KASSANDRA UND DIE WUNSCHMASCHINE
Sie hatte sich versteckt. Es war nicht ganz leicht gewesen, einen Ort zu finden, der offline war; das weltweite Netz erstreckte sich inzwischen bis in den le tzten noch nicht abgeholzten Regenwald, überzog die wenigen noch nicht vollflächig betonierten Landschaften, ja ließ einen selbst auf den schmutzigen Eisschollen des dahingeschmolzenen ewigen Eises nicht allein. Unheil, Katastrophe, Untergang, so scholl es aus allen Kanälen, die social media quollen über von Verschwörungstheorien, in den Medien runzelten rund um die Uhr besorgte Experten die weisen Stirnen, auf den Kinoleinwänden wurde die Apokalypse zelebriert, immer schneller, immer schrecklicher, immer schöner. Allenthalben ‚Kassandrarufe‘, Kassandra konnte die abgegriffene, ausgelutschte, bis zum Erbrechen überstrapazierte Floskel nicht mehr hören! Sie wusste genau, all die Rufer hatten völlig vergessen (wenn sie es überhaupt jemals gewusst hatten!), wer das war, wer sie war, Kassandra. Sie kannten weder ihre Geschichte noch ihr Schicksal, und wenn sie vom trojanischen Krieg sprachen, meinten sie einen auch schon etwas in die Jahre gekommenen Hollywood-Film mit Brad Pitt. Kassandra hatte schon vieles verflucht, vom Gott Apollo an, dem schönen, alles überstrahlenden Gott des Lichts, der Heilkunst, der Wissenschaften und Künste; nach Troja aber hatte er die Pest geschickt, damals, er war parteiisch wie sie alle waren, die olympischen Götter, ungerecht, blindwütig, Tod bringend wie Leben schenkend im Zwinkern eines Götterauges. Eine Mondfähre hatten sie nach ihm, nach Apollo benannt, ausgerechnet! Sie hatte den besten Grund ihn auf den Mond zu schießen, sie allein. Ein Killer war er, der schöne Apoll; lachend hatte er die Kinder der Niobe getötet, alle sieben, mit seinem weitreichenden, nie fehlenden Bogen. Unzählbar waren aber auch seine Günstlinge gewesen, Männer und Frauen, und sie, Kassandra, war nicht die Geringste unter ihnen gewesen! Natürlich war sie damals seinem Charme erlegen, wie sie alle; und er war ihrer Schönheit erlegen, der sagenhaften Schönheit der trojanischen Königstochter Kassandra, die mit Aphrodite selbst in einem Atemzug genannt worden war! Ach, ihre vielgerühmte Schönheit. Sie war der stärkste Fluch, der eine Frau treffen konnte, stärker als Hässlichkeit, Nichtbeachtung, Schmähung gar. Warum sie Apollo dann im letzten Moment zurückgewiesen hatte, bevor er in sie eindringen konnte, mit einer Bewegung des schönen Kopfes nur, einem Zucken in den Mundwinkeln – sie wusste es selbst nicht genau. Sie hatte gespürt, dass er ihr sein großes Geschenk bereits gemacht hatte, die Gabe der Prophezeiung – sie sagte aber lieber: Weissagung –, die ihren ganzen jugendlich-prachtvollen Körper schauern ließ mit ungeahnten Gesichten und einem ganz neuen Gefühl: Sicherheit, Gewissheit, aber auch: Unentrinnbarkeit. In diesem Moment war sie hellsichtig geworden, und Apollo selbst war das erste Opfer dieser Hellsichtigkeit geworden, bevor sie es selbst noch verstanden hatte. Da hatte er sie verflucht, mit diesem verdammten Lächeln im immer noch strahlenden Gesicht, der Gewissheit des geborenen Gottessohnes und dem Hochmut des Herrn aller Orakel: Niemand wird dir glauben, Kassandra, merk dir das. Alles wirst du sehen, alles wirst du wissen, und niemand wird dir auch nur ein Wort glauben. Niemand! Und hohnlachend war er verschwunden, sein Strahlen leuchtete ein wenig nach in der dunklen Stube, und das Schauern ihres Körpers hielt noch Stunden danach an.
Natürlich hatte sie nicht gleich verstanden, was das bedeutete. Die Schwere dieses leichtfüßig dahingesprochenen Fluches hatte sie erst langsam eingeholt, und mit jeder einzelnen weit vorher gesehenen und dann doch, trotz aller Warnungen, eingetretenen Katastrophe war er schwerer geworden. Manchmal dachte sie, ihr ganzer Körper sei mit jedem Nichtgehörtwerden, mit jedem Mal-Wieder-Rechthaben schwerer geworden, er war jetzt so schwer wie ein kleiner Mond, und er zog mit seiner immer noch wachsenden Schwerkraft Katastrophen an wie kleinere Himmelskörper. Kaum konnte sie sich noch erinnern, was sie alles prophezeit hatte, von ihrem Gesellenstück, dem berühmten trojanischen Pferd an (ein Pferd! noch heute konnte sie der Gedanke beinahe zum Lachen bringen, es war ein seltsam ungeschickt zusammengeflicktes Wesen gewesen, eher eine Chimäre denn ein lebendiges Pferd, und nur der unbeirrbare Siegeswunsch der Trojaner hatte es zu einem Pferd belebt). Den Niedergang Roms, den Fall so vieler Staaten und Herrscher, die großen Epidemien, die ganze Erdteile ausgelöscht hatten, alles hatte sie vorhergesagt; geschrien und gewütet hatte sie gegen die Sinnlosigkeit der Kreuzzüge, die immer bizarrer werdenden Religionskriege, die Revolutionen, in denen sich Jahrhunderte der Unterdrückung blutig entluden und die man hätte vermeiden können, alle, mit nur ein wenig Klugheit und Voraussicht und Mut zur Wahrheit. Umsonst, alles umsonst. Wer hörte schon einer Frau zu. Eine Hexe hatten sie sie genannt, sie konnte schon gar nicht mehr zählen, wie oft sie verbrannt worden war, und noch im Sack hatte sie ihnen ihre Zukunft in die tauben Gesichter gebrüllt.
Dann war der sogenannte ‚Fortschritt‘ gekommen, und eine Zeitlang war sie auf einmal eine gefragte Person. Viele waren geradezu versessen darauf gewesen, die Zukunft in den düstersten Farben zu malen –weil man so viel Geld damit verdienen konnte! Die bevorstehende Apokalypse war ein Marktplatz geworden, wie alles andere auch, und an ein gutes Ende glaubten nur noch diejenigen, die mit ihrem Berufsoptimismus den Marktplatz gleich nebenan besiedelt hatten. Beide jedoch, die Untergangspropheten wie die Alles-wird-gut-Gurus, dachte Kassandra seufzend, litten an der gleichen Krankheit, inzwischen war sie überzeugt davon, dass sie angeboren war: Es war einer Art Realitätsblindheits-Gen, das es den meisten Menschen völlig unmöglich machte, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich war, interesselos, unbeteiligt, jenseits der eigenen beschränkten Wünsche, Hoffnungen und Verblendungen. Der Wunsch, dachte Kassandra, ist beim Menschen immer der Vater des Gedankens, und sein Denken ist deshalb männlich von Anfang an und von Grund auf: Es will nur Macht, Bestätigung, Eroberung, Überzeugung; an Erkenntnis ist es so wenig interessiert wie an Einsicht oder gar Wahrheit! Das hätte sie schon an Apollo sehen können, damals; er wollte gar nicht sie persönlich, so wusste sie nun, er wollte seine eigene Allmacht, sein eigenes Eroberertum, seine übermenschliche Blendungskraft bestätigt sehen. Und wahrscheinlich war es nur ein biologisches Versehen, eine Art Gendefekt, dass ausgerechnet sie von Anfang an die Welt so sah, wie sie war, und dass ihr ihre eigenen Wünsche fremder waren als ihre Gedanken. Einmal nur, einmal hatte sie sich einen Wunsch erlaubt; und wozu hatte das geführt?
