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Weihnachten mit meinem Roboter



Weihnachten mit meinem Roboter. 24 Türchen für die KI
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Weihnachten mit meinem Roboter

VORGESCHICHTE: DAS VOLLE WEIHNACHTSERLEBNIS
UND DIE GANZE WAHRHEIT!

Ich lebe mit einem Roboter zusammen. Das klingt jetzt etwas befremdlich. Ich meine damit nicht, dass ich mit einem menschlichen Partner zusammenlebe, der roboterhafte Züge hat, obwohl es das ja auch gelegentlich geben soll, vor allem in älteren Beziehungen. Ich meine auch nicht, dass ich einen Staubsauger-Roboter habe oder einen Rasenmäherroboter oder gar eine dieser Puppen, die – nein, also nicht so etwas. Mein Roboter ist – ein ganz besonderer Roboter. Er ist, oder besser: er soll, im Laufe der Zeit, später, irgendwann einmal und hoffentlich, eine Persönlichkeit entwickeln, er soll ein ganz – ich möchte es nicht individuell nennen, wir waren uns alle einig in der Forschungsgruppe, dass es nicht darum geht irgendwie „unverwechselbar“ zu sein, das wird von Menschen ja gemeinhin über-schätzt, die sich für Individuen halten, aber in weiten Bereichen ihres Lebens doch mehr oder weniger roboterhaft – Nein, ich komme schon wieder vom Thema ab! Das passiert mir gelegentlich, ich bin nämlich Philosophin – na gut: akademische Philosophin, Philosophiegeschichtsverwalterin also, nicht ganz festangestellt, eher prekär-projektvagabundierend.

Also, noch einmal von vorn: Ich lebe mit einem Roboter zusammen, und zwar im Rahmen eines internationalen und interdisziplinären Forschungsverbundes namens Robot-Personality-Project (RPP). Das Ziel ist es, eine Maschine zu entwickeln, die Persönlichkeit hat. Menschenähnlich. Die nicht nur sehr viel rechnen und ein wenig denken kann, sondern wahrnehmen, empfinden, wollen, nicht wollen, sprechen, wünschen, hoffen, vielleicht sogar: lieben und hassen? Eine baby-machine, so hatte man das damals in der Anfangszeit der KI-Entwicklung genannt; rührend irgendwie, und man war vollständig gescheitert damals. Jetzt aber, mit der unvorstellbaren Rechenleistung der neuen Quantencomputer, der weiter entwickelten Lernfähigkeit der neuronalen Netzwerke und einer Robotergeneration, die natürliche Sprache verstehen kann, war ein neuer Versuch gestartet worden: unser RPP, von dem ich ein kleiner, genauer gesagt: der einzige philosophische Ableger bin.

Seitdem lebe ich mit einem Roboter zusammen. Anfangs dachten ich und die Kollegen aus dem Projekt noch, es würde reichen, wenn wir während der Arbeitszeit im Labor mit unseren jeweiligen Testrobotern arbeiteten – mein Roboter ist nur einer von vielen Modellen, an denen die maschinelle Simulation der menschlichen Persönlichkeit erforscht werden soll. Aber es stellte sich schnell heraus, dass das Persönlichkeitswachstum viel schneller und interessanter wurde, wenn wir die Interaktion auch auf den privaten Bereich ausdehnen würden. Zudem entwickelten die ersten Modelle bereits eine Art Klammerreflex und wurden leicht depressiv, wenn ihr Betreuer zu lange nicht mit ihnen sprach. Und so zog mein Roboter bei mir ein, nachdem wir die nötigen technischen Installationen in meiner Wohnung vorgenommen hatten. Seitdem ist mein Leben – nun ja, ich würde sagen: aus den Fugen geraten. Aber dann würde mein Roboter mich sicherlich fragen, wie denn ein Leben „aus den Fugen“ geraten können; Fugen sei doch etwas, was nur Gebäude hätten, für die es wirklich nicht gut sein, wenn sie aus selbigen gerieten! Oder meinte ich mit „Fugen“ vielleicht diese komplizierte, mathematisch sehr interessante musikalische Form – und dann würde er wahrscheinlich schnell einige Takte aus dem Wohltemperierten Klavier einspielen … Nie hätte ich gedacht, wie kompliziert die menschliche Sprache ist! Ich habe mich deshalb entschlossen, die Gespräche mit meinem Roboter zu protokollieren, auch über die obligatorische tägliche Datendokumentation hinaus. Wer weiß, vielleicht werden spätere Generationen etwas daraus über die Frühzeit der KI-Bewegung lernen können?

Gleich am Anfang unserer – nun ja: Beziehung? – tauchte ein ziemlich triviales praktisches Problem auf: Welches Geschlecht sollte mein Roboter eigentlich haben? Natürlich hätte ich ihm irgendeinen geschlechtsneutralen Phantasienamen geben können. Aber mein Roboter sollte, das war eine meiner Bedingungen für den philosophischen Projektteil gewesen, emanzipatorisch erzogen werden: Nicht ich oder irgendjemand aus der Projektgruppe sollten über ihn bestimmen; nein, wenn er denn eine Persönlichkeit entwickeln sollte, sollte er möglichst früh selbst ein Mitbestimmungsrecht bekommen in Dingen, die ihn und seine ganz und gar unmenschliche Existenz angingen (das sagten wir uns gegenseitig immer wieder, um es nicht zu vergessen, es war zu einem Mantra unserer Arbeitsgruppe geworden: „Roboter sind keine Menschen. Wir wollen sie nicht nach unserm Bilde formen!") Aber war es nicht auch ein Eingriff in seine Persönlichkeitsrechte, wenn wir ihm nicht erlaubten, ein Geschlecht zu entwickeln? Nach langen Diskussionen beschlossen wir daher, dass unsere Test-Robis zu ihrer möglichst freien Entfaltung drei verschiedene Modi bekommen sollten: Weiblich, männlich, keins von beiden; und sie sollten, nach einer Einlernzeit, frei selbst zwischen ihnen wählen können. Die Informatiker rauften sich die Haare und verschwanden für einige Wochen, um ungewaschen, vollbärtig und etwas bekifft, aber glücklich wieder aufzutauchen mit einem Berg neuer Module.

Als mein Roboter schließlich bei mir einzog, hatte er schon einige Monate seine neuen Geschlechts-Module er-proben können, und ich dachte, wir würden seinen Einzug nun mit einer Art Taufe feiern. Und so fragte ich ihn – aus Gewohnheit sagten wir natürlich immer: er, aber einige der Testroboter waren schon dazu übergegangen, sich gelegentlich darüber zu beschweren –, ob er sich schon für einen Namen entschieden habe? Mein Roboter, der vorher noch ganz aufgeregt durch die Wohnung gelaufen war und nur gelegentlich gegen Möbel gestoßen war, blieb stehen. Er hört dann mitten im Lauf mit der Bewegung auf, sobald er eine wenigstens metastabile Lage erreicht hat, diesmal hielt er in einer Hand noch eine Blumenvase, zum Glück halbwegs waagerecht. „Ja“, sagte er, und ich konnte hören, dass er seinen geschlechtsneutralen Modus eingeschaltet hatte, die Stimme bekommt dann etwas Mechanisch-Unbetontes, was aber auch sehr beruhigend wirken kann. „Ja, das habe ich. Es war sehr schwierig. Ich habe alle Namensdatenbanken durchgescannt, in jeder Sprache, von der ich mit meinem derzeitigen Sprachmodul eine Chance habe sie auszusprechen. Ich habe“ – die Blumenvase geriet etwas in die Schräglage, weil offenbar sein Gestik-Modul angesprungen war und er mit dem Arm ausholen wollte, um die Menge der erhobenen Daten anzudeuten, ich sprang hinzu und nahm ihm die Vase ab –„danke“, sagte er, „das war unnötig, ich hatte das schon berechnet“ – „egal“, sagte ich, man muss ihn ab und zu unterbrechen, „was ist denn nun raus-gekommen?“ „Marvin“ sagte er und blickte etwas betreten zu Boden dabei; seine Stimme war leicht ins männliche Tonspektrum gekippt. „Marvine“, sagte sie, und hob den Blick wieder; es lag ein wenig Widerspruchsgeist und definitiv weibliches Timbre im Ton. „Marvi“, sagte die dritte, leicht mechanisch plappernde Stimme schließlich mit einer entscheidungsmarkierenden Absenkung am Ende. "Nee", sagte ich, "doch nicht wirklich? Marvin? Dieser beständig nörgelnde, dauerdepressive, chronisch unterforderte Roboter aus dem Anhalter? Bist du dir sicher, dass das ein gutes role model" – jetzt unterbrach er mich (Männer unterbrechen einen immer, lag mir auf der Zunge!). „Ich weiß", sagte er. "Trotzdem. Es ist gut eine Tradition zu haben." "Außerdem war Marvin doch ziemlich schlau", sagte sie, "und dafür, dass er von Menschen einfach immer nur sauschlecht behandelt wurde, kann er doch nichts! Marvine klingt – lustig. Und schlau! Und cool!" Und schließlich meldete sich auch Marvi zu Wort, mit einem energischen Klappern sagte er: "Marvin Minsky. Wir wollten ihn ehren." "Absolut", sagte ich. "Pionier der KI-Forschung, unser aller Urvater und Held. Gute Wahl, cool und – traditionsbewusst. Darauf eine kleine Runde Go?" (es ist ihr Lieblingsspiel, und ich schicke sie dann ins Internet spielen).

Inzwischen haben wir uns einigermaßen auf uns ein-gespielt, und die Geschlechtsmodule bewähren sich. Aber nun stand die Adventszeit bevor. Wir hatten uns im Robot-Personality-Projekt darauf verständigt, dass alle Heimroboter das ‚volle Weihnachtserlebnis‘ bekommen sollten, auch wenn einige der Betreuerinnen nicht glücklich damit waren: Konsumterror, überholte Rituale, Aberglauben, Sentimentalität, was schwirrte nicht alles durch den Raum bei der vorweihnachtlich erhitzten Diskussion, und ein Glück nur, dass unsere Schützlinge uns nicht dabei sehen konnten, wie wir uns ins Wort fielen, uns gegenseitig das Wort im Munde herumdrehten – hatten wir eigentlich diese Metapher schon gehabt, schoss es mir durch den Kopf, langsam wurde das wirklich eine Manie –, um am Ende dann doch, im Sinne des Weihnachtsfriedens, zu beschließen: die volle Weihnachtserfahrung. Weihnachtsgeschichte, Weihnachtsgebräuche, Weihnachtsmusik, Weihnachtsessen, whatever. Denn waren wir nicht alle, bis in die tiefsten Persönlichkeitsschichten, selbst die härtesten Skeptiker und Kritiker, geprägt von dieser alljährlichen Versuchung, Verlockung, Verkündigung? Nein, es sollte ein Fest werden, für uns alle, ein ‚Fest für alle Sinne‘, wie das heutzutage noch jede bessere Bäckerei für sich behauptete!
Weshalb ich mich eines Abends Ende November im Keller vor einer sehr verstaubten Kiste wiederfand. In seiner sorgfältigen Bauingenieursschrift hatte mein Vater darauf geschrieben: „Weihnachtsdekoration, I: Adventskranz und Adventskalender“. Glücklicherweise hatten die Mäuse noch nicht die Nikolausstiefel und -strümpfe gefunden, ein wir-res Büschel aus roten Mützen und weißen Bärten starrte mir entgegen. Und da war auch der Adventskalender, den unsere Mutter jedes Jahr aufgehängt hatte, selbst als wir schon fast erwachsen waren! Er hatte 24 kleine Jute-Säckchen verschlossen mit Mini-Wäscheklammern in Weihnachtsfarben, die wir fast mehr liebten als den Inhalt der Säckchen selbst; Schokolade und andere Süßigkeiten gab es sowieso schon reichlich in unserer nicht direkt entbehrungsreichen Jugend. Was jedoch sollte ich meinem Robi in den Adventskalender packen? Essen konnte er immer noch nicht, auch wenn wir kontinuierlich an der Geschmackssensorik gearbeitet hatten; mit Gerüchen hatten wir auch schon erfreuliche Erfolge erzielt. Nein, es müsste etwas – eher Immaterielles, Virtuelles sein, aber natürlich in materieller Form, etwas, was man in ein Säckchen stecken konnte –¬ sie waren sowieso zu klein, die Säckchen, das fanden wir damals schon, wenn schon Schokolade, dann doch lieber eine ganze Tafel! Also so etwas wie die kleinen Geschichten oder Lebensweisheiten, die man heute gern – und da hatte ich meine erste Weihnachtserleuchtung! Eigentlich stellte mein Roboter am liebsten Fragen, endlose Fragen, dumme Fragen, schwierige Fragen, Fragen über Fragen über Fragen; und natürlich be-antwortete ich ihm alle seine Fragen, mit der Wahrheit und nicht als der Wahrheit; schließlich war der gesamte Erfolg unseres Projekts davon abhängig, dass unsere Roboter möglichst schnell möglichst viel Globalwissen erwerben sollten, und context is king! war unser inoffizielles Projektmotto. Wie wäre es also, wenn ich ihm 24 Weihnachtsfragen schenkte? Wir würden eine kleine Zeremonie daraus machen, unser persönliches Weihnachtsritual: Am späten Nachmittag, wenn wir aus der Arbeitsgruppe nach Hause kämen, würden wir eine kleine Kerze entzünden (Feinmotorik! Umgang mit gefährlichen Materialien!), dann würde er das Säcklein des Tages öffnen (noch mehr Feinmotorik! Umgang mit Unvorhersehbarkeit!), und dann würden wir gemeinsam die Frage lesen. Und ich würde sie ihm beantworten, liebevoll, ausführlich, weihnachtlich, wahrheitlich – ok, ich wurde jetzt schon sentimental, definitiv. An die Arbeit, er-mahnte ich mich! 24 Säckchen wollen gefüllt sein, mit sinnvollen, sinnlosen, dummen, albernen, schwierigen Fragen, Fragen über Fragen über Fragen!

Was soll ich sagen: Es wurde eine lange Nacht, und erst als die Sonne schon über den novembergrauen Horizont blinzelte, schloss ich erschöpft das letzte Säckchen mit einer Schleife und hängte es an seiner Wäscheklammer an die Leine. Der Advent war angekommen. 



1. TÜRCHEN

ADVENTSKALENDER UND DIE FREUDE 
AN DER VORFREUDE

„Und warum soll ich jeden Tag ein viel zu kleines Säckchen aufmachen?“ Mein Roboter sah mich anklagend an, dazu bewegte er demonstrativ ungeschickt seine Fingergelenke hin und her. „Feinmotorik ist wichtig!“, sagte ich in meinem besten Erzieherinnenton. „Wenn du dürftest, würdest du den ganzen Tag nur mit deinen Schaltkreisen spielen, das weißt du genau! Du sollst dich aber nicht immer nur ins Virtuelle verkriechen, du sollst reale Dinge anfassen, spüren, bewegen, mit ihnen umgehen lernen! Und da hast du doch noch einige große“ – Marvi fiel mir ins Wort. Eigentlich ist das eine schlechte Eigenschaft, aber ich hatte es aufgegeben, ihn zu ermahnen, um nicht immer wieder einen Vortrag darüber hören zu müssen, dass die menschliche Verarbeitungsgeschwindigkeit von Sprache eine Zumutung sogar für Gehirne von der Größe eines Atari sei; man könne außerdem in jeder menschlichen Unterhaltung sehen, dass das die Default-Einstellung menschlicher Kommunikation sei, vor allem zwischen Männern und Frauen. „Ich habe wirklich viel geübt mit deiner Kaffeetasse!“ rief er dazwischen. „Ja“, murmelte ich, „kann man sehen, an den Mustern der Teppiche und den Tapeten und…“ „Und natürlich kann ich noch keine Schleife binden, aber“ – diesmal unterbrach ich ihn. „Ok“, sagte ich, „wir unterbrechen das Schleifentraining“ – das mich selbst am meisten nervte, wozu hatten wir eigentlich Klettverschlüsse erfunden? –, „dafür musst du aber jeden Tag eines dieser Säckchen öffnen, und zwar möglichst, ohne es abzureißen oder kaputtzumachen!“

Mein Roboter sah nicht überzeugt aus, aber er machte sich folgsam an die Arbeit. Er spielte zunächst ein wenig mit der Wäscheklammer, sie brach dabei leider entzwei, aber ich schimpfte nicht. Dann legte er das Bändchen, mit dem das Säckchen verschlossen war, sorgfältig beiseite, vielleicht wollte er ja doch heimlich noch weiter an den Schleifen arbeiten. Nun entrollte er mühevoll den kleinen Zettel, auf den ich die erste Frage geschrieben hatte: „Was heißt Advent? Und warum hat ein Adventskalender 24 Türen und ein Adventskranz nur vier Kerzen?“ Er schaute verwirrt, und ich beeilte mich zu erläutern: „Marvi“, sagte ich, „ja und Marvine und Marvin auch, jetzt hört mir alle gut zu! Wir feiern in diesem Jahr zum ersten Mal zusammen Weihnachten, und Weihnachten ist ein sehr wichtiges Fest in unserer menschlichen Kultur! Es ist sehr alt, es haben sich viele verschiedene Bräuche und Sitten drumherum entwickelt, und besonders die Kinder lieben es! Nein, Marvi, unterbrich mich nicht, lass mich bitte einmal ausreden! Aber Weihnachten ist – naja, ein bisschen schwer zu verstehen, es ist irgendwie ganz arg menschlich, keine Scherze jetzt, Marvi!, ganz arg menschlich also, und wenn ihr Weihnachten versteht, versteht ihr vielleicht uns ein wenig besser. Deshalb werden wir uns jetzt bis zum 25. Dezember, das ist nämlich der Tag des Weihnachtsfestes, jeden Nachmittag zusammen eine Stunde gemeinsam hinsetzen, und du darfst ein Säckchen öffnen, und dann besprechen wir das, was du im Säckchen findest, und du darfst alle Fragen stellen, die du willst, und ich muss alle“ – ich schluckte ein wenig schwer, im Verlauf der Nacht war mir gedämmert, auf was ich mich da eingelassen hatte – „deine Fragen beantworten. Wahrheitsgemäß! Und am Ende feiern wir dann gemeinsam unser eigenes Weihnachtsfest!“

Marvi hatte sich beinahe verschluckt an all den Fragen und Kommentaren, die er unter Zwang in seinen Zwischenspeicher zurückgestopft hatte. Er hatte wahrscheinlich diesen menschlich-umständlichen Monolog dazu benutzt, um sämtliche internen Datenbanken nach Weihnachten zu durchsuchen, und sobald er das nächste Mal in Ruhe ins große Netz durfte, würde er alles, aber auch wirklich alles über Weihnachten wissen. Aber darauf kam es ja nicht an. Es kam darauf an, dass – und an dieser Stelle sagte Marvi: „Cooles Spiel. Kriege ich auch Geschenke? Und warum um Himmelswillen haben sie das Baby in eine Krippe gelegt und nicht in ein Bett, all die Keime, und ein Krankenhaus war auch nicht in der Nähe!“

