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Erzieherinnen und Erzieher

  • Ellen Key und Maria Montessori - eine kleine Parallelbiographie mit Auszüge aus ihren Schriften
  • Johann Karl Wezel, ein fiktives Interview und ein Plädoyer für mehr "Erziehungsgeschichten" 


Ellen Key und Maria Montessori - eine kleine Parallelbiographie erziehender Frauen (samt Auszügen aus ihren Texten)

Manchmal kann frau sich einfach nicht entscheiden, welchen polemischen Schwung sie einer Geschichte auf den Weg mitgeben will. Der Anfang dieser Geschichte könnte deshalb lauten: „Kinder sind unsere Zukunft“ – selten war ein Satz so durch vielfachen gedankenlosen Gebrauch völlig entwertet und gleichzeitig so völlig wahr. Oder er könnte lauten: „Frauen haben seit jeher die meiste Erziehungsarbeit geleistet; Männer haben seit jeher die meisten Bücher über Erziehung geschrieben“. Oder, ein wenig mehr politisch eingefärbt: „Die Politik hat die Schulen zu Tode reformiert, es käme aber darauf an, sie mal ein paar Jahre einfach in Ruhe zu lassen“ (nennen wir es: ein befristetes Reformaussetzungs-Moratorium?). Oder, ein bisschen mehr ins Persönlich Eingemachte zielend: „Selten waren Eltern gleichzeitig mehr verunsichert und besser aufgeklärt über Erziehungsfragen“. Na gut, nehmen wir einfach alle zusammen! Im Folgenden werden deshalb zwei Frauen vorgestellt, die äußerst wirkungsreiche Bücher über Erziehung geschrieben haben; die eine sehr genaue Vorstellung davon hatten, warum und in welcher Art und Weise Kinder die Zukunft der Menschheit sind; die Schulen langfristig und geduldig reformiert haben und diese Reformen auch gut begründen konnten; und die niemals behauptet hätten, sie wüssten alles über die Kindheit, aber deshalb keinesfalls hilflos und verunsichert waren. Denn eines wussten beide ganz genau: Man kann von Kindern unendlich viel lernen. Wahre Erziehung beginnt damit, sie als wechselseitig zu erkennen und zu akzeptieren.


Ellen Key war die geringfügig ältere von beiden. Sie wurde 1849 in Schweden in eine adlig-bildungsbürgerliche Familie geboren, erhielt eine strenge, aber gründliche Erziehung durch Eltern und Privatlehrer und interessierte sich früh Geschichte, Philosophie und Literatur. Schon als junge Frau beginnt sie sich für die Emanzipationsbewegung zu engagieren (sie hatte allerdings ein für den heutigen Feminismus kaum zu goutierendes Konzept davon – was kein Grund ist, sich nicht damit auseinandersetzen); ebenso früh beginnt sie in unterschiedlichen Schulen zu unterrichten, ohne eine irgendwie geartete Ausbildung dafür erhalten zu haben. Nach jahrelangen Erfahrungen in unterschiedlichen pädagogischen Instituten erscheint 1902 Barnets arhundrade, zu Deutsch: Das Jahrhundert des Kindes. Der, zumal zum Jahrhundertbeginn, genial gewählte Titel sorgt dafür, dass die Schrift bald übersetzt und in mehreren Ländern zur Grundlage von Reformschulprojekten gemacht wird (ein begeisterter Anhänger in Deutschland ist Rainer Maria Rilke, der sie sogar besucht und darüber einen Essay schreibt; siehe unten unter III.). Ellen Key schreibt weiter, über Frauen, über Liebe und Ehe, über die Frauenbewegung; sie unternimmt Reisen in ganz Europa und hält Vorträge. 1926 stirbt sie, 77jährig, in einem Haus am Vätternsee, das sie selbst entworfen hatte. Sie war eine Self-Made-Frau durch und durch, deren Grundsatz war: „Aber nur dadurch, dass man sich selbst in unablässigem Wachstum erhält, in unablässiger Wechselwirkung mit dem Besten in der eigenen Zeit, wird man nach und nach eine halbwegs gute Gesellschaft für seine Kinder“.


Maria Montessori wurde 1870, also 21 Jahre später, in Italien geboren, ebenfalls in eine gutsituierte bürgerliche Familie mit Bildungshintergrund. Auch sie erhielt eine gute Erziehung, interessierte sich aber im Unterschied zu Key vor allem von früh an für naturwissenschaftliche Themen. Das Medizinstudium, das sie eigentlich anstrebte, wurde von der Hochschule abgelehnt; sie verlegte sich deshalb zunächst auf ein naturwissenschaftliches Studium, bevor sie einige Jahre später doch noch in Medizin promovieren durfte. Von Anfang an bildeten Embryologie und Kinderheilkunde ihre fachlichen Schwerpunkte. Nach der Promotion arbeitete sie in der Kinderpsychiatrie und machte ihre ersten pädagogischen Entdeckungen, lange vor Zeit der Erfindung der Inklusion, bei der Arbeit mit geistig behinderten Kindern, deren Vernachlässigung als Skandal empfand und für die sie eigene heilpädagogische Konzepte entwickelte. Als sie in Rom in einer Kindertagestätte für Kinder aus sozial schwachen Kindern angestellt wurde, dem „Kinderhaus“ (casa de bambini), stellte sie fasziniert fest, dass sie ihre heilpädagogischen Konzepte mit großem Erfolg auch hier anwenden konnte. Aus all diesen Erfahrungen entwickelte sie die Montessori-Methode, die heute in der ganzen Welt in Montessori-Schulen praktiziert wird. Im Unterschied zu Ellen Key verstand sie ihren Ansatz dabei durchaus als wissenschaftlich geprägt. Gegen Ende des Lebens näherte Montessori sich der Theosophie an; bei einer Reise nach Indien entwickelte sie schließlich ein stark ideologisch geprägtes Konzept der „kosmischen Erziehung“. Vieles darin ist, wie bei Ellen Key, stark durch zeitgenössische Begriffe und Gedanken geprägt, die vielen heute problematisch erscheinen (und wie bei Ellen Key ist das ein Grund mehr, sich damit auseinandersetzen); aber auch bei ihr ist der Kern ihrer Überzeugung die ganz praktische, langjährige, sorgfältig reflektierte Arbeit mit den Kindern. Und ihre daraus gewonnene Maxime lautete, ähnlich wie bei Key: „Vielmehr hatte ich in meinem Leben die wunderbare Gelegenheit, einige Kinder kennenzulernen, die sich mir offenbarten. Dann habe ich entdeckt, dass diese Offenbarungen nicht allein für diese Kinder galten, sondern allen Kindern gemeinsam waren … Das Kind verfügt über viel Wissen, viel Weisheit. Wenn wir uns das nicht zu Nutze machen, liegt das nur an unserem Versäumnis bescheiden zu werden“.

Sowohl Key als auch Montessori haben umfassende pädagogische Konzepte hinterlassen, vor allem aber sehr konkrete Vorstellungen darüber, wie die ideale Schule aussehen könnten (die sich ebenfalls in vielem erstaunlich ähnlich sind). Von allgemeinstem und bleibendem Interesse jedoch ist ihre Auffassung des Kindes selbst, seines Verhältnisses zum Erwachsenen und zur Welt. Deshalb ein kleines, weitgehend unkommentiertes Brevier bzw. Zitaten-Potpourri – zum Bedenken, zum Beachten, zum Bestreiten für all diejenigen Erzieherinnen, die nicht meinen, von Natur aus klüger zu sein als ein – unverdorbenes Kind (alle Zitate aus: Ellen Key, Das Jahrhundert des Kindes bzw. aus Maria Montessori, Meine Pädagogik)

a) Erziehung geht immer vom Individuum aus und führt zu ihm zurück

„Die erste Erziehung muss darauf hinzielen, die Individualität zu stärken. Die ganze biographische Literatur bildet eine fast einstimmige Zeugnisaussage dafür, wie bedeutungsvoll es ist, dass die abplattende »Gesellschaftserziehung« der Schule nicht zu zeitig beginne! Dass sie es jetzt tut, ist eine der Ursachen der Erfahrung, die man nun immer häufiger macht, dass man nämlich ‚so viele kluge Kinder, aber so viele dumme Menschen trifft‘, um Dumas' bekannte Äußerung anzuführen.“ (Ellen Key)

b) Die beste Erziehung schafft nur eine optimale Umgebung und günstige Umstände für die jeweilige individuelle Entwicklung. Sie vermindert Reizüberflütung und befördert die Ausbildung eigener Ordnungen