Nun aber war ihr das alles endgültig zu viel geworden. Natürlich, man hatte auf sie gehört in letzter Zeit, man hatte sie ausreden lassen, aber was hatte es genützt? Nichts. Eine Inflation des „Man muss!“ in den Kommentarspalten, aber es waren nur Worte, immer größere Worte, denen niemals Taten folgten. Da hatte sie verstanden, dass Apollos Fluch in zwei Stufen gezündet hatte, so wie die nach ihm benannte Rakete: Die erste Stufe war das Nicht-Gehört-Werden, die zweite das Nicht-Handeln. Manchmal hatte Kassandra sich gewünscht, dass sie selbst andere Mittel gehabt hätte als Worte, aber noch nicht einmal die in 3-D aufs anschaulichste verfilmten Katastrophenszenarios hatten eine Wirkung gehabt außer einem wohligen Weltuntergangsgruseln. Nein, das Wunschdenken war sogar proportional zu jeder erkannten und benannten und gezeigten Katastrophe immer mehr angeschwollen. Jetzt war es schon eine Blase, die die ganze Welt umspannte – und sie meinte damit nicht das Internet (das Internet war nur eine moderne Variante des alten Chaos, unzähmbar und unendlich und unterhaltsam), sie meinte die unbedingte Verpflichtung aufs Positive, den ‚Alles-wird-Gut-Wahn‘. Demnächst, so sah sie aufs Genaueste, würde jeder Mensch spätestens mit Erreichen der Volljährigkeit einen Eid ablegen müssen, der ihn verpflichtete, jeden negativen Gedanken schon im Keim zu ersticken und stattdessen positiv zu denken, immer nur das Beste anzunehmen, allen und jedes zu lieben, zu bestätigen und zu umarmen, bis dass die ganze Erde erstickte an einer einzigen großen Umarmung, die keinem mehr das geringste Quäntchen verseuchter Luft zum Atmen ließ. Die Vorstellung vereinigte sich in ihrem düsteren Gemüt magisch mit einem ewig strahlenden Apollo, der die ganze Welt zu seiner Geliebten gemacht hatte, und niemand hatte sich mehr gewehrt, niemand. Es war aber eine Vergewaltigung gewesen, eigentlich, wenn man genau hinsah.
Kassandra aber sah, dass das Unheil kommen würde, es würde unabwendbar kommen und es würde alles vernichten. Es würde nur auf eine ganz andere Art und Weise kommen, als die Unheils-Industrie es prophezeit hatte. Es würden nicht die großen Katastrophen sein; so viele Klimakrisen hatte die Welt schon überstanden, Kriege und Flüchtlingsströme, Hunger und Mord, Dummheit und platte Ignoranz. Im Angesicht von Katastrophen hatte die Menschheit offenbar eine ans Wunderbare grenzende Anpassungskraft; sie würde eine neue Eiszeit überstehen und ein neues Mittelalter, einen Atomkrieg und das Verschwinden eines Großteils aller Arten (natürlich mit monströsen persönlichen Kosten, aber in solchen Kategorien dachte Kassandra nicht). Nein, die Menschheit würde sich selbst beenden einfach durch den Verlust an Lebensfähigkeit. Immer deutlicher sah Kassandra, wie sich ein neuer Virus ausbreitete, er hieß: ‚Niemand ist schuld‘, wenn sie noch schlechterer Laune war als gewöhnlich, nannte sie ihn auch den ‚Vollkasko-Virus‘, er war ein direkter Abkömmling des ‚Alles-wird-gut-Wahns‘. Niemand wollte mehr für irgendetwas verantwortlich sein; allerhöchstens noch sehr abstrakt für den Weltfrieden oder ein wenig für das Klima, aber ganz sicher nicht persönlich für seine Gesundheit, das Gelingen seiner Freundschaften und Liebesverhältnisse, die Erziehung seiner Kinder, die Entwicklung seiner geistigen und körperlichen Fähigkeiten, die Art und Weise, wie er sein doch so hochgeschätztes und über alles Andere gestelltes Leben lebte. Nein, schuld war immer jemand anders, und wenn es nicht so ging, wie es hätte gehen sollen, hatte man Anspruch auf Schadenersatz. Dafür gab es schließlich Gerichte, und oh, die Gerichte, was urteilten sie, nachdem die menschliche Urteilskraft sich ganz darauf konzentriert hatte, entgangene Ansprüche auf vollständiges und allzeitiges Lebensglück in Zahlen umzurechnen!
Auch das hätte man schon aus dem trojanischen Krieg lernen können. Aber niemand hätte damals ahnen können, dass dieses ein Virus war, der Individuen befiel, und zwar umso stärker, je mehr sie sich als Individuen, als vermeintlich unverwechselbare, unersetzliche und von einer wundersamen Macht mit unveräußerlichen Rechten ausgestattete Einzelwesen sahen. Aber verantwortlich sein für das eigene Handeln, oh nein! Demnächst würden sie eine Versicherung einführen, die gegen jedes absehbare und nicht-absehbare Lebensrisiko absicherte. Und dann würden sie sicherheitshalber ihre vollausgestatteten, ‚intelligenten‘ Wohnhöhlen nicht mehr verlassen und das Leben ganz ins Virtuelle verlagern, wo man sich niemals ein Bein brechen oder auch nur einen kleinen Zeh ein wenig anstoßen konnte geschweige denn etwas hören musste, was vielleicht ein fremdartiger oder gar ein erschreckender Gedanke war. Zurück in die Höhle, genau. Leben war einfach zu gefährlich, und die Glücksrente nicht zuverlässig genug. Aber wem sollte man das erklären? Es war keine Katastrophe, es passte nicht, wie man neuerdings sagte, ins Katastrophen-‚Narrativ‘. Es war einfach der schmutzig schleichende Gang der Dinge unter der Diktatur des Wohlfühl-Imperativs vereint mit dem Wunschdenken-Virus. Das menschliche Leben würde an sich selbst ersticken, in kleinen Schritten und ganz und gar unauffällig. Es würde stranguliert werden von den eigenen, immer feiner ausformulierten Verordnungen und Verboten, konnte man es nicht schon sehen an der Sprache? Himmel, wie sollte man denn warnen, wenn man jeden verstörenden Gedanken (und waren nicht die verstörenden Gedanken diejenigen, die einen weiterbrachten?) hinter einer bedeutungslos gewordenen Worthülle verstecken musste, so lange, bis die Worte nur noch ausgeblutete Hüllen von einstmals lebendigen Gedanken waren?
Kassandra sah sich um in ihrem Versteck. Es war eine Höhle, was sonst. Es gab da draußen keinen Platz mehr für sie, sie hatte sich selbst überflüssig gemacht. War sie gar – selbst schuld daran? Hatten nicht ihre unablässigen Warnungen dazu geführt, dass die Menschen nun im Angesicht der drohenden Katastrophen und Weltuntergänge ihr Lebensglück auf Raten in harter Münze ausgezahlt haben wollten, ohne jemals auch nur einen Groschen dafür eingezahlt zu haben? Hatte sie die Ängste fettgefüttert, die nun übergroß über einer Menschheit schwebten, die für sich selbst nur das Beste wollte und immer das Schlimmste befürchtete und niemals, niemals auf die Idee kam, dass das Leben dazwischen stattfand? Apollo, verflucht, dreimal verflucht seist du, Apollo, dachte Kassandra in ihrer Höhle, Gott des strahlenden Wunschdenkens und der aus dem Nichts kommenden todbringenden Katastrophe! Sie haben niemals aufgehört an dich zu glauben, auch ihr Einer Gott war ihnen nur eine Lebensversicherung, und die Hölle haben sie abgeschafft, weil sie ihnen im Weg war; wahrscheinlich würde man sie sonst heute einen „indigenen Lebensraum mit anderem Temperaturprofil“ nennen müssen! Kassandra bemerkte, wie bei dem Gedanken etwas in ihr aufstieg, das ihren Körper auf eine ganz neue Art schauern machte. Es war eine Art kleines Kitzeln, innen in der Kehle, und es drängte nach oben und wollte nach draußen, und auf einmal musste sie lachen; sie lachte, bis ihr der Bauch wehtat und die Tränen kamen, und dann lachte sie noch ein wenig weiter, weil es so wehtat und so befreiend war. Vielleicht war das ganze ja nur ein großer Spaß?
