychosen, Epilepsien, ausgeprägten Zwangsstörungen) und milder Depression oder bipolarer Störung bewegen. Seit dem Verstoß aus dem Paradies ist die fatale Neigung zum Wissenwollen, zum Denken, zum Selbst-Entscheiden die Achillesferse der Menschheit. Reflexion, ausgeprägt in Form des Selbstbewusst-seins, führt zu einer fatalen Spaltung zwischen dem unmittelbarem, gelebten Leben und seiner immer ein wenig degenerativen Reflexionsform im Kopf; sie führt zum Ungenügen an einer Wirklichkeit, die allzu handfest ist, um den noch halb erinnerten Paradies-träumen zu genügen; und schließlich zu einer nagen-den Unzufriedenheit, einem wörtlich zu nehmenden Unfrieden mit sich selbst und der Welt. Für all das gibt es auch neurophysiologische Ursachen, Störungen in komplexen Regelkreisen im Gehirn und im Körper; aber welche Henne hier zuerst welches Ei gelegt hat, ist wie so häufig die falsche Frage. Melancholie aber wird erzählt, solange es Literatur gibt. Sogar antike Helden werden gelegentlich schon von Grübelanfällen heimgesucht, und seit Don Quijote durchseuchen männlich-jugendliche Schwärmer mit ihrer Realitätsblindheit und ihrem Verfall ans niemals zu erlangende Ideal die Literatur flächendeckend. Erst spät haben sich in der Schilderung schwerer, klinischer Depressionen schreibende Frauen hervor-getan: Virginia Woolf, Sylvia Plath, Ingeborg Bachmann – sie alle waren selbst davon betroffen, und sie alle beendeten ihr Leben (mehr oder weniger) von eigener Hand (sie hat die Literatur nicht gerettet, wie Werther damals).

Die zweite ist eine Krankheit der Lebensbedingungen, vielleicht die älteste Zivilisationskrankheit schlechthin, auf jeden Fall die am durchgängigsten und häufigsten auftretende in der gesamten Menschheitsgeschichte (vor Corona, aber Corona ist ihr in vielerlei Hinsicht seltsam verwandt): die Tuberkulose, auch genannt: Auszehrung, Schwindsucht – und damit schon etymologisch die menschliche Schwachheit, das Dahinscheiden an sich aussagend. Das Tuberkulose-Bazillus befällt die Atemwege; es überträgt sich über die Luft, vor allem dort, wo die Menschen in Armut und beengt aufeinander leben, unter schlechten Lebens- und Ernährungsbedingungen, in mangelhaft belüfteten Häusern und verpesteten Städten. Und es führte (solange man seine Ursache noch nicht erkannt hatte) zu einem schleichen-den, in den ‚besseren Kreisen‘ sogar: relativ dekorativen Dahinsterben (wiederum: vor allem bei todes-blassen, zierlichen Frauen, wo sogar das Bluthusten ins Taschentuch verklärt werden kann). Man stirbt nicht schnell und spektakulär, sondern eher langwierig und dahinsiechend; man hat noch viel Zeit zum Nachdenken und Reden und dafür, sich in hoher, klarer Gebirgsluft im Duell zu Tode zu schießen. Der Realismus und der Naturalismus lieben die Auszehrung. Stärker können sich Armut und Unterprivilegierung nicht ausdrücken als im rachitischen Husten eines unterernährten Arbeiter-Kleinkindes.

Die dritte schließlich ist eine Krankheit der Moral. Sie hieß früher Syphilis (und wird in einem eher befremdlichen antiken Mythos etymologisch auf einen Schweine liebenden Schafshirten zurückgeführt); man bezeichnete sie auch als „venerische Krankheit“ (von der Liebesgöttin Venus), oder, je nachdem, wen man gerade besonders diffamieren wollte, entweder „französische“ oder „italienische“ (nicht jedoch: „chinesische“) Krankheit, auch der Volksmund hatte einige lustige Namen dafür („weicher Schanker“). Natürlich hat alles, was mit Sexualität zu tun hat, hohes Erzählpotential; die Strafe für verwerfliches moralisches Handeln folgt hier nicht auf dem Fuße, sondern auf dem betroffenen Organ direkt. Die daraus resultierenden Spätschäden greifen auf den gesamten Körper über und korrumpieren letztendlich auch den Verstand; in der letzten Phase kommt es zu Demenzerscheinungen und völliger körperlicher Lähmung – womit bewiesen wäre: Moralische Korruption ist die Korruption schlechthin; sie geht vom corpus delicti aus und erfasst schleichend auch alles andere am Menschen. Das hätte sich selbst Zeus nicht grausamer ausdenken können!

Aber natürlich will niemand von Krankheiten lesen. Es ist schlimm genug, dass man selbst daliegt, und die Schleimhäute zersetzen sich und der bittere Geschmack will nicht weichen und man kann weder ordentlich schlafen noch ordentlich denken (auch das Schreiben ist schon einmal gesunder abgeflossen). Aber wir leben nicht auf dem Olymp, sondern in der Welt, wo die Geier der Reflexion jeden Tag an unseren Nieren hacken, die Schwaden von Abgasen und Birkenpollen das Atmen schwermachen und der Körper zu viel, der Geist aber zu wenig zur Ruhe kommt. Mens sana in corpore sano: Obwohl das inzwischen über jeder gehypten Wellness-Anlage steht, aus der die Wohlstandskranken wanken; obwohl wir schon lange ein Gefühl dafür verloren haben, was ganzheitliche Gesundheit überhaupt sein könnten; obwohl wir meinen, die moderne Medizin könne nicht nur alles heilen, sondern müsse das sogar; obwohl unser künstlich verlängertes Altern die Krankheiten geradezu fett füttert: Wollen wir das trotzdem glauben! Irgendwo gibt es einen gesunden Geist in einem gesunden Körper, wir haben ihn nur irgendwie verloren, er hat sich versteckt, aber es gibt ihn. Wenn nur die Krankheit nicht wäre!


Eine Schluss-Parabel

Im Hintergrund humpelt Hephaistos vorbei, er hat wieder einen Auftrag. Diesmal soll er zwei mechanische Dienerinnen zusammenbauen, wofür soll das nun wieder gut sein? Demnächst werden sie noch Krücken von ihm haben wollen. Oder Brillen, für all die blinden Dichter. Auf der Erde, bei den Menschlein, hat er gehört, gibt es eine neue Krankheit. Hatte Pandora etwa wieder einmal ihre Büchse geöffnet? Natürlich war auch sie sein Werk gewesen; aus Lehm hatte er sie geschaffen, weil Zeus der Meinung war, Prometheus sei immer noch nicht genug gestraft für den Raub des göttlichen Feuers. Und wie über alle Maßen schön war sie ihm geraten, ihm, dem hässlichen Hinkefuß! Noch stolzer allerdings war er auf die Büchse, Pandoras Geheimwaffe. Alle Übel der Welt solle sie enthalten, so hatte Zeus, sein Rabenvater, es ihm eingeschärft; und dazu noch die Hoffnung – denn nur so würden all die Übel erst zur vollen Entfaltung kommen! Es sei wie mit der Leber des Prometheus, immer wenn man gerade meine, dass die Wunde sich schließe, wenn man in der Ferne einen kleinen Hoffnungsschimmer erahne, sich gerade aufzurichten beginne, um die Sonne wieder zu sehen, das allerfreuliche Licht – stelle sich heraus, dass es wieder einmal eine falsche Hoffnung war. Hephaistos hätte man das nicht sagen müssen. Denn hätten die allmächtigen Götter, seine lieben Verwandten, nicht genauso gut sein hinkendes Bein heilen können wie es zerstören? Aber dann hätten sie ja zugeben müssen, dass sie einen Kranken unter sich geduldet hatten. Manchmal hatte er das Gefühl, er sei der Einzige, der einen gesunden Verstand hatte in dem ganzen Haufen, vor allem, wenn sie mal wieder in ihr berühmtes nichtendenwollendes Göttergelächter ausbrachen; ja, dass sie ihn sogar in einer schwer definierbaren Weise brauchten. Ein gesunder Verstand in einem kranken Körper, das war er, Hephaistos, das Monster! Aber dann dachte er lieber wieder über die zwei mechanischen Dienerinnen nach, die er bauen wollte. Sie würden wie zwei kleine Menschlein sein, ununterscheidbar. Vielleicht würde er ihnen sogar ein Gehirn geben.