„Ruhig und langsam die Natur sich selbst helfen lassen und nur sehen, dass die umgebenden Verhältnisse die Arbeit der Natur unterstützen, das ist Erziehung.“ (Ellen Key)
„Wir müssen dem Kind die Reorganisation seiner Persönlichkeit ermöglichen. Seine inneren Energien, die durch die äußeren Dinge zerstreut sind., müssen wieder gesammelt werden und der inneren aufbauenden Arbeit dienen.“ (Maria Montessori)
„Um die Außenwelt kennen zu lernen und sich in ihr zurecht zu finden, bedarf das Kind einer Ordnung, die einen Teil seines Lebens ausmacht und die es verteidigt, wo es nur kann.“ (Maria Montessori)

c) Genaue Beobachtung ist die wichtigste Eigenschaft des guten Erziehers; Selbstbeobachtung ist das wichtigste Werkzeug des Kindes selbst

„Schon beim allerersten Unterricht gilt es, die Selbstbeobachtung und Selbstarbeit des Kindes als Erziehungsmittel für das Kind und als Richtschnur für seine eigene Beobachtung desselben zu gebrauchen.“ (Ellen Key)
„Erwachsene, welche ein kleines Kind auf den Arm nehmen, ohne zuvor den Ausdruck seines kleinen Gesichts zu beachten, oder die mit ihm spielen oder es schaukeln, ohne sich darum zu kümmern, was das Kind eigentlich möchte, stören es vielleicht bei einer wichtigen Aufbauarbeit. Ein kleines Kind muss alles Neue aufmerksam und lange betrachten, sei es das Gesicht eines neuen Menschen oder sei es irgendein Gegenstand.“ (Maria Montessori)


d) Die ideale Schule lässt Raum für die eigene Entdeckung und die eigene Arbeit; sie bevormundet nicht, sie kaut nicht vor, sie erleichtert nicht den Zugang zu selektiertem Wissen, sondern befähigt Kinder eigene Eroberungen zu machen

„Der Lehrer wird eigene Beobachtungen notwendig machen; er wird die Schüler zwar bei der Wahl der Bücher wie bei der Art, zu arbeiten, leiten, aber nicht zuerst seine Beobachtungen, Urteile und Kenntnisse in der Form von Vorträgen, Präparationen und Experimenten geben. Zuweilen wird er, indem er unvorbereitet ein mündliches oder schriftliches Referat verlangt, sich vergewissern, wie gründlich der Schüler in den Gegenstand eingedrungen ist; ein anderes Mal, wenn er den Schüler dafür reif weiß, eine Zusammenfassung, einen Gesamtüberblick über den Gegenstand geben, einen erwärmenden und weckenden Eindruck als Lohn für die selbständige Arbeit; schließlich wird er auf den eigenen Wunsch der Schüler Prüfungen vornehmen. Aber seine wesentliche Arbeit wird darin bestehen, den Schüler zu lehren, seine eigenen Beobachtungen zu machen, seine eigenen Aufgaben zu lösen, seine eigenen Hilfsmittel zu finden – in Büchern, Lexika, Karten u. dgl.; sich selbst in seinen Schwierigkeiten zum Siege durchzukämpfen und so den einzigen sittlichen Lohn für seine Mühen zu erlangen: eine erweiterte Einsicht, eine errungene Stärke!“ (Ellen Key)
„Die frühere Schule, mit ihrem Auswendiglernen weniger Gegenstände, mit ihren oft schlechten Lehrern – bei denen man schlafen oder schwindeln konnte – mit ihrer relativen, um das Latein konzentrierten Einheitlichkeit, erscheint uns barbarisch. Aber sie war unschädlicher für die Persönlichkeit als die jetzige mit ihren gründlichen Präparationen, ihren interessanten Lektionen, ihren vervollkommneten Methoden, ihren ausgezeichneten Lehrern, die dem Schüler jedes Steinchen aus dem Wege räumen und ihm seine geistige Nahrung so schmackhaft bereitet wie möglich geben, ja sogar schon gekaut! Diese gute Schule ist es, die durch die Übertreibung der Vielfältigkeit den Grund zur Nervosität unserer Zeit legt und durch die dort herrschende geistige Trägheit die Negativität unserer Zeit verschuldet!“ (Ellen Key)
„Wollen Sie Wissen vermitteln, Wissenschaft? Warten sie nicht, bis die jungen Menschen fünfzehn oder achtzehn Jahre alt sind und zur Universität gehen. Bereiten Sie sich vom frühesten Alter an darauf vor, und die Wissenschaft wird im Laufe des Lebens immer weiter wachsen, und so wird die Menschheit harmonischer sein.“ (Maria Montessori)

e) Kinder sind gleichwertige Menschen, aber grundlegend anders als Erwachsene. Beide können voneinander lernen

„Dadurch, dass die Menschen all dieses in ganz neuer Weise fühlen werden, da sie es alles im Lichte der Religion der Entwickelung sehen, wird das zwanzigste Jahrhundert das Jahrhundert des Kindes werden. Es wird es in zweifacher Bedeutung: in der, dass die Erwachsenen endlich den Kindersinn verstehen werden, und in der anderen, dass die Einfalt des Kindersinns auch den Erwachsenen bewahrt werden wird. Dann erst kann die alte Gesellschaft sich erneuen.“ (Ellen Key)
„Wir haben erkannt, dass es sich um zwei verschiedene Formen des menschlichen Lebens handelt. Das Kind trägt nicht die verkleinerten Merkmale des Erwachsenen in sich, sondern in ihm wächst sein eigenes Leben, das seinen eigenständigen Sinn hat. … Das Reifen des Menschen im Kinde ist eine Art neuer Schwangerschaft, die länger währt als die Schwangerschaft im Mutterleib, und das Kind allein ist der Bilder seiner Persönlichkeit.“ (Maria Montessori)

e) Kinder sind unsere Zukunft!

„Dann wird man einsehen, dass jeder kleine Stein, mit dem man die spiegelnden Tiefen im Geiste des Kindes bricht, durch Jahrhunderte und Jahrhunderte in immer weiteren Ringen seinen Einfluss verfolgen wird! Durch unsere Väter sind wir ohne unseren Willen und unsere Wahl bis in den tiefsten Grund unseres eigenen Wesens schicksalsbestimmt geworden. Durch die Nachkommen, die wir uns schaffen, können wir in gewissem Masse als freie Wesen die zukünftigen Schicksale des Menschengeschlechtes bestimmen!“ (Ellen Key)
„Wir sind bei unserer Arbeit nicht von psychologischen Studien ausgegangen, aber unsere Arbeit hat uns zu einer großen Entdeckung geführt. Wir haben das normale Kind gefunden. Das Kind, das, wir normal nennen, ist organisch verknüpft mit den Uranfängen seines eigenen Lebens, und sein ganzes Wesen, das sich im Stadium der Entwicklung befindet, ist durch ein inneres Gleichgewicht in Harmonie gebracht.“ (Maria Montessori)
„Die Erziehung muss dem Kind nicht nur helfen bei der Erfüllung der großen Aufgabe, Mensch zu werden, sondern sie hat die physische und psychische Gesundheit der werdenden Menschheit in der Hand.“ (Maria Montessori)

Rainer Maria Rilke besucht Ellen Key und schreibt eine Hymne auf die 'Samskola'