(Der Mythos erzählt, dass Kassandra später eine kleine Denkfabrik gründete, es war in den Anfangszeiten des großen „Alles-wird-gut“-Gelübdes. Sie lehrte dort, mit wenigen Anhängern und Eingeweihten, die Kunst des abwiegenden Urteils und des mäßigen Lebens und des befreienden Lachens. Aber danach verschwindet ihr Schicksal im Dunklen der Geschichte).
Natürlich sind die Götter gesund. Wer vollkommen ist und unsterblich dazu, kann ja wohl nicht anders als gesund sein? Aber halt, hinkt da nicht jemand im Hintergrund durchs Bild, eine massive, etwas verkrümmte, ziemlich bitter dreinschauende Gestalt mit einem Hammer in der Hand? Ach so, es ist nur Hephaistos! Der Schmiedegott, ein grober Kerl, und auf dem Olymp eher geduldet; und macht er nicht wirklich eine lächerliche Gestalt mit seinem Hinkebein? Hermes macht ihn gern nach und zieht die Flügelschuhe wie gelähmt hinter sich her, und dann gibt es mal wieder ein homerisches, nichtendenwollendes Göttergelächter. Aber man braucht ihn, den hinkenden Hephaistos! Er ist nämlich geschickt, mit den Händen, er strotzt vor Kraft, und hat er nicht allen seinen hämischen Verwandten ganz wunderbare Dinge gebastelt? Aus seiner Werkstatt stammen der Zepter und der Donnerkeil seines Vaters Zeus, die Throninsignien sozusagen (man munkelt aber, Zeus sei gar nicht sein Vater gewesen, Hera habe Hephaistos vielmehr selbst gezeugt, Parthogenese, selbst ist die Frau, und dann das missratene Balg, das aus ihrem Schenkel kroch, zornentbrannt vom Olymp herabgeschleudert)? Der jungfräulichen Jägerin Artemis hat er den Bogen geschmiedet und Ares die prächtige Rüstung, für Poseidon den Dreizack geschärft und für Helios den Wagen entworfen, mit dem der Sonnengott nun stolz täglich seine Bahn zieht. Natürlich, das mit dem Netz, in dem er seinen Nebenbuhler Ares bei der schönen Aphrodite im Bett gefangen hatte, seiner Gattin, seinem ganz persönlichen Trostpreis für all die erlittene Schmach der ungerechten Göttereltern – das war schon ziemlich frech gewesen! Aber die olympischen Götter hatten dann doch beschlossen, darüber nichtendenwollend zu lachen. Hephaistos, ach, der arme Hephaistos! Was täte man nur ohne ihn?
Und nun hat er schon wieder einen neuen Auftrag von Zeus bekommen, seinem Rabenvater. Diesmal soll er zwei mechanische Dienerinnen zusammenbauen, wofür soll das nun wieder gut sein? Demnächst werden sie noch Krücken von ihm haben wollen! Oder Brillen, für all die blinden Dichter. Auf der Erde, bei den Menschlein, hat er gehört, gibt es eine neue Krankheit. Hatte Pandora etwa wieder einmal ihre Büchse geöffnet? Natürlich war auch sie sein Werk gewesen; aus Lehm hatte er sie geschaffen, weil Zeus der Meinung war, Prometheus sei immer noch nicht genug gestraft für den Raub des göttlichen Feuers. Und wie über alle Maßen schön war sie ihm geraten, ihm, dem hässlichen Hinkefuß! Noch stolzer allerdings war er auf die Büchse, Pandoras Geheimwaffe. Alle Übel der Welt solle sie enthalten, so hatte Zeus, sein Rabenvater, es ihm eingeschärft; und dazu noch die Hoffnung – denn nur so würden all die Übel erst zur vollen Entfaltung kommen! Es sei wie mit der Leber des Prometheus, immer wenn man gerade meinte, dass die Wunde sich schließe, wenn man in der Ferne einen kleinen Hoffnungsschimmer erahne, sich gerade aufzurichten beginne, um die Sonne wieder zu sehen, das allerfreuliche Licht – stelle sich heraus, dass es wieder einmal eine falsche Hoffnung war.
Hephaistos hätte man das nicht sagen müssen. Denn hätten die allmächtigen Götter, seine lieben Verwandten, nicht genauso gut sein hinkendes Bein heilen können wie es zerstören? Aber dann hätten sie ja zugeben müssen, dass sie einen Kranken unter sich geduldet hatten! Manchmal hatte er das Gefühl, er sei der Einzige, der einen gesunden Verstand hatte in dem ganzen Haufen, vor allem, wenn sie mal wieder in ihr berühmtes nichtendenwollendes Göttergelächter ausbrachen; ja, dass sie ihn sogar in einer schwer definierbaren Weise brauchten, und zwar nicht nur als Ingenieur und Erfinder. Ein gesunder Verstand in einem kranken Körper, das war er, Hephaistos, das Monster! Aber dann dachte er lieber wieder über die zwei mechanischen Dienerinnen nach, die er bauen wollte. Sie würden wie zwei kleine Menschlein sein, ununterscheidbar. Vielleicht würde er ihnen sogar ein Gehirn geben.
Es ist einer der Ur-Erziehungsgeschichten schlechthin. Sie spielt im antiken Griechenland und erzählt, wie der junge Herakles, in der Blüte seiner Helden-Adoleszenz und in Erwartung großer Dinge, über sein weiteres Leben nachdenkt und dabei an einen Scheideweg gerät, einen innerlichen wie einen äußerlichen, gefasst von dem Sophisten Prodikos in eine nur allzu-fassliche Allegorie. Es erscheinen dem jungen Heros nämlich zwei schon äußerlich sehr unterschiedliche Frauengestalten. Die eine ist aufgebrezelt wie Kim Kardashian und will ihn verführen; sie verspricht ihm ein Leben voller Genüsse und ohne jede Arbeit und Last und Zwang. Die andere, im schlichten Gewand und ungeputzt (nein, kein Beispiel fällt bei), will ihn überzeugen; sie preist ihm ein Leben im Dienste der Tugend voller Arbeit, aber auch voller Ehre an. Nun gut, der Erzähler hat einen ziemlichen bias in der Präsentation und rhetorischen Ausschmückung dieser Wahl, aber das war es gar nicht, was mich am meisten bei dieser Geschichte beschäftigte. Vielmehr versuchte ich mir vorzustellen, wie die Allegorie denn funktionieren würde, wenn Herakles – Herakleia wäre; also eine junge Frau, die versucht, eine Entscheidung über ihren Lebensweg zu treffen. Das ist nun eine berechtigte Frage, nicht nur am Internationalen Frauentag, und ich ging deshalb etwas in die innere Einsamkeit meiner Schreibstube und imaginierte mir zur Feier des Tages –
Herakleia, sie steht an einer Lichtung im Wald, und zwei Wege liegen vor ihr. Herakleia ist jung, hübsch, und es ist ihre Lieblingsstelle: ein Platz voller guter Gedanken (Plätze guter Gedanken erkennt man daran, dass man dort gern Yoga machen würde. Oder umgekehrt). Aber heute hat Herakleia zweifelnde Gedanken; sie knabbert an ihrer Lippe und denkt an ihre Zukunft. Da treten ihr zwei – nein, es sind gar nicht Männer-, sondern Frauengestalten entgegen! Natürlich ist es nett, sich den jungen Brad Pitt vorzustellen, in der Blüte seiner augenzwinkernden Verführungskraft; und der andere wäre vielleicht – nee, nicht Peter Sloterdijk, das würde so nicht funktionieren. Denn eigentlich, eigentlich, so dämmert es mir an dieser Stelle – müssen es wohl zwei Frauen sein. Sie ist schließlich nicht Helena, sondern Herakleia; und sie will sich nicht verlieben, sondern sich entscheiden!