NACHT-FRAGMENTE (GELEGENTLICH REDUNDANT)

Oder: Innenansichten aus der Krankheit


Krankheit ist ein Kampf. Gladiatoren, oder Söldner, oder nur der alltägliche Kampf ums Dasein. Das Leben ist kein Geschenk, es muss erkämpft werden. Kampf ist gut, mutig, heldenhaft manchmal sogar. Aber man sollte ein wohldefiniertes Kampfesziel haben: Leben? Besseres Leben? Längeres Leben? Durchgearbeitetes Leben? Und der Körper ist nicht der Feind, auch wenn man ihm ein wenig vorwirft, dass er einen schon/schon wieder im Stich gelassen hat. Wahrscheinlich muss es ein gemeinsamer Kampf werden, ein Bündnis von Körper, Willen und Geist gegen – ja, gegen was eigentlich? Das Fremde, das Eingedrungene, das Bedrohliche, das nach einem eigenen Gesetz in uns Wachsende, nicht nach unserem.

Krankheit ist eine Wahrnehmungsveränderung. Schon die Lage ändert sich, die Horizontale wird dominant, der Mensch ist das Wesen, das auch im Liegen denken kann (aber anders). Das Essen schmeckt anders. Die Musik klingt anders. Allein der Reiher auf dem Feld bleibt treu (er war aber schon immer anders).

Krankheit ist ein Glockenschlag. Man fühlt sich nicht mehr allein. Jemand zählt die Stunden für mich mit. Jemand hört sie schlagen. Die Welt bewegt sich noch. Am Tage fließen die Stunden (wenn man Glück hat), nachts schlagen sie. Krankheit ist eine Zeitumstellung.

Krankheit ist ein Raum für sich selbst. Er wächst zusammen zu einem Mini-Universum mit unterschiedlichen Zeitzonen. Die Künste wohnen in ihm, aber auch der Blick aus dem Fenster zu den Vögeln. Schlafen, Liegen, Sitzen.

Krankheit ist Sentimentalität: Man möchte sich ein kleines Grab einrichten und darauf schreiben: „Hier liegt mein bisheriges Leben. Ich kannte es nicht“ (in einer Episode von Midsomer Murders, einer meiner Serien zur Krankheit neben Lucifer, klagt eine Figur immer wieder: „Where is my lovely life?“).

Krankheit ist die Erkenntnis, dass niemand einem helfen kann. Niemand kann einem die Schmerzen abnehmen, die Angst, die Entscheidungen schon gar nicht. Bisher glaubte man wenigstens an Erfolge bei der Symptombekämpfung, das stößt jedoch auch bald an seine Grenzen, wenn die Neben- und Wechselwirkungen ihren teuflischen Tanz beginnen. Zwischendurch eine Spritze Hoffnung, aber sie hält nicht lange an (hope is a bitch).

Krankheit ist ein fremdes Land. Heute Nacht bin ich durch etwas gereist, es sah mal ein wenig wie China, dann wieder ein bisschen nach Japan aus. Jedenfalls kam ich irgendwie nicht zurecht, ich verhielt mich nicht landesgemäß. Ich hatte zwischendurch Begleiter, die mich fremd ansahen und wohl etwas erwarteten. Dann war ich wieder in dem Auto, das ich nicht fahren kann, ich wusste noch nicht einmal, wo Bremse oder Gaspedal waren. Dann war das Auto weg.

Krankheit ist eine Ablösungserscheinung. Der Körper löst sich in Schichten auf. Vorher war man ganz zu-frieden dabei, an der Hülle stehenzubleiben. Danach lernt man Körperschichten kennen. Zonen verschiedener Temperatur und Konsistenz. Man möchte nicht wohnen dort.

Krankheit ist eine fortschreitende Entfremdung vom eigenen Selbst. Die Haut reibt ab. Pickel sprießen aus der Kopfhaut, da wo sonst ein dichter lockiger Wald war. Das Körperbild kommt kaum nach im inneren Spiegel, eigentlich will es sich auch nicht sehen.

Krankheit ist ein Besuch von Plagen. Jeder Tag kann einen Überraschungsgast bringen. Selten klopfen sie höflich an, meist treten sie ungefragt ein, und wenn man es merkt, sagt man: „Aua!“ „Aua“ könnte eigentlich ein schönes Wort sein. „Aua“ sagte man vielleicht als Kind, wenn man mal wieder auf die Knie gefallen war. Man muss ein neues Wort finden. Vielleicht sollte man Oi! rufen, so wie die englischen Bobbys es tun, wenn der Verdächtige mal wieder völlig sinnlos versucht wegzurennen. Es ist eine Art Befehlswort, zudem lustig und herrisch zu sprechen. „Oi!, blödes Bauchweh!“

Krankheit ist Anti-Yoga. Man begrüßt jedes Körperteil, aber nicht freundlich-einverstanden. Der Organismus zerfällt in Verschwörungen. Destruktive Gruppenarbeit. Arbeit am Mark. „Komm Schmerz, du letzter den ich anerkenne“ – Rilke war, am Ende, ein Krankheits-Yogi in Perfektion.

Krankheit ist ein Auf und Ab, ein Schlingern, ein Durch-die-Mangel-drehen. Sanfte Wellen wären schön, ruhiger flow. Ausnahmsweise wäre man lieber mittelmäßig.

Krankheit ist ein Quantenphänomen. Sie entsteht durch Beobachtung und verläuft selten kontinuierlich. Irgendwo in der Ferne steht der gesunde Körper, durch geheime Drähte verbunden, aber temporär unerreichbar.

Krankheit ist ein Warteraum. Ohne Fenster. Das Licht gelblich. Verblasste Poster. Gelegentlich eine eher trostlose Pflichtübung in Aufmunterung. Zeitschriften, die von einem anderen Leben schreiben. Unsicherheit. Weglaufgefühle. Eben war die Zukunft noch offen, jetzt könnte sie eine neue Richtung bekommen, die man sich nicht ausgesucht hat (tut man das jemals?) Und dann kommt schon der nächste Warteraum.

Krankheit ist ein Wartesaal mit sehr schlechten Stühlen. Immer wartet man auf etwas. Dass es besser werden möge. Ein Ergebnis, ein gutes, hoffentlich. Den Schlaf, die Ruhe. Das Nachlassen der Schmerzen. Es gibt aber nur sehr schlechte Stühle, die alles nur noch schlimmer machen. Der Raum wird immer enger. Es beginnt zu riechen.

Krankheit ist ein schlechter Geschmack. Das ist schlimm. Geschmack kann man nämlich nicht abstellen. Man kann die Zunge nicht schließen oder zuhalten. Man gewöhnt sich auch nicht daran. Man sucht Vergleiche, sie machen es nicht besser. Gibt es bittere Metaphern? Schleimige Allegorien? Warum nicht einen Gott der Krankheit?

Krankheit ist ein Körpergeräusch. Man hört sich mehr von innen, was selten ein gutes Gefühl ist. Innen wird verarbeitet, maschinell, vielleicht auch industriell. Das Herz ist eine Maschine, wenn es holpert, braucht man einen Mechaniker. In der Körperhalle werden die Geräusche doppelt laut.

Krankheit ist ein Strafregister. Nicht wenige Beziehungen werden durch eine begangene Unmenschlichkeit definiert. Es hilft nicht, eigene Fehler anderen übelzunehmen. Es hilft noch nicht einmal, das zu erkennen. Mit Glück bekommt man eine Bewährungsstrafe.

Krankheit ist die Welt, von hinten gesehen. The dark side of the body. Tagseite, Nachtseite. Man sieht auch die Sterne nur von hinten, ihr Leuchten geht in die andere Richtung. Jede Stunde geht die Sonne unter. Jede Stunde hofft man, sie würde wieder aufgehen. Dann geht sie wieder unter.

Krankheit ist eine Nachtseite. Lange Zeit ist die Nacht nur die dunkle Hälfte, man verschläft sie, man verpasst gelegentlich einen Traum. Dann wird sie mehr und mehr ein Gegengewicht, im besten Fall ein Gestaltungsraum, mit Phasen und Einrichtungen und Lageverschiebungen. Wusste man, dass Liegen Aktivität ist? Vielleicht auch eine Vorbereitung.

Krankheit ist eine Reduktion; „diminuishing“ ist das schöne englische Wort. Sie reduziert das Ich, entzehrt. Sie kostet nicht Kraft, sie macht Kraft unmöglich. Hatte man jemals Kraft zu irgendetwas? Man wird immer kleiner. Möchte verschwinden. Schwund, vielleicht wäre das das deutsche Wort. Aber es ist eher ein aktives In-den-Boden-Gehämmert-Werden. Dich kriegen wir auch noch klein!

Krankheit ist eine funktionelle Störung, die die Herrschaft übernommen hat. Den Begriff fand ich schon lange nützlich, auch wenn er meist von Medizinern als Euphemismus für „Ich kann beim besten Willen nichts finden, sind Sie sich sicher, dass Sie nicht doch gesund sind und meine Zeit stehlen?“ benutzt wird. Nein, gesund ist man eigentlich nie, man funktioniert höchstens innerhalb gewisser Paramater („Ich funktioniere innerhalb normaler Parameter“, sagte Data in Star Trek, wenn man ihn nach seinem Befinden fragte). Jetzt breitet sich die Störung im System aus. Man hätte gern eine Fehlermeldung dafür: „Fehlercode 404“ oder einen der anderen Klassiker. Man ist dann zwar nicht schlauer, aber das Kind hat einen Namen.