ICH WERDE ERZÄHLEN was sich neulich in Gothenburg begeben hat. Es ist merkwürdig genug. Es geschah in dieser Stadt, daß mehrere Kinder zu ihren Eltern kamen und erklärten, sie wollten auch nachmittags in der Schule bleiben, auch wenn kein Unterricht ist, immer. Immer? Ja, so viel wie möglich. In welcher Schule?
Ich werde von dieser Schule erzählen. Es ist eine ungewöhnliche, eine völlig unimperativische Schule; eine Schule, die nachgibt, eine Schule, die sich nicht für fertig hält, sondern für etwas Werdendes, daran die Kinder selbst, umformend und bestimmend, arbeiten sollen. Die Kinder, in enger und freundlicher Beziehung mit einigen aufmerksamen, lernenden, vorsichtigen Erwachsenen, Menschen, Lehrern, wenn man will. Die Kinder sind in dieser Schule die Hauptsache. Man begreift, daß damit verschiedene Einrichtungen fortfallen, die an anderen Schulen üblich sind. Zum Beispiel: jene hochnotpeinlichen Untersuchungen und Verhöre, die man Prüfungen genannt hat, und die da mit zusammenhängenden Zeugnisse. Sie waren ganz und gar eine Erfindung der Großen. Und man fühlt gleich, wenn man die Schule betritt, den Unterschied. Man ist in einer Schule, in der es nicht nach Staub, Tinte und Angst riecht, sondern nach Sonne, blondem Holz und Kindheit.
Man wird sagen, daß eine solche Schule sich nicht halten kann. Nein, natürlich. Aber die Kinder halten sie. Sie besteht nun im vierten Jahre, und man zählt in diesem Semester zweihundertfünfzehn Schüler, Mädchen und Knaben aus allen Altern. Denn es ist eine richtige Schule, die beim Anfang anfängt und bis ans Ende reicht. Freilich: dieses Ende liegt noch nicht ganz in ihrer Hand. An diesem Ausgang der Achtzehnjährigen steht, gespenstisch wie ein Revenant, die Reifeprüfung. Und sie treten, aus der Zukunft, in der sie schon waren, in eine andere Zeit zurück. In die Zeit ihrer Zeitgenossen. Aber sie sind doch, sozusagen, im Kommenden erzogen; werden sie das ganz verleugnen? Wird man es später an ihrem Leben merken?
Für alle, die jetzt und in den nächsten Jahren die Schule verlassen, trifft das noch nicht ganz zu; denn sie sind (da die Schule erst ihr viertes Jahr beginnt) nicht von Anfang an ihre Schüler gewesen. Sie sind eines Tages übergetreten, mit Schulerfahrungen und -konventionen behaftet und ganz voll von den Bazillen alter, verschleppter Schulseuchen. Wäre der junge Körper dieser neuen Schule nicht so durch und durch gesund, so hätten sie leicht eine Gefahr für ihn werden können. So aber gehen sie, ohne Schaden zu stiften, durch seinen Organismus durch; ihre schlechten Gebräuche und Schülerheimlichkeiten, die sie fortsetzen, bekommen, inmitten des weiten, offenen Vertrauens, inmitten dieser lebensgroßen Menschlichkeit, die weit über die Wände einer Schulstunde hinausreicht, einen Anschein von trauriger, harmloser Lächerlichkeit; sie werden so überflüssig wie die umwickelten Gebärden eines Freigelassenen, der fortfährt, in der Zeichen- und Klopfsprache es Gefängnisses sich auszudrücken. Aber wenn diese einmal scheu Gemachten auch nicht fähig sind, sich in der Sonne der neuen Schule ganz arglos auszubreiten, so merkt man doch, wie sie sich erholen, wie sie sich aufrichten und, bei aller Frühreife ihrer trüben Erfahrung, reine, kindhaft lichte Triebe ansetzen und da und dort zum Blühen kommen. Aber man muß vorsichtig mit ihnen sein; denn die Freiheit ist eine Gefahr für sie.
Das Wort Freiheit ist genannt. Es scheint mir, als ob wir, die Erwachsenen, in einer Welt lebten, in der keine Freiheit ist. Freiheit ist bewegtes, steigendes, mit der Menschenseele sich wandelndes, wachsendes Gesetz. Unsere Gesetze sind nicht mehr die unserigen. Sie sind zurückgeblieben, während das Leben lief. Man hat sie zurückgehalten, aus Geiz, aus Habgier, aus Eigennutz; aber vor allem: aus Angst. Man wollte sie nicht mit auf den Wellen haben in Sturm und Schiffbruch; sie sollten in Sicherheit sein. Und da man sie so, gerettet aus aller Gefahr, auf dem Strande zurückließ, sind sie erstarrt. Und das ist unsere Not: daß wir Gesetze haben aus Stein. Gesetze, die nicht immer mit uns waren, fremde, unverwandte Gesetze. Keine von den tausend neuen Bewegungen unseres Blutes pflanzt sich in ihnen fort; unser Leben besteht nicht für sie; und die Wärme aller Herzen reicht nicht aus, einen Schimmer von Grün auf ihren kalten Oberflächen hervorzurufen. Wir schreien nach dem neuen Gesetz. Nach einem Gesetz, das Tag und Nacht bei uns bleibt und das wir erkannt und befruchtet haben wie ein Weib. Aber es kommt keiner, der solches Gesetz uns geben kann; es ist über die Kraft.
Aber denkt niemand daran, daß das neue Gesetz, das wir nicht zu schaffen vermögen, täglich anfangen kann mit denen, die wieder ein Anfang sind? Sind sie nicht wieder das Ganze, Schöpfung und Welt, wachsen nicht in ihnen alle Kräfte heran, wenn wir nur Raum geben? Wenn wir nicht aufdringlich, mit dem Recht des Stärkeren, den Kindern all das Fertige in den Weg stellen, das für unser Leben gilt, wenn sie nichts vorfinden, wenn sie alles machen müssen: werden sie nicht alles machen? Wenn wir uns hüten, den alten Riß zwischen Pflicht und Freude (Schule und Leben), Gesetz und Freiheit in sie hinein zu vergrößern: ist es nicht möglich, daß die Welt heil in ihnen heranwächst? Nicht in einer Generation freilich, nicht in der nächsten und übernächsten, aber langsam, von Kindheit zu Kindheit heilend?
[...]

Rainer Maria Rilke, Samskola (1905)
Geschrieben in Jonsered in Schweden


Johann Karl Wezel denkt hundert Jahre früher über den Schaden von Erziehungstheorien und den Nutzen von Erziehungsgeschichten nach

Der aufklärerische Autor Johann Karl Wezel (1747-1819) hat sich wiederholt mit Erziehungsthemen auseinandergesetzt, vor allem in seinen Beiträgen für die Pädagogischen Unterhandlungen, eine Erziehungszeitschrift; er hat sogar ein eigenes Schulkonzept vorgelegt. In seinem Programmartikel, den Präliminarien über deutsche Erziehung, unterscheidet er zwischen zwei verschiedenen Arten von Pädagogik, die auf zwei unterschiedlichen Menschenbildern beruhen. Die erste sieht den Menschen als "einen Baum voll schädlicher, verdorbener Säfte, der von der Natur selbst eine überwiegende Neigung bekam, krumm zu werden"; dementsprechend muss der Baum nach einem "Ideal von einem vollkommenen Menschen" zurechtgebogen werden. Eine Welt voller idealer, gerade ausgerichteter Bäume wäre jedoch nur ein "einförmiger langweiliger Garten" anstelle eines Parks mit einer reichen Mannigfaltigkeit vielleicht nicht perfekter, aber wenigstens unterschiedlicher Gewächse.

Dieser Idealpädagogik stellt Wezel als zweites Extrem die "negative Pädagogik" nach dem Muster Rousseaus entgegen. Sie versucht, die natürlichen Anlagen der Kinder aufzuspüren, sich von selbst entwickeln zu lassen und greift nur dann erzieherisch ein, wenn Schaden droht. Wezel selbst schlägt anschließend eine dritte Methode vor, die die Stärken und Schwächen der beiden Extreme vermittelt: Zuerst solle man ein allgemeines Ideal des Menschen suchen und dann die Erziehung des einzelnen Kindes sanft daran ausrichten, ohne der jeweiligen Individualität Gewalt anzutun. Er propagiert damit ein Vermittlungsmodell, das erstaunliche Ähnlichkeit mit dem später so einflussreichen humanistischen Bildungskonzept aufweist: "Das ist also die beste Erziehung, die die größte Summe der menschlichen Kräfte in dem besten Ebenmaße entwickelt".