Es nähern sich Herakleia also zwei weibliche Gestalten (nicht divers, das wäre noch eine andere Geschichte. Eindeutig weiblich) aus zwei verschiedenen Richtungen. Die erste läuft etwas unnatürlich, so also würde sie auf einem unsichtbaren Cat Walk entlang stolzieren; dazu passen auch die High Heels einer bekannten Designer-Marke, deren roten Sohlen grell im grünen Gras leuchten. Sie ist in ein enges Kostüm gepresst, man ahnt mehr als dass man es sieht, dass solche Körperformen außerhalb der virtuellen Welt nur durch Einsatz streng einschnürender Mittel geformt werden können. Ihre samtig-langen Haare hat sie Undinen-artig über die eine Schulter gelegt, reflexartig streicht sie immer wieder darüber, dann sieht man ihre Finger mit den langen künstlichen Nägeln schimmern. Überhaupt schimmert alles etwas an ihr, von der Haut über das Handy bis hin dem schmalen Pad, das sie aus einer schimmernden Designer-Tasche zieht; offensichtlich hat sie eine Powerpoint-Projektion vorbereitet. Sie schaut sich etwas unsicher nach einer Steckdose um –
Nein, so geht das nicht, ruft Herakleia energisch dazwischen. Sie rauft sich die Haare dabei. (Welche Farbe haben ihre Haare eigentlich?)
Wie bitte? (das hatte ich auch nicht vorhergesehen. Aber wenn Geschichten sich selbständig machen, soll man sie laufen lassen).
Das geht so nicht, wiederholt Herakleia, jetzt etwas sanfter. Total das Klischee, du hast zu viel amerikanische Serien gesehen! (Ja, könnte sein)
Ja nun, wende ich ein, das ist nun einmal das Wesen von Allegorien. Sie spitzen zu, sie übertreiben, sie machen Dinge über-sichtbar, und damit landet man nun einmal bei Klischees. Es ist ja nicht so, dass Klischees nicht wahr sein können!
Ja klar, kapiert, literarisches Mittel, sagt Herakleia, etwas gelangweilt. (Woher weiß sie das?) Bin ja nicht blöd. Bin sogar gebildet (wtf???), bin ja nicht Herkules, das Ding mit der Keule fand ich schon immer ziemlich daneben. Ich habe aber auch die eine oder andere Spielzeugschlange getötet in meinem Babystuhl. Und nun gut, wir können dein kleines Allegorie-Spiel ja weiterspielen; aber darf ich das Gegen-Klischee machen? (das Bild der Dame mit den High Heels ist derweil stillgestellt; sie ist in einem ungünstigen Moment erwischt, ihr Gesicht zeigt eine Spur von Schwäche, von Unsicherheit, von -)
Dann mach mal, sage ich.
Also, holt Herakleia aus (sie hat braune Haare übrigens; oder hatte sie eben nicht noch blonde?): Ich sehe eine Frau, mittleren Alters, sie läuft etwas watschelig auf Birkenstock-Sandaletten daher, sie sind nicht mehr ganz neu. Ihre Kleidung ist – dem Wetter und der Gegend angemessen, zweckbestimmt, praktisch, sie hat auch viele Taschen. Ihren Händen sieht man an, dass sie viel arbeitet, sie sind etwas rauh und ein Fingernagel ist eingerissen. Ihrer Figur merkt man an, dass sie Kinder gehabt hat, mehrere wahrscheinlich; danach ist sie nie wieder so richtig in Form gekommen. Sie versprüht einen Duft nach -warte, gleich habe ich es! -, ja nach Essig-Reiniger und Milchpulver, mit einer Kopfnote von Kamillentee. Mache ich es gut bisher?
Dafür, sage ich, dass das Klischee ja gar nicht so sehr in Serien verbreitet ist, machst du es sehr gut. Immerhin hast du ihr keine Kinder an den Rockzipfel gedichtet –
Ja, sagt Herakleia, hatte ich überlegt. Aber man soll nicht übertreiben, wenn man übertreibt! (Jetzt spuckt sie auch noch altkluge Aphorismen aus!)
Gut, lassen wir es dabei, sage ich. Jetzt kommt der zweite Teil der Allegorie, die beiden großen Ansprachen. Ich mach dann mal weiter, wenn ich darf?
Aber bitte doch! (Herakleia hat sich wieder verändert. Ihre Hautfarbe ist dunkler geworden, das Haar – wird, noch während ich schaue, schwarz und kraus? Heilige Diversität, wo soll das noch hinführen?)
Also, übernehme ich mit aller Erzähler-Souveränität, die ich noch meistern kann (meistern, dafür hätte ich auch gern mal ein weibliches Wort!): Frau Nr. 1, nennen wir sie, um im Klischee zu bleiben: die Powerfrau, zückt ein dickes, gleichwohl elegantes Marken-Portemonnaie, es ist bis zum Rand gefüllt mit Kreditkarten aller Farben und Banken. Du wirst reich sein, sagt sie, nein, nicht nur reich, sondern superreich! Du wirst leben von der Arbeit anderer, die du niemals zu Gesicht bekommst, denk nicht an sie. Du wirst Erfolg haben, nein: du wirst die Super-Karriere machen, du wirst in Aufsichtsräten sitzen und Regierungen beraten, die Presse wird sich reißen um dich, und du hast so viel Assistenten und Assistentinnen wie du brauchst, damit du dich um rein gar nichts kümmern musst. Männer wie Frauen werden dir zu Füßen liegen –
Herakleia kann sich nicht mehr zusammenreißen, es hatte die ganze Zeit in ihr gegluckert, jetzt bricht sie in Gelächter aus: zu Füßen liegen, ehrlich? Auch noch koloniale Metaphern, oder was? Werden sie auch meine Füße küssen? Ich bin kitzelig an den Füßen!
Wenn du willst, knurre ich (das Gör! Nein, ich schaue jetzt nicht mehr hin, welche Farbe ihre Haare haben, wahrscheinlich sind es pinkfarbige Dreadlocks). Der Punkt ist: Du kannst Sex haben ohne Ende, mit wem auch immer, wann immer, wo immer, mit welchen Hilfsmitteln auch immer. Du wirst liebreizende, wohlerzogene, bildhübsche Vorzeigekinder haben, soviel und mit wem und auf welche Weise du willst; aber deine Geburten werden nicht schmerzen, und die Kinder werden dich nie belästigen. Du wirst durch die Welt in deinem Privat-Jet fliegen, in den hipsten Gourmet-Restaurants essen und die Sonne wird nie untergehen für dich!
Ach ja, sagt Herakleia verträumt, das habe ich mir schon immer gewünscht, direkt nachdem ich Indien fertig erobert habe, oder war es doch China? Und wahrscheinlich passiert auch all das noch klimaneutral und wer-weiß-wie-Öko-gelabelt? Bitte bitte! (sie schaut einen Moment wie Greta Thunberg, das war zu erwarten) Und Polarlichter, bekomme ich Polarlichter, zum Frühstück am besten?
Äh, sage ich, das war nicht im Rundum-Sorglos-Paket für die Erfolgsfrau. Kostet wahrscheinlich extra.
Finde ich schwach, sagt Herakleia. Soll ich den zweiten Teil wieder machen?
Aber sehr gerne doch! (ich sehe, wie sie nach und nach kahl wird. Es ist nicht gar nicht schlimm, weil sie einen schönen Kopf hat. Ihre Stimme wird dunkel)
Ich kenne dich Herakleia, und ich werde dir das Leben wahrheitsgemäß schildern. Vergiss niemals: Nichts Gutes geschieht ohne Mühe und Arbeit; und jedes Glück hat seinen Preis! Es kann sein, dass du Erfolg haben wirst in deinem Beruf; aber du musst deine Talente finden, sie ausbilden, und dann brauchst du immer noch eine Menge Glück. Du kannst Karriere machen, wenn du willst; aber glaube ihnen niemals, dass du alles haben kannst! Wenn du Karriere machst, ist es möglich, dass du die Freude an deiner Arbeit verlierst. Du wirst viele Dinge tun müssen, von denen du nicht überzeugt sein wirst; du wirst Kompromisse schließen müssen; du wirst Fehlentscheidungen anderer ertragen müssen. An der Spitze wirst du allein sein. Ein Netzwerk ist keine Familie. Eine Familie hingegen ist ein Projekt, und es ist eines der schwersten, weil es lebenslang ist und Opfer erfordert. Du kannst Kinder haben, Kinder sind ein Segen, und sie werden dir Schmerzen, Arbeit und Mühe machen; sie werden dir Enttäuschungen bereiten, aber auch unvergleichbares Glück. Es ist gut, wenn du dafür einen Partner hast. Du solltest deinen Partner sorgfältig auswählen. Es hilft, wenn man verliebt ist, aber es hält nicht ewig. Nach der Verliebtheit beginnt die Arbeit. Du wirst nicht immer so jung und schön sein, wie du heute bist. Du wirst alt werden, und du wirst krank werden. Gesundheit wird nicht geschenkt; sie ist etwas, wofür man arbeiten muss, und es geht nicht immer gerecht dabei zu. Sogar der Genuss muss erarbeitet werden, wenn man ihn beherrschen will und nicht von ihm beherrscht werden will. Doch je mehr Sinne du ausbildest, desto mehr Freuden wirst du haben können. Du musst sie aber auch verlieren lernen, denn du weißt nicht, was die Zukunft bringt, und es könnte gut sein, dass es schlimmer wird. Wenn du etwas zum Guten bewegen willst auf dieser Welt, geht das nur durch Arbeit und Mühe. Eine Gemeinschaft funktioniert nur, wenn viele gemeinsam für sie arbeiten, ganz konkret und Tag für Tag. Es gibt nichts Gutes, außer man tut es, hörst du! Und rede nicht zu viel davon. Sei sparsam mit Worten und sei sorgfältig mit Worten; aber schenke jedem, der es verdient hat, ein gutes Wort und ein Lächeln. Und vergiss niemals, niemals: Nichts Gutes geschieht ohne Mühe und Arbeit, und jedes Glück hat seinen Preis!