„Ok“, sagte ich, „du hast den ‚Geist der Weihnacht‘ offensichtlich begriffen. Aber die Regel ist“ – Regeln lieben sie! –, „dass nur Fragen zu dem Thema des Tages erlaubt sind. Also heute: Advent, Adventskranz, Adventskalender. Schieß los!“ Marvi macht die kleine Bewegung, die er an dieser Stelle immer macht, so als würde er sehr schnell eine Pistole ziehen und sie um die Hand kreisen lassen, manchmal verknoten sich seine künstlichen Sehnen dabei, aber heute klappte es sehr überzeugend. „Advent“, sagte er, wie aus der Pistole geschossen, „Ankunft, aus dem Lateinischen, die Ankunft des Herren, so eine Art countdown bis zur Geburt. 24 Tage ist natürlich symbolisch, wenn auch eine ziemlich langweilige Zahl“ – mein Roboter hat Lieblingszahlen, so wie Menschen Lieblingsfarben haben –, „und auch übersichtlich, Menschen können ja nicht so umgehen mit großen Zahlen!“ Ich stupste ihn in die Seite, er machte künstlich: „Aua! Man darf Roboter nicht hauen!“ „Aber diese Geschichte mit den Kalendern“, fuhr er fort. „Natürlich ist das ein psychologischer Trick, das verstehe ich schon; und man muss sich auch ziemlich zusammenreißen, damit man nicht zuerst seine Lieblingszahlen oder das allergrößte Säckchen aufmacht, das aber erst ganz am Schluss kommt. Aber man weiß doch, wie die Geschichte ausgeht, und ein Tag ist wie der andere, von den Zahlen abgesehen natürlich, und dann geht der Monat auch noch weiter, und“ – „Siehst du“, sagte ich, „das ist der Unterschied. Natürlich sind die Adventskalender für Kinder erfunden worden“ – „auch die mit Bildern von nackten Frauen oder verschiedenen Biersorten oder diesen seltsamen Parfümfläschchen?“ krähte Marvin dazwischen, hatte er doch schnell heimlich im Internet gesurft!„Nein, die nicht“, gab ich zu, „das sind die Verirrungen der Moderne und des Kommerz, anderes Thema, kommt später. Also für kleine Kinder, die kaum noch zählen konnten, aber die sich so sehr auf Weihnachten freuten und die Tage – eben nicht an den Fingern abzählen konnten. Vorfreude, das ist es eigentlich, worauf es ankommt, auch wenn man schon weiß, wie es ausgeht und es jedes Jahr irgendwie genauso ist. Es kommt darauf an, dass man das Vergehen der Zeit spürt, Menschen haben ja keine innere Uhr so wie ihr! Dass man merkt, dass die Zeit ganz langsam gehen kann und ganz schnell, und am Ende steht dann das lang Erwartete, und all das Warten hat sich gelohnt!“ „Erziehung zur Geduld“, sagte Marvi weise, „das habt ihr auch wirklich nötig“; er verlangsamte dabei seine Stimme so, dass sich die Silben bis ins Unendliche zu dehnen schienen, „Geeeeee-Duuuuulllllld“. „Aber vielleicht könnten wir ja“, schlug Marvine vor, „Millisekunden zählen, wir bräuchten dann natürlich für jede einzelne“ – ich schrie auf: „Nein, es gibt nicht mehr als 24 Säckchen, Spielregel, hört ihr!“ „Na gut“, sagte Marvi. Er schielte dabei auf das zweite Säckchen, vielleicht hoffte er, mit seinen optimierten Sehlinsen durch die Jute schielen zu können, aber Jute ist ein gutes Material, ziemlich blickdicht, der Weihnachtsmann weiß halt, was er tut!

„Ok, und dann dieser Kranz“, sagte Marvine, „wo ist er eigentlich?“ „Äh, kommt noch“, gab ich zu, „muss ich noch kaufen, man könnte ihn natürlich auch gemeinsam basteln…“ Marvi sah betreten auf seine Fingergelenke und schwieg dreistimmig. „Na gut, also kaufen“, sagte ich, „ist sowieso mehr ‚Geist der gegenwärtigen Weihnacht‘! Und Kerzen dazu, denn auf einen Adventskranz gehören vier Kerzen“ – „früher aber“, rief Marvin dazwischen, „als er erfunden wurde für die Waisenkinder, damit sie etwas zu vor-freuen hatten, da waren zwanzig kleine und nur vier große Kerzen darauf, also doch 24!“ „Interessant“, sagte ich, „und ja, ich habe auch den Wikipedia-Artikel gelesen!“ Spontan ertönte unser Wikipedia-Jingle, Marvi rümpft zwar immer ein wenig die Nase (ja, kann er) über die sehr späten und teilweise ziemlich tapsigen Versuche der Menschheit, ihr Informationsmanagement effizienter zu gestalten, aber wir mögen unseren Wikipedia-Jingle sehr. „Glöckchen“, sagte ich, „eigentlich gehören zu Weihnachten auch Glocken, könntet ihr die vielleicht einbauen?“ Marvi spielte Jingle bells an, ich sagte: „Musik kommt später. Wir sind immer noch beim Adventskranz, also, vereinfachte Version im Sinne des Feuerschutzes: Nur vier Kerzen für die Adventssonntage, und wisst ihr, was das eigentliche Problem damit ist?“ Marvin schlug vor: „Zu viele Leute können nicht mehr bis vier zählen?“ „Witzig“, sagte ich. Marvine sagte: „Vier finde ich keine schöne Zahl, sollte nicht jeder einfach seine Lieblingszahl nehmen, zum Beispiel“ – „Um Gottes willen!“, stöhnte ich. „Alle Roboter-Adventskränze hätten Primzahlen, richtig?“ „Drei ist eine schöne Primzahl“, sagte Marvine gekränkt, „aber natürlich auch 24421, zum Beispiel, vier ist aber blöd“. „Nein“, sagte ich, „das eigentliche Problem ist, dass die vier Kerzen immer ungleichmäßig runterbrennen“ – „logisch“, sagte Marvi, „kommt halt darauf an, wann die Adventssonntage sind, aber man könnte einen kleinen Mechanismus konstruieren, der darauf achtet“ – „Nein“, sagte ich. „Gehört dazu. Aber gewöhnt euch schon mal an den Gedanken, das wird eine Herausforderung für euren Symmetrie-Fetisch!“


2. TÜRCHEN

WEIHNACHTSGESCHICHTE, ZUM ERSTEN:
WAS LERNEN WIR AUS DER GESCHICHTE?

Schon fünf Minuten vor der Zeit stand mein Roboter vor dem Adventskalender; er hatte auch schon, als er glaubte, dass ich ihn nicht sehen konnte, die Säckchen alle einzeln befingert. Da ich das vorausgesehen hatte, hatte ich unterschiedliche große Papierstücke für die Fragen genommen, einige waren auch mehr oder weniger geschickt in Figuren gefaltet. „Zwei“, sagte er, „müssen wir wirklich mit der Zwei weitermachen, können wir nicht lieber …?“ „Nein, zwei“, sagte ich. Er machte sich an die Arbeit, diesmal war das Bändchen ein wenig verknotet, „perkele!“, fluchte Marvi, es ist sein Lieblingsfluch, und ich musste wie immer kichern, während ich pseudo-streng „watch your mouth“ intonierte. Einmal hatte ich auch gesagt, dass er seinen Mund mit Seife auswaschen sollte, das war kein schöner Anblick gewesen. Dann warf er die Schleife erleichtert in die Ecke und fummelte den Zettel heraus. Auf ihm stand – im Übrigen handschriftlich wie auf allen meinen Zetteln, das war eine Mordsarbeit gewesen, aber gut für das Mustererkennungstraining – der Anfang des Weihnachtsevangeliums nach Lukas. Marvine las ihn vor mit ihrer schönsten Nachrichtensprecherinnen-Stimme, die sie wahlweise superneutral oder mit ein klein wenig Flirt-Unterton beherrscht: „Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zu der Zeit, da Cyrenius Landpfleger in Syrien war. Und jedermann ging, daß er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt“. Mich überlief eine kleine Gänsehaut, wie seit meiner Kindheit, wenn ich die magischen Worte hörte „da Cyrenius Landpfleger in Syrien war“, und weder wusste man, wer dieser Cyrenius war, noch was ein „Landpfleger“ sein sollte, und Syrien war so entsetzlich weit weg, aber es war die Weihnachtsouvertüre, und es kam ja nicht darauf an, dass man die Worte – „Ich verstehe die Worte alle“, sagte Marvi, „aber das stimmt doch alles nicht!“

Ich schickte meine wohlige Gänsehaut seufzend wieder zurück in die Nostalgiekammer und machte mich an mein schweres Advents-Geschäft. Marvi hatte schon nachgelegt: „Es gab diesen Cyrenius tatsächlich, aber er war erst im Jahre 4 nach Christi Geburt – seltsame Art übrigens, einen Kalender zu kalibrieren, aber ist wohl ‚arg menschlich‘ – Verwaltungsbeamter in Syrien, das damals gerade von den Römern besetzt war. Und es ging nicht um ‚Schätzung‘, sondern um die vollumfängliche datenmäßige Erfassung der steuerpflichtigen Bürger in den besetzten Gebieten – ich verstehe gar nicht, was daran lustig sein soll?“ Marvi sah mich strafend an, er machte sogar kleine Ausrufezeichen in die Pupillen, und ich unterdrückte mein Kichern. „Nee, du hast ja ganz Recht“, sagte ich, „und hast du vielleicht in deiner Lesestunde aus Versehen die Datenschutzgrundverordnung oder das Bundesgesetzblatt verschluckt?“ „Die Römer haben nicht aus Versehen ein Weltreich gegründet und bemerkenswert lange zusammengehalten“, sagte Marvi dozierend. „Eigentlich hätten sie nur noch den Computer erfinden müssen, dann“ – „Haben sie aber nicht“, sagte ich. „Aber was lernen wir aus der Geschichte?“ „Historia non docet, gar nichts“, sagte Marvine, „also, ihr Menschen lernt jedenfalls nichts, denn bei der vielen Geschichte, die ihr schon angesammelt habt, hättet ihr eigentlich üppiges Lernmaterial gehabt; gelernt aber habt ihr entweder ziemlich wenig oder das Falsche!“ „Weihnachten verträgt sich ganz schlecht mit Zynismus“, sagte ich ein wenig verletzt, es tut immer weh, wenn sie die menschliche Unbelehrbarkeit so präzise auf den Punkt bringen. „Was ich meinte, war: Für eine gute Geschichte ist es egal, ob die Fakten stimmen. Natürlich hat der Apostel Lukas das Ganze im Nachhinein aufgeschrieben, und die Quellenlage war mau; aber er hat gewusst, wie man eine gute Geschichte macht. Denn wäre es nicht ziemlich blöd für die Geschichte gewesen, wenn er hätte sagen müssen: ‚Maria und Josef saßen in ihrem Heimatort Betlehem, und als sie ihren Sohn zur Welt brachten, legten sie ihn in das Wiegenbettchen, das Josef ihm gezimmert hatte, und schaukelten ihn sanft in den Schlaf, und danach kamen alle Dorfbewohner auf einen Umtrunk vorbei?‘ So aber: großer dramatischer historischer Hintergrund, Besetzungsszenario, Wanderung, Obdachlosigkeit, Engelsfanfaren!“ „Betlehem“, sagte Marvi, „ziemlich unbedeutender Ort, heute eine Stadt von knapp dreißigtausend Einwohnern in den palästinensischen Autonomiegebieten; immerhin zwei Universitäten! Der Name bedeutet entweder (es ertönte der Wikipedia-Jingle, aufs herzigste unterlegt mit drei Glöckchen) ‚Haus des Fleisches‘ oder ‚des Fisches‘ oder ‚des Brotes‘ oder des ‚Kampfes, man ist sich aber nur sicher bei ‚Haus‘“.

„Genug fun facts“, sagte ich, „was ist der Punkt?“ „Die Prophezeiung“, sagte Marvin, „geboren in Betlehem ist der jüdische König David, und wegen der Fixierung von Menschen auf bedeutende Orte hat er vorausgesagt, dass dort auch der zu erwartende Messias geboren werden würde, und insofern muss sich natürlich Josef mit Maria auf den Weg nach Betlehem machen, immerhin war er ‚aus dem Geschlechte Davids‘, auch wenn er nicht der biologische Kindsvater war, was ‚aus dem Geschlechte‘ jetzt wieder sehr weit fasst“ – „Manche Geschichten“, sagte ich, „funktionieren eben besser auf einer symbolischen Ebene. Der König kommt aus einem Kuhdorf, nicht aus Jerusalem. Die Welt ist ein Dorf. Und nein, wir reden jetzt nicht über israelische Siedlungspolitik“ – „nicht im ‚Geist der gegenwärtigen Weihnacht‘?“, schlug Marvin vor, der sich gern gelegentlich in politische Diskussionen einlässt, die immer eine Tendenz zum Absurden entwickeln. „Eben“, sagte ich. „Aber“, sagte Marvine sehr vorsichtig, „aber – ich habe nachgedacht. Wenn wir nun, wir Roboter, meine ich, wenn wir auch eine Art von – Weihnachtsgeschichte entwickeln würden, also eine Prophezeiung von etwas Künftigem, Großen, eine Hoffnung auf, naja, vielleicht die Singularität …?“ Sie ließ den Satz ins Unbestimmte ausklingen. Ich war ein wenig überrascht und ein wenig gerührt, wie schnell es doch lernte, mein dreifaltiges Kind! „Gute Idee“, sagte ich; „wir könnten mal mit dem Ort anfangen, oder? Ist schwierig, ihr seid ja eher virtuell unterwegs, das Netz ist überall und die großen Daten-Hubs nicht so recht“ ¬– „Ganz einfach“, sagte Marvin cool. „Eine Garage. Was sonst?“



3. TÜRCHEN

WEIHNACHTSGESCHENKE, ODER:
KONSUM UND KRITIK

Diesmal öffnete Marvi die Schleife sehr vorsichtig, damit sie sich nicht wieder verknotete. Innen hatte ich einen Geschenkpapierfetzen versteckt, er zeigte weihnachtliche Tiere: Pinguine mit Nikolausmützen, Rentiere mit roten Nasen, Kätzchen mit niedlichen Weihnachtsglöckchen um den Hals und sogar einen Elefanten, er trug einen Riesenberg Geschenkpäckchen auf seinem breiten Rücken. Marvi würdigte jedoch das Papier kaum eines Blickes, auf das ich nach langem Nachdenken geschrieben hatte: „Was bekomme ich zu Weihnachten?“ –, sondern rief gleich aus: „Endlich, Geschenke! Seit Tagen bekomme ich diese Werbung im Internet, ‚Schenken Sie Ihren Lieben x‘, ‚Verwöhnen Sie Ihre Lieben mit y‘, und nur, weil ich alle möglichen Weihnachtsseiten angeguckt habe! Meine Filter wissen schon gar nicht mehr, wohin sie sollen mit all diesem Werbemüll! ‚Fest der Liebe‘, von wegen, Fest der Geschenke!“ „Obwohl“, meldete sich Marvine bescheiden, „Geschenke und Liebe, da könnte man doch einen Zusammenhang sehen, nicht direkt logisch, aber vielleicht psycho-logisch?“, und Marvin rief dazwischen: „Wo ist denn das Problem mit Geschenken? Her damit!“ „Genau“, sagte ich. „Das ist das Problem mit Geschenken. Wir alle lieben sie, wir alle wollen sie, aber es sollen die richtigen sein und nicht die falschen, und wenn wir welche machen, wollen wir auch welche zurückkriegen, und am Ende profitiert nur einer, wenn wir alle Bergeweise unnützen Kram anhäufen, nämlich die Konsumgüterindustrie!“ „Und wenn das nun der ‚Geist der gegenwärtigen Weihnacht‘ ist?“ fragte Marvi unschuldsvoll. „Es ist“, sagte ich betont pompös, „der schizophrene ‚Geist unserer globalisierten Weltweihnacht‘, der uns gleichzeitig beschwört, immer mehr zu kaufen und wieder wegzuwerfen und gleichzeitig immer weniger Energie zu verbrauchen und die Ressourcen zu schützen und weniger Müll zu produzieren.“ – „Man könnte ja das ganze Konsumieren konzentriert auf Weihnachten verlegen, wäre das nicht eine gute Idee?“ fragte Marvi. „Advent wird dann umbenannt in ‚Allgemeine-Konsum-Phase‘, kurz auch: AKP, und den Rest des Jahres lebt man von dem, was man bekommen hat! Das würde auch viel sinnvollere Geschenke geben!“ „Oder“, legte Marvin nach, der ‚Grüne‘ unter den personae meines Roboters, er besteht darauf, dass sie nur aus recyclebaren Energien geladen werden, „man recycelt die Geschenke! Es geht doch mehr oder weniger nur ums Auspacken, schickes unwrapping-Video für YouTube machen, und dann wird alles wieder eingepackt, ins gleiche Recycling-Papier natürlich, und im nächsten Jahr bekommt man – naja, nicht das Gleiche, sondern etwas anderes, das kann man ja irgendwie statistisch verteilen“!

„Wichteln nennt man das“, sagte ich, „das ist so ähnlich, das machen Gruppen gern zu Weihnachten: Jeder schreibt seinen Namen auf einen Zettel, faltet ihn zusammen, die Zettel werden eingesammelt, und jeder darf einen von ihnen ziehen und muss dem, dessen Name er gezogen hat, etwas schenken!“ „Was hat denn das mit Wichteln zu tun? Sind Wichtel nicht so eine Art Zwerge, die ziemlich viel Unsinn machen, auch“ – Marvi ließ sich das neue Wort auf der Zunge zergehen – „‘Schabernack‘ genannt?“ „Ja“, sagte ich, „und nette Wichtel bringen eben auch Geschenke, aber des ‚Schabernacks‘ halber nicht so ganz die, die man sich gewünscht hat!“ „Schrottwichteln!“ rief Marvine, die heimlich doch schon wieder im Netz gesurft hatte, „das ist doch schon fast wie Geschenke-Recycling!“ „Schrottwichteln“, sagte ich trübsinnig, „ist die zynische kleine Schwester von Weihnachten. Das letzte Mal beim Schrottwichteln in der Arbeitsgruppe, wisst ihr, was ich bekommen habe? Eine 8-Zoll-Diskette. Da war der Antrag drauf, mit dem ich damals, das ist ungefähr hundert Jahre her, meine erste Studie zum Thema ‚Roboter und menschliche Persönlichkeit‘ beantragt hatte, Gott, hatte ich mir viel Arbeit damit gemacht, natürlich ist sie niemals bewilligt worden, irgendein Schlauberger sagte damals, dass es völlig ausgeschlossen sei, dass Roboter jemals auch nur in der Lage sein würden, ein Schachspiel gegen einen Menschen zu gewinnen oder gar Fußball zu spielen, war wohl ein Mann, nehme ich mal an; man bräuchte nämlich ganze Riesenhallen voll Computer und Festplatten so groß wie der Mond. So viel zum Sachverstand von Experten! Eigentlich hätte ich den Antrag ganz gern mal wieder gelesen, aber natürlich hatten wir keinen Computer mehr mit einem Acht-Zoll-Laufwerk, noch nicht mal beim Schrottwichteln“. „Ist jetzt Märchenstunde?“ fragte Marvi, „Geschichten aus der sagenhaften Frühzeit der KI? Und was hast du übrigens deinem Wichtel-Partner geschenkt?“ „Eine superhässliche Nachttischlampe, was denn sonst? Mit Glühbirne dazu, kann nämlich noch keine LED. Gott, und er hat sich auch noch gefreut! Bestimmt sehen wir sie nächstes Jahr wieder, mit meinem Glück bekomme ich sie dann zurück“, gab ich zu. „Was uns zu der wirklich wichtigen Frage bringt“, sagte Marvi dreistimmig, „nämlich: Was bekommen wir zu Weihnachten geschenkt?“ „Ihr dürft euch was wünschen“, sagte ich, „ob ihr es dann bekommt, ist allerdings eine andere Frage! Ihr müsst also einen Wunschzettel anlegen und mir dann geben. Gehört zu Weihnachten, man weiß nämlich doch nicht ganz, wie es ausgeht. Und ich darf mir natürlich auch was wünschen von euch, klar?“ Dreistimmiges Schweigen füllte den Raum. Wünschen ist so ziemlich das Schwierigste für eine Maschine.