Krankheit ist Bitterkeit. Nicht nur der Geschmack (der aber vor allem). Er-Bitterung, ein Bitterwerden von vorher wenigstens gelegentlich Genießbarem. Leben: Gelegentlich Genießbares. Der Rest ist Bitterkeit.

Krankheit ist aufsprossender Neid. Warum sind die Anderen gesund? Gespräch beim Warten auf die Blutabnahme, nein, eigentlich ging es mir ganz gut dabei, keine bleibenden Beschwerden. Warum will man nicht allein verbittern? Man kann Bitterkeit sowieso nicht teilen. Noch nicht einmal mit-teilen.

Krankheit ist eine Übung in Abwägung. Gesunde müssen sich nicht entscheiden. Sie haben ein unbezweifeltes Gut. Kleine Einschränkungen machen noch keine Bedenken. Erst wer die Übel wägen muss, gegeneinander, weiß um die unendliche Grauheit des Seins.

Krankheit ist ein fremdes Land. Wenn man sich zu lange dort aufhält, entfremdet man der Heimat. Es ist ein anderes Land mit anderen Regeln, vielen Schrecken, wenig Freuden: Man würde sagen, es scheint eine dunkle Sonne dort, und die Nächte sind dafür zu hell. Man erkennt seine Bewohner an dem besonderen Blick; er hat eine Art tiefen Grund, eine Art inhalierten Schrecken, eine dunkle ausgezehrte Hoffnungslosigkeit. Ich habe das schon gesehen, bei meiner Schwester, ich war fast beleidigt, dass sie irgendwie ausgezogen schien, uns nur noch auf einer seltsamen Oberfläche zur Kenntnis nahm, aber eigentlich abwesend, in einem anderen Gespräch verwickelt, das wir nicht hören konnten (es fehlte uns ein Organ dafür). Es sah ein wenig unhöflich aus. Jetzt, fürchte ist, sehe ich ähnlich aus. Man ist in andere Gespräche nicht nur verwickelt, sondern wird von ihnen absorbiert. Man versucht, aus Höflichkeit ein Interesse aufzubringen für die Welt der Anderen da draußen. Aber es ist anstrengend und funktioniert nur eine Zeitlang.

Krankheit ist die Forderung, dein Leben zu ändern. Wirklich diesmal. Niemand ist gesund in meinem Alter, und das hat schon viel früher begonnen. Aber man nimmt es nicht ernst, schließlich will man nicht krank sein (krank sind andere oder alte Leute). Man verschlampt es ein wenig, wie so vieles, man schraubt an den Symptomen herum, und Ibuprofen ist der Meister aller Klassen. Aber es geht nicht weg, es verpuppt sich nur wieder anders, es taucht unter und tut sein mäßig schreckliches Werk. Irgendwann hat man ein kleines Gefolge an unbotmäßigen Begleitern, lästigen Zeitgenossen, sie beschließen immer dann aufzuwachen, wenn man sie gar nicht braucht. Aber man hat nicht die Zeit, ein energisches Wort mit ihnen zu reden, und wofür gibt es schließlich Ibuprofen? Man hat keine Lust sein Leben zu ändern; allerhöchstens poliert man ein wenig an der Oberfläche herum, verschiebt die Möbel, ändert das Farbschema. Sobald es jedoch ernsthaft „Krankheit“ heißt, muss man sein Leben sowieso ändern. Man hat keine Wahl mehr. Man hat aber immer noch keine Lust dazu.

Krankheit ist Erschöpfung. Niemals war mir vorher mir aufgefallen, dass Er-Schöpfung auch ein Gegenteil von Schöpfung ist: ausgeschöpft sein. Jeder Tag schöpft nun an uns, der Lebensmut müsste über Nacht neu wachsen, magisch, die Lebenskraft sich neu erzeugen, re-generieren – aber aus was? Freude, Selbstschöpfung, Vermehrung? Er-schöpft aber ist: Der Nachschub bleibt aus. Das Lager ist leer. Die Batterien tiefentladen. Mühsam sucht man Ersatzkanister, Notstromaggregate; kratzt hier einen Rest vom Boden ab, versucht aus Erinnerung zu fühlen. Der Motor stottert höchstens ein wenig. Was hülfe, wäre Magie.

Krankheit ist die Erfahrung: Schlimmer geht immer (die Chemo-Schwestern haben sehr gelacht, als ich auf die Routine-Anfrage zum Befinden antwortete: „Wie immer, nur schlimmer“). Klar wird es zwischendurch auch besser, mal viel, mal wenig, mal plötzlich, mal zäh. Aber irgendwann kann man nicht mehr vergessen: Schlimmer geht immer.

Krankheit ist Wohnen in Betten. Sie haben verschiedene Zeit- und verschiedene Liegezonen, und, trotz aller Anstrengungen, selten eine comfort zone, in die man einfach einrasten könnte. Man braucht Zwischenlagen, je nach Körpergefühl. Dann wird gewendet, das können kleine Kraftakte sein. Das eine entlastet, das andere wieder belastet. Auch das Klima, es ist ein sehr veränderliches Mikroklima, will seine Anpassungen. Zwei Lagen bilden dabei sozusagen die Extreme: der Embryo natürlich, eingerollt für maximale Wärme, bei-sich-sein, sogar die Finger nach innen gekrümmt. Die Außenwelt wird ausgeschlossen, der Igel ballt sich. Der Kontrast dazu: die gerade gestreckte Rückenlage, und schon der abgeknickte Kopf ist ein Kompromiss. In Brentanos Ponce de Leon erkundigt sich der jugendliche Schwärmer, ob die verehrte Frau denn auf dem Rücken schlafe, ganz gerade, das Gesicht zum Himmel. Es ist eine wichtige Frage, die aber nicht jeder versteht. Wohingegen ich wetten könnte, dass Ponce selbst nicht anders als im Embryo schläft. (Bauchlagen hingegen sind ein noch ungeklärtes Mysterium; Teufelswerk?)

Krankheit ist eine Geschichte. Auf Neudeutsch: ein Narrativ, etwas, das nur in der bestimmten Form einer Erzählung angemessen verstanden werden kann. Symptome sind Episoden, Krisen die große handlungsentscheidende Katastrophe; dazwischen gibt es retardierende Momente, Schmerzpausen, vergängliche Linderungen von Symptomen. Und natürlich kann man die Vorgeschichte nicht überspringen, auch wenn man allzu oft in medias res einsetzen muss. Leider sind Ärzte nicht immer die besten Hermeneuten, sie wollen immer gleich zum Ende springen, der katharsis. Hypochonder hingegen über-deuten natürlich. Kranke aber – haben zu wenig Distanz. Sie sind immerhin die Hauptfigur in ihrer eigenen Krankengeschichte. Aber auch gefangen in ihr: Denn narrative Muster sind nicht leicht zu brechen. Und niemand garantiert ein happy end.

Krankheit ist ein Training in Berufsoptimismus. Ärzte haben es alle durchlaufen, sie müssten sonst an sich verzweifeln. Erfahrene Kranke oft auch, immerhin haben sie bisher überlebt; um welchen Preis, das vergisst die gnädige Erinnerung für sie. Leider scheint Optimismus zu einem guten Teil ein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal zu sein. Trainieren kann man höchstens positives Denken, es hat eine leicht durchschaubare Mechanik. Aber das ist gleichzeitig auch seine Grenze.

Krankheit ist eine Inflation des Egoismus. Egoisten sind wir natürlich alle, aber wir können uns gelegentlich von uns selbst ablenken. Beim Kranksein aber drängt sich das Ich vor, gewinnt monströse Proportionen, frisst jeden anderen Gedanken weg: Ich habe Schmerzen, Ich leide, Ich kann das alles nicht, Ich werde sterben. Geh doch weg, möchte man manchmal sagen, du gehst mir wirklich auf die Nerven! Dann tut es wieder weh. Dann fällt es einem wieder ein. Kranksein und den ganzen Tag nicht „Ich“ sagen: Das ist für wirklich Fortgeschrittene!