Wezel hat auch eine Erziehungssatire verfasst: Die Erziehung der Moahi beschäftigt sich mit reformpädagogischen Konzepten seiner Zeit. Zwei Philosophen versuchen, während das Volk durch die Anwesenheit einer Schauspieltruppe abgelenkt ist, Verbesserungen im Bildungswesen ihrer Stadt durchzusetzen. Sie wollen dabei vor allem Degenerationserscheinungen wie "die körperlichen Anlagen zur Faulheit, Weichlichkeit, Bequemlichkeit, Wollust" durch die Rückkehr zu den "erhabnen Tugenden unsrer Voreltern" bekämpfen. Als die beiden Philosophen jedoch verkünden, die bessere Ausbildung und Entlohnung von Lehrern sei die erste und nötigste Voraussetzung für alle reformatorischen Bemühungen im Bildungswesen, hört der Spaß auf. Das Geld ist schließlich vom Gemeinderat schon für eine dringend notwendige Badereise mit der Schauspieltruppe verplant!
Wezel schreibt keine Erziehungsberater, die für jedes Problem eine Lösung wissen und die Grundlinien der optimalen Erziehung in zehn Merksätzen zusammenfassen können, Erfolgsgarantie inklusive; er glaubt nämlich nicht daran, dass das funktioniert. Er geht das Problem vielmehr von unterschiedlichen Seiten an, aber immer als Praktiker: Denn er schreibt aus der unmittelbaren Erfahrung des Lehrers und Erziehers (Hofmeister nannte man das im 18. Jahrhundert) und aus einer gründlichen Lektüre der einschlägigen pädagogischen Werke aller Zeiten. Sein einziger Merksatz dabei ist: Schau genau hin, beobachte, denke darüber nach, schau wieder hin, korrigiere, wenn nötig, schau wieder hin! Der beste Erzieher ist der, der sich selbst beim Erziehen erzieht.

Ein fiktives Interview mit JKW über Erziehungsfragen

Die Wissenschaftler sagen heute, die Prägung eines Menschen beginne schon vor der Zeugung. Was meinen Sie dazu?

Die erste, wichtigste und zugleich unergründlichste Revolution des Mechanismus geschieht im Augenblicke der Zeugung, wenn die Teile, woraus ein organisiertes Wesen entstehen soll, zusammengebracht werden und der Lebensfunke sich in ihnen entzündet. Ob der Mensch aus einem Keime oder einem Ei oder einem Samentierchen sich entwickelt, ob jedes Glied von den Eltern einen Zuschuss zu dem neuen Wesen geben muss, ob Gott mit eigner Hand bei jeder Zeugung die Seelen in die Gebärmutter legt, oder ob sie, wie Ableger eines Nelkenstocks, sich von den Seelen der Eltern absenken, - alles das sind Träumereien, bloße Vergleichungen einer unbekannten Entstehungsart mit bekannten. Ehemals glaubte man allgemein, dass beide Eltern etwas zum Stoffe des neuen Wesens beitragen, und Aristoteles, der seiner Unterscheidungskunst überall Ehre machen wollte, lehrte uns sehr bestimmt, dass der weibliche Samen die Materie, und der männliche die Form zu dem Kinde enthalt. "Wie blind waren die Alten!" sprachen die Neuern; "wie unvollkommen ihre Einsichten! Nie entstand ein Mensch aus der Vermischung zweier Materien, die man männlichen und weiblichen Samen nennt: die Natur gab dem Weibe keinen solchen Saft, sondern unendlich kleine Eier, worin unendlich kleine Menschchen verborgen liegen, denen die Wirkung des männlichen Samens die Kraft, sich zu entwickeln, mitteilt!" – "Weit gefehlt!" sprach ein Zweiter: "die Mutter trägt gar nichts zur Hervorbringung eines neuen Wesens bei: in dem Samen des Mannes wohnen kleine Tierchen, die wahrscheinlich nichts als kleine unförmliche Menschen sind: durch den Beischlaf gelangen sie in den Leib der Mutter und werden dort entwickelt und gebildet". Andre, die dies sehr unschicklich fanden, ließen die Samentierchen auf die Eier in der Mutter springen und sie befruchten: dazu gehörte aber, dass eins von diesen Geschöpfen so glücklich war, ein Ei zu öffnen und hineinzuschlüpfen: mancher Kenner der Natur war sogar nicht ungeneigt, sie für die Seelen zu halten, die auf solche Weise den präformierten kleinen Körper belebten.
Das sind ja alles längst von der Forschung überholte Theorien. Was meinte man zu Ihrer Zeit definitiv zu wissen?
Für unsere Absicht ist das genug, was durch Beobachtung und Erfahrung erwiesen wird, und diese lehrt uns, dass zur Entstehung eines neuen Menschen ein Vater und eine Mutter nötig sind, und dass beide zur Hervorbringung desselben etwas beitragen: die große Ähnlichkeit der Kinder mit ihren beiden Eltern macht es wahrscheinlich, dass der Beitrag von beiden Teilen nicht bloß formaliter, sondern auch materialiter geschieht, schulmäßig zu reden, das heißt, die Zeugung entwickelt nicht bloß ein präformiertes Wesen, sondern beide Eltern geben auch etwas zu seinem Stoffe her. Ohne zu bestimmen, wie sie es tun, muss man einräumen, dass sehr viel auf die Disposition ihrer Seelen und ihres Körpers im Augenblicke der Zeugung, auf den Grad des venerischen Reizes und ihrer gegenseitigen Zuneigung ankommt, und dass daher beträchtliche Unterschiede in Temperament und Organisation entstehen können.

Hat der Verlauf der Schwangerschaft auch bereits einen Einfluss auf die Entwicklung des Embryos?

Ich weiß nicht, ob ein Afrikaner oder ein Europäer, ein "Alter" oder ein "Neuer" die Anmerkung gemacht hat oder ob sie gar in meinem eignen Gehirne gebrütet worden ist, in welchem Falle man mir es nicht übel deuten wird, wenn ich den Beifall des Lesers als eine unausbleibliche Folge erwarte: Man hat also angemerkt, dass man, wo nicht alle, doch die meisten gegenwärtig unerklärbaren Erscheinungen, die sich an vielen Menschen zum Erstaunen des Gelehrten und Ungelehrten zeigen, sehr leicht würde erklären können, wenn jemand eine genaue und umständliche Geschichte ihrer Schicksale im Mutterleibe, von dem ersten Augenblick ihres Daseins bis nach ihrer Geburt, bekanntmachte. Freilich ist die Forderung eine Forderung des Unmöglichen, und wenn derjenige, der sie täte, gar ein Leuwenhökianer, Leibnizianer oder so etwas wäre, so könnte die Geschichte eines einzigen solchen possierlichen Dinges, das wir Seele nennen, vor seiner menschlichen Existenz, wenn sie alle Wanderungen eines Samentierchen seit seiner ersten Ausreise enthalten sollte, die Geschichte des chinesischen Reiches beschämen; allein diese Bemerkung enthält so viel Wahres, dass ich ihr meinen Beifall nicht versagen könnte, wenn ich auch gewiss wüsste, dass sie nicht in meinem Kopfe entstanden ist.


Wie prägt die Kindheit unser Leben? Kann ein guter Erzieher einem Kind schon ansehen, was später aus ihm werden wird?

Gewiss ist es, dass die Gegenstände, an welchen wir unsre ersten Erfahrungen machen, die Art, wie sie auf uns wirken – dass die Personen, von welchen wir die ersten Elemente der Sprache und zugleich auch der menschlichen Erkenntnis lernen, ihr Betragen gegen uns und andre, sogar ihre Gebärden, ihre Mienen – dass endlich der Fluss, in welchen unsre Lebensgeister zufälligerweise durch die äußerlichen Ursachen der Luft, der Witterung usf. oder durch die inneren Bewegungen der Maschine, durch die Wirkungen der Speisen in den ersten Jahren gesetzt werden – dass alle diese Umstände zusammengenommen und vielleicht noch viele andre, die ich übersehen oder die in den genannten enthalten sind und jetzt nicht so umständlich auseinandergesetzt werden können – dass alle diese Umstände, sage ich, der erste Boden und folglich auch der erste Nahrungsstoff für unsern Charakter sind. Die Natur gibt den Samen zur Pflanze und streut ihn aus; unsre äußern Verhältnisse in den ersten Jahren sind der aufgeschüttete Boden, wo der Same sich zur Pflanze entwickeln – denn gekeimt hat er schon vor der Geburt – und wo die entwickelte Pflanze Wurzel fassen soll; sie sind das Vehikel der Nahrung für die Pflanze, und von dieser Nahrung hängt es zum Teil ab, ob die Pflanze enge oder weite Röhren, geschmeidige oder starre Fasern, viel oder wenig Mark haben soll. – Hernach mag andrer Boden hinzugeschüttet werden, der ganz andre Nahrungsteile enthält, die Pflanze mag in ein fremdes Klima versetzt werden; ihre Bestandteile werden freilich verändert, die alte Materie verfliegt, aber die neue setzt sich doch immer in der alten Form an, oder das ganze Gewächs erstirbt.