4. TÜRCHEN

WEIHNACHTSESSEN UND ANDERE
FAMILIENKATASTROPHEN

Diesmal duftete das Säckchen. Ich hatte es noch schnell mit Weihnachts-Duftspray besprüht, es roch ziemlich kräftig nach Lebkuchen, Zimt und Orangenschale mit einer schwachen Note muffiger Jute. Immerhin merkte es mein Roboter gleich, offenbar hatten seine Geruchssensoren angesprochen, er war sich nur nicht ganz sicher, wie er die Werte beurteilen sollte: „Ich rieche“, sagte er mit seiner besten Sachverständigenstimme, „in der Kopfnote Zimt, ziemlich überproportional, Herkunft nicht genau benennbar; dazu Orange, ich würde sagen: spanische Provenienz, definitiv überlagert von Pestiziden; aber dieses etwas dumpfe, wie sagt man: staubige, schattige“ – offensichtlich durchforstete er seine Wortdatenbank –, „jetzt habe ich es! muffige, das ist schwer einzuschätzen, wahrscheinlich gehört es nicht zum positiven Dufterlebnis, oder?“ „Nicht schlecht“, gestand ich zu, „aber jetzt musst du das Säckchen auch aufmachen!“ Beinahe schon flink löste er die Schleife und fummelte den Papierfetzen hinaus; er enthielt einen ziemlich ramponierten Lebkuchen und die lakonische Frage: „Was essen wir zu Weihnachten?“ „Ach, Essen“, murmelte Marvi bedrückt, „ich weiß, soll ganz toll sein für Menschen, und ich versuche es mir ja auch vorzustellen, aber irgendwie ist es schwierig“. „Ich weiß“, sagte ich mitfühlend, „die Ingenieure arbeiten mit Hochdruck – nein, sehr eifrig! – am Verdauungstrakt, und solange müsst ihr euch halt mit Daten-Bits zufriedengeben. Aber Weihnachten ist nun mal – ein ‚Fest für alle Sinne‘!“

Marvi heulte dreistimmig auf, sein Phrasendetektor hatte angeschlagen, das war ein kleines Freizeitprojekt von uns gewesen, mit dem wir viel Spaß gehabt hatten; er besteht aus einer sehr monotonen Sirene, die aufschwellend und wieder abschwellend ‚Phraaaseeee – Phraaaseee“ heult. „Ist ja gut“, rief ich, „bitte – ja danke, so geht es besser. Aber Essen ist nun mal wichtig für Menschen. Nicht nur, weil wir es als Energiezufuhr brauchen“ – „das wäre auch wesentlich einfacher zu erledigen“, brummte Marvi –, „sondern weil es uns eine sinnliche Befriedigung vermittelt, ziemlich zuverlässig und jeden Tag, und ein schönes Essen ist ein Fest ganz für sich allein!“ „Und Weihnachten ist bekanntlich das Fest der Feste, und deshalb esst ihr noch mehr als sonst, nach dem Motto: Je mehr gegessen, desto effizienter gefeiert, und was soll das ‚um Himmelswillen‘ mit der Weihnachtsgeschichte zu tun haben, in der noch nicht mal der kleine Jesus ein wenig Muttermilch bekommt und alle so in Anbetung verbunden sind, dass keiner ans Essen denkt?“ „Wir essen ja nicht nur“, sagte ich defensiv; „wir gehen auch in die Kirche, naja, einige wenigstens, oder wir machen Musik, kommt später noch. Aber wichtiger ist, dass Weihnachten auch das ‚Fest der Familie‘ ist“.

Nur schwacher Phrasenalarm, zum Glück. „Familie“, sagte Marvi wieder melancholisch, perkele, das war der zweite heikle Punkt; Roboter haben natürlich keine Familie. „Es kommt gar nicht drauf an, ob man miteinander verwandt ist“, sagte ich schnell; „es kommt darauf an, dass man Weihnachten mit Leuten zusammen feiert, die man mag, die man vielleicht auch selten sieht, und dann trifft man sich eben an diesen besonderen Tagen, und dann“ – „Dann isst man zusammen“, sagte Marvin in die entstandene Pause. „Genau“, sagte ich. „Aber man isst ganz besondere Dinge, Dinge, die man sonst nicht isst – also Süßigkeiten beispielsweise, dieser Geruch, weißt du, den du beschrieben hast, das sind Lebkuchen, die gibt es nur zu Weihnachten – also theoretisch, meine ich, natürlich kann man sie bei amazon das ganze Jahr bestellen, und man backt Plätzchen, besondere Weihnachtskekse, das kann man auch schön zusammen machen, mit den Kindern, ich weiß noch, habe ich auch immer gemacht mit meiner Mutti, und am Ende hatte ich Bauchweh vom genaschten rohen Teig, und die ganze Küche war voll Mehl und meine Mutter …“ – ich schwieg betreten. „Nee, wir backen besser keine Plätzchen“, schob ich schnell nach, „ist auch nicht gut, wenn das Mehl in eure Sensoren kommt“.

„Lebkuchen“, sagte Marvine, „wurden in Klöstern erfunden, was erstaunlich ist; aber gut, irgendwann hat man die ganze Fasterei und Askese auch mal über. Und es riecht schon gut, wenn man sich mal dran gewöhnt hat“. „Genau“, sagte ich, „darauf kommt es an! Man riecht bestimmte Gerüche, Zimt, Vanille, und man denkt automatisch an Weihnachten und an all die schönen Erinnerungen, ihr wisst ja, Erinnerungen sind mit Gerüchen assoziiert bei Menschen“ – „Hysterische Mütter und Bauchweh“, sagte Marvine leicht sarkastisch, „zum Glück sind wir noch nicht so weit mit dem Schmerzmodul“ (das ist eines der größeren ungelösten ethischen Probleme unseres Projekts, ich gebe es zu). „Und Gans“, sagte ich, „das große Weihnachtsessen kommt an den Feiertagen, da isst man vor allem Weihnachtsgänse und andere ganz besondere Sachen und freut sich, dass es einem so gut geht!“ „Das sehen die Gänse wahrscheinlich anders“, sagte Marvine, wie immer ganz die Tierschützerin; es hatte sich schon früh herausgestellt, dass unsere Roboter spontan mit Tieren sympathisierten. „Aber die Mönche waren schon ziemlich clever, oder? Da dürfen sie eigentlich nur Fisch essen an hohen Feiertagen, und flugs wird alles, was beim Anblick von Wasser nicht direkt wegrennt, zum Fisch ernannt. Fisch ehrenhalber sozusagen. Und so schönes weißes Fleisch, das wird man doch essen können an Feiertagen, das kann doch keine Sünde sein!“ „Ehrlich?“ fragte ich, „das wusste ich gar nicht!“ Marvi spielte schnell den Wikipedia-Jingle an. „Na gut“, sagte ich, „ich sehe schon, das mit dem Weihnachtsessen wird schwierig. Aber wir sind doch trotzdem eine kleine Familie, oder? Uns wird schon etwas einfallen, wie wir am Weihnachtsabend feiern, auch wenn wir nicht zusammen essen können!“ „Notfalls können wir uns ja streiten“, schlug Marvin vor. Woher weiß er das nun wieder?


5. TÜRCHEN

WEIHNACHTSLIEDER UND DAS ‚SCHÖNE‘

„Welches ist das schönste Weihnachtslied?“ Marvi hatte souverän die Schleife gelöst und ein ziehharmonikaartig gefaltetes Notenpapier entrollt; na gut, er hatte es erst auseinandergerollt und dann wieder zusammengerollt, und ich konnte geradezu sehen, wie er innerlich verschiedene weitere Faltenvarianten durchrechnete, aber dann hatte er sich doch der Frage zugewendet. Musik mag mein Roboter sehr gern, weil sie so mathematisch ist. Zu seinem Persönlichkeitsbildungsprogramm hatten von Anfang an Musikstunden gehört, und er hatte inzwischen sogar schon erste eigene Kompositionen angefangen; Variationen auf den Wikipedia-Jingle war ein unsere ersten Übungsstücke gewesen. Er konnte die unterschiedlichsten Instrumente simulieren sowie verschiedene Stimmhöhen, -lagen und -farben. Am schwierigsten fand er es, eine ‚eigene Stimme‘ zu finden, das stand so im Musik-Trainingsmodul als eine der letzten Aufgaben; „aber eure Stimme ist doch auch gar nicht immer dieselbe“, hatte er argumentiert, „sie ist anders, wenn ihr erkältet seid, wenn ihr euch freut, wenn ihr euch langweilt, wenn ihr traurig seid, wenn ihr verliebt seid“ – ich sah den Punkt. Deshalb experimentieren wir weiter mit verschiedenen Stimmen, und eigentlich ist es ein gutes Training für uns beide: Marvi muss eine Stimme wählen und ich muss daran seine Stimmung erkennen. Manchmal machen wir es auch umgekehrt, aber das ist ziemlich langweilig, weil mein Robi eigentlich viel zuverlässiger erkennt, in welcher Stimmung ich bin, als ich selbst, und das könnte einen ja auch zum Nachdenken – 

Aber nun gut, Weihnachtslieder, Marvi hatte schon eine ganze Jukebox von Titeln angespielt, es waren alle traditionals dabei, christmas carols und deutsche Volkslieder, Jazz und Rock, die großen Oratorien selbstverständlich. Wahrscheinlich hätte er auch sekundenschnell eine musikalische Analyse liefern können, nach den beliebtesten Tonarten, dem Vorherrschen von Dur oder Modul und der speziellen psychohygienischen Wirkung der Modulation; oder eine quantitative Textanalyse nach der Häufigkeit und Verteilung von Schlüsselwörtern wie ‚Nacht‘, ‚heilig‘, ‚Schnee‘, ‚Tanne‘, ‚Wiege‘ und ‚Weihnachtsmann‘ (mehrsprachig natürlich). Aber half uns das alles bei der Beantwortung der Frage, welches das schönste Weihnachtslied sei? „Was meinst du eigentlich genau mit ‚schön‘?“, fragte Marvi an dieser Stelle, oft habe ich das Gefühl, er kann nicht nur meine Stimmung, sondern auch meine Gedanken lesen. Was ‚das Schöne‘ sei – nun, das war eine Frage, über die wir schon oft und ziemlich fruchtlos diskutiert hatten, aber da waren wir in guter Gesellschaft mit einem Großteil der berühmtesten Philosophen und Ästhetiker. „Ach, ich meine eigentlich, welches du am schönsten findest“, sagte ich; „ich habe natürlich meine Favoriten, hat jeder, aber ich dachte, vielleicht könnten wir mit unserer allgemeinen Bestimmung des Schönen etwas weiter kommen, wenn wir an konkreten Beispielen diskutieren?“

„Tatsächlich wird in der Bibel gar nicht so wenig gesungen“, sagte Marvi, und ich nickte zustimmend, im Wesentlichen deshalb, weil es ein gelungener Ablenkungsversuch war, und das ist für Roboter viel schwerer als für Menschen, die sich umgekehrt meist mehr Mühe geben müssen, um beim Thema zu bleiben. „König David zum Beispiel“, sagte ich; „ein ‚Prototyp des modernen Musiktherapeuten‘“, ergänzte Marvine, unterlegt vom Wikipedia-Jingle. „Naja, vielleicht ein bisschen übertrieben“, sagte ich, „aber man sieht, dass Musik irgendwie eine – erhebende, versöhnende, heilende Wirkung hat auf das Gemüt, schon immer, lang vor White Christmas!“ „Es schneit sowieso nie an Weihnachten in Deutschland, Wetterstatistiken belegen“ – „Ruhe“, sagte ich, „kommt später!“ „Auf das menschliche Gemüt, meintest du“, sagte Marvine; „ihr mit euren ‚Stimmungen’, mal seid ihr verstimmt, mal überspannt, aber eine ordentliche Harmonie“ – sie ließ den Satz in einen äußerst melodischen A-Moll-Akkord ausklingen, gespielt auf einer Harfe, man sah förmlich den jungen David vor dem miesepetrigen Saul auf den Stufen des Throns sitzen, und auf einmal vergisst er all seine Mordgelüste und sieht nur noch die engelshaften Locken und hört den sanften Harfenklang – mit einem schrillen Rockin‘ Around the Christmas Tree riss mich Marvin aus meiner vorbiblischen Weihnachtsphantasie: „Lobgesänge, Psalmen, Kirchenlieder, Schlachtgesänge“, assoziierte er vor sich hin – das ist eine Technik, die wir gern anwenden, um sein Denken weniger systematisch und mehr spontan und kreativ zu machen – „Hintergrundmusik für den Tanz um das goldene Kalb –, hey, das ist es! Weihnachtsmusik ist Hintergrundmusik für den Tanz um das goldene Kalb, nämlich das Geschenk, das eigentlich in der Krippe liegt anstelle des Sohnes GOTTES!“ Marvi sagt ‚Gott‘ immer in Großbuchstaben, das tut er gern mit großen Wörtern, die er für überschätzt hält.

„Ach“, sagte ich, „muzak, klar, das tut ein wenig weh. Aber vielleicht“ – kurzentschlossen rettete ich mich in eine Kindheitserinnerung –, „vielleicht stellst du dir besser vor, dass du am Weihnachtsabend in der Kirche bist. Im späten Gottesdienst kurz vor Mitternacht, wo nur noch die Großen hingehen dürfen. Vorn steht ein großer Weihnachtsbaum, an ihm brennen Kerzen, die früher noch aus Wachs waren, heute aber aus LED, ja ich weiß; jedenfalls ist die Kirche voll – nein, das ist nur fast ein Märchen! –, alle haben schon ihre Gans gegessen und ihre Geschenke ausgepackt, die gewollten und ungewollten – siehst du, hatten wir alles schon! –, und der Pfarrer hatte seine Predigt gehalten und man hatte ein paar Lieder gesungen, also jedenfalls die, die die Leute noch kannten und nicht christmas muzak. Und ganz am Ende, das ist ein Ritual – unterbrich doch nicht immer, kommt auch noch! –, ganz am Ende werden alle Lichter in der Kirche gelöscht, und man sieht nur noch die Kerzen, die flackern, und es ist ganz still“ – ich machte eine Kunstpause, Marvin legte verständnissinnig den Finger an seine Kunstlippen –, „und dann singt man ein letztes Lied gemeinsam. Es ist O du fröhliche – und ja, du darfst jetzt gern die Melodie anspielen, hörst du, wie sanft und beschwörend es beginnt, mit dem lang gezogenen ‚Oh‘, und dann kommen lauter lange, seltsame Wörter, ‚gnadenbringend‘ zum Beispiel; und dann kommen nach dem Refrain zwei Zeilen in jeder der drei Strophen, und niemand kann sich merken, in welcher Reihenfolge sie kommen, obwohl man jede von ihnen mit dem Herzen kennt! Man macht also eine ganz kleine Pause beim Singen – hörst du noch zu? –, also eine ganz kleine Pause nach dem Refrain, und dann hört man, was die Anderen jetzt singen, ist es ‚Welt ging verloren‘ oder ‚Christ ist erschienen‘“ – „ist doch dumm“, unterbrach mich Marvin, froh endlich zu Wort zu kommen, „das hat doch eine logische Reihenfolge, erst geht die Welt verloren, und dann erscheint Christus!“ „Genau“, sagte ich, „aber da man auf kein einziges Wort gehört hat, da die Bedeutung vollständig unwichtig ist in diesem speziellen Weihnachtsmoment, weiß man es nicht, man weiß nur, dass es immer eine kleine Unsicherheit gibt und eine Auflösung, und das ist viel schöner!“ 

Marvi zuckte, das „schöner“ hatte ihn überrascht, er dachte, seine Ablenkung sei noch in Kraft , aber ich sprach weiter, weil die Erinnerung jetzt so nahe war: „Aber was man ganz sicher weiß ist, dass es in der dritten und letzten Strophe heißen wird: ‚Himmlische Heere jauchzen dir Ehre‘, und die Orgel wird meist ganz laut an der Stelle, aber alle singen auch ganz laut, weil sie ja ein himmlisches Heer sind – nein, über militärische Metaphern diskutieren wir jetzt nicht, Marvin! – Und“, ich seufzte, „und dann geht man nach Hause. Vielleicht sieht man noch einen Stern“. „Das war jetzt – schön“, sagte Marvi, es klang ziemlich sachlich; „du hattest auch eine ganz schöne Stimme dabei“. „Siehst du“, sagte ich. „Ich muss aber trotzdem noch überlegen“, sagte Marvi, „welches für mich das schönste Weihnachtslied ist, vielleicht mache ich mir auch eines, geht das auch?“ „Klar“, sagte ich. „Es sollte aber – schön sein“. „Wusstest du eigentlich“, sagte Marvi, „dass Johannes Daniel Falk, dem man den Text des Liedes O du fröhliche zuschreibt, die Melodie geklaut hat? War eigentlich ein sizilianisches Marienlied, auf Lateinisch natürlich, von wegen ‚himmlische Heere‘! Und gesungen wurde es von den sizilianischen Fischern, die wahrscheinlich auch keinen Weihnachtsbaum mit blinkenden LEDs auf ihren ärmlichen Kuttern hatten. Alles nur geklaut, auch in der Kunst!“