Ich bin sprachlos. Es war die Stimme der Vernunft gewesen, die gesprochen hatte, so klar und rein, wie man sie selten hört. Etwas Melancholisches hatte Herakleia beim Sprechen umschwebt, wie der kleine Dämon auf Dürers Kupferstich; einen Moment versuchte ich auch, sie als Athene zu sehen, mit dem Medusenhelm und einer Eule auf der Schulter, aber das funktionierte nicht, die Eule wollte nicht stillsitzen, und Medusa grinste. Und als ich wieder hinsah, war sie einfach nur – Herakleia, eine junge Frau, an einem Scheideweg in ihrem Leben und unsicher und voller Zukunft, die an ihrer Lippe knabberte.
Kulturelle Klischees, sagt sie (sie schaut in meinen Kopf. Auch das noch!). Du musst aber auch immer deine Lieblings-Heldinnen recyclen, oder? Wie wäre es denn mal mit einem zeitgemäßeren Rollenmuster?
Das war jetzt gegen die Spielregeln, sage ich. Du solltest ein Gegen-Klischee zur Powerfrau entwerfen, eine brave Hausfrau oder so, oder wegen mir auch eine grün-aktivistisch-bewegte Vorstadt-Mami, oder – ach, irgendwas konservativ- oder progressiv-biederes! Aber das war ja –
War mir zu langweilig, unterbricht mich Herakleia. Und überhaupt, wer hat sich eigentlich diese dämlichen Spielregeln ausgedacht? Ein alter weißer Mann, gell? (sie lächelt dabei, wir lächeln gemeinsam, und dann lächeln wir gemeinsam nicht mehr) Alte weiße Männer hatten einige ziemlich gute Ideen, sagte ich. Klar, sagte sie, und einige ziemlich schlechte Ideen. Aber vielleicht kommt es ja eher darauf an, sagte ich, überhaupt Ideen zu haben, vorher weiß man sowieso von den meisten nicht, ob sie gute oder schlechte sind? Macht aber Mühe und Arbeit, sagt Herakleia. Kann ich nicht lieber den Ruhm von den Ideen anderer Leute abernten? Machen wir doch gerade, sage ich. Das Scheideweg-Spiel ist ja die Idee von jemand anderem, die wir uns, wie soll ich sagen: angeeignet haben? Aneignung, sagte Herakleia, ist ok, aber nur wenn sie – „Mühe und Arbeit macht“ sagten wir im Chor.
Außerdem muss ich ja vielleicht nicht gleich ganz so vernünftig werden, sagt sie mit einem Augenzwinkern und einer Stimme, die wieder ganz jung ist und ein wenig ab und ab hüpft beim Sprechen, oder? Ich kann ja erstmal ganz was anderes ausprobieren, irgendetwas dazwischen, mit High Heels und Arbeit und Mühe, oder mit Birkenstocks und dem MacBook? Die Schuhe hätte ich nämlich wirklich gern, egal welchen Weg ich dann damit gehe! Weißt du, und dabei dreht sie sich schon um, die ganze Allegorie ist halt eine ideelle Fehlkonstruktion. Es sollte kein Scheideweg sein, sondern eine Kreuzung. Mit ganz vielen Straßen, und man kann in ganz viele Richtungen gehen. Und man kann auch wieder umdrehen, wenn man erkannt hat, dass die Richtung falsch ist. Dieses ganze Entweder-Oder-Schwarz-Weiß-Szenario ist so – unproduktiv! Kann es auch ein Kreisel sein, rufe ich ihr hinterher, ihre Gestalt ist schon fast im Nebel ihrer Zukunft aufgelöst; und ich will eigentlich nur noch ein wenig mit der Metapher spielen und noch einen Moment selbst wieder jung sein. Das ganze Leben ist ein Kreisel, singt es zurück; es singt vielstimmig und ein wenig dissonant. Das ganze Leben -
Aber dafür gab es ja Hermes. Sein Erden-Geschäft kam immer mehr in Schwung. Nun sprachen die Götter schon lange nicht mehr selbst, sie hatten in letzter Zeit öfters den Wohnsitz gewechselt, keiner wusste mehr genau, wo sie sich gerade aufhielten, aber andere hatten sich zu ihren Stellvertretern aufgeschwungen: die Dichter. Ganz am Anfang wurden sie bestaunt wie Propheten: Wie sie die großen Erzählungen vortrugen, im sanften Rhythmus des Verses, der einen hören ließ, wie das eigene Blut rauschte und das Herz pulsierte, eine Beschwörung ohne Ende, ein Rausch einer Sprache, die nicht mehr ein grobes Werkzeug menschlicher Ungeschicktheiten war, sondern geschmeidig und wandelbar, zu einem Gesang werden konnte wie zu einer Liebesklage, zu einem Loblied, einem Drama gar. Die Dichter erzählten die alten Geschichten nun immer neu, Verwandlung war ihr ewiger Trick: Sie erfanden hier etwas dazu, ließen dort etwas weg, erdachten neue Namen, neue Varianten des erfindungsreichen Schicksals. Die alten Geschichten wurden lebendig, sie bekamen Arme und Beine, Hände und Füße, und sie liefen, wohin sie wollten, gelegentlich sogar ganz ohne jeden Sinn und Verstand überhaupt! Aber die Dichter waren, das verstand Hermes gut, auch eine Art von trickstern, wie er selbst: Früher hatten sie noch Wahrheit gesprochen, göttliche Wahrheit, nun aber wurden sie Meister der Lüge – und war auch das nicht eigentlich nur ein ganz kleiner Unterschied, eine andere Perspektive, eine kleine Wendung der Worte nur? Woher sollten die Menschen denn wissen, dass Wahrheit das war, was weh tat? Alles hingegen, was einem schmeichelte, was einem die Kehle hinunterlief wie sanfter, klebriger Honig, war ein süßes Gift, das schnell süchtig machte.
Und so kamen sie zu Hermes, sie kamen alle, die Gebildeten und die Ungebildeten, mit ihren kleinen und großen Fragen: Sag es uns, listenreicher und verständnisvoller Hermes, hilf uns, Bote der Götter, zeig uns den Sinn, sei unser Übersetzer, unser Führer durch den großen und den kleinen Text! (Wenig wussten sie, dass er auch der Todesbote war, und dass Verstehen einen lebendigen Preis hatte) Und Hermes half. Half mit Tricks, half mit Methode, half mit Menschenverstand; er konnte Sinn auszahlen in kleiner und in großer Münze, für den Hausgebrauch und für die Existenzkrise. Bald musste er Subunternehmer einstellen, eine kleine Schar von Deutern, kaum angelernt und teilweise nur wenig begabt; aber gutes Personal war immer schon rar. Die großen Erzählungen behielt er sich aber selbst vor. Nicht, weil es so schwer gewesen wäre, sie zu deuten, nein, im Gegenteil: Es war eine große Freude und Wonne, ein Fest des Verstehens, dessen Hermes nie müde wurde und das er eifersüchtig bewachte: Ihre Festigkeit, ihre vielfältig verknüpften Bezüge, ihre immer neue und immer lebendige Form, das Leben, das sie geformt und dadurch gezähmt hatten und nun wieder ausstrahlten wie eine eigene Sonne, die neue kleine Galaxien gebar – diese Kunstwerke waren nur für einen Gott gemacht, und sie waren selten genug. Zudem war die Nachfrage nach ihnen nicht allzu stark: Nur wenige menschliche Wesen trauten sich in diese Hochgebirge der Kunst, wo die Atemluft schnell dünn wurde, weil die Werke schwanger gingen mit so vielen neuen Gedanken, ein Gipfel am anderen und Horizonte ohne Ende. Höhenhermeneutik, so nannte Hermes das bei sich, und er machte sich einen besonderen Ehrgeiz daraus, diese Höhen auch ohne seine Flügelschuhe zu erklimmen; zwar war er ein trickster, aber immerhin ein göttlicher, er hatte Zauberei nicht nötig!