Auch in ihrer Zeit wurde viel mit Erziehungsreformen experimentiert. Wie stehen sie zur anti-autoritären Erziehung?

Das habe ich in meiner Erziehungssatire so beschrieben: Man befahl diesmal, "dass man aus der Erlernung der jugendlichen Wissenschaften keine Arbeit, sondern ein Spiel, einen Zeitvertreib machen sollte. Die Kinder und jungen Leute sollten Vernunft und Wissenschaft erlangen, ohne es selbst zu wissen. Alle Härte sei vom Unterricht entfernt, und der beste Lehrer sei derjenige, der seinen Schülern Kenntnisse ohne ein einziges schmerzendes Wort beigebracht hat".
Dieses Gesetz blieb in einer großen Dunkelheit. Die meisten Eltern wussten sich gar nichts daraus zu nehmen; denn alles, was drinnen geboten wurde, musste in der Stube geschehen, ohne dass eine Seele öffentlich ein Wort davon gesprochen hätte. Sonach überließen sie die Beobachtung desselben dem Gutdünken der Lehrer. Einige unter diesen, die unter Prügeln und Schmähungen das hatten werden müssen, was sie waren und ein mitleidiges, gutes Gemüt besaßen, richteten sich gern darnach, weil sie auch ohne Gesetz ihren Untergebenen die Schmerzen würden erspart haben, die ihnen selbst so empfindlich gewesen waren; andre, von einem ungestümen und rachsüchtigen Charakter, gaben, des Gesetzes ungeachtet, ihren Lehrlingen die Schläge und Empfindlichkeiten mit Wucher wieder, die sie ehemals genossen hatten.


Wie haben die Politiker versucht, diese Reform des spielerischen Lernens durchzusetzen?

Steht auch alles in meiner Satire: Endlich wurde einer der Stadtregenten, der bisher die meisten Bälle und Gastereien gegeben und darum das größte Ansehen hatte, durch eine nächtliche Erkältung krank. Weil in solchem Zustande nichts Besseres für ihn zu tun war, durchblätterte er die Gesetze, die er während der alleinigen Staatsverwaltung der beiden Philosophen samt und sonders gebilligt und unterschrieben, aber noch nicht hatte lesen können. Er fand diese letzte Verordnung über die Erziehung, sie gefiel ihm, besonders der Einfall, dass der Unterricht ein Spiel sein sollte. Ein Einfall brachte den andern in seinem Kopfe hervor, und er beschloss, ein solches Spiel zu ersinnen, das allen mündlichen Unterricht unnötig machte. Als er das erste Gastmahl wieder gab und noch so gute Diät halten musste, dass er sich nur von sechs Schüsseln zu essen traute, waren seine Erfindung und sein Werk schon zustande. Seine beiden sechs- und siebenjährigen Knaben bekamen es den Tag darauf zum Geschenke und setzten es unter den Tisch. Der Erfinder unterließ nicht, seines Werks bei jedem Gastgebote zu gedenken, es jedermänniglich vorzuzeigen, und jedermänniglich, der nicht zum letzten Male bei ihm wollte gegessen haben, erhob Erfinder und Arbeit per omnes gradus comparationis. Einige trieben die Schmeichelei so weit, dass sie das Werk auf der Stelle abzeichnen und nachmachen ließen. Die weniger Vornehmen hätten eine solche Maschine, als sie allgemein wurde, um das schönste Gastgebot nicht entbehrt. Dadurch wurden die Gewinnsucht und der Erfindungsgeist der Künstler angefacht, und im kurzen waren Maschinen zu Erlernung der Wissenschaften der wichtigste Handel der Stadt und umliegenden Gegend.
Etliche unter diesen Erfindungen waren sehr sinnreich, andre ganz brauchbar und die meisten abgeschmackt. Man ersann Kästen, wo vermittelst der Umdrehung eines Rades alle Handwerkszeuge und Instrumente, von dem Ambosse bis zum Korkzieher, alle Kleidungsstücke, Pantoffeln und Haarnadeln mit eingeschlossen, alle Essen und Getränke, das stinkende Wasser nicht ausgenommen, in Modellen und Abbildungen hinter einem Glase vorbeimarschierten, während dass sich in einem Kasten darunter ein angenehmes Orgelwerk hören ließ. Man verfertigte auch, die Erlernung der Sprache zu erleichtern, Sprachmaschinen, in Form der Trompeten, die dazu dienen sollten, die verschiedene Artikulierung der Töne in fremden Sprachen desto bequemer und schneller herauszubringen. Ein Marktschreier verkaufte sogar einen Schnupftabak, dessen öfterer Gebrauch die Wörter einer Sprache durch die Nase in das Gehirn führen sollte, indem jedes Korn so zubereitet war, dass es durch die Berührung der Nasennerven ebendieselbe Schwingung in den Gehirnnerven hervorbringen musste, die erforderlich ist, das Wort zu denken, welches ins Gehirn transportieret werden sollte, durch welches herrliche Mittel einhundertunddrei Söhne und Töchter ihr liebes bisschen Menschenverstand aus dem Kopfe weggeniest und keine Silbe von einer Sprache dafür hineinbekommen haben.


Soll man nicht trotz dieser fehlgeschlagenen Reformen möglichst früh mit der Förderung der Kinder beginnen?

Macht es doch mit euerm Kopfe wie mit euerm Magen! In diesen stopft ihr alles hinein, was er nur bearbeiten kann, ohne eine Rangordnung unter den Speisen zu machen: nach der Muttermilch und in jungen Jahren wenig und allmählich immer mehr, und dabei sorgt ihr nicht, ob sich das Genossene gehöriger Weise in Blut, in Fließwasser, in Drüsensaft nach und nach verwandle, sondern das überlasst ihr dem Magen. Ist dieser gut, so gehen alle diese Verrichtungen von selbst vonstatten, taugt er nichts – was wollt ihr denn dabei tun? – Höchstens könnt ihr sorgen, dass er nicht schlechter wird, solange es geht. Pfropft in den Kopf hinein, was er nur in jedem Alter verdauen kann, und was er zuerst verdaut, das sind die ersten Kenntnisse, die erste Masse zu seinen künftigen. Der ganze Gang der denkenden Kräfte ist so: Wir sammeln ein, und in dem guten Kopfe stellt sich alles von selbst in Ordnung, und je mehr der eingesammelte Vorrat zunimmt, je mehr nimmt das Vermögen, ihn zu bearbeiten, zu. Sorgt nicht sowohl dafür, dass die Köpfe eurer Schüler vollgestopft werden, das ist für Kopf und Magen keine gute Diät, sondern übet ihre Kräfte; denn Gelehrte können in geringer Anzahl, aber gute, gesunde, geübte Köpfe müssen in Menge da sein, wenn dem Staate geholfen werden soll.


Möchten Sie uns vielleicht eine Anekdote aus Ihrer eigenen Kindheit erzählen, die Sie ja in Ihrem Roman 'Herrmann und Ulrike' verarbeitet haben?