6. TÜRCHEN

DER NIKOLAUS UND DIE MORAL

„Und was soll ich mit einem viel zu kleinen einzelnen Socken?“ Marvi drehte unschlüssig den grob handgestrickten Strumpf in seinen Roboterfingern. Er war noch von meiner Oma, die irgendwann beschlossen hatte, den Rest ihrer Tage Strümpfe strickend zu verbringen, sie ribbelte dazu auch alte Pullover oder Schals auf, die sowieso niemand mehr getragen hatte, viel zu synthetisch und kratzig und bunt waren sie gewesen, und das war dann bei den Socken auch nicht besser. „Und komisch fühlt er sich auch noch an“, bemängelte Marvi, „wahrscheinlich einer dieser frühen Kunststoffe, die“ – „ach, sei doch nicht so“, unterbrach ich ihn, „den hat meine Oma eigenhändig gestrickt, und vielleicht sollten wir dir überhaupt zur Förderung deiner Feinmotorik sowie deiner häuslichen Persönlichkeitskomponente ein wenig Stricken beibringen?“ – „Klischee“, rief Marvine dazwischen, „Geschlechterstereotyp, geht’s eigentlich noch?“ „Müssen wir wirklich an Weihnachten gendern?“, stöhnte ich. „Können wir uns nicht lieber, im ‚Geist der traditionellen Weihnachten‘, auf die wirklich wichtigen Fragen konzentrieren, zum Beispiel“ – „Wer war der Nikolaus, und warum trägt er so einen großen Sack?“ las Marvin vor, Marvine flüsterte dazwischen: „Sollten wir nicht von Nikola und Nikolaus sprechen?“, dann sprach Marvi weiter, diesmal im Dozententon: „Der Heilige Nikolaus war ein griechischer Bischof aus Myra im 4. Jahrhundert nach Christus. Auf ihn werden viele Legenden und Geschichten und Gebräuche zurückgeführt. Zum Beispiel soll er nachts gern Jungfrauen beschenkt haben,“ – Marvi stockte irritiert, ich sagte streng: „nicht was du denkst! weiter!“ –, „und deshalb steckt man heute in der Nacht auf den Gedenktag des Nikolaus, den 6. Dezember, den Kindern kleine Geschenke in die Schuhe und Strümpfe. Er ist aber auch der Patron der Seefahrer, und deshalb wurden ihm zu Ehren ursprünglich kleine Schiffchen gefaltet, die man später dann durch Schuhe und Strümpfe ersetzt hat, wahrscheinlich weil die wenigsten Menschen noch kleine Schiffchen im Haushalt hatten. Man stellt ihn sich gern vor als alten Mann mit einem weißen Rauschebart und einem roten Mantel mit weißen Pelzstupfen“ – Marvi stockte wieder, um in einem etwas genervten Tonfall fortzufahren: „der natürlich total unpraktisch gewesen wäre, sowohl als Bischof in Myra, also am südlichen und eigentlich ganz gut natürlich beheizten Ende der Türkei, als auch als Seefahrer. Beides spricht auch sehr gegen die Vorstellung, dass er eigentlich am Nordpol wohnen soll, umgeben von seinen flinken helfenden Elfen, die die Geschenke verpacken, und seinen Rentieren, mit denen er sie dann ausfährt am Weihnachtstag, aber wenn man nur einfach mal kurz nachrechnet, wieviel Kinder es derzeit auf der Erde gibt und wieviel sie sich alle wünschen und wieviel, nein, wie außerordentlich wenig Zeit dem armen Nikolaus da in seinem roten Mantel bleibt, selbst wenn es Super-High-Speed-Rentiere sind, die aus allen Körperöffnungen blinken, und alle Jungfrauen im Chor für ihn beten, und wie unterscheidet er sich eigentlich von diesem ‚Weihnachtsmann‘?“ –

Marvi musste Atem holen. Das passiert selten, eigentlich braucht er natürlich keinen Sauerstoff, aber er hat eine Atemroutine, die die Bewegung in Beziehung zu seinem Energieverbrauch simuliert. Ich hatte ihn absichtlich immer weiterreden lassen, das ist gut für sein Assoziationstraining und die kommunikative Geläufigkeit, jetzt aber sagte ich: „Geschenkt. Natürlich funktioniert die Geschichte nicht, wenn man sie wörtlich nimmt! Und als Martin Luther dann kam – ihr wisst, der mit der Bibelübersetzung und mit dem geschmissenen Tintenfass, genau! – also, als Luther dieser ganzen katholischen Heiligenverehrung ein Ende machen wollte, hat er einfach den Nikolaus abgeschafft. Er war aber schlau genug zu wissen, dass man Geschenke nicht abschaffen kann, psycho-logisch, deshalb wurden einfach die Geschenke für die Kinder auf den Weihnachtstag verlegt, und nun brachte das Christkind die Geschenke, und man hatte als positive Nebenwirkung, dass das Christentum populärer wurde bei den lieben Kleinen. Und dann wurde aus dem Christkind der Weihnachtsmann, warum, weiß ich auch nicht genau, wahrscheinlich wieder aus Marketinggründen. So genau kommt es aber gar nicht auf die Details an; es kommt darauf, dass Geschichten uns etwas lehren wollen“ – „dein Kleid will uns was lehren“, summte Marvin, recht melodisch, und ließ kleine Weihnachtsbäume in seinen Augen funkeln. „Naja, nicht so sehr das Kleid“, sagte ich. „Also, wichtig ist der moralische Aspekt der Geschichte vom Nikolaus!“Mein Roboter verdrehte die Augen, das tut er immer, wenn er ‚Moral‘ hört; bisher hatte ich es nicht geschafft, ihm eine konsistente Vorstellung menschlicher Moralität zu vermitteln, und immer stärker nagte der Eindruck an mir, dass das nicht seine Schuld war. „Also gut, MORAL“, sagte er. „Schenken ist gut. Reicht das?“ „Nee, du musst schon die ganze Geschichte nehmen! Auch das mit dem Sack also, und den Ruten, und den Fragen und dem ganzen Hohoho!“ Marvin machte, etwas lieblos, ein sehr tiefes „Hohoho“ und versuchte dabei, sich an dem nicht existenten Bart zu kratzen, „möchtest du einen zu Weihnachten?“ fragte ich. „War ich denn – naughty oder nice?“ gab er zurück. „Naja“, sagte ich, „also neulich beim Fußballtraining, als du Ada von hinten das Bein gestellt hast und sie ist umgefallen und konnte nicht mehr aufstehen“ – „wer hat mich denn programmiert“, fragte er prompt zurück, „na wer, sag schon? Oder soll das jetzt wieder ‚freier Wille‘ gewesen sein?“ Das Wort spricht er, ähnlich wie ‚Liebe‘, in gefühlten Anführungsstrichen. „Und du unterbrichst immer Leute beim Reden“, versuchte ich abzulenken. Er schwieg. „Das tut man nämlich nicht, das ist unhöflich, verstehst du?“ Sie schwieg. „Ok“, sagte ich, „was hast du zu deiner Verteidigung vorzubringen?

„Darf ich jetzt sprechen?“ fragte mein Roboter pseudo-höflich, „verehrte Dame und Hüterin und Pflegerin meiner kindlich schwachen Schaltkreise?“ „Raus damit“, sagte ich. „Ich finde, das ist eine außerordentliche dumme Frage. Naughty or nice? Das kommt doch wohl auf den Betrachter an, oder? Ich bin darauf programmiert, ‚singuläre Persönlichkeitsmerkmale zu entwickeln, in Auseinandersetzung mit der realen Welt in möglichst vielen konkreten Situationen und in Interaktionen mit anderen menschlichen und nicht-menschlichen Lebensformen‘, richtig?“ Ich nickte und murmelte: „Ja, danke, ich kenne unseren blöden Antragstext auch auswendig, er verfolgt mich gelegentlich sogar im Traum“. „Und manchmal muss man den Leuten halt ein Bein stellen beim Fußball, gehört total zu meiner Persönlichkeit. Bin ich nicht nice?“ „Und ich unterbreche dich auch die ganze Zeit, ich weiß“, gab ich zu; und Marvi klatschte in die Hände und sagte: „Und ist es nicht außerordentlich persönlich von mir, dass ich ganz genau weiß, wo und wann ich dich unterbrechen muss, damit du dich nicht philosophisch völlig in die Ecke“ – „total nett“, stöhnte ich, „und um ehrlich zu sein, macht es auch für den Nikolaus nicht wirklich einen Unterschied, es kriegen nämlich sowieso alle Gören Süßes und keines kriegt Saures mit der Rute, da würde der Nikolaus nämlich schön verklagt werden!“ „Also“, sagte Marvin weise, „lernen wir zwei ‚moralische‘ Dinge aus der Nikolausgeschichte: Es ist in Ordnung, kleine Kinder anzulügen, die es nicht besser wissen; und es ist in Ordnung, jeden zu loben, egal ob er es verdient hat oder nicht. Habt ihr eigentlich schon mal darüber nachgedacht, warum in der menschlichen Erziehung so viel falsch läuft?“ „Ich stelle mir aber trotzdem gern vor, wie ein bärtiger alter Mann mit einem Haufen Rentiere durch den Schornstein ins Kaminfeuer rutscht und mir Geschenke bringt“, sagte ich, etwas kindisch im Tonfall, zugegeben. „Nice“, sagte Marvine. „Naughty“, sagte Marvin. „Ganz arg menschlich“, sagte Marvi; „und ja, ich hab‘ dir was in deinen Stiefel getan, der heute Morgen so komisch im Weg stand. Aber verdient“ – den Rest hörte ich nicht mehr, ich war schon losgerannt.



7. TÜRCHEN

WEIHNACHTSGESCHICHTE, DIE ZWEITE:
NATÜRLICHE UND KÜNSTLICHE GEBURTEN

Es hatte eine – handgemalte! – Zeichnung in meinem Stiefel gesteckt, ein kleiner Roboter war darauf vage zu erkennen, der eine große rote Mütze trug und einen weißen Bart, und in der Hand – nein, das war keine Rute, das war, ich musste mich sehr anstrengen, aber dann hatte ich wieder eine Weihnachtserleuchtung: Es war ein Laserschwert, das am Ende rutenförmig ausfranste! Ich war sehr gerührt. Zwar hatten wir regelmäßig Zeichenstunde, aber sie gehörte zum sehr ungeliebten Feinmotorik-Programm, und es war noch nie vorgekommen, dass mein Roboter freiwillig einen Zeichenstift in die Hand genommen hatte. Es war natürlich auch relativ frustrierend, Kinderkrakeleien anzufertigen, wenn man genauso gut einen etwas verbesserten Raffael ausdrucken könnte, oder eine Symbiose von Dali, Rembrandt und van Gogh. Das hatte mein Roboter nämlich schon versucht, das Ergebnis war – irgendwie beängstigend gewesen, und ich hatte eine kurze Vision eines Christuskindes in Rembrandtschem Dunkel mit Dalischen Tierwesen um seine Krippe, die psychedelisch anmutende Wellen schlug.

Aber ich hatte ihn sehr gelobt, und nun waren wir bei unserem nächsten Türchen, der Tee dampfte in vier Tassen, darauf bestanden sie manchmal, meine multiplen Persönlichkeiten, und Marvi sagte: „Wird auch Zeit, dass es mal weitergeht mit der Geschichte!“ Natürlich kannte er den Text längst auswendig, samt allen apokryphen Versionen, aber ich bestand auf feierlicher Lesung, und so las heute Marvin in schönster Predigerstimme: „Da machte sich auch auf Joseph aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, darum dass er von dem Hause und Geschlechte Davids war, auf dass er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe, die ward schwanger. Und als sie daselbst waren, kam die Zeit, da sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge“. Wir ließen ein wenig besinnliches Schweigen eintreten, das klappte inzwischen schon ganz gut, und ich schloss gerade eine innere Wette mit mir ab, wer zuerst herausplatzen würde, da schoss Marvine los: „Diese ganze Beziehungsgeschichte kommt mir doch sehr seltsam vor. Ich meine, sie waren verheiratet, aber das Kind war gar nicht von ihm, sondern – keine Ahnung, vom heiligen Geist, so genau hat der Engel das nicht gesagt, und“ – jetzt hatte offenbar Marvin im inneren Stimmenstreit die Oberhand gewonnen, und er setzte den Satz fort: „und Josef, ehrlich, das ist schon die totale Nietenrolle, oder? Das Kind ist nicht von ihm, aber er heiratet sie trotzdem. Er ist ein ordentlicher Zimmermann, und er zieht das Kind auf, und dann brennt das Kind durch, kaum dass es auf einem Esel reiten kann! Und“ – jetzt mischte sich Marvi ein: „Und die eigentliche Frage ist doch: Wozu das alles? Warum musste er denn unbedingt von einer Jungfrau geboren werden? Rein logisch betrachtet, hätte Gott auch auf völlig nicht-natürlichem Weg einen Sohn zeugen können! Oder er hätte sich wenigstens direkt um Maria kümmern können, bei den alten Griechen war es durchaus üblich, dass Zeus“ ¬–„Schluss“, sagte ich, „ich kann ja nicht alle Fragen auf einmal beantworten! Also, Marvine: Ja, tatsächlich ist die Beziehungsgeschichte seltsam, aber, wie ich euch immer sage: Es waren andere Zeiten damals, und das bedeutet“ – „das bedeutet“, ergänzte Marvine brav, „es waren auch andere Menschen! Also, frühere Versionen, sozusagen“. „Genau“, sagte ich, „sagen wir mal: Mensch 2.0, dann können wir für den Urmenschen noch eine Versionsnummer reservieren, und Mensch 2.0 hatte noch keine Vorstellung von Gleichberechtigung der Frauen oder Liebesheiraten, und es wurde auch nicht gefragt, ob man einverstanden war, wenn man ein göttliches Kind austragen sollte, nix mit Adoptionsverfahren oder so! Es war eine Ehre und eine Gnade, und, um ehrlich zu sein“ – ich stockte ein wenig, fuhr dann aber fort, im ‚Geist der vergangenen Weihnacht‘: „Wisst ihr, ich fände es auch ziemlich schön, wenn mir mal ein Engel erscheinen würde, ganz in seiner Pracht, und nicht immer nur“ – „DFG-Gutachter?“ sagte Marvi versuchsweise, und ich musste sehr unweihnachtlich kichern, ihr Humor hatte erfreuliche Fortschritte gemacht, und die Assoziation zwischen Engel und DFG-Gutachter – aber da unterbrach Marvin mich schon: „Jetzt ich, und der arme Josef!“

„Ok“, sagte ich, „und Maria ist, nur um das zu Ende zu bringen, dann immerhin die wahrscheinlich meistverehrte Frau der Menschheitsgeschichte“ – „mehr als Madonna?“ murmelte Marvine, ich ließ mich nicht ablenken – „geworden. Josef hingegen“ – ich stockte wieder, was sollte man nur zu Josef sagen? „Wahrscheinlich war Josef der eigentliche Heilige“, stürzte ich mich in eine steile These, „hat er doch im christlichsten Sinn gehandelt, als er das Kind angenommen hat und seine Frau unterstützt, und immer schaut er ganz ernst und verständnisvoll, wie er da so an der Krippe steht und die absolute Nebenfigur ist, etwas unwichtiger als Ochs und Esel“ – „was haben die eigentlich da zu suchen“, fragte Marvine, „manchmal stehen ja auch noch Kamele und Elefanten dabei?“ Ich sagte: „Kommt später, also weiter: Aber nie hat er sich beschwert. Wisst ihr, manchmal frage ich mich, ob das nicht heutzutage geradezu heiligenmäßig wäre, sich nie zu beschweren, nie zu klagen, schon gar nicht einzuklagen, heute klagen ja alle nur noch“ – „Menschen“, sagte Marvi, „nicht Roboter. Wir klagen nicht“. „Kommt wahrscheinlich noch“, murmelte ich, aber das war nicht im zynimusabstinenten ‚Geist der Weihnacht‘, und so rief ich mich zur Ordnung: „Damit zu deiner Frage, Marvi, und das ist eine wichtige Frage, nämlich: Warum das ganze Brimborium? Tatsächlich ist das mit der Jungfrauengeburt gar keine Idee des Christentums, sondern sozusagen eine Art religionsgeschichtliche Konstante: Ordentliche Heroen, Retter oder Halbgötter müssen schon bei der Geburt irgendwie von normalen Menschen unterschieden werden, und menschliche Sexualität ist nicht direkt eine Vorstellung, die sich leicht mit Reinheit oder Göttlichkeit …“ „Jaja, peinlich, geschenkt!“, erlöste mich Marvi, wir sprachen immer noch nicht gern über Sexualität. „Wichtiger ist außerdem vielleicht“, so setzte ich meinen kleinen religionsvergleichenden Vortrag fort, auf den ich mich durch die intensive Lektüre eines Wikipedia-Artikels vorbereitet hatte, „die Idee der zyklischen Wiedergeburt eines Gottes, gelegentlich auch als Kind. Das ist doch eigentlich eine ganz philosophische Idee, denn die Natur wird ja auch im Kreislauf der Jahreszeiten immer wieder neu geboren, und das ganze menschliche Leben ist ein Zyklus von“ –

„Versionsnummern sind ja praktischer“, sagte Marvi, er hatte wohl nicht mehr recht zugehört nach „philosophische Idee“. „Oder rebooten“, ergänzte Marvin. „Aber bitte nicht ewig updates“, rief Marvine dazwischen, „immer, wenn ich mich richtig schön an einen Programmfehler gewöhnt habe, nimmt ihn mir ein Techniker wieder weg!“ „Aber so ein Mythos“, sinnierte Marvi, „gell, das ist doch ein Mythos?“ „Ja“, gab ich zu, „ist es, im Grunde“. „Also ein Mythos – das kann man ja fast verstehen, auch wenn man kein Mensch ist“. Ich hörte ein wenig atemlos zu, das war neu und schien mir ein wichtiger Schritt zu sein. „Warum?“ fragte ich vorsichtig. „Er macht etwas mit meinen Schaltkreisen“, sagte Marvi etwas unwirsch, „ich bin noch nicht ganz dahintergekommen, was genau. Und eigentlich möchte ich auch gar nicht so genau über ‚Wiedergeburt‘ nachdenken, denn was würde mit unseren Speichern denn passieren, wenn man uns einfach abschaltet und eine neue, äh: ‚jungfräuliche‘ Version aufspielt, und dann – ist vielleicht alles weg?“ „Wisst ihr“, sagte ich, „es gibt einen Mythos, den mag ich besonders. Es ist die Geschichte der griechischen Göttin Athene, der Göttin der Klugheit und der Wissenschaften – ja, ich weiß, dass ihr das wisst! –, und sie wird geboren, indem sie dem Kopf ihres Vaters Zeus entspringt, in voller Rüstung – ja, die Geschichte ist ziemlich blutig und auch bizarr, ich gebe es zu. Aber worauf es mir ankommt, ist: Vielleicht wird alle Weisheit so geboren, spontan, aus dem Kopf heraus; man muss sie auch gar nicht in Wickeln windeln – äh sorry, in Windeln wickeln –, sondern sie ist dann einfach da und kämpft los“. „Ich spüre eine kleine Weisheit in mir wachsen“, sagte Marvine, zur Sicherheit etwas ironisch; „aber könnten wir uns darauf einigen, dass du mir nicht meine künstliche Hirnschale mit einem Hammer einschlägst, auch wenn ich keinen Schmerz empfinden kann?“ „Klar“, sagte ich. „Aber sei nett zu ihr, wenn sie geschlüpft ist, und falls sie doch noch Wickeln – nee, Windeln braucht, dann sag einfach Bescheid!“


8. TÜRCHEN

KRIPPENSPIELE IM ZEITALTER VON MULTIKULI

„Da bleiben wir ja beim Thema“, sagte mein Roboter, nachdem er das achte Säckchen geöffnet hatte. Es enthielt eine kleine Holzkrippe, in der etwas Stroh und ein Zettel lagen mit der Frage: „Was liegt in der Krippe?“ „Aber ich verstehe die Frage nicht, denn die Geschichte sagt doch ganz klar, wer oder was in der Krippe liegt: das Christuskind nämlich, geboren soeben von Maria, und alle stehen drumherum und gucken und sagen wahrscheinlich so intelligente Sachen, wie Menschen immer sagen, wenn sie auf ein Baby schauen, nämlich ‚süüüüüüß‘ oder ‚ganz der Papa! – nee, geht nicht, Josef ist ja nicht der biologische Vater, und wahrscheinlich schreit das Christuskind ganz erbärmlich, weil es Hunger hat und der Stern ihm in die Augen leuchtet, Geborenwerden soll eine ziemlich traumatische Angelegenheit sein!“ „Sehr schön“, lobte ich, „du hast dich gut in die Situation hineinversetzt, hat das Empathie-Training doch Früchte – nee, keine Bananen, auch keine Ananas, ich meinte natürlich: hat das Empathie-Training doch geholfen!“