Die eigentlichen Tricks aber waren das Geschäft, in denen er seinen Hilfsdeuter unterwies: Denn das Verstehen war lehr- und lernbar, durchaus, selbst bei geringen Gaben, diese Wald- und Wiesenhermeneutik benötigte einfache Werkzeuge, handhabbare Begriffe, einen beschränkten Methodenkasten. Kundenorientierung, das sagte Hermes immer wieder: Denkt daran, mit wem ihr sprecht! Ihr müsst nicht nur verstehen, ihr müsst auch verkaufen! Es geht um ihre Seelen, nicht mehr und nicht weniger! Und es war ja nichts Verwerfliches daran, hier und da einen kleinen Sinn zu flicken, ein schmales Werk zu einer sehr schwammigen, aber auf jeden Fall großen Bedeutung aufzupusten, unter viel Oberfläche doch eine versteckte Tiefe zu entdecken (sie hatte sich aber gar nicht versteckt, sondern jemand hatte sie hineingedeutet, heimlich). Manchmal jedoch konnte man sogar überrascht werden von einer Wahrheit, die sich versteckt hatte unter einem Berg von Floskeln und wildwachsenden Binsen; man musste nur den Wust an falschen Bedeutungen wegmähen und sie wieder zum Strahlen bringen.
Allerdings wurde das Material immer schlechter; das fand Hermes jedenfalls, und er war nun schon wirklich lange im Geschäft. Was brachten sie ihm da in seine Werkstatt, die doch ein Fachbetrieb war, empfohlen von Experten, geschult an großen Aufträgen und Herausforderungen, trittsicher noch in den größten Höhen des Sinns! Stückwerk, zusammengeschustert, unausgegoren; so halt- und formlos, dass die Deuter selbst mit den allereinfachsten Werkzeugen versagten: Schaum und Schwamm, wohin man stach, keine Substanz, kein Zusammenhang, nur Worte, Worte, Worte, und nicht einmal eine kleine witzige Lüge dahinter! ‚Revolutionär‘ nannte man das dann, ‚kreativ‘ war sowieso schon alles und jedes (kreativ! Hermes war kurz davor, noch einmal in ein homerisches Gelächter auszubrechen, das war ihm schon lange nicht mehr passiert: Dachten doch diese Menschlein tatsächlich, etwas Neues schöpfen zu können im Angesicht der Götter!), und seit einiger Zeit musste es auch ‚relevant‘ sein. Anderes wiederum war derart erschreckend und gewaltsam sinnlos, dass man es kaum verantworten konnte, das ungeschützte Personal damit zu konfrontieren. Gelegentlich erschien auch noch ein großes Kunstwerk, völlig unerwartet, wie noch jedes Wunder der Natur; natürlich wurde es, sehr erwartbar, am wenigsten verstanden. Aber das meiste war unvermeidlich trivial: ein immer dünnerer Aufguss des Immergleichen, nach uralten Rezepten zusammengebraut, die aber immer noch, es war wirklich erstaunlich, Wirkung zeigten! Manches war so extrem trivial, dass es einen hinterrücks überholte, während man noch gähnte, und dann nach der Kurve als genial wieder auftauchte! Hermes musste zugeben, dass es funktionierte. Perfekte Trivialität, das war es, was die Menschen wollten. Keine Götter, um Gotteswillen! Von Verstehen durfte man schon längst nicht mehr reden; Verstehen war ja irgendwie, wenn er das recht verstanden hatte, eine Art Bevormundung von durch nichts legitimierten sogenannten Übersetzern, die sich anmaßten, fachkundig über das sprechen zu können, was doch jenseits aller Fächer und Schubladen und Kategorien war: das Schöne! das Werk! die – es juckte ihm auf der Zunge, leicht allergisch, so wie wenn er einen Hund sah – Kreativität!
Nun gut, auch Hermes konnte mit der Zeit gehen, wer sonst, wenn nicht er; er hatte sie so oft schon überholt mit seinen Flügelschuhen, er kannte sie von hinten und von vorn, und am Ende war sie nur: eine entfernte Verwandte des Todes. Und so betrieb er weiter sein immer noch expandierendes Deutungsgeschäft, das inzwischen unter den verschiedensten Titeln firmierte, eine Abteilung für virtuelles Verstehen hatte, eine politische Filiale für spin-Doktoren und framing sowie eine besonders gern in Anspruch genommene Expertengruppe für exotische und völlig abwegige Deutungen mit garantiertem Neuheitssigel (man hatte viele gut zahlende Kunden in der Wissenschaft). Er ließ sich jedoch nur noch selten sehen. Gelegentlich nahm er sich einige seiner Lieblingswerke wieder vor und gewährte sich ein kleines hermeneutisches Festmahl; aber dann rief wieder ein Notfall, eine politische Krise musste bewältigt werden, ein neues Narrativ gestrickt und mit Windesschnelle verbreitet unter den Meinungsbildnern der Zeit.
Heimlich aber arbeitete er an seinem opum magnum: dem Verstehen des Todes. Natürlich war er nicht davon betroffen, der Tod war ein Problem anderer Leute und von minderer Bedeutung für einen Götterboten; aber er war zweifellos die ultimative Herausforderung für den Sinn und das Verstehen, gerade weil er ihm so fremd war. Das Eigene verstehen, nun ja, das war ja gar nicht so schwer, wenn man den wesentlichen Trick einmal erkannt hatte: die Distanz nämlich, den Abstand, den man von sich selbst nehmen musste, den winzigen Schritt zurück vom Spiegel, und dann noch einen, und dann noch einen – und gerade wenn man meinte, sich nur noch ganz unscharf sehen zu können, sich selbst verloren zu haben, nur noch das Bild im Spiegel war da und es schaute auf einen zurück – kam mit einem Ruck die Einsicht. Der Tod jedoch war das Fremdeste für ihn, und in all den Jahrhunderten hatte Hermes nicht verstanden, wo er sie eigentlich genau ablieferte, die Sterbenden, die so verzweifelt um ihr Leben gekämpft hatten, obwohl sie doch wissen mussten, verstanden haben sollten, dass das keinen Sinn hatte!
Und so trat Hermes vor den Spiegel, der ewige Jüngling in seiner ewigen Jünglingsschönheit; und dann trat er einen Schritt zurück, einen winzigen. Und dann noch einen. Schon verschwammen die langen, anmutig geformten Glieder, die Schenkel, die ein Gedicht waren; noch einen Schritt, und auch die sanft gewölbte Brust geriet ins Unscharfe. Kaum spürte er noch die Flügel an seinen Füßen, jetzt waren auch sie fort. An seinen Augen wollte er am längsten festhalten, sie hatten durch die Zeiten geblickt und in alle Tiefen des Verstehens. Aber schon waren sie verschwunden. Und aus dem Spiegel blickte ein Wesen, alterslos, hilflos, flügellos, erdenschwer. Hermes fühlte einen vertrauten Schauer. Er – wer immer er auch jetzt war – hielt dem Blick stand, für einen Moment. Dann – aber nun versagen die Worte und die Begriffe – verschmolz er mit dem Wesen im Spiegel. Als er zurückkam, war er ein Anderer.