Im Jahre nach Erschaffung der Welt, als die Damen kurze Absätze und niedrige Toupets, die Herren große Hüte und kleine Haarbeutel und niemand leicht Gold auf dem Kleide trug, der nicht wenigstens Silber genug in der Tasche hatte, um es bezahlen zu können, wurde auf dem Schlosse des Grafen von Ohlau ein Knabe erzogen, der bei dem Publikum des dazugehörigen Städtchens nicht weniger Aufmerksamkeit erregte und in den langen Winterabenden nicht weniger Stoff zur Unterhaltung gab als Alexander, ehe er auf Abenteuer wider die Perser ausging. Graf und Gräfin, deren Liebling er einige Zeit war, nannten ihn Henri, seine Eltern Heinrich und das ganze Städtchen den kleinen Herrmann, nach dem Geschlechtsnamen seines vorgeblichen Vaters – seines vorgeblichen, sage ich; denn sosehr die körperliche Ähnlichkeit mit ihm es wahrscheinlich machte, dass er sein wahres, echtes Produkt sein mochte, und so wenig auch der erfahrenste Physiognomist auf den Einfall gekommen wäre, eine andere wirkende Ursache zu vermuten, so hatte doch jedermann die Unverschämtheit, trotz jenes wichtigen Grundes ihn seinem Vater völlig abzuleugnen, und zwar aus der sonderbaren Ursache – weil der Sohn ein feiner, witziger, lebhafter Knabe wäre und gerade so viel Verstand als sein Vater Dummheit besäße.
Freilich war wohl diese Ursache etwas unzureichend, einem armen Sterblichen seine ehrliche Geburt abzusprechen; auch gab der alte Herrmann nichts weniger zu, als dass er dumm sei, und bewies sehr häufig durch die Tat, dass er sich hierin nicht irrte: gleichwohl hätten sich die Leute eher bereden lassen, nicht mehr an den Kobold zu glauben, als den jungen Herrmann für den rechtmäßigen Sohn des alten Herrmanns zu erkennen. Indessen, so genau alles, alt und jung, in dieser Behauptung übereinstimmte, so verschieden wurden die Meinungen, wenn es darauf ankam, die Entstehung des Knaben zu erklären; und wenn man alles, was darüber gedacht und gesagt worden ist, sorgfältig aufbewahrt hätte, so würde eine solche Sammlung ungleich mehr Drucker und Setzer ernähren als alle Träumereien der Philosophen.


Sie meinen also, Sie seien ein uneheliches Kind gewesen? Bei welchen Gelegenheiten sind Sie bzw. Herrmann mit ihren leiblichen Eltern in Kontakt gekommen?

Schnell sprang er von der Bank hinweg, setzte sich ins Gras, pflückte Blumen, und band mit dem sorgfältigsten Fleiße ein sehr zierliches Bukett, das er der Gräfin mit dem verliebten Anstande eines Schäfers und einem Handkusse überreichte, nebst der galanten Versicherung, dass er sie sehr lieb habe. – "Mein Sohn", sagte die Gräfin darauf, "du wirst einmal ein großer Mann oder ein großer Narr werden". – "Ach", erwiderte der Knabe mit kindischer Naivität, "mit dem großen Narren hat's keine Not: das will ich wohl bald werden, wenn ich nur erst ein großer Mann bin" –
Gräfin. "Hast du denn Lust, ein großer Mann zu werden?"
Der Kleine. "Ja, das werde ich; und weiter nichts!"
Gräfin. "Auch ein großer Narr?"
Der Kleine. "Nein, das ist meine Sache nicht. – Das ist einer"(setzte er hinzu und wies mit dem Finger auf den Grafen). Steifigkeit und Gezwungenheit müssen auf jede richtig gestimmte Seele einen unmittelbaren widrigen Eindruck machen; sonst hätte unmöglich diesem kleinen Schwätzer ein so kindischer Sarkasmus, so voll der bittersten Wahrheit, entwischen können. Der Graf fühlte ihn mit Widerwillen, und es tat ihm sehr wehe, dass er nicht zürnen konnte, weil ihn ein Kind gesagt hatte: seine Gemahlin, die seinen Stolz und seine zeremoniöse Eitelkeit innerlich sehr missbilligte und sich nur nicht offenherzig gegen ihn herauszulassen getraute, freute sich im Herzen über den Vorwitz des Buben und ermahnte ihn zur Behutsamkeit und zum Respekte in seinen Ausdrücken, vielleicht gar in der boshaften Absicht, seine Unverschämtheit noch mehr zu reizen. "Was hast du denn an mir auszusetzen?", fragte der Graf mit hastigem Tone, um seine Empfindlichkeit zu verstecken.
Der Kleine. "Sehr viel! – Warum ziehen Sie sich denn so warm an? jetzt in der Hitze? Sehen Sie! das ist gescheit angezogen!" – (wobei er seine kleine rotstreifige Leinwandjacke auseinanderzog und von der Luft durchwehen ließ). Die Gräfin verbarg eine boshafte Freude hinter dem Fächer und machte ihm den Einwurf, dass sich eine solche Kleidung nicht für den Grafen schicke.
Der Kleine. "Warum denn nicht? Wenn sie sich für mich schickt?"
Die Gräfin. "Und du bist doch ein König!"
Der Kleine. "Oh, Sie sind eine charmante Frau: ich habe Sie wahrhaftig recht lieb, das können Sie glauben. Wenn ich groß bin, will ich Sie heiraten".
Die Gräfin. "Du mich? – Ich habe ja schon einen Mann".
Der Kleine. "Ja – (wobei er den Grafen mit schiefen, verächtlichen Blicken vom Kopf bis zu den Füßen übersah) – den hätt ich nicht genommen".


Im Roman spielt auch der Erzieher von Herrmann eine große Rolle. Wie versucht dieser Erzieher seinen jungen Schützling zu fördern und zu lenken?

Was seinem Lehrer die meiste Besorgnis machte, war der ungeheure Umfang seiner Tätigkeit und Leidenschaft. "Dieser junge Mensch", sagte er sich oft, "muss dereinst entweder sich selbst oder andre aufreiben. Seine große Geschäftigkeit, wenn sie der Zufall unterstützt und ihr nicht Unglück, Warnung, Erfahrung und natürliche Rechtschaffenheit beizeiten die nötige Richtung und Einschränkung geben, wird alles in ihren Wirbel hinreißen, sein Ehrgeiz alles erringen und sein Stolz alles beherrschen wollen: stößt ihn aber das Schicksal in einen engen Wirkungskreis hinab, der seine Tätigkeit zusammenpresst, dann wird er, wie eine zusammengedrückte Blase voll eingeschlossener Luft, zerspringen, sich selbst quälen und auf immer unglücklich sein. Gleichwohl kann ich nach meiner besten Einsicht nichts für ihn tun, als dass ich seinen Ehrgeiz auf nützliche, gute und wahrhaftig große Gegenstände leite, sein natürliches Gefühl von Rechtschaffenheit belebe und durch unmerklich eingeflößte Grundsätze stärke; dass ich ihn im strengsten Verstande zum ehrlichen Mann zu machen suche und dann alle Leidenschaften in ihm aufwecke, damit sein Ehrgeiz durch ihr Gegengewicht gehindert wird, sein Herz ganz an sich zu reißen. Ob aus ihm das Schicksal einen Lasterhaften oder Tugendhaften, einen großen Mann oder stolzen Windbeutel werden lassen will, das steht in seiner Gewalt: ich habe wenigstens verhütet, dass er nie ein Bösewicht oder Schurke sein wird."
Nach diesem Plane predigte er ihm nie die Unterdrückung der Leidenschaften, gebot ihm nicht, sie niemals ausbrechen zu lassen, sondern ließ der Wirksamkeit seiner Natur freien Lauf und war bloß bedacht, seine Denkungsart durch Beispiele und seltene, gleichsam nur hingeworfene Maximen zu bilden. Mit den großen Männern der Geschichte ward sein Lehrling in kurzem so bekannt wie mit Vater und Mutter: ihre guten und bösen Handlungen wusste er auswendig: sie begleiteten ihn ins Bette, bei Tische und auf den Spaziergang: sie waren seiner Einbildungskraft allgegenwärtig wie das Bild einer Geliebten: er unterredete sich in der Einsamkeit mit ihnen, sah sie vor sich hergehen, tadelte und bewunderte sie. Ihre Büsten, in Gips geformt, waren seine tägliche Gesellschaft: er stellte den Kopf des Cicero auf den Tisch, einen weiten Halbzirkel bärtiger Römer, wenn sie auch hundert Jahr vor ihm gelebt hatten, um ihn herum, und hielt dann hinter ihm eine nervöse, durchdringende Rede wider den Catilina, ermahnte die ehrwürdigen Väter der Stadt, das Ungeheuer zu verbannen, und beseelte ihren schlaffen Mut mit römischem Feuer. Am öftersten musste Cato die ausschweifenden Sitten, die Pracht und Verschwendung seiner Mitbürger schelten und sie zur Mäßigkeit, Sparsamkeit und wahren Größe des Herzens ermuntern, wobei er niemals vergaß – sosehr es auch wider die Chronologie war –, ihnen sein eignes Beispiel zu Gemüte zu führen. Wenn in seinem Gipssenate Unterhandlungen über Krieg und Frieden gepflogen wurden, so konnte man allemal sicher sein, dass es zum Frieden kam: war aber vielleicht einer von den asiatischen Königen, ein Antiochus oder Mithridat, zu übermütig, so entstand zuweilen in der Ratsversammlung selbst so heftiger Krieg, dass sich die streitenden Gipsköpfe die Nasen aneinander entzwei stießen.