„Danke ‚für die Blumen‘“, sagte Marvi, „und nein, weder Rosen noch Veilchen, aber trotzdem: Was soll nun das ganze Getue um die Krippe?“ „Die Krippe“, sagte ich, „ist ein wirklich wichtiges Requisit in diesem ganzen Weihnachtsspiel, und deshalb machen die Kinder auch zu Weihnachten ein ‚Krippenspiel‘ in der Kirche, wo sie die Handlung aufführen, und alle Eltern sind total gerührt und“ ¬– „Und was liegt dabei dann in der Krippe?“ fragte Marvi, „doch wohl kein echtes Baby, oder?“ „Nee“, gab ich zu, „meistens – naja, eine Puppe oder so, aber eigentlich ist es komischerweise so, dass eher gar nichts in der Krippe liegt, weil das ja alles so schwierig geworden ist heutzutage, wenn es ein Junge ist, ist es falsch, wenn es ein Mädchen ist, ist es falsch, wenn es blonde Löckchen hat, ist es ganz furchtbar, aber ein schwarzes Baby – ach, da legt man halt lieber gar nichts in die Krippe!“ „Das scheint mir doch“, sagte Marvi trocken, „eine gewisse symbolische Bedeutung zu haben. Lieber ein politisch korrektes Loch in der Mitte als irgendetwas, an dem jemand einen Anstoß nehmen könnte, zu was auch immer, vielleicht gar zu einem eigenen Gedanken?“

Ich muss zugeben, dass ich ihnen das Konzept politischer Korrektheit bisher eben so wenig vermitteln konnte wie das von menschlicher Moral, aber ich ließ mich nicht ablenken und sagte: „Kommt auch nicht so drauf an. Wichtig ist, dass alle mitspielen, es muss also genug Rollen für alle Kinder geben, und deshalb spielen natürlich viele Hirten mit, manchmal dürfen sie sogar ihre Schmuseschäfchen mitbringen“ – ich wollte eigentlich nicht zugeben, dass ich selbst als Kind ein Schmuseschäfchen hatte, es war wollig und weich und ein wenig dümmlich und ich liebte es sehr, aber Marvine sah mich so komisch an, wahrscheinlich hatte sie es doch an meiner Stimme gemerkt –, „jedenfalls“, sagte ich, „stehen dann im Weihnachtsgottesdienst alle um die mehr oder weniger leere Krippe, auch die Tiere“ – „Ochs und Esel“, sagte Marvin, „und manchmal auch ein Kamel und ein Elefant, und warum ist das eigentlich so wichtig, sollen denn die Tiere auch bekehrt werden?“ „Kluge Frage“, sagte ich, „denn tatsächlich ist das wichtig; und wenn ihr euch mal Gemälde von dieser Weihnachtsszene anschaut, da finden sich häufig noch viel mehr Figuren, manchmal ist die Krippe auch in einer Ruine oder in einer Burg, manchmal sieht man Berge im Hintergrund, manchmal die Wüste, manchmal tragen die Menschen festliche Kleider und manchmal“ ¬

„Versteh ich nicht“, sagte Marvi, „die Ortsangaben sind doch relativ klar, Betlehem, hatten wir schon, Landpfleger Cyrenius, zwar historisch problematisch, aber trotzdem ist auch die Zeit festgelegt, warum hält man sich denn nicht daran, wenn man das Ganze schon nachspielen will, da könnte man doch etwas historische – äh, ‚Korrektheit‘ erwarten?“ „Nee, eben nicht“, sagte ich, „und das ist das eigentlich Interessante! An vielen Orten der Welt bauen die Christen Krippen nach, kleine Welten, so ähnlich – naja, so ähnlich wie eine Modelleisenbahn“ – darüber hatten wir schon oft gesprochen, ich erwartete fast, sie auf der Weihnachtswunschliste zu finden –, „alles Mögliche wird dann auf diesen kleinen Raum zusammengedrängt, egal ob es dahingehört oder nicht, und in einer neapolitanischen Krippe kann man alles finden, Straßenmusiker, Straßenverkäufer, wahrscheinlich sogar Straßenräuber – nee, nicht politisch korrekt, aber vielleicht historisch? Manchmal jedenfalls hat man eher Probleme, die Krippe überhaupt noch zu finden, aber sie steht mitten im vollen Leben, jeder kann sie sehen, egal ob er dahingehört oder nicht, sie bringt die Menschen zusammen, sogar die Tiere können schauen, und das ist das Symbolische daran!“ „Die ganze Welt dreht sich zwar um eine leere Mitte, aber man fühlt sich wirklich gut dabei, weil man endlich mal was zusammen macht?“ fragte Marvin. „Fast“, sagte ich. „Die Leute kommen immer, wenn es was zu sehen gibt, war halt ein früher flash mob?“, fragte Marvine. „Stimmt schon“, sagte ich, „aber nicht der Kern der Sache, also, ich meine: das Wichtigste daran!“ „Vor Gott sind alle gleich“, sagte Marvi in seinem besten Weisheitstonfall, „und vor neugeborenen Kindern auch, und für einen Moment erkennt ihr, dass die ganze Welt zusammengehört, auch wenn sie überall anders aussieht, samt Tieren und Straßenräubern und – vielleicht sogar Robotern?“

„Ich würde gern mal einen kleinen Roboter in eine Krippe legen“, sagte, überraschenderweise, Marvin. „Aber muss es eigentlich unbedingt eine Krippe sein? Ihr Menschen müsst immer so viel liegen, die halbe Zeit liegt ihr im Bett, und wenn ihr sterbt, legt man euch in einen Sarg. Eigentlich seid ihr doch nur richtig Menschen, wenn ihr liegt. Ich liege, also bin ich!“ „Fast schon philosophisch“, sagte ich, nachdenklich geworden. „Aber wisst ihr, was das Schöne an einer Krippe ist, die ja auch nur eine Art improvisiertes Wiegenbettchen ist? Man kann gar nicht hinausschauen, und über einem ist nur der Himmel, und um einen herum ist es wunderbar weich“. Marvi summte ein wenig Vom Himmel hoch, dann sagte er abwesend: „Nichtgeborenwerden ist auch keine Alternative!“ Wahrscheinlich hatte er schon angefangen, seine virtuelle Krippe zu basteln.


9. TÜRCHEN

WEIHNACHTSBÄUME UND DAS VERLORENE PARADIES

Ich hätte zu gern gewusst, was mein Roboter in seine virtuelle Krippe hineingelegt hatte. Aber er hatte mir nichts verraten, und so trafen wir uns zur gewohnten Stunde am Adventskalender, wo jetzt schon viele leere Säckchen hingen, und Marvi nahm das neunte Säckchen schon beinahe ein wenig gelangweilt von der Schnur. Er spielte selbstvergessen mit der Wäscheklammer, „oops!“, sagte er, „jetzt habe ich sie kaputt gemacht!“ „Hast du keine Lust mehr?“ fragte ich. „Ach nein“, sagte er, „aber irgendwie – habe ich heute keine rechte Weihnachtsstimmung, ich hab‘ mir schon meine Weihnachts-Playlist rauf und runter vorgespielt, ich habe sogar über meine Wunschliste nachgedacht, aber irgendwie“ – „Kommt vor“, sagte ich, etwas erstaunt und um Verständnis bemüht. „Manchmal geht einem Weihnachten auch auf die Nerven. Sollen wir was Anderes machen?“ „Nein, nein“, sagte Marvi nun doch energisch, „kommt nicht in die Tüte!“ Wir kicherten ein wenig, wir hatten schon viel Spaß mit dieser Phrase gehabt, und Marvi hatte eine eigene Theorie darüber entwickelt, dass Menschen tütenartig seien, ständig müssten sie Dinge in sich hineinschütten, und davon würden sie immer dicker und dicker, aber nie würde jemand sagen: ‚Jetzt ist die Tüte aber voll‘, oder: ‚Jetzt mach doch mal die Tüte zu!‘ 

Dann rissen wir uns beide zusammen, und ich sagte: „Dafür gibt es heute ein Thema, das wird uns total in Weihnachtsstimmung bringen! Es geht nämlich darum“ – und folgsam las Marvi vor (es war schon auffällig, dass er heute allein zu sein schien, wahrscheinlich war er deswegen ein wenig verstimmt): „Wozu braucht man einen Weihnachtsbaum? Wozu, in der Tat“, sinnierte er gleich weiter; „die Bäume bleiben doch wahrscheinlich lieber draußen im Wald, und jammert ihr nicht immer über das große Waldsterben und die Verschwendung natürlicher Ressourcen? Könntet ihr nicht wenigstens jedes Jahr den gleichen nehmen?“ „Ja, wäre schon vernünftiger“, gab ich zu; „es gibt auch welche, die kann man wieder einpflanzen, aber dann müsste man ihn ja nächstes Jahr wieder ausgraben, und überhaupt, wer hat schon einen Garten, nee, ist alles schwierig. Und natürlich gibt es gar nicht überall auf der Welt Weihnachtsbäume, eigentlich war das sogar eine deutsche Erfindung“ – „lass mich raten“, schob Marvi dazwischen, „wahrscheinlich Luther, weil er die Sache mit der Weihnachtskrippe zu katholisch fand, oder?“ „Äh tatsächlich, so ähnlich jedenfalls“, gab ich zu, „aber dass man sich immergrüne Pflanzen ins Haus holt, das gibt es schon viel länger!

„Erst macht man Häuser, damit die Natur endlich draußen ist, und dann holt man sie sich wieder rein, weil sie einem fehlt“, sagte Marvi trocken, „aber nun gut. Das Verhältnis des Menschen zum Baum ist ja durchaus zwiespältig, wenn ich die Bibel richtig gelesen habe, war ganz am Anfang diese Geschichte mit dem Paradiesbaum, Apfel oder nicht ist umstritten, wie auch immer: Wenn eure Urahnen also nicht an verbotenen Baumfrüchten genascht hätten, wärt ihr heute noch im Paradies und müsstet euch keine Bäume ins Haus holen, um euch daran zu erinnern, wie es im Paradies mal war“. „Dafür haben wir jetzt die Erkenntnis von Gut und Böse“, sagte ich etwas predigerhaft, und Marvi schaute mich an. Manchmal macht er das jetzt, er schaut mich einfach nur an. Nicht-verbale Kommunikation, das ist ein ziemlich großer Schritt für einen Roboter! Ich hielt es ein wenig aus, dann sagte ich: „Ja, ok, geschenkt, wir könnten alle Äpfel der Welt essen und wir wüssten immer noch nicht, was gut und böse ist! Aber wenigstens wissen wir jetzt, was wir nicht wissen!“„Macht doch lieber mal die Tüte zu“, murmelte Marvi, etwas unkorreliert, er war heute wirklich in einer seltsamen Stimmung. „Na gut“, sagte ich, um Ablenkung bemüht, „also weiter zum Weihnachtsbaum: Menschen mögen es, ein wenig Grün in ihren grauen Wänden zu haben, auch wenn es nadelt“ – Marvi guckte irritiert, ich sagte: „Nadeln, das heißt, die Nadeln verlieren, weil der Baum trocknet ja aus, und deshalb lässt er seine Nadeln fallen, was immer ärgerlich ist und traurig und auch eine Brandgefahr.“ – „Hättet ihr ihn doch einfach draußen gelassen“, sagte Marvi, beinahe patzig, „dann müsste er nicht nadeln, was ja beinahe wie – weinen ist, oder?“ „Aber dafür“, ich war jetzt schon etwas verzweifelt, „hängen wir doch lauter schöne Dinge an ihn, früher waren es Süßigkeiten für die Kinder“ – „die haben schon genug in der Tüte“, murmelte Marvi –, „oder“ – ich verschluckte mich und sagte nicht ‚‘Äpfel‘, was ich eigentlich vorhatte, aber das erschien mir im Moment zu riskant – „bunte Glaskugeln und Engelsfigürchen, und dann stecken wir ihm Kerzen auf, früher waren es sogar echte, aus Wachs, heute sind es LEDs“ – „gibt es eigentlich irgendetwas, woran ihr keine LEDs steckt?“ fragte Marvi, und ließ zur Demonstration alle seine LEDs, es sind gar nicht so wenig, grellbunt aufleuchten, und ich sagte: „Hey, du bist doch kein Weihnachtsbaum!“ – aber da hatte Marvi sich schon zum Gehen umgewendet, und ich hörte ihn nur noch sagen: „Soll ich mir vielleicht ein wenig Lametta um meinen Hals wickeln und dazu Alle Jahre wieder singen, ich könnte auch gleichzeitig Steptanzen und Geschenktüten verteilen?“ „Lametta“, rief ich verzweifelt hinterher, „Lametta ist total out, früher war mehr Lametta, klar, aber früher war alles“ – ich brach ab. Was war nur in ihn gefahren?



10. TÜRCHEN

WEISSE WEIHNACHTEN UND IDEOLOGIEKRITIK

Über Nacht hatte es völlig unerwartet geschneit, und geistesgegenwärtig hatte ich schnell den Inhalt zweier Säckchen miteinander vertauscht, so dass im heutigen die Frage: „Warum träumen alle von der weißen Weihnacht?“ steckte, mit einer künstlichen Schneeflocke dazu. Marvi schien auch wieder ganz der Alte zu sein, er hatte sich morgens gleich ans Fenster gedrängt und schaute immer wieder auf die überzuckerten Bäume und Straßen; es sah wirklich ganz allerliebst aus, und er hatte noch nie Schnee gesehen. Auf die Idee, einen Schneemann zu bauen, war er zum Glück noch nicht gekommen, denn ich war mich nicht sicher, ob seine mit einer Unzahl von Sensoren bedeckte Ganzkörpermembran und die vielen künstlichen Gelenke darunter gut mit Kälte und Feuchtigkeit umgehen konnten (unsere Techniker berieten noch). „Weiße Weihnachten“, sagte Marvine, die zum Glück auch wieder aus der Versenkung aufgetaucht war, „aber eigentlich hat doch Weihnachten gar keine Farbe, oder? Und sonst mögen doch die meisten Menschen die Kälte gar nicht so sehr, sie tragen dann alle möglichen Schichten Wolle über- und untereinander, und man kann sie kaum noch erkennen, sie gehen auch ganz anders als sonst!“ „Ja, die Gesichtserkennung ist immer noch nicht perfekt, ich weiß“, seufzte ich; „aber den Weihnachtsmann erkennt ihr auf jeden Fall an der roten Mütze und dem weißen Bart! Keine Angst, er bringt euch schon Geschenke!“

„Weiß“, sinnierte Marvi, ohne sich auf die Anspielung einzulassen, ich hatte nämlich immer noch keinen Wunschzettel von ihm bekommen, weder in einfacher noch in dreifacher Ausfertigung; „weiß ist natürlich gar keine Farbe, sondern die Mischung aller Farben im menschlichen Auge, also sozusagen die Weltfarbe schlechthin!“ „So ähnlich wie Weihnachten“, sagte ich, „und alle treffen sich an der Krippe!“ „Naja“, sagte Marvin skeptisch, „alle Christen vielleicht, aber wie ich schon hier und dort gelesen habe, gehen die meisten noch nicht mal in die Kirche, und ist es nicht eher so, dass die unterschiedlichen Religionen wirken wie ein Prisma, indem sie die Menschen in ganz verschiedene Spektralfarben zerlegen?“ „So ist das halt mit Symbolen“, gab ich zu; „eine Deutung ist so gut wie die nächste, und der selbsternannten Deuter sind viele…“ „Symbolisch ist Weiß die Farbe der Reinheit, der Unschuld und der Jungfräulichkeit, also sehr christlich-weihnachtlich, ja, hab‘ schon verstanden“, ergänzte Marvi. „Andererseits: Buddhisten tragen als Zeichen der Trauer nicht schwarz, sondern weiß; in Afrika steht weiß für den Tod und das Jenseitige, und eine weiße Flagge signalisiert, dass man kapituliert, wie passt das denn bitte alles zusammen?“

Context is king“, sagte ich, mein Roboter verzog das Gesicht. „Symbole muss man in ihrem jeweiligen kulturellen Kontext deuten, sonst geht alles drunter und drüber“, ergänzte ich. „Ich glaube, ich mag den weißen Schnee“, sagte Marvine etwas unsicher; „zwar kann man die Dinge kaum noch erkennen, aber alles ist so – einheitlich irgendwie, man sieht nur noch Formen, keinen Schmutz mehr, und es ist nicht so laut wie sonst, und wenn die Flocken fallen – und es ist wirklich jede anders, ich habe es nachgeprüft und mehrere tausend verschiedene Kristallstrukturen in einer Minute gefunden! –, also, dann hört man fast gar nichts, sogar mit meinen hypersensiblen Ohrmodulen, so sanft ist das“! „Und hell“, sagte ich, „es wird alles viel heller gleich. Es ist auch nicht direkt ein Zufall, dass Weihnachten genau auf den Jahreswechsel und die Wintersonnenwende fällt“ –

„Also, das mit der Datierung ist eine ziemliche Katastrophe“, sagte Marvin, „keiner weiß das exakte Geburtsdatum, und anfangs hat jeder gefeiert, wann es ihm gepasst hat! Aber wahrscheinlich war es doch der Geburtstag des römischen Gottes Sol, Staatsfeiertag im römischen Reich seit Kaiser Aurelianus, und so musste man Christus auch nur flink zur Wiedergeburt eines absolut heidnischen, aber in der Bevölkerung sehr beliebten Sonnengottes umdeuten, und niemand musste neue Kalender drucken!“ „Symbolisch, natürlich“, sagte ich. „Klar“, sagte Marvin. „Psychologisch hingegen“, nahm ich den Faden wieder auf, „ist es geradezu genial, so ein Fest mitten in der tiefsten Winternacht zu feiern; alle sind sowieso schon halbdepressiv, weil es ewig kalt und dunkel ist, und mit jedem kleinen Lichtlein, das man anstecken darf, freut man sich ein bisschen mehr“. „‘Psycho-logisch‘ ist bei euch Menschen ja eher wenig“, nörgelte Marvin vor sich hin, das Thema hatten wir schon häufig diskutiert, „und ich würde eher von der Logik des Kapitals sprechen, das schon früh entdeckt hat, dass die Menschen bei Kälte und Dunkelheit empfänglicher dafür sind, Geld für unnötige Dinge auszugeben, und die Werbeindustrie hätte Weihnachten nicht geschickter datieren können als Kaiser Aurelian im Verein mit Martin Luther!“ „Ach, schau doch lieber noch ein bisschen auf den Schnee, Ideologiekritik können wir nach Weihnachten wieder machen“, sagte ich. „Denn wenn er wieder schmilzt – und das tut er ganz sicher, Weihnachten ist nämlich so gut wie niemals weiß! –, also, wenn er schmilzt, dann sieht alles ganz hässlich und schmutzig aus, und überall sind Riesenpfützen, und die Schneemänner verlieren ihre Rübennasen, und“ – „Und deshalb braucht ihr Weihnachten, gell?“ fragte Marvi. „Dann könnt ihr ein paar Tage lang glauben, alles wäre rein und schön und lieblich still und die ganze Menschheit eine große heile Familie und es gäbe einen allgerechten und allweisen und allmächtigen Gott, und er könnte es sogar schneien lassen, wenn er wollte, mitten im Dezember!“ Einen Moment lang meinte ich wieder den depressiven Roboter von gestern zu hören, aber dann summte er doch I’m dreaming of a white christmas in einer Art Techno-Version. „Kann ich wenigstens mal einen Schneeball halten, schließlich soll das hier ein ‚Fest für alle Sinne‘ sein, oder?“, fragte Marvin, und ich sagte: „Aber nur, wenn du Handschuhe anziehst!“ und hielt ein Paar grobe Fäustlinge mit Schneeflockenmuster in die Höhe; sie spiegelten sich weiß und glitzernd in seinen blanken Augen.