Nun kehrt der arme Odysseus nie mehr von seinen Irrfahrten zurück, und Penelope wird ewig an ihrem Teppich tagsüber weben und ihn nachts wieder aufdröseln. Aber dafür hat er ein paar unterhaltsame Gimmicks dabei, die Zusammenstellung erinnert ein wenig an das alte Spiel: Ich packe meinen Koffer für eine Mond-Expedition, und nehme mit – als da wären: eine Kamera (für Selfies, in jedem Mondkrater einzeln) und ein Kleinteleskop, mit dem er in jeden Krater schauen kann (und vielleicht auch zurück zur Erde, vielleicht sieht er ja Penelopes endlosen Teppich, inzwischen beinahe so lang wie die Chinesische Mauer?). Dazu ein Mondrechenzentrum, in dem er die Selfies speichern kann, und die Materialprobe eines Wärmeisolationsmaterials (immer praktisch für Außenmissionen). Schließlich: eine Zeitkapsel mit (unter anderem) dem Inhalt der englischsprachigen Wikipedia; und ein Kunstwerk, nämlich: eine würfelförmige Skulptur aus der Mondphasen-Reihe des Künstlers Jeff Koons, bestehend aus 125 Edelstahl-Kugeln, von denen jede den Mond in einer anderen Phase darstellt. Jede Kugel hat auch einen eigenen Namen, Buddha ist dabei und Konfuzius, Leonardo da Vinci und Mahatma Gandhi; aber auch Künstler wie Andy Warhol (das Gerücht sagt, ein Kunstwerk von ihm sei das erste auf dem Mond gewesen, geschmuggelt auf Apollo 12 von den Astronauten), Popstars wie David Bowie und sogar einige Frauen sind dabei (Ada Lovelace, Helen Keller)! Welch unendliches Potential für geistreiche Geistergespräche! Niemals wird sich der weitgereiste und endlich angekommene Odysseus, Liebling der Göttin Athene und Star der großen antiken Epen nun langweilen. Er wird weder die treue Penelope vermissen noch die betörende Circe noch die schöngelockte Kalypso. Er muss weder zu den Verstorbenen hinabsteigen noch sich zwischen Scylla und Charybdis entscheiden; die Sirenen wird er nie mehr singen hören, und sein sagenhafter Listenreichtum darf endlich, endlich in Rente gehen. Er wird von Krater zu Krater springen, immer schön warm eingepackt, das Teleskop unter dem bogenspannenden Arm, die Kamera immer dabei; und abends informiert er sich in Wikipedia über die Mond- und die Marskrater, die gescheiterten Mondmissionen vor ihm (der arme Apollo! So gern hätte er sich mit ihm unterhalten) und über die seltsame Neigung der Menschen, Verschwörungstheorien über Mondlandungen zu entwickeln. Dann schaut er ein wenig sein Kunstwerk an, von allen Seiten und sehr gründlich, und überlegt, ob man nicht auch ein schönes künstliches Pferd daraus bauen könnte; so eines, wie er damals den Trojanern untergeschoben hatte, eigentlich war es auch eine Art Verschwörungstheorie gewesen. Und dann schaut er in die ewige Nacht hinaus; und wenn ihn der Übermut überkommt, schreit er in die luftleere Stille: Ich bin Niemand! Niemand ist auf dem Mond gelandet!
Familie insgesamt die Fortsetzung der Generationenlinie, gemeinsam mit der Pflege des Ahnenkultes, der Lebenszweck schlechthin. Dem Genius des Familiengeschlechtes waren deshalb auch in vielen Haushalten Altäre gewidmet. Für Frauen hingegen gab es (aber das ist in den Quellen noch unklarer als die meisten mythologischen Hintergründe generell sind) wohl eine Art Entsprechung in der iuno. Das war eine der römischen Göttin der Ehe und der Geburt nahestehende weibliche Geniusvariante, die für die Frauen ähnliche Dienste leistete, eben mit dem Unterschied: dass Frauen nicht zeugen, sondern gebären (und römische Ehefrauen brauchten ansonsten auch nicht besonders viel Persönlichkeit, das war nicht üblich und lenkte nur von den primären Regenerationspflichten ab!).
Im Endeffekt ist es aber egal, wie wir es nennen, dieses thing; und vielleicht können wir das berechtigte feministische Ressentiment auch einen Moment lang zurückstellen für folgende Überlegung: Wie wäre es eigentlich , wenn man tatsächlich einen Genius oder eine Iuno hätte, und was würde man sich darunter wohl gern vorstellen?
Als erstes fällt einem natürlich ein Schutzengel ein, und das ist offensichtlich die am weitesten popularisierte Variante: Ja, die meisten von uns Sterblichen hätte gern ein himmlisches Wesen, das über uns wacht und uns in Gefahren beschützt; dass seine sanfte Hand und seine noch sanfteren Flügen über einen breitet, wenn man schläft; und dass einem einen freundlichen Nasenstüber gibt, wenn man morgens erwacht: Wieder eine Nacht überstanden, auf zu frischen Taten! Vertrauen wir ihm, wir haben es nötig in dieser Welt der Gefahren und Übel!
Die stärker dogmatisch-religiöse Variante wäre das Gewissen als innere Stimme, die uns kleine moralische Zurechtweisungen erteilt, wenn wir sie nötig haben: Jetzt reiß dich aber zusammen, hörst du! Nein, keine Schokolade, nicht noch mehr Wein, und über die Nachbarn lästern wir heute auch mal nicht! (der Dämon des Sokrates sprach übrigens auch nur in Verboten; was man positiv tun soll, das muss einem schon selbst einfallen)! Der Genius wäre dann derjenige, der den inneren Schweinehund vor sich her treibt; eine Art mentaler Hirte, aber dabei unbestechlich und auf eine etwas unausstehliche Art und Weise immer im Recht. Na gut, immer noch ziemlich trivial, aber vielleicht ja auch nicht zu unterschätzen in dieser Welt der immer noch anwachsenden Verführungen?
Die gleiche innere Stimme – oder sagen wir: eine etwas weniger moralinsäuerliche? – könnte uns generell immer dann etwas zuflüstern, wenn wir auf dem Wege sind, uns selbst untreu zu werden. Das kommt in den besten Persönlichkeiten vor. Denn, seien wir mal ehrlich: Niemand liebt uns so, wie wir sind! Aber mit nur ein klein wenig Verstellung, ein wenig Anpassung, hier ein wenig Schönen und dort ein wenig Vertuschen, mit gekonnter Seelen- und Körperkosmetik und vor allem: einem machtvollen Gedankenzensor – könnten wir ganz passabel und gelegentlich sogar liebenswert erscheinen. Kostet aber. Nämlich: nennen wir es („Authentizität“ ist schon zu sehr missbraucht von Leuten, die es mit elaborierter Konformität verwechseln): Wahrhaftigkeit. Treue zu uns selbst. Der Genius ist dann nicht so sehr ein Schweinehirt, sondern vielleicht eher: ein echter Freund? Jemand, der uns – nicht so liebt, wie wir sind, sondern: der uns so sieht, wie wir sind; und der es uns selbst sehen lässt. Oder, genauer gesagt: uns hören lässt, da der Genius mit einer eigenen Stimme zu uns spricht und keine Spiegel hochhält (er macht auch keine Selfies für uns). Der Genius spricht vielleicht schon die ganze Zeit; wir aber haben das Zuhören verlernt, es spielt auch immer irgendwo eine Playlist, die uns von jemand anders empfohlen wurde (notfalls auch von der KI; sie versucht gerade, einen Genius zu imitieren, halluziniert aber noch zu viel).
Damit sind wir schon ein ganzes Stück weit gekommen in der Bedienungsanweisung für den modernen Genius; aber etwas Entscheidendes fehlt uns noch. Nämlich, wir erinnern uns: der schöpferische Aspekt des Genius, seine zur Fortpflanzung über das Individuum hinaus (mit dem er ja auch selbst stirbt!) antreibende Kraft, sei es in Form der Zeugung oder des Gebärens – beides gehört ja nun offensichtlich zusammen, und wenn wir es nicht ganz so biologisch wollen (obwohl die Biologie ziemlich viel für sich hat, zum Beispiel: Kinder), können wir gern auch über geistige Zeugungen und Geburten sprechen (die metaphorische Verbindung zwischen künstlerischem Schaffen und biologischem Zeugen und Gebären ist sowieso so alt wie die Dichtkunst selbst). Ein ordentlicher, vollwertiger Genius in uns, unsere ganz persönliche Iuno – treibt sie uns zu irgendeiner Art von Schöpfung, Erschaffung, Erzeugung, Hervorbringung? (und nein, diese Reihe gipfelt mit voller Absicht nicht in dem auch schon seit langem mit Recht in die Wort-Mottenkiste getanen Substantiv „Selbstverwirklichung“: Wir alle werden im Moment unserer Geburt maximal verwirklicht, und von da an geht es eigentlich nur bergab, man wird immer weniger wirklich, bis man am Ende wieder ganz entwirklicht wird).