Was halten Sie von wissenschaftlichen Erziehungstheorien?

Alle, die sich mit der Erziehung beschäftigt oder darüber geschrieben haben, teilen sich in zwei Parteien: die eine will die Natur verbessern, die andre sie entwickeln. Ich werde die Schwierigkeiten und Vorteile von beiden Methoden untersuchen, und dann muss es leicht sein, zu bestimmen, welches die bessere ist, oder ob man nicht, wenn man sie beide unter gehörigen Einschränkungen verbände, vielleicht die beste finden könnte.
Die erste Partei, welche den Menschen für einen Baum voll schädlicher, verdorbener Säfte hält, der von der Natur selbst eine überwiegende Neigung bekam, krumm zu wachsen, hatte ein Ideal von einem vollkommenen Menschen nötig, um die fehlerhafte Natur darnach umzubilden, und musste ihre Bemühung für den Zögling nichts anders sein lassen, als eine unaufhörliche Sorge, ihn jenem Muster so sehr als möglich zu nähern: man meißelte, hobelte, säuberte, putzte und polierte so lange an seinen Kindern herum, bis ein Etwas aus ihnen wurde, das dem vorausgesetzten Urbilde mehr oder weniger glich, wie ein Porträt dem Originale.
So weit waren diese Verbesserer der Natur alle einig: aber wie geschah es, dass sie, trotz dieser Übereinstimmung in den Grundsätzen, so verschiedene Produkte hervorbrachten? – Ganz natürlich! ein jeder arbeitete nach einem andern Modelle, der eine nach einer Venus, der andre nach einer Madonna, der dritte nach einem Herkules, der vierte nach einem Antinous welch ein Wunder, dass aus einem Marmor, nach einer Regel, verschiedene Figuren entstanden?
Die Schwierigkeit dieser Methode liegt also vorzüglich darin, dass man ein allgemeines Modell findet, ein Ideal, das die Vollkommenheit der menschlichen Natur ausdrückt. Da jeder Mensch – nicht gerade aus fehlerhafter Eigenliebe, sondern durch die natürliche Bestimmung unsers Wesens – sich selbst, seine Meinungen, Grundsätze, Leidenschaften, Neigungen und Gewohnheiten zum Maßstabe des Vollkommenen gebraucht, so glaubten die Erzieher dieser Art ihre Zöglinge am weitesten gebracht zu haben, wenn sie ihnen am ähnlichsten waren.
Diese Betrachtungen veranlassten eine zweite Partei unter den Erziehern. Man fand es vorteilhafter für das Ganze und den einzelnen Menschen, wenn man die Natur in jedem Zöglinge frei wirken ließ, ihr nachspürte, und nur durch kleine Hilfen hier und da zur Hand ginge, das Subjekt werden ließ, was es nach der Absicht der Natur werden zu sollen schien, und folglich nichts verbesserte, sondern alles entwickelte. Vorausgesetzt, dass der Erzieher Beobachtungsgeist genug besitzt, die Absichten der Natur zu erraten, so ist er bei dieser Methode sicher, ihr niemals entgegen zu arbeiten, die Mannigfaltigkeit der Charaktere – eine von den vorzüglichsten Schönheiten unsers Planeten! – wird durch sie teils erhalten, teils vermehrt, dem Kinde die Marter erspart, einen unaufhörlichen Streit zwischen seinen inneren Antrieben und den entgegengesetzten, die man ihm aufdringen will, zu empfinden, es wird nie genötigt, sich hinter der Verstellung zu verbergen, es fühlt sich frei, wird munter und glücklich. (…)
Wie? wenn man beide Methoden verbände? und so eine dritte herausbrächte, die die Vorteile beider in sich vereinigte? – In diesem Falle hatten wir zwei Arbeiten vor uns: erstlich das allgemeine Ideal der menschlichen Natur zu finden, und dann zu überlegen, wie man jedes einzelne Subjekt diesem allgemeinen Ideal nähern könne, ohne seinen besonderen Individualitäten Gewalt anzutun.
Jedes Ding ist am vollkommensten, wenn es alle Kräfte seiner Art in vollem Maße besitzt: folglich musste ein Mensch der vollkommenste sein, der alle menschlichen Kräfte, körperliche und geistige, in einem solchen Grade besäße, dass eine jede für sich ihren vollen Effekt hervorbrächte, und doch keine so überwiegend stark, dass sie die Wirkung einer andern hinderte. Die physische Vollkommenheit der ganzen Natur ist auf ein solches Gleichgewicht gebaut: allenthalben streitende Kräfte, die das ganze Weltsystem, die unsre Kugel zusammenhalten, streitende Leidenschaften und Wünsche, die dem Ganzen der menschlichen Gesellschaft, und dem kleinen Ganzen, dem einzelnen Menschen, Dauer und Festigkeit geben! Kein Sterblicher kann sich eines solchen völligen Gleichgewichts seiner Kräfte rühmen.


Vor welchen Erziehungsfehlern sollte man sich besonders hüten?

Die Natur zeugte nie einen Bösewicht: wer es ist, wurde es durch die Erziehung: wer der Natur nacharbeitet, bringt zwar keinen Engel, aber doch gewiss einen Menschen hervor, der in das Ganze passt: arbeitet man ihr entgegen, – welches der Fall sehr häufig sein muss, wenn man sie verbessern, das heißt, in eine Form zwingen will, – dann rächt sie sich durch ewigen Widerspruch. Der Zögling, der sich selbst ganz anders fühlt, als er werden soll, und von innen nach einer ganz andern Richtung getrieben wird, als seine Erzieher ihn lenken, versteckt sich, trägt zeitlebens eine Maske, bekommt ein allgemeines Mistrauen gegen jede noch so heilsame Lehre seines Aufsehers, und wird am Ende gar nichts Gutes tun, weil er lauter Gutes tun sollte. Endlich hebt diese Erziehungsart die Verschiedenheit der Charaktere auf, und macht die Welt zu einem einförmigen langweiligen Garten, wo Bäume in geraden Linien da stehen, alle eventails oder in Pyramiden geschnitten sind, alle eine Miene haben, da doch die Natur offenbar bei den Menschen nach den nämlichen Ideen arbeitet, wie in der leblosen Welt. Wenige Zwecke durch wenige Mittel mit einer unendlichen Mannigfaltigkeit bewirkt, ist allenthalben ihr Plan: die Bestandteile einer schönen Gegend sind allenthalben dieselben, und sehr zählbar, und gleichwohl die Arten ihrer Zusammensetzung unzählig. Ebenso wusste die Natur den Stoff eines menschlichen Charakters so zu bearbeiten, dass durch die verschiedene Mischung seiner Ingredienzien eine unübersehbare Mannigfaltigkeit entstand. Alle Menschen in eine bestimmte Form zwingen wollen, heißt also offenbar, die Absichten des Schöpfers stören, der jeden Menschen anders schuf.


Wie stellen Sie sich den Unterricht von Jugendlichen nach der Grundschule konkret vor?