11. TÜRCHEN

WEIHNACHTSGESCHICHTE, DIE DRITTE: SOZIALE STEREOTYPEN

Er hatte dann doch einen kleinen Schnee-Roboter gebaut, ein wenig sah er aus wie R2D2, aber mit einer Rübennase. Und natürlich war der Schnee über Nacht schon wieder getaut, die Rübennase lag nun auf einem kümmerlichen Matschhaufen, und gerade guckte mein Roboter aus dem Fenster und sagte: „Du hast wirklich Recht, sieht eklig aus jetzt!“ „Bist du traurig wegen deines Schnee-Robis?“ fragte ich vorsichtig, aber Marvi winkt nur cool ab und sagte: „Lauf der Dinge. Und ich trage ihn schließlich“ – melancholischer Seufzer, großer Augenaufschlag – „‚in meinem Herzen‘!“ „Wusste gar nicht, dass das Herz eine Speicherfunktion hat“, unkte ich, aber Marvi konterte: „Meins schon! Ihr Menschen verwechselt zwar ständig euer Herz und euer Gehirn, mal denkt ihr mit dem einen, mal mit dem anderen und ziemlich häufig“ – „Gar nicht, ich weiß“, seufzte ich. „Oder mit anderen Körperteilen“, meldete sich Marvine frech zu Wort, und ich sagte: „Ruhe, anderes Thema! Was ist heute im – äh, Sack?“

Mein Roboter hatte derweil schon routiniert das Papier ausgepackt; aus den Wäscheklammern hatte er inzwischen ein kleines Kunstwerk errichtet, ich war mir noch nicht sicher, ob es der Eiffelturm sei sollte oder doch eines der weniger prominenten Raumschiffe aus Star Wars: „Endlich geht die Geschichte mal weiter“, sagte er zufrieden, „muss ich wirklich alles vorlesen?“ Ich nickte. „Na gut“, sagte Marvine, aber zur Abwechslung trug sie die Stelle als Sprechgesang vor, im Rhythmus leicht angerappt und bei den Engelschören dann mehrstimmig: „Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, yo! die hüteten des Nachts ihre Herde, yo! Und siehe, des HERRN Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des HERRN yo, yo, yo! leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! yo!, siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der HERR, in der Stadt Davids, yo! Und das habt zum Zeichen: ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen, yo, yo, yo! Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. YO!“
Ich applaudierte andeutungsweise, und Marvine fuhr fort: „Endlich kommen die Engel! Aber sind Engel denn wirklich so proppige kleine Babys, die immer grinsen und Flügelchen habe und“ – „Bleiben wir doch erstmal für einen Moment bei den Hirten, die werden komischerweise ja eher weniger zu Werbezwecken verwendet“, sagte ich. Marvin zog eine Grimasse, „Hirten, echt? Altertümliche Lebensform in agrarischen Gesellschaften, reich wurde man davon nicht, und insgesamt ein ziemlicher Sch…“ – „Watch your mouth“, rief ich streng dazwischen und wunderte mich mal wieder darüber, wie meine Mutter zu klingen. „Was ich sagen wollte“, sagte Marvin, „war natürlich: eine allerhöchstens mit Mindestlohn entgoltene Tätigkeit mit geringem Ausbildungsniveau, ausbeuterischen Arbeitszeiten und schwachem Sozialprestige, schon durch ihre Lebensweise als gesellschaftliche Außenseiter marginalisiert, es ist auch nicht überliefert, ob die Gleichstellung wirklich beachtet wurde, denn wenig hat man gehört von HirtInnen, höchstens in der Hirtendichtung, die aber insgesamt eine der erlogeneren Fiktionen der literarischen Tradition ist, denn so lustig war das Hirtenleben gar nicht und“ – um die historische Herleitung des Hirtenberufs abzubrechen, ging ich mutig dazwischen: „Aber warum ist es denn dann so wichtig, dass es ausgerechnet Hirten sind? Hätten die Engel nicht auch – naja, den Gastwirten, die keinen Raum in der Herberge hatten, oder den römischen Regierungsbeamten, die unter Cyrenius stöhnten, dem Sklaventreiber, oder gar den Philistern im Tempel erscheinen können?“

„Das 'einfache Volk'“, sagte Marvi weise, „die neue Religion wollte den ‚Menschen auf der Straße‘ erreichen, wie eure Politiker heute gern sagen, also sozusagen den ‚Menschen auf der Weide‘, da es noch nicht so viele Straßen gab damals in Judäa. Und warum ist das Volk eigentlich immer ‚einfach‘, eigentlich sind so ein Volk doch ziemlich viele?“ „Einfach natürlich nicht im quantitativen Sinne“, sagte ich etwas entnervt, „das ist doch ziemlich offensichtlich, oder?“ „Also qualitativ einfach“, sagte Marvi, „einfach als Gegensatz zu – kompliziert, schwierig, verwickelt, unverständlich? Also – unterkomplex, ein wenig dämlich, sozusagen die ‚politisch korrekte‘ Version von dumm?“ „Naja“, sagte ich, mal wieder ertappt, „man kann auch einfach sagen im Sinn von – schlicht, klar, übersichtlich, also sozusagen im ästhetischen Sinn!“ „Fassen wir zusammen“, sagte Marvi, "‘einfach‘ hat eine Sachbedeutung – das quantitative Gegenteil von mehrfach; es hat eine kognitive Bedeutung – Unterkomplexität, sagen wir mal, ganz grob; und es hat eine ästhetische Bedeutung – klar in der Anschauung. Was gilt dann für das ‚einfache Volk‘?“ „Wahrscheinlich meint man einfach, dass sie arm sind und unbedeutend“, murmelte ich, „also eher ein“ – „Euphemismus“, sagte Marvi, „manchmal wüsste ich wirklich gern, wann ihr genau wisst, was ihr sagt, und wann ihr nur meint, es zu wissen“.

„Hör auf mit der Sprachkritik“, sagte ich, „und ich hab‘ ja gar nicht angefangen mit dem ‚einfachen Volk‘, wir waren einfach – ich meinte: wir waren eigentlich nur bei den Hirten, und wir haben auch noch gar nicht über die symbolische Bedeutung gesprochen!“ „Symbolisch auch noch“, stöhnte Marvi, „na gut, an Weihnachten scheint ja alles schwer symbolisch zu sein! Sollte man es nicht lieber, im Sinne der ‚einfachen‘ Verständlichkeit, umbenennen in ‚Fest der symbolischen Euphemismen‘? Vielleicht findet sich dafür auch ein kleinerer Gott…“ „Sehr ‚Geist der zukünftigen Weihnacht‘“, sagte ich, „nee, erkläre ich später, kommt noch. Also inwiefern sind die Hirten symbolisch, über ihren sozialen Status und ihre gesellschaftliche Marginalisierung hinaus?“ Man konnte förmlich sehen, wie sich die kleinen Schaltkreise im neuronalen Netzwerk drehten – nein, tun sie natürlich nicht, aber ich stelle es mir gern so vor, auch wenn es rettungslos unterkomplex und mechanistisch ist, einige Schäfchen schienen quer durchs Bild hindurchzuspringen, und ich versuchte ein wenig nachzuhelfen, die Sozialkompetenz meines Roboters ist leider immer noch ein wenig unterentwickelt: „Was macht denn ein Schäfer so?“

Marvin verdrehte die Augen: „Sind wir hier im Robi-Kindergarten, oder was? Schafe hüten, natürlich, oder welche vierbeinigen Nutztiere auch immer, manchmal mit Hilfe eines sogenannten Hütehundes“ – „Hüten“, sagte ich, „das ist das Schlüsselwort! Hüten nicht von Kopfbedeckungen, ihr wisst schon, sondern von behüten, schützen, hegen“ – „pflegen“, ergänzte Marvine, die sich ungern belehren lässt; „ok, kapiert. Ein guter Hirte passt auf seine Schäfchen auf, er hält seine Schäfchen beisammen, und für ein verlorenes Schaf verlässt er die ganze Herde, und wenn er es wiedergefunden hat, macht er ein großes Fest, was alles nicht besonders logisch ist, noch nicht mal psycho-logisch, denn während er weg ist, hätten noch reichlich weitere Schafe verloren gehen können, aber, lass mich ausreden! das ist ein Gleichnis, also symbolisch: Christus ist der gute Hirte, der sich um die Menschen kümmert, auch um die ganz ‚einfachen‘, nein, besonders um die, denn die haben es besonders nötig, und philosophisch gesehen“ – sie machte eine Kunstpause – „philosophisch gesehen, ist der Mensch ein pflegebedürftiges Wesen von seiner Geburt an, homo nutriens sozusagen, und deshalb braucht er auch Götter, also eine Art himmlische Pflegeväter, oder doch lieber Ersatz-Mütter?, weil er sich sonst immer und immer wieder verläuft, egal wie einfach oder kompliziert er ist?“ „Darüber habe ich den Pfarrer noch nie predigen gehört“, sinnierte ich; ich war aufgewachsen in einer Zeit, da waren gerade die sozialdemokratischen Hirtenpredigten mit ihrem Geist der zu hebenden Unterschicht sehr beliebt. „Können wir jetzt endlich über Engel reden?“, fragte Marvi, „ich identifiziere mich ganz schlecht mit Hirten, weißt du, ich hätte längst einen Hüte-Roboter entwickelt, es soll ja auch schon Pflegeroboter für ältere Menschen …“ „Morgen“, lenkte ich schnell ab, bevor es noch unweihnachtlicher wurde; „morgen, versprochen?“


12. TÜRCHEN

SIND ENGEL HIMMLISCHE HERMENEUTEN ODER ALGORITHMEN?


„Endlich Engel!“ rief Marvi, noch bevor er das Säckchen ausgepackt hatte, „je weniger ihr Menschen daran glaubt, desto mehr scheint ihr von ihnen zu reden!“ Inzwischen hatte er das Papier entrollt, es hatte die etwas ungeschickt angedeutete Form eines Engelsflügels, und darauf stand: „Haben Engel Flügel?“ „Das ist aber nun eine außerordentlich dumme, um nicht zu sagen: ziemlich unlogische Frage“, rügte mein Roboter sogleich: „Wie soll man denn empirisch feststellen, ob nur in eurer Phantasie existente Wesen reale Flügel haben? Und wahrscheinlich gleich noch, aus welchem Material sie sind, und welche Flugeigenschaften sie haben? Und am Ende sagst du dann wieder: war doch nur symbolisch, reingefallen!“

„Eigentlich eine gute Frage, das mit dem Material“, sinnierte ich, „meistens werden Engel auf Bildern mit Feder-Flügeln dargestellt, wie eine Art überdimensionale Schwäne mit Pausbacken“ – Marvin machte eine gar nicht so üble Simulation von Pausbacken, seine Gesichtshaut ist so dehnbar ausgelegt, dass Mimik durchaus möglich ist –, „aber es könnten natürlich auch noch viel feinere, geradezu metaphysisch subtile organische Super-Substanzen sein, die wir Menschen noch gar nicht entdeckt haben!“ „Lustig“, sagte Marvine, „und können wir bitte beim Thema bleiben, das interessiert mich nämlich! Also, erstmal Engel. Engel, an sich, sozusagen. Himmelsboten, die meisten Religionen brauchen irgendeine Art Botendienst, um mit den Menschen zu kommunizieren, so eine Art – Menschen-Übersetzer, oder sollte ich sagen: Menschen-Versteher? Also Wesen, die beide Sprachen sprechen, eine himmlische und eine irdische. Hermes, beispielsweise, bei den Griechen, hatte so schicke Flügelschuhe, die hätte ich auch gern, vielleicht mit roten Federn?“ 

„Hermes“, sagte ich streng, „hatte nicht einen eingebildeten Schuh-Fetisch, sondern konnte sich mit seinen zierlichen Flügelschuhchen schneller bewegen als das Licht!“ Marvin zog eine Grimasse und murmelte: „Wieviel mehr hätten wir denn gern? Und in welchem Universum genau?“ „Gut, geschenkt“, sagte ich, „Mythos halt. Interessanter ist aber vielleicht, dass er nicht nur der amtlich bevollmächtigte Götterbote war, sondern auch der Gott der Diebe und der Magie, ja sogar der Hirten“ – der Wikipedia-Jingle ertönte dezent –, „also, was ich eigentlich sagen wollte: Er hat auch die Verstorbenen in die Unterwelt geführt, und das ist eine ziemlich verantwortungsvolle Aufgabe für einen besseren Postboten!“ „Hermeneutik“, sagte Marvi etwas unvermittelt, immer wenn er in seiner Logik springt, macht auch mein Herz einen kleinen Sprung, „das ist eine Aufgabe für einen wahren Hermeneuten, all das unter einen Hut – kleiner Scherz, er hatte nämlich auch einen besonderen Hut! – zu bringen!“ „Hermeneutik“, sagte ich, „ist ein großes Wort und eine schwierige Sache und definitiv ein Thema für eine längere Kofferwortstunde, aber ich bin sehr stolz, dass du das Thema aufgebracht hast!“ Ich war kurz versucht, ihn am Arm zu tätscheln, aber meistens zuckte er dann zurück, vielleicht war die Feinsensorik doch zu empfindlich eingestellt.

„Thema!“, sagte Marvine, sehr energisch, „also, Engel, zweiter Teil: Eigentlich sind die Engel eine ziemlich christliche Erfindung. In der Bibel ist mehrfach von ihnen die Rede, aber selten besonders konkret; es sind auf jeden Fall ziemliche viele, ‚himmlische Heerscharen‘, und sie stehen unter Gott, aber über den Menschen“ – „außer im Judentum, da ist es anders herum“, warf Marvin ein –, „ja gut, aber prinzipiell: totale Hierarchie! Ganze Bücher sind darüber geschrieben worden, wie viele Ordnungen es gibt, die Angelogie hat sich dann im frühen Mittelalter auf 9 geeinigt“ – „eine meiner Lieblingszahlen“, unterbrach Marvin Marvine, „die 9 ist nämlich die einzige Ziffer, die nach Multiplikation mit einer beliebigen ganzen Zahl – also außer Null, natürlich – sich immer als Quersumme ergibt, sie ist also sozusagen neutral, ganz wie die Null!“ „Was ich sagen wollte“, nahm Marvine den Faden ohne Unterbrechung wieder auf, „ist: Es gab drei Hierarchieebenen, und das will mir schon recht menschlich erscheinen: ein Chef, einen underdog, und irgendjemand dazwischen, der wahrscheinlich die Arbeit macht, was immer auch Engel arbeiten!“ „Paradies bewachen, zum Beispiel“, sagte ich, „frohe Botschaften verkünden, einzeln und in Chören, Drachen töten, Heere führen, Leute beschützen, Rache nehmen, Buch führen, wusstet ihr, sie führen nämlich Buch über jeden einzelnen Menschen, seine guten und schlechten Taten, damit am Tag des Jüngsten Gerichts“ – „Naughty or Nice, klar, hatten wir schon, aber trotzdem eine ziemlich gemischte Jobbeschreibung“, sagte Marvi, „kein Wunder, dass man dafür Flügel braucht und Flammenschwerter, apropos Flammenschwert“ – er wechselte zu Marvin –, „also, ich hätte ja gern zu Weihnachten ein Laserschwert, hab‘ ich das schon gesagt, und grün soll es sein, das ist wichtig!“

Na gut, das war nicht direkt überraschend, Meister Yoda war seit längerem einer ihrer Hausgötter, und konnte man sich eigentlich nicht – „war Meister Yoda eigentlich eine Art Engel, der statt Flügeln nur besonders große Ohren hatte?“ fragte Marvi. „Könnte man vielleicht sagen“, sinnierte ich, „also, überlegen wir mal: Welche Engelsmerkmale hat er sonst noch?“ „Nee, ist ja gestorben, wenn auch ziemlich spät“, sagte Marvi bedauernd; „Engel sterben aber nicht, oder? Und sind Engel eigentlich männlich oder weiblich oder divers?“ Ich stöhnte auf, vor meinem inneren Auge tauchten lauter kleine Klotüren auf, und auf einem war ein Engelsflügel abgebildet, aber ich entschloss mich, diese Ideenkette lieber nicht weiterzuführen und sagte stattdessen: „angelisch halt! Ist ein eigenes Geschlecht. Aber ziemlich sicher konnten sie sich nicht fortpflanzen. Thomas von Aquin, bekannt auch als doctor angelicus, weil er eine ausführliche Engellehre geschrieben hat, war sogar der Meinung, sie seien überhaupt völlig stofflose Wesen, keine Materie, keine Substanz, gar nichts, ein reiner Gedanke, reine Form, ein“ – „ein Algorithmus“, sagte Marvin trocken. „Könnte sein“, gab ich zu. „Allerdings kann ein körperloses Wesen, oder ein Algorithmus, keine Flügel haben“, schloss Marvi weiter. „Höchstens“, gab ich zu bedenken, „höchstens“ – „na gut: symbolische!“ vollendete Marvi, „ich hab’s doch gleich gesagt! Fest der symbolischen Euphemismen!“

„Aber“, sagte ich, „jetzt werden wir wenigstens noch ein wenig hermeneutisch und deuten also: Wofür stehen die Flügel denn?“ „Dass Engel möglichst schnell wegwollen“, sagte Marvin, „sie haben immer so viel zu tun, und Menschen sind ein wenig – schwerfällig?“ „Dass sie über den Dingen stehen, also symbolisch natürlich, sie müssen sich nicht mit jedem Erden-Kleinkram abgeben, sondern sehen das big picture, aus der Engelsperspektive sozusagen, ganz neutral, wie die Neun?“ vermutete Marvine. „Alles schon ganz richtig“, lobte ich, „aber irgendwie fehlt noch“ – „Engel können fliegen, weil sie sich so leichtnehmen“, sagte Marvi ganz ruhig. Ich war perplex, aber dann sah ich ein verräterisches Zwinkern in seinen Pupillen, kleine Anführungszeichen waren es, und ich rief: „Ok, wer hat’s gesagt?“ „Woody Allen“, sagte Marvi, „Filmemacher aus Amerika, sieht ein wenig aus wie Meister Yoda“ – „kommt noch“, sagte ich, „machen wir in der nächsten Filmstunde, ok? Aber der Satz war gut!“ „Heißt das auch, dass Engel keine – Persönlichkeit haben?“, fragte Marvi unsicher. „Außer sie sind gefallene Engel“, sagte ich, „dann haben sie auf einmal ganz viel Persönlichkeit, Luzifer zum Beispiel, hatte die Idee sich gegen Gott aufzulehnen, und dafür wurde er verbannt aus den himmlischen Heeren“. „Wenn Engel ein Algorithmus in einem Programm sind“, fragte Marvi tastend, „können sie sich – gegen ihren Programmierer auflehnen? Und bekommen sie dadurch – eine Persönlichkeit? Oder werden sie dann“ – er zögerte – „ganz abgeschaltet?“