Krankheit ist eine Einführung in Schizophrenie. Paranoia hat man ja gleich am ersten Tag entwickelt, nach der Diagnose: Warum ausgerechnet ich? Irgendetwas musste Jutta H. falsch gemacht haben, als am Morgen die Ärzte vor der Tür standen. Das macht aber keinen so großen Unterschied, nur weil man paranoid ist, heißt das ja noch lange nicht, dass man nicht verfolgt wird (Weisheit von Nirwana und dem Känguru). Schizophrenie verstärkt eigentlich auch nur die zwei Stimmen, die sich bei jeder halbwegs ernstzunehmenden medizinischen Untersuchung im Kopf herumdrängeln: Sie sollen etwas finden, eine Erklärung vor allem! Nein, sie sollen nichts finden, ich bin doch eigentlich gesund! (klassisches lose-lose). So viele Seelen wohnen in einer kranken Brust. Auf zu engem Raum kämpfen sie. Wahrscheinlich kommt die Psychose, wenn eine endgültig gewinnt (das Ich: diejenige Psychose, die sich durchgesetzt hat und zur Gewohnheit geworden ist?).

Krankheit ist eine Rhythmusstörung. Und damit das Gegenteil vom schönen fließenden, die Zeit verspielenden flow. Fieber natürlich, erhöhter Herzschlag, dann das dumpfe Dröhnen in den Ohren. Dann wieder Stocken, Aussetzen. Die Tagesrhythmen verschwinden, die Nachtrhythmen sowieso, was die Stunde geschlagen hat, hört man in den small hours; man verflucht sie, und die Sonne zieht tagsüber einen verlangsamten Kreis. Schmerzen sind Zeitdehner, Sekundenschärfer. Wenn die Leute nett sein wollen, sprechen sie von „Entschleunigung“ als Zeitgewinn – was ja auch irgendwie stimmt und zu lernen wäre, wäre man denn gesund. Sobald auch nur eine Atempause eintritt, stellt sich der gewohnte Rhythmus im Alltag wieder her, und der ist viel zu schnell. Ein Läufer, der sein Leben lang trainiert hat, so schnell wie möglich zu laufen, wird nicht einfach zum schlendernden Fußgänger, weil eben mal die Puste ausgegangen ist. Unser persönlicher Rhythmus, unser Eigentempo ist tief verwurzelt, und wenn wir ihm nicht folgen dürfen, werden wir unleidlich (was man an jedem Autofahrer sehen kann, der sich an einen Verkehrsfluss anpassen muss). Ent-schleunigung, das wird (Gesetz der Energieerhaltung) wohl ziemlich genau so lang dauern, wie man die Beschleunigung über einen persönlichen Grundtakt gelernt hat. Es sind Muster zu brechen, Zyklen zu entzerren, Automatismen abzubauen. Kaum hat man wieder ein wenig Kraft gespürt, will man schon wieder losstürmen. Wofür? Ist definitiv die falsche Frage.

Krankheit ist eine Verwicklung. Natürlich hat man schon lange vorher nicht mehr an isolierte Ursachen geglaubt, die Philosophen mögen sie nennen, wie sie wollen (zeige mir eine Wirkung, die nur eine Ursache hat, und ich zeige dir deine Blindheit)! Nun wäre es ja gar nicht so schlimm, wenn komplizierte Dinge viele Ursachen hätten; das macht sie schließlich kompliziert, und selbst wenn ich mir beim Gemüseschneiden in den Finger schneide mit dem mal wieder unerwartet scharf geschliffenen Küchenmesser, scheint das ein klarer Schnitt und eine übersichtliche Angelegenheit – aber was kann daraus erwachsen! Krankheiten passieren in Körpern, Organismen, den kompliziertesten und komplexesten Strukturen, die wir kennen. Körper haben immer Vorerkrankungen (nicht nur bei Corona); die Geburt ist der erste Eingriff von außen, und er hinterlässt schon Schäden (man ist versucht zu sagen: Je natürlicher, desto mehr). Am kleinen Zeh piekst es, und das Gehirn macht einen Ausschlag. Nichts, aber auch gar nichts passiert unbeachtet in diesem großen Gefängnis, die Seele führt Protokoll (also, ich meine: durch das ständige Protokollführen entsteht das, was wir „Seele“ nennen oder meinetwegen auch „Selbstbewusstsein“); das Gehirn wertet aus und archiviert (aber wir verstehen die Katalogsystematik nicht immer). Der zweite Zeh schreit aus Solidarität mit, man teilt sich schließlich eine entlegene und lange Nervenbahn. Das Bein krampft ein wenig dazu, nur die Andeutung einer größeren Reaktion. Kurz bricht Schweiß aus, weil das Gehirn die Gefahr mal wieder übertrieben hat und das Blut ins Körperinnere befohlen, damit es die zentralen Bereiche schützt; die Zehen haben insgesamt eine ziemlich niedrige Priorität bei Notrufen. Zum Glück fliegt dann ein Schmetterling vorbei, die Augen übernehmen, crisis averted! Aber je mehr der Körper auf sich selbst schaut, auf stockende Abläufe, auf mögliche Krisensymptome entlegener Provinzen – und jetzt beginnen sie auch noch, sich gegenseitig aufzuwiegeln! –, desto schneller ist ein Stoßtrupp Adrenalin zur Stelle; aber oft war es nur ein Probealarm, oder eine Fehlschaltung, doch die Pumpen laufen schon in vollem Betrieb – ja, ziemlich verwickelt. Manchmal entsteht sogar eine grande complication. Man würde den ganzen Kasten am liebsten neustarten, re-booten, noch einmal auf Anfang setzen! Wenn man nur den Knopf fände!

Krankheit ist Schmerzmanagement. Ab irgendeinem Zeitpunkt kommen Schmerzen niemals mehr allein. Sie sind vergesellschaftet über das Netzwerk des Organismus mit seinen unterschiedlichen Verkehrs- und Zirkulationssystemen, sie sind sym-pathisch, sie fühlen miteinander mit, sie vibrieren mit; sie haben ein Gedächtnis, das sich auch bei fernen Assoziationen wieder aufgerufen fühlt. Aber da auch der kranke Mensch zum Glück nicht multitasking-fähig ist, spürt man immer nur einen oder wenige davon. Und manchmal gelingt es sogar den kleinen, sich vorzudrängeln; geradezu dankbar fühlt man den Zeh, das Knie, sogar den Rücken. Sie kennt man. Nicht besiegbar, aber teilweise beherrschbar in einer Art ausgedehnter Belagerung. Mehr erwartet man ja gar nicht bei begrenzten Kampfesressourcen.

Krankheit ist verschleierte Zeit. Wahrscheinlich ist das eines der wenigen Dinge, über die man froh sein könnte. Die Zeit des Leidens bleibt undeutlich zurück. Man soll sich nicht erinnern, das ist die kluge Idee der retrograden Amnesie. Wenn es ganz schlimm war, hat man hinterher einen Trauma-Marker mehr: So kann es einem auch gehen. Dazwischen aber liegt verschwommene Zeit, in Zeiten von Corona auch: ein ganzes verschwommenes Jahr. Einzelne Fetzen ragen heraus, trügerische Hoffnungsspitzen. Aber am Ende war es nicht der Hauptkamm, sondern nur eine Hügelkette. Ein Vorgebirge. Und wenn man sonst auch starrsinnig an seinen Fehlern festhält und für nichts und niemand seine Persönlichkeit eintauschen würde: Diese grauen Tage könnte man missen. Der Lernertrag ist schwach, er wird eingebläut für die Dummen: Leben ist schwach. Gesundheit ist Glück. Schmerz kann man nicht verstehen. Der Körper ist eine ewige Baustelle.

Krankheit ist Teufelswerk. Insbesondere Chemotherapie. Der Teufel dringt mit einer roten, wahrscheinlich stinkenden Flüssigkeit ein, kurz überm Schlüsselbein, gar nicht so weit vom Herzen: Zentralkörper. Er soll den Beelzebub austreiben. Es ist eine Teufelsschlacht, gekämpft wird mit sehr schmutzigen Waffen: Schleim, Gestank, Schwermut. Metall. Zersetzung. Blähung. Auflösung. Alles Wörter aus dem Wörterbuch des Teufels. Die Zeit zieht sich, zieht sich, zieht sich, am Morgen wünscht man sich den Abend herbei, und die Nacht schenkt nur ein trügerisches Vergessen, das Minuten anhält, bevor der Teufel wieder aufwacht: Ich bin immer noch da! Ausgetrieben hast du nur deine guten Geister, die Feiglinge!

Krankheit ist die Erkenntnis, dass Gesundheit nicht trivial ist. Alte Leute wussten das schon immer, und was hat man sich darüber lustig gemacht in der Jugend: „Vor allem Gesundheit!“ Dass ohne Gesundheit alles nichts ist und die vermeintliche Wertschätzung von Krankheit eine sentimentale Überschätzung der eigenen Kräfte, konnte man schon bei den Romantikern lernen; oder beim ziemlich viel kranken, aber deshalb seine Gesundheit so besonders hochschätzenden Goethe, der sich dafür nicht zu trivial war. Später, als ich endlich gesunde Bücher schreiben wollte, wurde ich krank (Dichtung und Wahrheit hingegen ist wahrscheinlich das gesundeste Buch, das es gibt).