Wenn der Kopf des jungen Menschen durch den Elementarunterricht mit solchen Landkarten von dem menschlichen Leben versorgt ist, so muss er es nunmehr schlechterdings im Großen in der Natur selbst sehen. Es wird also meine vorzüglichste Sorgfalt sein, ihm alle Arten der ländlichen und städtischen Arbeitsamkeit, Handwerke, Fabriken, Manufakturen, Künste, die es hier gibt, zu zeigen, in den Messen fremde und einheimische Produkte der Industrie und der Kunst mit ihm aufzusuchen, ihn auf die mannigfaltigen und oft sonderbaren Mittel, womit die Menschen ihren Unterhalt erwerben, auf die Tätigkeit, womit ein jeder sein Gewerbe betreibt, aufmerksam zu machen und ihm dadurch Liebe zur Beschäftigung und Arbeitsamkeit einzuflößen: ich werde ihn mit vielen und mancherlei Menschen zusammenbringen, damit er ihre Charaktere, Denkungsarten, Leidenschaften, Handlungen, Torheiten, ihr Gutes und Schlimmes sieht, und dadurch alle Menschen ertragen, mit allen umgehen und ihnen den Grad von Achtung erweisen lernt, den wir alle einander schuldig sind. Er soll sich gewöhnen, wenig Freunde und viel Bekannte zu haben, und vor einem Fehler bewahrt werden, der vielen Personen anhängt, dass sie nur eine Art Menschen leiden können und jeden unerträglich finden, der nicht gerade zu dieser Art gehört. Ich hoffe ihm dadurch eine vernünftige Billigkeit gegen Andere beizubringen und die große Wahrheit anschaulich zu machen, dass jeder Sterbliche, selbst bei den größten Fehlern, etwas Gutes hat, und dass daher jeder den Andern ertragen muss, um von ihm ertragen zu werden.


Ist es unbedingt nötig, dass Kinder die Rechtschreibung lernen?

(JKW zieht einen zerknitterten Brief aus seiner Jackentasche und liest ihn vor)

Hochehrwirticher Hochwolgeborner Her,
Ire hochwolgeporne Gnaden werten nich ungnedig nemen ich bin eine arme ferlasne Frau und habe weter Tach noch Fach Ihre hochwolgepornen Gnaten werden Ihr mildes Herz auftun salfa fenia ich muss auf der Straße umkommen Es ist mir gar zu schlim geganen ich denke Ire hochwolgeborne Gnaden mein Man ist tot unt neme in kristlicher Gesinnung einen Antern. Das war ein rechter Schantkerl Ire hochwolgeporne Gnaten er war ein Leinwäber. Der Henker wirt im wol das Lon geben daß er mich so betölpelt hat. Ich arme Frau weis weder aus noch ein. Da nam ich ten Galgen-Schwengel Ire hochwohlgeporne Gnaten weil er so ein guter Krist war unt so hübs bätte da nam ich In zum manne. Ich habe was rechts bei im ausgestanten, er hat mich geprigelt wien Melsack weil er alle Dage drank und palt bätte unt balt trank und hernach nich von sinnen wußte und ta prigelte er mich weil er gar nich zu sich kam. Ire hochwolgeporne Gnaten s war n rechter Höllenprand. Da ging ich von im weil ichs gar nich mer aushalten konte unt lebe nun in Kummer unt Jammer und weiß nicht wo ich mein haubt hinlegen sol.

Was stellen Sie sich unter Erziehungsgeschichten vor, und wozu sind sie gut?

Eine von den mächtigsten Hindernissen, die den Fortgang der menschlichen Erkenntniß hemmen, indem sie ihren Lauf zu befördern scheinen, ist die unzeitige Theoriensucht der Sterblichen. Wenn wir drey oder vier gleiche Phänomene erwischt haben, so binden wir sie in Einen allgemeinen Satz zusammen; und da wir so hurtig zu allgemeinen Sätzen zu gelangen wissen, so muß nothwendig unser Vorrath sehr bald so stark anwachsen, daß wir der Lust nicht widerstehen können, sie zu klassificiren, zu ordnen, in Regimenter und Kompanien zu vertheilen, eine förmliche Theorie, ein förmliches Systemchen herauszukünsteln. Freylich ist es von einem Menschen, der eine große Einnahme hat, sehr wohl gethan, wenn er, von Zeit zu Zeit, sein Geld sortirt, den lästigen Braß von Scheidemünze in gröbere Sorten verwandelt, und ein Register darüber führt: so oft sich durch Ausgabe, vergrößerte Einnahme oder Einwechslung, der Zustand des Baaren ändert, streicht man im Register aus, setzt zu: wird die Änderung so groß, daß des Ausstreichens kein Ende wäre, so macht man ein neues, und – verbrennt das alte.
Dies ist denn nun wohl so ziemlich der Fall mit den Theorien, den Registern der menschlichen Ideen, gewesen: wir haben sehr oft alte verbrannt, und neue verfertigt, damit unsre Kindskinder auch etwas zu verbrennen hätten. Darinn verfuhren wir nun sehr unkaufmännisch, daß wir, sobald das aktive Vermögen unsrer Erkenntniß ins Buch eingetragen war, nunmehr Handel und Einwechseln auf lange Zeit ganz liegen ließen. Ohne uns um die Einsammlung neuer Phänomene zu bekümmern, schrieben wir lange Zeit ein System ab, und schnitten die Ausübung darnach zu, bis einmal ein Grillenkopf kam, der den Handel wieder ganz von vorn anfieng, und uns so viel neue widersprechende Erscheinungen herbrachte, daß unsre allgemeinen Wahrheiten zu einzelnen individuellen oder lokalen Erfahrungen zusammenschrumpften, und das ganze System zu weiter nichts mehr taugte, als zum – verbrennen.
Die Anzahl der allgemeinen Wahrheiten, die dem menschlichen Verstande bestimmt wurden, ist unendlich klein: je kleiner der Umfassungskrais unsers Denkens ist, je größer scheint sie uns, und bey dem kleinsten Geiste ist jede einzelne Erfahrung ein allgemeines Gesetz: man braucht nicht sonderlich viel Menschen zu kennen, um diese Beobachtung bestätigt zu finden. Also gründete auch hier die Natur die Thätigkeit des Menschen auf das Gleichgewicht streitender Kräfte: auf der einen Seite unüberwindlicher Hang, und auf der andern eingeschränktes Vermögen!
Vielleicht in keiner Wissenschaft ist dieses eingeschränkte Vermögen so sichtbar, und jener unüberwindliche Hang so schädlich, als in der Erziehungskunst: sie kann noch lange Zeit nichts, als Sammlung einzelner Erfahrungen seyn, aus welchen wir zuweilen ein allgemeines Regelchen abstrahiren, in das Register eintragen, und wohlbedächtig abwarten, ob nicht über lang oder kurz eine entgegengesetzte Erfahrung ihm seine Allgemeinheit wieder raubt.
Aus diesem Grunde thaten die ersten Herausgeber der philanthropinischen Unterhandlungen sehr wohl, daß sie um Erziehungsgeschichten baten.
[…]
Und nun, ihr Pädagogen, Hofmeister, Informatoren, Kinderlehrer, Rektoren, Konrektoren, Schulmeister und Professoren! – beobachtet, schreibt!
Die Naturkündiger lassen mit einer Sorgfalt, als wenn das Wohl des Weltalls davon abhinge, Barometer aufstellen, um das Wetter zu beobachten, verschreiben und verdrucken Riese Papier mit 0.9. und 0.5. weil sie vermeynen, ihre Wissenschaft dadurch zu vervollkommnen: wollet Ihr dann, die ihr so großen Einfluß auf die Menschheit haben wollt, haben sollt, und haben könntet, Kopf und Hände in den Schooß legen, und nicht für den Unterricht Eurer Nachfolger sorgen? Ihr schreyt ja, wie der rasende Ajax, wenn Jemand Eure Zunft verachtet – und Ihr thut wohl daran – wollt Ihr weniger warmen Eifer für die Kunst, als für die Zunft, haben? – Wenn unsre Großväter nicht uneigennützig kleine Linden vor meinem Fenster gepflanzt hätten, so würde itzt nicht die ganze Stadt in dem anmuthigen Schatten dieser dichten Allee lustwandeln.
Also noch einmal – beobachtet, und dann – schreibet! Wl.



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