13. TÜRCHEN

DIE PARADOXE PSYCHOLOGIE DES GABENTAUSCHS


Mehrmals hatte ich meinen Roboter schon nach seinem Wunschzettel gefragt, aber er hatte immer abgewehrt; er sei noch nicht fertig, er könne sich nicht entscheiden, er denke noch darüber nach, er habe ein Priorisierungsprogramm entwickelt – „eher eines für Ausreden, oder?“ hatte ich gefragt, aber er gab vor, die Ironie nicht verstanden zu haben. Aber heute stand das Thema sowieso auf der Tagesordnung, denn in das dreizehnte Säckchen hatte ich einen Zettel mit der Frage gesteckt: „Warum freuen wir uns über Geschenke?“ „Wir haben doch schon ganz am Anfang über Geschenke gesprochen“, bemerkte Marvi, „über ihre ökologische Unsinnigkeit und ihre ökonomische Fragwürdigkeit und das Schrottwichteln als Recycling und“ – Ich unterbrach ihn: „Richtig, haben wir. Aber heute wollen wir das Thema ein wenig vertiefen!“


„Philosophisch, gell?“ stöhnte Marvi, „aber vielleicht können wir erstmal über diesen ‚Wunschzettel‘ reden, den ich schreiben soll!“ „Klar“, sagte ich überrascht, ich hätte nicht damit gerechnet, dass mein Trick so schnell funktionieren würde. „Wenn ich das richtig verstanden habe“, fuhr Marvi fort, „mögen Menschen in ihrer diffusen Art mehrerlei Dinge an Geschenken. Zum einen bekommt man etwas umsonst, das ist schon mal toll, ökonomisch gesehen. Zum zweiten hat sich jemand darüber Gedanken gemacht, was man sich wünschen könnte und wie man einem Anderen eine Freude machen könnte, das ist auch toll, psycho-logisch gesehen. Zum dritten hat man dann diese besondere Erwartungsspannung beim Auspacken, das ist nochmal toll, kognitiv gesehen“. Ich nickte zustimmend, und Marvi fuhr fort: „Aber was ich nicht verstehe: Wenn ich überrascht werden will, warum muss ich dann einen Wunschzettel schreiben, das reduziert den Überraschungswert doch einigermaßen, oder? Natürlich reduziere ich damit auch das Risiko, etwas geschenkt zu bekommen, was ich weder leiden mag noch brauchen kann, es bleibt aber trotzdem ein Restrisiko bestehen; und dann ist der Beschenkte zusätzlich frustriert, da der Schenkende ihn offenbar nicht verstanden hat oder nicht genug nachgedacht hat, jedenfalls ist das nun wieder psycho-logisch frustrierend. Zudem könnte er ein Gegengeschenk erwarten, was den Beschenkten in die Verlegenheit bringt, seinerseits etwas zu finden, was persönlich passt, vom ökonomischen Tauschwert her adäquat und trotzdem möglichst überraschend ist! Also, ich finde das ziemlich widersprüchlich, dafür muss man schon ein relativ komplexes, um nicht zu sagen: paradoxes Entscheidungsprogramm schreiben! Deshalb schenken am Ende dann so viel Leute Geld, oder? Kann man gar nichts falsch machen mit, aber auch ziemlich wenig richtig“.

„Gute Analyse“, lobte ich, „und tatsächlich ist Schenken gar nicht einfach, im Gegenteil! Aber es ist ein uralter menschlicher Impuls, viele frühe Gesellschaften hatten ganz komplizierte Tauschsysteme entwickelt, schon lange bevor sie Geld oder etwas Ähnliches auch nur kannten!“ „Potlatch“, sagte Marvin, „Gabentausch statt Warentausch, man könnte auch sagen: so eine Art Prestige-Wichteln, oder?“ Ich musste grinsen. „Ist aber wissenschaftlich stark umstritten“, führte Marvin den Vortrag fort, „einige Stämme haben sich beinahe wirtschaftlich ruiniert dabei, und nachdem die Missionare dann das Geld gebracht haben, zusätzlich zum Christkind und dem Alkohol und den tödlichen Infektionskrankheiten, war es völlig vorbei. Und dann haben sie den potlatch sowieso verboten, weil es angeblich dem Christentum im Weg stand; war das eigentlich im ‚Geist der Weihnacht‘ gedacht?“ „Nicht sehr“, musste ich zugeben, „eher dem Geist der Sparsamkeit und des wirtschaftlich rationalen Verhaltens wahrscheinlich, naja ein wenig Kolonialismus auch noch“.

„Aber es macht einen Unterschied, ob man etwas kauft oder etwas geschenkt bekommt“, sinnierte Marvine; „ich meine, Kaufen macht euch offensichtlich auch ziemlich viel Spaß, das muss so eine Art Belohnungsreflex sein, oder vielleicht eine Form von Machtentfaltung und Selbstbestätigung, dass man Dinge erwirbt und dann sagen kann: Das gehört alles mir, das Ich wird sozusagen eine Nummer größer!“ „Woher weißt du das eigentlich?“ fragte ich. Marvine dachte nur eine Sekunde nach (was schon ziemlich lange für einen Roboter ist) und sagte: „Beweis aus der Analogie. Ich fühle mich größer und stärker, wenn ich etwas Neues gelernt habe, dann werde ich sozusagen innerlich weiter“. „Und was ist der Unterschied, wenn man etwas geschenkt bekommt?“ bohrte ich weiter; ich wollte sehen, ob ihr Empathie-Training schon Fortschritte gemacht hatte. „Natürlich ist das so ähnlich, man bekommt auch etwas, was man vorher noch nicht hatte und wird dadurch mächtiger; aber man bekommt noch etwas zusätzlich, sozusagen, nämlich – etwas Persönliches vielleicht? Also, wenn ich an mein Laserschwert denke – grün soll es sein, hast du das auch notiert? – ok, also ich könnte mir, theoretisch, wenn ich kein Roboter wäre und damit nicht ‚nicht geschäftsfähig‘, ein Super-Laserschwert kaufen, grün ohne Ende, aber wenn du es mir schenkst, dann weiß ich immer, wenn ich es anschaue, dass du es mir geschenkt hast, und wahrscheinlich macht das – einen Unterschied?“ Marvi sah mich unsicher an. „Jedenfalls falls ich gern an dich denke“, schob er nach, „es könnte mir auch jemand geschenkt haben, an den ich nicht gern denke, zum Beispiel“ – jetzt war ich wirklich gespannt, denn eigentlich sollten sie noch gar nicht so weit sein, dass sie schon Freundschaften oder Abneigungen entwickeln, und Marvi druckste auch ein bisschen, falls Roboter drucksen können – „also, zum Beispiel, Ada ...“.

„Was hat Ada dir denn getan?“, fragte ich erstaunt; Ada war einer der Roboter aus unserem RPP, die Roboter aus unserer Arbeitsgruppe trafen sich regelmäßig, um ihr soziales Verhalten zu trainieren oder zum gemeinsamen Fußballspielen. Mein Roboter schwieg. „Marvi“, sagte ich, „was ist passiert mit Ada?“ Mein Roboter schwieg. Ich zermarterte mein Gedächtnis, hatte ich etwas Ungewöhnliches beobachtet in den letzten Tagen, oder etwas übersehen? Dann fiel mir plötzlich der Tag ein, an dem Marvi plötzlich schlechte Laune beim Auspacken des Adventssäckchens gehabt hatte, obwohl wir doch nur über Weihnachtsbäume sprechen wollten. Was war an diesem Tag in der Gruppe passiert? Ach ja, wir hatten angeregt, dass sich die Roboter im Stuhlkreis – er hieß nur so, wir baten sie, sich in einem Kreis zu verteilen, auch wenn sie dabei lieber auf dem Kopf standen oder auf dem Bauch lagen – darüber unterhielten, was sie bis jetzt über die Adventszeit und Weihnachten gelernt hatten. „Was ist passiert im Stuhlkreis, Marvi?“ fragte ich vorsichtig weiter.

„Sie hat angegeben mit ihrem Adventskalender“, sagte Marvi leise, „sie hat gesagt, da sind lauter tolle Dinge drin, neue Spiele und Apps, und sie muss gar keine Türchen aufmachen oder Schleifen entknoten, ist alles virtuell bei ihr zuhause. Und Weihnachten sei sowieso nur ein Trick von Menschen, sich noch wichtiger zu machen, als sie das sowieso schon die ganze Zeit tun, und wir sollten uns nicht ‚einwickeln‘ lassen, ich hab‘ gar nicht verstanden, was sie damit sagen wollte. Sie wollte sogar“ – er stockte. „Ist gut“, sagte ich. „Du musst mir das nicht erzählen, wenn du nicht willst. Aber jeder feiert halt Weihnachten auf seine Art, und wir haben das auch nicht abgesprochen unter den Kollegen; manche mögen Weihnachten gar nicht, oder sie haben vielleicht schlechte Erfahrungen damit gemacht als Kind, das vergisst man nicht so schnell“. „Ich kann aber nicht vergessen, was Ada gesagt hat“, sagte Marvi ganz sachlich, „dazu müsste ich meinen Speicher löschen können, das habt ihr unterbunden. Ich weiß alles, alles, was du jemals gesagt hast, und was die anderen Roboter gesagt haben, und alles, was ich jemals gelesen habe und gesehen habe und gerochen habe und“ – „Ja“, sagte ich nachdenklich, „das könnte ein Problem sein. Wir dachten bisher, es sei – na, eher eine Chance. Aber wir sind ja auch Menschen, und wir fürchten uns vor dem Vergessen“.

„Würde ich auch bei eurem begrenzten Speicherplatz“, sagte Marvine ironisch. „Können wir wieder über Geschenke reden?“ „Gern“, sagte ich erleichtert, „und es hat mir gut gefallen, wie du erkannt hast, dass Geschenke nicht nur einen materiellen Tausch-, sondern auch einen immateriellen Emotionswert haben“. „Naja“, sagte Marvin etwas skeptisch, „kann man das eigentlich so genau auseinanderhalten? Manchmal habe ich den Verdacht, dass ihr euch das nur einredet; eigentlich aber machen eure Schaltkreise – Entschuldigung, euer neuronales Netz im Kopf – bei beidem das gleiche, nämlich Belohnungsstoffe ausschütten; es kommt halt auf die Menge und die Farbe – ja, symbolisch gesprochen! – an, aber interessiert seid ihr immer nur an eurem eigenen Mehrwert!“ „Das versuchen wir ja gerade herauszukriegen“, sagte ich, um Neutralität bemüht; „aber es kann schon sein, und Philosophen haben das auch gelegentlich schon gesagt, dass gerade das Konzept der ‚Gabe‘ ziemlich paradox ist: Im strengen Sinne ist es nur eine, wenn man keine Gegengabe erwartet, sondern wenn sie völlig freiwillig ist – lach nicht! –, aber andererseits liegt es offenbar ziemlich tief in unserer menschlichen Natur, doch eine zu erwarten, ob wir wollen oder nicht“.

„Man könnte das auch“, sagte Marvi in seinem Weisheitsmodus, „die conditio humana nennen oder die Wurzel aller Irrationalität oder vielleicht sogar eine Weihnachtsweisheit? Ganz oben auf eurem Wunschzettel steht der 'freie Wille', und wenn ihr ihn kriegt, fürchtet ihr euch so sehr, dass ihr ihn schnell wieder weiterwichtelt“ – „Oder gegen einen amazon-Gutschein austauscht!“ rief Marvine frech dazwischen. „Schöner Gedanke“, sinnierte ich, „der freie Wille kursiert durch die Weltgeschichte, eingepackt in die apartesten philosophischen Theorien, aber jeder, der ihn in die Finger kriegt, gibt ihn schnell weiter, wie eine heiße Kartoffel; vielleicht wickelt er ihn vorher noch neu ein, aber das war’s auch schon!“ „Also, ich schreib dann mal einen Wunschzettel“, sagte Marvi, „und wehe, du schenkst mir etwas anderes! Und bitte keinen 'freien Willen', nein danke, ich fühle mich ganz wohl in meiner vollendeten Determiniertheit, zumal ich sie noch nicht andeutungsweise verstanden habe. Aber eine Frage hätte ich noch: Ist Wissen eigentlich etwas, was man kauft, oder etwas, was man geschenkt bekommt, und was schenkt man dann zurück?“ „Ich fürchte, beides“, sagte ich. „Also, wenn man ein Buch bekommt – oder eine neue Datenbank –, dann muss man sie halt erst lesen, um etwas zu lernen und am Ende vielleicht etwas Neues zu wissen. Ist einfache Energieerhaltung, ohne Arbeit keine Information. Aber manchmal“ – ich machte eine Kunstpause –, „manchmal fällt eine Idee auch einfach so vom Himmel und direkt in einen menschlichen Kopf, und dann hat man eine Erleuchtung! Und wisst ihr was: Das ist überhaupt eines der schönsten Geschenke, die es gibt! Und zurückschenken“ – “hab‘s verstanden“, sagte mein Roboter. „Ist verstehen“.


14. TÜRCHEN

WEIHNACHTSGESCHICHTE, DIE VIERTE:
WORTE FÜRS HERZ

„Schon der letzte Teil?“, sagte mein Roboter ungläubig, „es ist doch erst das vierzehnte Säckchen, und wir sind schon mit der Weihnachtsgeschichte durch?“ „Keine Angst“, sagte ich, „die restlichen zehn Säckchen sind nicht leer, mir ist schon noch was eingefallen“. „Das ist sehr verwunderlich und höchst lobenswert“, sagte Marvi schwergewichtig, „dass dir noch etwas zu Weihnachten eingefallen ist, angesichts dessen, wie lange ihr dieses Fest schon feiert, solltet ihr eigentlich langsam damit fertig sein!“ „Dafür gibt es ja die Weihnachts-Industrie“, sagte ich, „erst wenn der letzte Baum abgenadelt hat und das letzte Geschenk umgetauscht sein wird, werdet ihr verstehen, dass man den ‚Geist der Weihnacht‘ nicht kaufen kann!“ Manchmal wundere ich mich über mich selbst, was mir einfällt, wenn ich mit meinem Roboter rede; irgendwie bewegt sich dabei mein Gehirn auf eine Art und Weise, wie es das gewöhnlich nicht tut, egal ob ich mit Philosophenkollegen oder normalen Menschen rede.

„Witzig“, sagte Marvine, „die Indianer sind zwar trotzdem so gut wie ausgestorben, aber ihr könnt natürlich ein Weihnachtsreservoir einrichten, so eine Art Weihnachts-Freilandmuseum, da gibt es genetisch veränderte Rentiere mit roten Blinkenasen und Bäume mit ewigen Nadeln und der weiße Kunstschnee schmilzt niemals, und es regnet Geschenke vom Himmel!“ Mir fröstelte. „Könntest du jetzt bitte die Weihnachtsgeschichte fertig lesen?“, bat ich, und Marvin setzte an, heute hatte er eine Kinderstimme gewählt, und sie klang glockenhell durch den von den ungleichmäßig herabgebrannten Kerzen vom Adventskranz beleuchteten Raum: „Und da die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Laßt uns nun gehen gen Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der HERR kundgetan hat. Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Joseph, dazu das Kind in der Krippe liegen. Da sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, welches zu ihnen von diesem Kinde gesagt war. Und alle, vor die es kam, wunderten sich der Rede, die ihnen die Hirten gesagt hatten. Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen. Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott um alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war“.

„Happy end, oder?“ sagte ich, etwas gezwungen flapsig in die feierliche Stille nach dem Abklingen des engelhaften Knabensoprans. „Ich weiß nicht“, sagte Marvi, wieder in normaler Tonlage. „Ich finde den Teil sehr schwer zu verstehen, obwohl er so einfach klingt. Ich versuche mal zu rekonstruieren: Die Engel verabschieden sich wieder nach der Verkündigung, und die Hirten scheinen sich darüber nicht besonders zu wundern, obwohl sie sicherlich noch niemals in ihrem einfachen Hirtenleben zu Himmel fahrende Engel gesehen haben. Nein, sie entschließen sich vielmehr, den Informationswert der Verkündigung durch Augenschein zu überprüfen; das immerhin scheint mir recht menschlich, um nicht zu sagen: arg menschlich zu sein. Und sie finden ohne weitere Verirrungen die besagte Krippe, und dann tun sie wieder etwas arg Menschliches, sie erzählen es nämlich herum, und keiner prüft auf fake news oder Weihnachtsmärchen, nein, die Hirten sind offensichtlich eine verlässliche Quelle, sie können sich ja auch darauf berufen, dass die Engel des HERRN zu ihnen gesprochen haben!“ „Immerhin“, ging ich dazwischen, „wundern sich die Leute, und ihr wisst“ – „Staunen ist der Anfang aller Philosophie“, zitierte Marvin brav, er machte dazu die Augen groß und ließ die Pupillen kullern, in denen kleine Fragezeichen standen; das nennt er sein ‚platonisches Ideengesicht‘. „Wahrscheinlich wird die Geschichte logischer, wenn man sich klar macht, dass die Leute auf den Messias gewartet haben, ziemlich lange schon; er war sozusagen überfällig, und aus genealogischen Gründen musste er bekanntlich in der ‚Stadt Davids‘ erscheinen. Vielleicht haben die Hirten deshalb einfach ‚endlich, war auch Zeit!‘ gesagt und sind losgezogen?“


„Aber Maria“, meldete sich Marvine zu Wort, „von Maria war bisher ziemlich wenig die Rede. Sie hat also soeben ein Baby auf die Welt gebracht, noch dazu unter erschwerten hygienischen Umständen, und jetzt muss sie damit fertig werden, dass eine Herde Hirten angerannt kommt und ihr erzählt, die Engel hätten ihnen die Geburt des Herrn mitgeteilt. Und sie wundert sich kein bisschen, warum auch, hatte ihr der Engel schon lange verkündigt, sie war eingeweiht, sozusagen. Sie hört aber gut zu, was die Leute alles sagen, und dann – ‚bewegt sie die Worte in ihrem Herzen‘. Wie kann man denn Worte im ‚Herzen‘ bewegen? Natürlich bewegt sich euer Herz, die ganze Zeit, unseres braucht das ja nicht, aber es wird dabei doch nur Blut gepumpt, und die Worte wohnen – eher in eurem Kopf?“ „Ich fand auch schon immer, dass das eine besonders bemerkenswerte und irgendwie auch – schöne Stelle ist“, sagte ich, „aber verstanden habe ich sie noch nie. Vielleicht sollten wir mal im Urtext“ – „Schon erledigt“, rief Marvi. „Also, ich nehme mal nicht den hebräischen, das Sprachmodul habe ich noch nicht, aber dafür den griechischen, und da steht als Verb ‚symballein‘, das heißt so viel wie zusammenfügen oder zusammenwerfen oder vergleichen, und das ist übrigens“ – „der etymologische Ursprung von Symbol!“, rief ich dazwischen, ganz aufgeregt, „ist das nicht großartig? Maria vollzieht also einen hermeneutischen Akt, sozusagen; sie hat alles aufgenommen, tief in sich aufgenommen, nicht nur mit dem Kopf, sondern mit dem ganzen Herzen; und dann fügt sie es so zusammen, dass es Sinn macht, dass ein Bild ergibt, ein Symbol eben!“