Krankheit ist ein Beigeschmack. Wahrscheinlich von Tod, wer will das schon so genau wissen. Das Leben ist nicht mehr rein (süß schmeckte es schon lange nicht mehr). Nie wieder wird man unbeschwert sein. Gegen Bitterkeit hilft auch kein Süßstoff.

Krankheit ist eine Lektion in trügerischen truisms. Alles, was man so verspricht (es wird auch wieder besser. Es kommen gute Tage. Du bist nicht allein. Wir können dir helfen, egal was passiert) ist falsch und gelogen. Allenfalls das, woran man nicht geglaubt hat, hilft gelegentlich ein wenig (du bist wirklich tapfer).

Krankheit ist eine Energiekrise. Erst spät lernt man, zumal wenn man physikalisch unbegabt und uninteressiert ist, dass man für alles Energie braucht. Auch für Leben: eine Kraft, einen Antrieb, Lebensmut, allein fürs reine Dasein. Krankheiten aber sind eine Art schwarzes Loch, das alles anzieht und verschwinden lässt; kein lebendiger Ereignishorizont mehr, nirgends. Natürlich versucht man Energie zu sparen, wo es geht, reduziert zum Beispiel die Energiezufuhr (wozu Essen? Es wird doch nur in Schmerz umgesetzt und in Leiden verzehrt). Gibt es negative Lebensenergie, zehrende Mutlosigkeit, nicht nur im Geist, in allen Knochen und Muskeln, ein Vibrieren von Falschem?

Krankheit ist eine Grenzanerkennung. Natürlich habe ich immer an Grenzen geglaubt, ihren Wert und Sinn, ihre Notwendigkeit, das musste man mir nicht erklären oder aufzwingen. Grenzenlosigkeit ist Panik, nicht Chance. Grenzen sind beruhigend, und manchmal kann man ja eine kleine Über-Schreitung wagen. Aber das spricht nicht gegen Grenzen an sich. Im Unterschied zu menschlich gezogenen Grenzen sind natürlich auch nicht willkürlich. Sie existieren (weil es den Tod gibt, natürlich, das ultimative Totschlagargument). Wenn man krank ist, spaziert man an ihnen entlang, mit zunehmender Ehrfurcht (und Panik). Wie gern würde man in seine heile Mitte zurück (Gibt es sie noch? Where is my lovely life?). „Vielzufrieden“, ein Goethewort, gibt es auch „vielverzweifelt“?

Krankheit ist eine Verkümmerung. Man wird kümmerlich, an Leib und Seele, kaum weiß man, was mehr bedrückt, das Drückende der Magenschmerzen, das Gedrückte der Stimmung, das Niederdrücken der ganzen Welt auf die Zukunft. Jede blühende Pflanze klagt einen an, jede Äußerung der Freude, der Heiterkeit, der Leichtigkeit. Man kümmert sich zu sehr, um Dinge, um die man sich nicht kümmern will. „Ver-kümmern“, ein besonders böses Ver-Wort, kann man auch wieder „ver-heitern?“

Krankheit ist ein Auseinanderfallen (can’t hold it together). Eine Redewendung, die man in ihrem wörtlichen Sinn erst versteht, wenn man sie erlebt hat. Leben ist ein Vielteilchenproblem, und das Ich ein schwacher Zusammenhalt aus Bildern, Wünschen, schwankenden Vorstellungen und allerhöchstens metastabilen Zuständen. Es fordert Kraft, Energie, das zusammenzuhalten, Willen auch, vor sich selbst und vor der Welt. Beim Kranksein lässt man ein Stück nach dem anderen fallen, weil man sich nicht mehr zusammenhalten kann. Beschränkung auf das Nötigste, wenn schon alles Mögliche am Körper zu Fetzen geht, diverse Häute als erstes. Häute sollten uns zusammenhalten. Alles Lebendige braucht eine Hülle (Form ist schon Luxus). Hüllen können zerstört werden.

Krankheit ist Management. Keine Wirkung ohne Nebenwirkung, das könnte man sich mal fürs Geschäftsleben merken. Dazu kommen die Wechselwirkungen, mal verstärken sie, mal schwächen sie ab, mal verhindern sie oder führen ganz in die Katastrophe. Niemand managt einen Organismus von außen, noch nicht mal bei Computern klappt das, und ich habe meinen etwas angejahrten Desktop-PC schon lange im Verdacht, dass er heimlich sich in seinen eigenen Schaltkreisen verknotet hat und ohne einen rettenden Neustart, gelegentlich, in einem immer tieferen Sumpf versinken würde. Gern würde ich eine Chemo-Therapie als Re-Booting verstehen, aber wahrscheinlich ist sie eher eine Generalrenovierung nach vorherigem Abriss bis auf die Grundmauern. Was man dabei alles an Altlasten findet, mag man sich nicht vorstellen.

Krankheit ist ein Wendepunkt. Wann er allerdings stattfindet, entscheidet der Körper. Der Geist humpelt mitgenommen hinterher und murmelt: „Äh, hab ich doch gleich gesagt“! Eigentlich ist es aber ein innerer Ruck – etwas könnte sich lösen und endlich, endlich Frieden ausgießen (oder auch nicht). Die Wende, die der Geist nimmt, ist die auf den Tod hin. Das muss nicht falsch sein. Ist der Tod nicht das Offene, von dem Rilke spricht? Geboren werden wir ins Leben, ins Enge, ins immer Bestimmtere. Der eine Weg, den wir gehen, verschließt tausend andere. Am Ende wartet eine Tür. Sie ist immer offen. Wir wissen, dass sie da ist, aber nicht, was dahinter ist. Eigentlich könnte man gespannt sein. Ein wenig freuen könnte man sich sogar, schließlich ist es eine Rückkehr. Aufgehen, Auflösen, Verteilen. Offene Erde.

Krankheit ist, wenn Ibuprofen dein bester Freund wird. Dass Reden nichts nutzt, lernt man ziemlich schnell. Mitfühlen, vielleicht eine kleine Linderung („lind“, das wäre man auch gern einmal wieder). Das Zusichern, das Trösten, das Vertrösten auf bessere Zeiten, kleine oder große Geschenke, Liebesbeweise gar – nichts davon macht, dass der Schmerz aufhört, das Bittere vergeht, es ein Ende hat, oder wenigstens: eine Pause. Nur Ibuprofen. Wie dankbar ist man für die Pause. Natürlich geht es davon nicht weg, aber es geht sowieso nie mehr weg. Aber eine freundliche Pause. Die Pharma-Industrie hat mehr Dankbarkeit verdient, als sie gemeinhin bekommt.

Krankheit ist single-mindedness. Natürlich denkt man immer am liebsten und am meisten an sich selbst, jede von uns. Aber es gibt auch noch andere Gehirnteile, mehr Gedankenzüge, auf die man bei Gelegenheit willig aufspringt. Jetzt fährt jeder Zug nur noch in eine Richtung, und da will man nicht hin. Aussteigen können wäre schön, wenigstens gelegentlich ein längerer Halt zum Gedanken-Vertreten. Aber schon pfeift der Schaffner wieder, es geht einem durch und durch. Sagte ich schon, dass es eine Tunnelstrecke ist? Und es gibt sogar Tunnel, da wird das Licht an ihrem Ende immer kleiner.

Krankheit ist ein Verlust an Körpervertrauen. Nun habe ich früher schon oft und viel über Vertrauen nachgedacht. Ich hatte mich sogar schon zu dem Satz verstiegen: „Vertrauen muss man haben!“ (na gut, sagt sich auch leichter, wenn man Geld hat. Und Gesundheit. Oder wenigstens irgendeine Art von Glauben). Jetzt steht jeder Nerv unter Generalverdacht. Jedes Zucken ist ein Symptom, jedes Drücken der Beginn eines neuen potentiellen Leidens. Das ist zu unterscheiden von Hypochondrie, oder nicht? Ach, Hypochondrie war früher nur ein Spiel, eine Begabung, eine Sensibilität, auf die man fast stolz sein konnte; eine andere Art von Deutungskunst. Auch beim Körper kommt der Hochmut vor dem Fall. Am Ende ist das Bein aber wirklich gebrochen.