Aber das nur nebenbei, und zurück zum Genius/Iuno: Kann man nicht auch in Frieden mit seinem persönlichen Genius leben und sich dabei in Ruhe zurücklegen, sein Gärtchen anpflanzen (nein, ist Kultivierung und damit Erschaffung), seinen Job machen (sagen wir mal, sehr optimistisch: die meisten Berufe erschaffen irgendetwas, und seien es „nur“ menschliche Kontakte; Ausnahme: alles mit Mediendesign und Marketing, das schafft vor allem heiße Luft), seinen Haushalt führen (grenzwertig, aber, mit etwas gutem Willen gedacht: erhaltende Tätigkeiten sind eine schwache Abform von Erschaffung, und eine schön aufgeräumte und blitzblank geputzte Küche kann durchaus eine ästhetische Erfahrung vermitteln) – wo waren wir?
Also, nochmal von vorn: Kann man sich nicht in Ruhe auf seinem Sofa zurücklehnen und einen Serienmarathon starten? Natürlich darf einem dabei das Gehirn nicht in den Rücken fallen (die Metapher ist so wunderbar schief, das mein Genius darauf besteht, sie stehenzulassen!) und anfangen, irgendeine Deutung zu machen; oder man darf nicht nebenbei einen Schal stricken. Tatsächlich ist es nämlich gar nicht so einfach, vollständig unschöpferisch einfach so vor sich hin zu sein. Denken wir nur an den Schlaf! Himmel, welche schöpferische Aktivität, manchmal wünschte man sich schier ein Aufzeichnungsgerät für Träume, wie kommt der Kopf nur auf das Zeug? Oder ist das vielleicht – der Genius, der sich des Nachts am Freiesten austoben darf, wenn alles andere endlich schweigt, keine playlist, keine Serie, keine Werbung?
Welch eine schöne Idee! Nachts geht mein Genius spazieren, er spaziert durch die Windungen meines Kopfes, und manchmal macht er einen Sprung, und manchmal verläuft er sich, und dann wieder reißt er sich zusammen und schickt eine nur minimal verschlüsselte Mitteilung, die nicht zu ignorieren ist und mich verfolgt, wenigstens einige Zeit nach dem Aufstehen. Vielleicht sind nachts die meisten Menschen die größten Künstler, wir wissen es nur nicht? (ja, der Gedanke ist auch nicht neu….) Oder eben, und genauer: nicht Künstler, sondern Schöpfer: Denn auf das Kunstwollen kommt es gar nicht an, und schon gar nicht auf das Kunstkönnen (außer natürlich, man ist ein Künstler; aber das ist ein schweres Schicksal, und man sollte niemand darum beneiden). Nein, etwas zu machen, etwas hervorzubringen und zu gestalten, mit dem Kopf, mit den Händen, mit anderen Körperteilen – darauf kommt es an! Man sollte, sagt mein Genius gerade eben zu mir (er spricht ab und zu in falschen Zitaten), alles einmal versuchsweise so behandeln, als könne es eine schöpferische Aktivität sein (wenn man dann seinen Job wechseln muss – ist das vielleicht auch besser so?)
Vielleicht können wir das ganze Konzept, das ganze „Ding“, das genius heißt, am besten fassen, wenn wir ihn als unseres besseres Selbst (die „bessere Hälfte“ ist schon anderweitig besetzt, und sie würde vielleicht auch eine falsche mathematische Vorgabe machen) bezeichnen? Also: nicht als dasjenige Selbst, das wir immer so gern sein wollten, sondern als dasjenige, das wir mit Energie und Zustimmung und Entschiedenheit tatsächlich sind? Also: nicht diejenige fake-Persönlichkeit, die Erfolg und Anerkennung und ewiges Geliebtwerden verspricht, sondern diejenige Persönlichkeit, die wir selbst erst mühsam kennengelernt haben im Laufe unserer Lebensgeschichte, nachdem wir all die Schichten abgetragen haben, die Erziehung, Konvention und Ängstlichkeit um uns herum gesponnen haben – und die nun gestaltet werden will für den Rest unserer Tage?
Ob dieser „Besseres-Selbst-Genius“ dann ein Geschlecht hat, oder: ob er überhaupt eines braucht: das kann jede für sich selbst entscheiden (ich habe den Verdacht, dass meiner ganz gern androgyn ist; vielleicht sollte ich ihn Orlando nennen?).
Horaz, Briefe
Warum von Brüdern der eine das Feiern, Spielen, Sichsalben
vorzieht, sogar dem Ertrag der herodischen Palmen, der andre
trotz seines Reichtums mit grämlicher Miene von morgens bis abends
Waldland erschließt mit Feuer und Eisen, dafür kennt den Grund der
Genius, der unsern Geburtsstern regiert und der uns begleitet,
Gottheit von sterblicher Menschennatur, deren Antlitz sich jedem
einzelnen anders und wechselnd erweist, bald voll Ernst und bald heiter.
Ich halt es mit dem Genuß: Was ich brauche, entnehm ich bescheidnem
Vorrat. […] Ob sonst dann auf großem
Schiffe ich fahr oder kleinem: Ich bin und bleibe derselbe.
Wenn auch kein günstiger Nord die Segel des Bootes läßt schwellen,
steure ich dennoch mein Leben auch nicht gegen widrigen Südwind.
Kraft und Verstand, die Gestalt und der Wert, Besitztum und Herkunft:
alles das stellt mich ans Ende der Ersten, doch weit vor die Letzten.
SISYPHOS ALS AUTOR
Man hat sich den Autor als einen glücklichen Sisyphos vorzustellen. Er steht vor dem riesigen Berg, jeden Tag wieder, und er verflucht sein Schicksal. Doch eines Tages beschließt er, die Aufgabe freiwillig auf sich zu nehmen, denn auf einmal hat er einen gangbaren Weg gefunden: Er führt sanft über die Außenflanke und dann nur noch über einen ausgesetzten Grat hin zum Gipfel. Natürlich weiß er das Ende schon, am Ende wird, wie immer, der verdammte Stein wieder hinunterrollen. Was hatte er eigentlich Böses getan, um das zu verdienen? Irgendjemand musste ihn verleumdet haben! Natürlich, er hatte früher, bevor er ein Autor wurde, dann und wann den Tod überlistet, und der Tod war jemand, mit dem man sich besser nicht anlegte; auch mit dem Göttervater stand er nicht auf dem besten Fuß. Aber ihn deshalb gleich den verschlagensten aller Menschen zu nennen? Aber nun, was sollte man machen; die Götter hatten schon ganz andere Strafen verhängt, er dachte ein wenig melancholisch an Prometheus, an seinen Felsen geschmiedet, und jeden Tag kam dieser verdammte Geier und pickte ihm ein wenig an der Leber – nein, dann doch lieber seinen Stein, dabei blieb man wenigstens in Bewegung! Alle glücklichen Helden gleichen einander, dachte Sisyphos, und alle unglücklichen sind auf ihre Art unglücklich. Er hatte inzwischen den Stein ein ganzes Stück hinaufgebracht, über die Flanke war er schon hinweg. Und so schob er weiter und knirschte mit den Zähnen und der Schweiß floss in Strömen. Aber schließlich war auch der Grat überstanden, er war er oben und schaute hinab auf die sich auf der Rückseite des Berges erstreckende Hochebene, viele Wege führten über sie, er konnte fruchtbare Täler erkennen und tiefe Seen. Und gerade, als der Stein von sich aus wieder zu ruckeln begann und ein wenig schon in Richtung Abgrund rollte, gab ihm Sisyphos einen Stoß in die entgegengesetzte Richtung, schrie: „Wie froh bin ich, dass ich weg bin“, und stürzte sich dem Stein hinterher.