Krankheit ist die Abrechnung des Körpers. Er vergisst nämlich nichts, während der Kopf wenigstens ab und zu gnädig so tut, als vergesse er (er verlegt aber nur, dann poppt es wieder hoch, wenn man es nicht braucht; oder verweigert die Auskunft, wenn man es wirklich bräuchte). Natürlich hat man den Körper schlecht behandelt früher, er war so eine Art Stiefkind der Persönlichkeit. Und hatte zu funktionieren, schließlich war er jung. Oder noch relativ jung. Oder noch gar nicht so alt. Na gut, irgendwann kann man ihn nicht mehr ignorieren. Dann kommen die Ärzte und finden nichts. Das beeindruckt den Körper auch nicht, der Schmerz hört gar nicht zu, wenn die Ärzte reden. Und wenn irgendwo eine neue Schwäche auftaucht, erklärt sich der Rest des Körpers sofort solidarisch und erinnert sich: Hatte es nicht damals auch dort wehgetan? Ist dort nicht auch etwas noch nicht ganz verheilt? Bald wird es ein Chor: Ich auch! Ich auch! Der Kopf zieht sich ein. Er will sich die Ohren verstopfen, sie sind aber schon mit dabei im Chor, weißt du, schreien sie, der Weg vom Hals zu uns ist kurz, ich kenne ihn gut, der Hals ist ein guter alter Freund von mir, wir tauschen häufig Bakterien aus! Ach, geht mir doch alle weg. Sie gehen aber nicht. Nur noch temporär. Schließlich muss man im Gespräch bleiben.

Krankheit ist eine Erinnerung an Dankesschulden: Der Blick geht zurück, schließlich hatte man irgendwann ein lovely life, auch wenn man es damals noch nicht gewusst hatte. Und Hilfe hatte man bekommen, damals, als die Hilfe noch half. Leute, die an einen geglaubt haben, komisch, fand ich damals schon, warum taten sie das nur? Die einem etwas gezeigt hatten, auch wenn man damals noch nicht gewusst hatte, wofür man es jemals brauchen sollte, Jetzt tut man selbst solche Dinge. Fördert junge Leute, ermutigt sie, interessiert sich für sie. Sie schauen genauso leicht verdutzt wie ich damals wahrscheinlich. Aber plötzlich gewinnt alles eine gewisse Dringlichkeit. Wer weiß, wie lange wir alle noch da sind. Vielleicht sind freundliche Worte das Einzige, das man am Ende mitnehmen kann. Schöne Gedanken, bunte Murmeln.

Krankheit ist das Öffnen alter Wunden. Alles fließt hinaus, was man so sorgsam abgekapselt hatte. Gestank, Eiter, Fäulnis, Bitterkeit, Schwärze. Es verklebt die ganze Welt, nicht nur den kranken Körper. Infiziert sie. Where is my lovely life? Isoliert jetzt, unzugänglich, eingeschlossen in eine Blase. Das Schwarze, Faule, Bittere infiziert derweil auch die Wörter. Wäre es nur mit Leid, vielleicht wäre es auszuhalten. Es ist aber Schmerz, Ausfluss, Schwärze, nicht nur bar aller Schönheit, sondern: sogar immunisiert gegen ihre reine Möglichkeit.

Krankheit ist Arbeit. Sie muss gemacht werden. Vorher, bei den kleineren Vorübungen, dachte man, es reiche, sich im Bett zurückzulehnen und den Dingen ihren Lauf zu lassen; sie wussten dann schon selbst, in welche Richtung sie laufen mussten. Jetzt läuft alles in alle Richtungen, und mit Vorliebe in die falschen. Sackgassen tun sich auf und halten einen fest. Abgründe werden sichtbar, soll man denn jetzt auch noch springen? Wenn man nachlässt, wird die Krankheit gewinnen, sie ist schon auf dem besten Wege, und wäre es denn so schlimm? (Warum sind die Menschen eigentlich immer so überrascht vom Tod, wo es doch die einzige Sicherheit in ihrem Leben ist?) Arbeiten, man würde ja gern, wenn man doch nur ein Ergebnis sehen würde. Einen kleinen Zwischenerfolg, nicht nur eine dilettantische Reparatur. Eine Bewältigung. Man sieht aber nur: sich immer enger zusammenziehende Kreise.

Krankheit ist die Einsicht, dass hope die ultimative bitch ist. Sie gibt sich zwar als die schönere, beliebtere Schwester von karma, tarnt sich aber nur besser. Spiegelt Dinge vor, verspricht immer irgendetwas, und wenn das nicht klappt, das nächste, und so weiter und so weiter. Man darf eben die Hoffnung nicht aufgeben, denn: Die Hoffnung stirbt zuletzt! So halten wir sie am Leben, das reizend-verführerische Monster. Wenn wir alle schon tot sind, hoffnungslos tot, glänzt die Hoffnung ganz allein. Dann kommt aber karma, die Unbestechliche, und hope wird als Verzweiflung wiedergeboren. Was schon immer ihre zweite Natur war, ihr Bodensatz sozusagen; aber den konnte man nur sehen, wenn man ganz durch sie hindurchschaute.

Krankheit ist ein Jammertal. Natürlich jammert man im Tal und nicht auf dem Berg; über die Höhen streifen die fröhlichen, gedankenlosen Gesunden und werfen nur ab und an einen mitleidig-schauernden Blick nach unten; dann hüpfen sie schnell weiter, gern auch scharf an der Kante entlang, fröhliche Liedchen summend, damit sie das Gejammer von unten nicht mehr hören müssen. Es ist zwar nicht monoton, aber vielstimmig-dissonant; nicht laut, sondern eher verzagt, zitternd, zimperlich, gelegentlich durchbrochen von einzelnen Schmerzensschreien (breakthrough pain, das kann man auch im Kopf haben). Das Gejammer hallt von den engen Wänden wider und macht es noch schräger für die im Tal; es dröhnt in ihren Ohren, und niemals, niemals ergibt sich eine Melodie daraus. Das Tal wird enger. Dann wird es wieder weiter. Aber niemals sieht man das Licht so richtig. Die Sonne scheint von fern und woanders. Gelegentlich stolpert man über einen Stein. Eine Wunde mehr.

Krankheit ist, wenn man jeden freundlich gemeinten "Schönen Tag!" als Zynismus versteht. Man kann sich nicht erinnern, wann man den letzten schönen Tag hatte. Es muss wohl vor der Diagnose gewesen sein? Seitdem hatten alle Tage einen Belag auf der Zunge, mindestens. Na gut, seien wir ehrlich: Schon vorher war das Leben nicht direkt eine Reihe von guten Tagen gewesen; schon vorher war es mindestens partiell beschädigt. Und, wenn man genau nach-denkt, das heißt: dahin denkt, wo man nicht hindenken will, weiß man ja auch, dass das genau die Definition von tiefer Depression ist: die absolute Gewissheit, dass es niemals mehr einen guten Tag geben wird, unter welchen Umständen auch immer; auch keinen halbguten (das Gegenteil von gut ist dabei übrigens leer, tot, neutral, nicht etwa schlecht; das unterscheidet die Krankheit von der totalen Depression, in der alles ausgelöscht ist). Man müsste jetzt lernen, nicht auf gute Tage zu warten; man häuft nur Enttäuschung auf Enttäuschung. Trotzdem möchte man jedem ins Gesicht springen, der einem fröhlich-gedankenlos-gutgemeint einen „Schönen Tag!“ wünscht, wenn man gerade wieder um eine Hoffnung ärmer die Arztpraxis verlässt oder die etwas unheimliche Schicksalsgemeinschaft der Chemo-Ambulanz. Komischerweise habe ich dafür das neue Bedürfnis, wirklich netten Menschen wirklich einen „Schönen Tag“ zu wünschen, jenseits der Floskel, die ich weiter verabscheue. Was ich eigentlich damit sagen möchte, ist: Genießt diesen schönen Tag, ihr wisst nicht, ob es euer letzter ist, bevor ihr es nicht mehr könnt! Denn das hat meine Schwester auch gesagt, die schon wusste, dass sie trotz aller Therapie bald sterben würde: „Genießt das Leben, solange ihr könnt!“ Und ich war dumm genug, gedankenlos-halbgesund genug, nicht zu verstehen, dass die Betonung auf dem ‚könnt‘ liegt, nicht auf dem ‚genießen‘!

Krankheit ist ein Anti-Verdrängungsmechanismus. Adressiere deine Wunden! Stell dich ihnen endlich! Mit welchem von ihnen kannst du leben? Arzt, hilf dir selbst! Lern deinen Körper kennen! Nicht nur die Symptome, die verhassten, ihre psychologische Seite; auch ihre physiologische. Du musst dich gleich nicht mit ihnen befreunden. Sieh sie als Partner!

Krankheit ist ein Erinnerungsbad. Dinge steigen auf, wenn man sie lässt. Nicht nur unerfreuliche, nicht nur erfreuliche. Stell dir einen Kopf als Erinnerungsbad vor, so wie Dagobert Ducks Goldtaler-Speicher. Sie gehören alle dir! Spring hinein. Nicht alles, was Gold ist, glänzt (und manchmal sind die scheinbar geringwertigsten am kostbarsten, unwichtige Momente, blankpoliert vor lauter Unbenutztsein). Unterscheide nicht. Sie müssen zu dir kommen. Sie werden deinem Leben nicht nachträglich Wert geben, denn sie verschwinden mit dir. Vielleicht geben sie ein wenig Stütze. Vielleicht ein wenig Tiefe. Vielleicht ein wenig mehr Verständnis und Klarheit vor dem dunklen Horizont.

Krankheit ist gefühlsverstärkende Wiederholung. Als ich als Jugendliche Gitarre spielen lernte, habe ich den Sinn von Wiederholungen nie verstanden. Wozu nochmals das Gleiche spielen? Wird der Komponist pro Note bezahlt? Ist es Faulheit? Aber man versteht, später, wenn man nicht mehr nur mechanisch Noten vom Blatt spielt (geht es schon besser-schneller-fehlerfreier?), sondern sie mehr spürt. In der Krankheit spürt man mehr. Man setzt sich an die Gitarre oder das Klavier und ist böse oder traurig (aber gerade noch stark genug für diese kleine Aktivität). Man spielt etwas, was man kennt, und dann spielt man behutsam die Wiederholung nach; weil sie beim zweiten Mal nämlich anders klingt. Und man sie auch selbst anders hört (das hätte man schon vom Lesen wissen können, wie oft hat man den Leuten den hermeneutischen Zirkel bitte erklärt?). Wieder-holung ist nie die gleiche. Man hat niemals das gleiche Kopfweh, auch wenn man meint, es ziemlich gut zu kennen. Nicht nur, weil das Kopfweh immer anders ist, das ist trivial und physiologisch. Sondern weil man selbst schon zwei Minuten später eine Andere ist. Das macht es nicht besser. Lassen wir es einfach mal so, wie es ist.

Krankheit ist weder ungerecht noch gerecht. Sie ist so, wie sie ist. Gibt es überhaupt irgendeine Sache auf dieser Welt, die von sich aus „gerecht/ungerecht“ oder „moralisch gut/böse“ ist? Man zweifelt, schon länger. Man sucht, wie so oft, nach einem spezifizierenden Index: Gut für was oder wen („Good for you“, die neue Modeformel, sie hat den guten alten Altruismus fast vollständig abgelöst)? Gerecht oder Ungerecht in welchem Zusammenhang? Jedem das Seine oder Jeder das Gleiche, damit die Welt ein „better place“ wird, weil man „the right thing“ getan hat? Nein, seitdem Gebote höherer Instanzen abgeschafft wurden (good for god), ist die Moral ein substanzloses Bläschen geworden und besteht aus sprachlichen Pusteblumen. Denn die Dinge scheren sich nicht um die Moral. Krankheiten scheren sich höchstens um Ursachen, „Ätiologie‘ nennt man das, und wie immer sind die Ursachen und Wirkungen verflochtener als die Zöpfe auf Medusas Kopf; einige bringen wir schon mit auf die Welt, andere legen uns Erzieher und Vorbilder nahe, wieder andere sind total zufällig (falls man an Zufall glaubt, jenseits von Gut und Böse). Aber natürlich hätte man lieber eine saubere Erklärung, auch für die (moralisch unsinnige) Schuldfrage. Angeboren, erworben, selbstverschuldet? Aber warum habe ich mich nicht eingecremt in der Sonne (weil es klebt, natürlich)? Warum war ich überhaupt so oft in der Sonne (weil ich es brauchte, natürlich, sie ist mein Lebensantrieb, und warum ist sie das?) Trägheit, Strafe, ästhetischer Hochmut, Bequemlichkeit, psychische Deformation, ungesteuertes Suchtverhalten, alles verschlingt sich und verfilzt – oder war das alles, so lange es währte, eben „good for me“? Gut, böse, gerecht, ungerecht, krank, gesund – alles Entscheidungen, und als solche natürlich mit Folgekosten. Aber keine Substanz. Es ist, wie es ist.

Krankheit ist eine Entscheidung, jeden Tag. Ist das ein Tag, an dem man voll und ganz krank ist, in dem die Krankheit alle Kräfte und die gesamte Konzentration braucht, was beinahe schon wieder entlastend ist? Oder ist es ein Tag, wo man die Krankheit ignorieren kann und will, damit das Adrenalin eine kleine Welt trägt und täuscht? Beides ist besser als unentschiedene Tage, man quält sich, mehr mit der Entscheidung, nein, mehr mit den Symptomen, nein, mit der Entscheidung, oder doch? Unentschiedenheit ist eine unterschätzte Qual.

Krankheit ist, wenn jede Lebensäußerung zur Lüge wird. Jeder Satz, jedes Lächeln, jeder Vorsatz, alles, was zu sagen scheint: Es ist gar nichts. Es gibt eine Zukunft. Ich bin ein normaler Mensch, ich spreche, ich lächle, ich plane. Wenn es in einem reißt und brennt und wehtut, zu lange ohne Pause, auch nachts. Wenn man eigentlich nicht sprechen möchte in verständlichen Sätzen, sondern stöhnen und klagen. Das tut man natürlich nicht. Aber innen tut man es. Die Seele wird ganz rauh davon.

Krankheit ist, wenn das „Du bist krank und es tut weh und nimmt das alles niemals ein Ende?“ jeden Gedanken begleitet. Dass etwas jeden Gedanken begleitet (das wunde Hirn gibt die Zitatquelle gerade nicht frei), ist kein schöner Gedanke, noch nicht einmal bei schönen Gedanken. Es ist wie ein Ohrwurm, der einem nicht aus dem Denken geht (dazu kommt der musikalische Ohrwurm, der sich seit der Chemo auf einer endlosen Verzweiflungsrille festgefressen hat). Jeder andere Gedanke hat sozusagen nur noch einen halben Antrieb, er stottert und will nicht in Gang kommen, weil ein zweiter mitdenkt und mitzehrt. This way lies madness (nein, noch ein Gedanke, der sich besser nicht festfressen soll).

Krankheit ist eine Vibration im ganzen Körper. Etwas hat jeden Nerv ergriffen, nicht laut und explizit, sondern als Mitschwingen (am deutlichsten im halb-chronischen, an- und abschwellenden Tinnitus). Keine good vibes, bad vibes, ein Globalzittern, wahrscheinlich: eine Überreizung. Indem man versucht ihr zu entkommen, wird sie stärker. Oder die Nerven werden schwächer. Man sieht sie richtig vor dem inneren Auge, straff gespannte Seile, vibrierend, die immer dünner werden unter der Spannung. Darauf balanciert eine arme Seele, bemüht um Haltung.

Krankheit ist, wenn man möglichst viele menschliche Bande zu lösen versucht. Sie fesseln einen an diese Welt, und das ist schlecht. Allein käme man leichter fort. Instinktiv tut man das Gegenteil. Man festigt sie noch durch Bekenntnis, Mitteilung, Aufschließen, Aufforderung zum Trost. Und zerrt dann nur schwerer an ihnen.

Krankheit ist, wenn man auch den Glauben an ein persönliches happy end aufgibt. Zwar glaubt man schon lange nicht mehr, dass die Menschheit zu retten ist (eine unheilbare Krankheit: Evolutionsverweigerung); aber erst spät merkt man, dass man für sich selbst automatisch eine Ausnahme gemacht hatte. Der Tod allein ist natürlich kein happy end; auch nicht das Gegenteil. Er fällt einfach nicht in die Erfahrung.

Krankheit ist, wenn man immer weniger „Ich“ sagen kann. Leicht fiel es einem noch nie. Nun aber bekommt man schon einen Schub Selbstmitleid (Selbstmitleid kommt, wie Hitzewellen, in Schüben), wenn man nur „Ich“ denkt. Ich soll nicht so leiden und zittern und verzweifelt sein. Ich soll irgendwo anders wohnen, wo das Leben noch einigermaßen ungetrübt ist (where is my lovely life?), in einer Schutzburg, umgeben von schönen Dingen und schönen Gedanken. Zum Leiden schickt es das „Man“ nach draußen. Man ist jede und niemand. Man leidet un-persönlich (und kann deshalb leichter darüber schreiben).

Krankheit ist Ent-Eignung. Man möchte alle Spuren löschen, die Ich früher so sorgsam gelegt hat. Nichts soll mehr „Mein“ heißen (Leben ist das Gegenteil davon: Möglichst viel soll „Mein“ heißen). An jedem „mein“ klebt die Erinnerung daran, dass es einmal besser war. Und dass das nichts zu bedeuten hat, gar nichts, angesichts der Möglichkeit dieser Zustände.

Krankheit ist, wie sie ist. Das ist einer derjenigen Sätze, die man im Friseursalon oder auf der Chemo-Ambulanz auf häufigsten hört. Natürlich hört man auch, von den getroffenen Lebensfrohen (gar nicht wenig) die Phrasen des „Alles-wird-Gut-Wir-müssen-optimistisch-bleiben-das-Glas-ist-halbvoll“ – und irgendwie klingen sie hier zumindest halbwahr, hilfreicher und empfundener jedenfalls als im gedanken-losen Geplapper der Gesunden. Aber die base line ist: „Es ist, wie es ist“. Abgefunden, nein: angenommen. Widerstand ist zwecklos. Man kann daraus lernen, dass Resignation nicht ein schwaches Gefühl ist, sondern einfach nur sachlich sein kann (selbst bin ich gerade erst hier angekommen. Ich bin wirklich krank).

Krankheit ist ein Kompensationsgeschäft. So wenig Freuden nur noch, die man leisten kann. Einschränkung, Ausgrenzung, Erschöpfung. Essen ist ein Problem. Gehen ist ein Problem. Schlafen ist ein Problem. Aber kaufen! Der Klick gelingt noch mit dem müden kleinen Finger. Wenn das Päckchen dann endlich ankommt, kann es sein, dass man zu müde ist um sich zu freuen. Es lohnt eh nicht, die Freude ist immer kurz, die erwartete noch kürzer. Und wozu hat man wieder ein Stück mehr angesammelt? Sollte nicht lieber alles weg?

Krankheit ist ein Schwanken zwischen Spurensicherung und Spurenverwischung. In stärkeren Momenten spürt man das Bedürfnis nach Nachleben: endlich der eigene Wikipedia-Eintrag, die verewigte Homepage, Bücher schreiben (die man dann versteckt vor der Veröffentlichung, hinter Pseudonymen beispielsweise), die sich stapelnden Fotobücher (aber: die Furcht vor dem Testament, dem schreckerregenden „Letzten“ Willen!). Aber dann soll alles lieber weg, was sollen die Überlebenden damit, Mühe und Arbeit ist es, und Schmerz beim nötigen Ausmisten, und Erinnerung, die Staub und Schimmel ansetzt. Weg mit den peinlichen Jugendtagebüchern, mit den verblassten Fotoalben, mit den ungeliebten Büchern, mit dem Wohlstandsüberfluss-Müll, der sich angestaut hat! Variationen über das Lassen: Gehenlassen, vor-lassen, nachlassen, hinterlassen, übriglassen. Sein lassen.

Krankheit ist zunehmende Schwäche. Immer wieder behauptet irgendeine Halb- oder Dreiviertelberühmtheit in irgendwelchen bunten Medien, der Kampf mit dem Krebs habe er/sie/es stärker gemacht. Kann ich nicht finden. Er hat mich schwächer gemacht, eindeutig körperlich schwächer: noch mehr Baustellen, noch mehr Wunden, noch mehr Langzeitschäden. Aber mindestens genauso seelisch: Die schon dünnen Nerven sind ein ganzes Stück dünner geworden, sie vibrieren bei jedem Lufthauch und wittern den großen Sturm – denn er ist einmal gekommen, weiß man denn, ob er nicht wiederkommen wird, er kommt ja immer wieder? Das Bild dazu ist der Drahtseiltänzer: Einmal in den Abgrund geblickt, und die Sicherheit ist für immer dahin.

Krankheit ist ein ständiger Begleiter. Ständig trippelt er neben einem her und quatscht die ganze Zeit, er sagt noch dazu immer das gleiche: Ich leide, ich leide, ich leide. Niemals lässt er einen auch nur einen Augenblick allein, nicht beim Spaziergang, nicht beim Essen, selbst auf dem Klo oder in der Nacht gibt er keine Ruhe. Geh weg, möchte man ihn anschreien, lass mich doch nur einen Moment in Ruhe! Aber man kann sich nicht verstecken vor ihm, denn er sitzt innen. Dort kreist er in einer Endlosschleife, wie eine steckengebliebene Schallplatte. Oder für eine Zeit, die Schallplatten sowieso nicht mehr kennt: Wie eine Band mit Endlosansage: Die Weiterfahrt des Zuges verzögert sich. Die Weiterfahrt des Zuges verzögert sich bis auf Weiteres. Die Weiterfahrt des Zuges verzögert sich auf unbestimmte Zeit. Die Weiterfahrt – man möchte nur noch gegen die Wand fahren.

Krankheit ist ein Sündenbock, und nur äußerlich ein humpelnder, jammernder, klagender, der sich ständig an den Hörnern kratzt. Nein, er ist geradezu stark und beinahe unsterblich: Alles kann man ihm aufladen, körperliche Wehwehchen und seelische Stürme, die sieben Todsünden (Auswahl und Gewichtung je nach persönlicher Vorliebe) und die kleinen Alltagsschwächen: An all dem ist die Krankheit schuld! Leider wird die Last, mal wieder, gar nicht weniger, wenn man sie dem armen Sündenbock aufgeladen hat; manchmal wird sie sogar schwerer, weil man dazu noch ein schlechtes Gewissen bekommen hat, das doch auch etwas wiegt, auch wenn es nur ein Gewissensjucken ist: Denn die Krankheit ist ja gar nicht an allem Schuld. An manchem natürlich; an einigen Tagen an vielem, an wenigen: an allem. Aber dann ist sie doch nur wieder eine Aus-rede, eine Aus-flucht, ein Aus-lass. Denn man kann sich selbst gar nicht teilen in eine gesunde und eine kranke Hälfte oder wie immer die Tagesproportion sich gerade anfühlt. Sündenböcke muss man zähmen.

Krankheit ist eine Anhäufung von Kollateralschäden. Irgendwann ist die Invasion abgeschlossen, die schlimmsten Schlachten sind geschlagen, sogar der Stellungskrieg hat irgendwie ein Ende gefunden – aber die Schäden bleiben. Zerstörte Erde, in den Schleimhäuten. Verkrampfungen, in allen Muskeln und Knochen. Mittelgroße Traumata, tief gebunkert in der Psyche, lange Halbwertszeiten. Gezeichnete Haut, gealterte Haare, einer stabilen Blutversorgung entfremdete Gliedmaßen. Alle Wiederaufbauprämien helfen nicht. Die Zeit soll ihre üblichen Wunder tun, aber die Zeit rechnet in ziemlich unmenschlichen Zeiträumen.

Krankheit ist die Konditionierung des Körpers. Er entwickelt über die langen Wochen der Chemo hinweg seine eigenen Routinen und Zyklen. Ist die Infusion dann weg, erinnert er sich trotzdem, dass es Mittwoch ist. Und schon beginnt die bekannte Welle, alles verläuft in dieser Krankheit in Wellen, nur leider ist das segensreiche Kortison nicht mehr dabei, dass einen zwei Tage lang auf der Welle reiten ließ. Jetzt ist es ein ziemlich trostloses Wellenreiten geworden, auf einem fiktiven Meer, doch der Körper lässt sich nicht davon abbringen. Gelernt ist gelernt.

Krankheit ist eine Wiederholungslektion. Irgendwann meint man, man habe seine Lektion gelernt. Sie hört trotzdem nicht auf. Na gut, es ist immer noch ein wenig mehr zu lernen. Sie hört trotzdem nicht auf. Man kann die Lektion schon im Schlaf aufsagen (wozu man viel Zeit hat, weil man ja schlecht schläft). Notfalls könnte man auch ein Buch darüber schreiben, Lektionen von vorn bis hinten. Sie hört trotzdem nicht auf. Lebenslanges Lernen, schön und gut, aber wann wird man endlich freigesprochen und darf die Schule verlassen, wenn es sein muss: auch auf eigenes Risiko?

Krankheit ist eine Wiederholungslektion. Irgendwann meint man, man habe seine Lektion gelernt. Sie hört trotzdem nicht auf. Na gut, es ist immer noch ein wenig mehr zu lernen. Sie hört trotzdem nicht auf. Man kann die Lektion schon im Schlaf aufsagen (wozu man viel Zeit hat, weil man ja schlecht schläft). Notfalls könnte man auch ein Buch darüber schreiben, Lektionen von vorn bis hinten. Sie hört trotzdem nicht auf. Wiederholtes hält besser, klar, haben wir auch gelernt, in langen Jahren als Lernende und Lehrende. Aber irgendwann will doch keine mehr zuhören!

Krankheit ist eine Wiederholungslektion. Irgendwann meint man, man habe seine Lektion gelernt. Sie hört trotzdem nicht auf. Na gut, es ist immer noch ein wenig mehr zu lernen. Sie hört trotzdem nicht auf. Man kann die Lektion schon im Schlaf aufsagen (wozu man viel Zeit hat, weil man ja schlecht schläft). Notfalls könnte man auch ein Buch darüber schreiben, Lektionen von vorn bis hinten. Sie hört trotzdem nicht auf. Wiederholtes wird irgendwann wahr, auch so eine Einsicht, die man früher einfach für Unsinn gehalten hätte. Nein, wenn man etwas lange genug sagt, wird es wahr; also, ein bisschen wahr, und das ist schon mehr, als man von den meisten Dingen sagen kann, die man gemeinhin für wahr hält.

Krankheit ist eine Wiederholungslektion. Nur aus Erfahrung wird man klug.