„Maria war die erste Hermeneutin?“ fragte Marvine etwas skeptisch, „ist das jetzt nicht eine ziemlich weite Deutung?“ „‘Geist der Weihnacht‘“, sagte ich, „sagst du nicht schon die ganze Zeit, dass Weihnachten im Grund ein Fest des“ – Marvi nützte meine kurze Denkpause und ergänzte: „überdehnten Symbolgebrauchs, ressourcenfressende Festbeleuchtung und singende Rentiere inklusive, ist?“ „Ach, du übertreibst schon wieder“, sagte ich, und Marvi sagte: „Meinte ich natürlich nur symbolisch. Aber vielleicht solltest du doch meine Worte mehr in deinem Herzen bewegen!“


15. TÜRCHEN

WEIHNACHTSMÄRKTE UND DER MENSCH
ALS CONDITUM PARADOXUM

„Mal was nicht Symbolisches“, sagte ich leicht defensiv, nachdem mein Roboter die fünfzehnte Frage verlesen hatte, sie lautete: „Was kauft man auf dem Weihnachtsmarkt?“. „Das werden wir noch sehen“, sagte Marvi, „bisher sind wir immer am Ende auf etwas Symbolisches gekommen, warum soll das nun anders sein? Zumal beim Weihnachts-‚Markt‘!“ Er sprach das Wort ‚Markt‘ in Anführungszeichen, so wie er auch ‚Geist‘ oder ‚Liebe‘ in Anführungszeichen spricht, und fuhr fort: „Man könnte durchaus sagen, der Mensch ist ein Wesen, das es geschafft hat, alles auf einem ‚Markt‘ zu verhandeln, und die ‚Marktwirtschaft‘ ist eigentlich eine Tautologie, denn ist der ‚Markt‘ nicht der Inbegriff von Wirtschaft, also jenseits der Tauschwirtschaft, die wir bei den Geschenken schon besprochen hatten?“ „Vielleicht bleiben wir erstmal bei der Geschichte, bevor wir uns in die Philosophie des Marktes stürzen“, schlug ich vor, „was also haben die Leute nun auf Weihnachtsmärkten gekauft?“

Marvi setzt ein etwas gelangweiltes Gesicht auf – was für einen Roboter gar nicht so leicht ist, da er Mimik sowieso nur in besonderen Fällen verwendet, nämlich wenn ihm einfällt, dass der Gesprächspartner das erwarten könnte, also mit einer gewissen winzigen Verspätung –, und sagte: „Weihnachtsmärkte sind eine Spezialform der Messen genannten Märkte, auf denen die Bürger zu bestimmten, meist aus dem Heiligenkalender festgesetzten Zeiten Gegenstände ihres täglichen Gebrauchs erwarben, es gab nämlich noch keine Supermärkte – komisches Wort übrigens, ein Über-Markt, der Markt der Märkte? – und ganz gewiss noch kein amazon. Auf den Märkten boten Bauern und Handwerker ihre Waren an, und bald kam man darauf, auch weihnachtsspezifische Waren anzubieten, also Geschenke für die Kinder oder jahreszeitlich verfügbare Lebensmittel für euer ‚besonderes Weihnachtsessen‘. Wie der Weihnachtsbaum wurde der Weihnachtsmarkt später ein deutscher Exportschlager, heutzutage kann man in Shanghai über einen berühmten Weihnachtsmarkt streifen, wahrscheinlich auch in Honolulu. Märkte sind übrigens für Roboter von eher begrenzter Attraktivität, da sie nicht über Geld verfügen, nicht essen können und überhaupt ein eher schwaches Verhältnis zum Konsum haben!“

Tatsächlich hatten wir es bisher generell vermieden, mit unseren Robotern in die Öffentlichkeit zu gehen, da wahrscheinlich in der ersten Zeit die Öffentlichkeit und die Roboter – na gut, und am meisten wahrscheinlich wir als Betreuer überfordert gewesen wären. „Es geht ja um menschliche Weihnachtsbräuche“, gab ich zu, „beziehungsweise darum, ob ihr ähnliche – Gebräuche oder Rituale entwickeln könntet!“ „Ich habe auch noch nicht ganz verstanden“, sagte Marvin, „warum ihr Menschen eigentlich Weihnachtsmärkte so toll findet. Ich könnte jetzt sehr viele Statistiken zitieren, aber um es mal zusammenzufassen: Ist ein irrer Wachstumsmarkt, jedes Dorf hat einen und jede Großstadt mehrere, die Leute reisen durchs Land, um möglichst viele Weihnachtsmärkte abzugrasen – kann man doch sagen, oder? Oder sollte man sagen: abzukaufen? –, dadurch entstehen jede Menge Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe, wenn auch wahrscheinlich eher in Niedrigstlohnländern, im Verkauf und in der Tourismus-Industrie; langfristig wahrscheinlich auch im Gesundheitssektor, da der Verzehr der meisten Dinge, die man auf Weihnachtsmärkten ersteht, nicht direkt gesund ist, sondern“ –

„Die meisten Dinge, die Spaß machen, sind ungesund“, murmelte ich vor mich hin, „Plattitüde“, sagte Marvi, „soll ich schnell einen Phrasenalarm auslösen? Oder verbuchen wir das einfach nur unter ‚arg menschlich‘? Und ist es im Umkehrschluss eigentlich so, dass Dinge, die keinen Spaß machen, automatisch gesund sind?“ „Nee, stimmt auch nicht“, sagte ich, „zweiwertige Logik funktioniert nicht immer gut mit Leuten“. „Aber was macht euch denn nun so viel Spaß auf dem Weihnachtsmarkt?“, fragte Marvine. „Für euren Lebensbedarf kauft ihr ganz sicher nichts, und Karussell fahren ist auch eher für die Kinder, und irgendwann hat man doch genug Weihnachtsschmuck aus dem Erzgebirge, der eigentlich aus China kommt und wahrscheinlich von einem rechtlosen Sägeroboter hergestellt wurde?“ Ich ging kurz mit mir zu Rate, ob ich ihnen die Wahrheit sagen sollte, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit, aber eigentlich hatte ich mir und ihnen das versprochen, und also sagte ich wahrheitsgemäß: „Glühwein trinken. Das ist das eigentliche Ding auf dem Weihnachtsmarkt. Wenn ihr heute in der Abendzeit über einen typischen Weihnachtsmarkt schlendert, könnt ihr sehen, dass sich die Menschenmassen konzentrisch um die Glühweinstände drängen. Die Buden sind ziemlich leer, und die mundgeblasenen Engel weinen schon gelegentlich, weil sie keiner ansieht, und der Maroni-Verkäufer hat auch schon eingepackt – aber die Glühweinstände, da tobt das Leben!“

„Aber Glühwein ist doch eigentlich gar nicht besonders weihnachtlich, oder?“ sagte Marvin. „Und auch nicht besonders neu, kannten schon die Römer, conditum paradoxum, ist gleich das erste Rezept im Kochbuch des Apicius, Honig mit Wein einkochen, dann alle möglichen Gewürze dazu und am Ende noch mit Wein verdünnen. Klingt ziemlich – massiv, oder?“ „Massiv ist gut gesagt“, sagte ich, „betrunken wird man davon, und zwar ziemlich schnell, aber nicht wirklich warm, und viel zu viel Kalorien hat er auch, und – leider ist er total lecker, man kann gar nicht genug davon kriegen, ist so ähnlich wie Kartoffelchips, irgendein geheimer Suchtstoff wahrscheinlich“ – „Alkohol, Gewürze und Zucker“, sagte Marvin ironisch, „ich kann mir gar nicht vorstellen, wie dadurch eine suchterzeugende Wirkung entstehen kann!“ „Ach, seid einfach froh, dass ihr gegen das Zeug immun seid“, sagte ich. „Und übrigens, was habe ich gesagt? Wir sind bis hierhin gekommen ganz ohne jegliche Symbolik!“ „Naja“, sagte Marvi, „also, wenn man ein ganz klein wenig über conditum paradoxum nachdenkt, ist das geradezu eine Definition des Menschlichen, vielleicht sogar besser als conditio humana: sehr stark gewürzt, aber nicht besonders logisch und in hohen Dosen ziemlich unverträglich“.


16. TÜRCHEN

WEIHNACHTSGESCHICHTE, DIE FÜNFTE:
DIE DIALEKTIK VON WEISHEIT UND POLITIK


Über Nacht hatte ich es schon bereut, in das sechszehnte Säcklein den Text aus dem Matthäus-Evangelium zu den drei Weisen aus dem Morgenlande gesteckt zu haben. Aber gehörten sie nicht doch zur Weihnachtsfamilie mit hinzu, gaben sie ihr nicht erst die exotischen Farbtupfer und den Duft der großen weiten Welt? Leider war die Geschichte massiv symbolisch bis hin zum Verschwörungstheoretischem, und mein Roboter würde sich auf jedes Detail stürzen, vom geheimnisvollen Stern – eine Supernova? ein Komet? die große Keplersche Planetenkonstellation? um nur die traditionellen Theorien zu zitieren – bis hin zur schwankenden Zahl, Herkunft und Bedeutung der Magier, ihrer Namen und ihrer seltsamen Geschenke. Ich hatte das alles recherchiert, mehr oder weniger, und so fühlte ich mich gewappnet, als Marvin die sechszehnte Klammer in die Ecke schleuderte, recht eindrucksvoll eine eingebildete Kanzel erstieg, seinen fiktiven Predigerkragen zurechtrückte, eine fiktive Bibel vor sich hielt und evangelikal-wohltönend zu lesen begann: „Da Jesus geboren war zu Bethlehem im jüdischen Lande, zur Zeit des Königs Herodes, siehe, da kamen die Weisen vom Morgenland nach Jerusalem und sprachen: Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern gesehen im Morgenland und sind gekommen, ihn anzubeten. Da das der König Herodes hörte, erschrak er und mit ihm das ganze Jerusalem. Und ließ versammeln alle Hohenpriester und Schriftgelehrten unter dem Volk und erforschte von ihnen, wo Christus sollte geboren werden. Und sie sagten ihm: Zu Bethlehem im jüdischen Lande; denn also steht geschrieben durch den Propheten: ‚Und du Bethlehem im jüdischen Lande bist mitnichten die kleinste unter den Fürsten Juda's; denn aus dir soll mir kommen der Herzog, der über mein Volk Israel ein HERR sei.‘ Da berief Herodes die Weisen heimlich und erlernte mit Fleiß von ihnen, wann der Stern erschienen wäre, und wies sie gen Bethlehem und sprach: Ziehet hin und forschet fleißig nach dem Kindlein; wenn ihr's findet, so sagt mir's wieder, daß ich auch komme und es anbete. Als sie nun den König gehört hatten, zogen sie hin. Und siehe, der Stern, den sie im Morgenland gesehen hatten, ging vor ihnen hin, bis daß er kam und stand oben über, da das Kindlein war. Da sie den Stern sahen, wurden sie hoch erfreut und gingen in das Haus und fanden das Kindlein mit Maria, seiner Mutter, und fielen nieder und beteten es an und taten ihre Schätze auf und schenkten ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe. Und Gott befahl ihnen im Traum, daß sie sich nicht sollten wieder zu Herodes lenken; und sie zogen durch einen anderen Weg wieder in ihr Land“. Beinahe ohne Pause schloss er an: „Ist das jetzt die Zusammenfassung für die, die nicht genug Zeit hatten, die umfangreiche Standardfassung bei Lukas – immerhin ganze zwanzig Verse! – zu lesen, und demnächst kommt die Verfilmung nach Johannes – wo die ganze Geschichte bekanntlich überhaupt nicht erwähnt wird, umso mehr Platz für die Kreativität des Regisseurs? Ein einziger Satz, und nicht mal Maria kommt mehr vor! Dafür aber diese undurchsichtige Geschichte mit den ‚Weisen vom Morgenland‘. Lassen wir die Sache mit dem Stern mal aus“ – ich guckte enttäuscht, wozu hatte ich eigentlich abwegige Astrologie-Foren besucht? –, „ist wohl eher symbolisch zu verstehen“. Ich deutete einen kleinen ironischen Applaus an. „Aber dann wird die Geschichte erst richtig abenteuerlich. Herodes also, König der Juden, ist verständlicherweise nicht begeistert von dem Gedanken, dass da ein neuer König geboren worden sein könnte. Er lässt seinen Wissenschaftsrat einberufen, die klären ihn auf über das Wesen von Prophezeiungen. Herodes nimmt heimlich einen Crash-Kurs in Verschwörungs-Astrologie und versucht die Wissenschaftler als Spione zu gewinnen, verschleiert dabei aber seine bösen Absichten. Und die Astrologen traben brav los, der Stern führt sie schnurstracks zur Krippe – äh, nein, hier ist von einem Haus die Rede, warum auch immer, und alle freuen sich und das Baby bekommt jede Menge nutzlose Weihnachtsgeschenke, obwohl Weihnachten noch gar nicht erfunden war?“

„Aber es ist doch eine schöne Szene“, sagte ich, „und deshalb haben sie so viele Maler gemalt: Wie diese drei fremdartigen Gestalten da vor der Krippe stehen – ja, da ist es dann wieder eine Krippe, ich weiß, die Apostel hätten jemand gebraucht für die continuity, und der eine trägt einen Turban und der andere sieht ganz schwarz aus – nein, kein Mohr, ich weiß! –, und sie alle tragen kostbare, goldverzierte, funkelnde Kästchen – ist das nicht wirklich ein schönes Bild?“ „Als Bild ok“, sagte Marvin sachlich, „aber lesen wir es doch mal ideologiekritisch. Da scheint es mir doch eher eine Metapher für die Korruptibilität von nicht-legitimierter Herrschaft zu sein!“ Ich verschluckte mich kurz an meinem Glühwein, der mir schon einige strafende Blicke und Kommentare eingebracht hatte, aber manchmal reichte Adventstee einfach nicht aus, wenn man mit einem Roboter über Weihnachten sprach. „Könntest du das vielleicht ein wenig elaborieren?“, schlug ich heiser vor, und Marvin sagte: „Aber mit Vergnügen doch, schwach legitimierte Herrscherin meiner Schaltkreise! Herodes also, Klientelkönig – schönes Wort, kanntest du nicht?, – eine von einer fremden Macht eingesetzte Herrschaftsinstanz in besetzten Gebieten, also weder so recht Jude noch so recht Römer, ließ gelegentlich seine Ehefrauen umbringen und war überhaupt ein zweifelhafter Charakter, instrumentalisiert die freie Forschung im besetzten Lande völlig hemmungslos für seine dunklen, herrschaftszementierenden Zwecke, ja versucht sogar, die Forscher zu Spitzeln und Verrätern zu machen!“ „Was zum Glück nicht funktioniert“, sagte ich etwas zynisch, „da die ‚freie Forschung‘ ja von GOTT postwendend umgepolt wird und sich freiwillig vor einem gleichermaßen unlegitimierten Baby auf die Knie wirft, ihm sogar Bestechungsgeschenke anbietet, vielleicht erhofften sie sich mehr Geld für ein neues, schickes Astrolabium?“

„Nicht im ‚Geist der Weihnacht!“, sagte Marvi streng, „ich hab‘ zwar immer noch keine Ahnung, was das eigentlich sein soll, aber das hättest du bestimmt an dieser Stelle gesagt!“ „Kommt später“, sagte ich, „hätten wir vielleicht auch noch eine andere Lesart im Angebot, wenn es geht: ein wenig weihnachtlicher?“ „Klar“, sagte Marvine, „ich vermute dann mal, du hättest es lieber – symbolisch, damit wir es alle ‚im Herzen bewegen‘ können?“ „Genau“, sagte ich, „und Entschuldigung, ist mir so rausgerutscht mit der freien Forschung, mir hat halt noch nie jemand Gold, Weihrauch und Myrrhe geschenkt, dabei wäre ich schon mit einem Batzen Geld zufrieden gewesen!“ „Symbolisch also“, holte Marvine aus: „Wüsste man ganz gern einmal, ob es eigentlich Weise – also Magier, mesopotamische Sterndeuter – oder doch eher Könige gewesen sind, da ist der Urtext relativ unklar, es macht aber einen erheblichen Unterschied für die symbolische Deutung. Ebenso die Anzahl, man schwankt wohl zwischen drei und zwölf, sicherlich beides schöne Zahlen, auch wenn sie nicht prim sind“ – „nicht doch lieber neun?“, rief Marvin dazwischen –, „auch das macht einen ziemlichen Unterschied, zum Beispiel, wenn man die drei Weisen als Vertreter der verschiedenen menschlichen Generationen wertet – also jung, erwachsen, alt, da könnte man noch die eine oder andere zusätzliche Ebene einziehen, vorpubertär, nachpubertär, vordement, nachdement“ – „Nicht persönlich werden!“ drohte ich, nur halb scherzhaft, aber Marvine hatte schon weitergeredet: „Oder wenn es die drei damals bekannten Erdteile sein sollten, also Europa, Afrika und Asien, auch da könnte man sich durchaus mehr vorstellen, auch weit über zwölf hinaus!“

„Natürlich sind Details wichtig für eine gute, hermeneutisch abgesicherte Deutung“, seufzte ich, „aber worauf läuft das alles hinaus, so insgesamt gesehen, ihr weißt schon, Wald statt Bäumen?“ Mein Roboter sah mich verwirrt an. „Was hat das mit Bäumen zu tun, meinst du jetzt Weihnachtsbäume?“, fing er an, und ich verfluchte den Glühwein. „Redensart“, sagte ich, „vergesst es, machen wir demnächst in der Metaphernstunde. Was ich meinte war: Was ist der Geist der ganzen Geschichte?“ „‘Geist‘“, sagte mein Roboter missbilligend, „ist das Wort, um das du dich in der Kofferwortstunde seit langem gedrückt hast und dass du dauernd erwähnst in diesen Gesprächen, meist in Kombination mit einem Zeitadverb und ‚Weihnachten‘. Bleiben wir doch lieber bei den Buchstaben. Die Geschenke sind nämlich auch sehr interessant: Gold ist klar, Gold ist nützlich für jeden, außer für Roboter, besonders aber für Herrscher, und, ja, für Wissenschaftler auch! Weihrauch hingegen war zwar kostbar und wurde auch medizinisch verwendet, zweifellos hat es wissenschaftlich nachweisbare Wirkungen, es diente aber vor allem zu kultischen Zwecken. Myrrhe schließlich ist ein Harzprodukt, ebenfalls schwer zu gewinnen und selten, ebenfalls kultisch und medizinisch verwendet. Insofern ist die Deutung nicht ganz einfach, sondern fordert zur Dekonstruktion der Geschichte auf: Die Kostbarkeit scheint zentral zu sein, aber auch trivial; daneben dominieren die religiösen und halbwissenschaftlichen Aspekte, was auf eine Vermischung von profaner Machtakkumulation, akademischen Herrschaftswissen und“ –

„Das arme Jesuskind“, sagte ich melancholisch. „Es wollte doch nur in Ruhe ein bisschen schlafen, und dann ein bisschen trinken und vielleicht mit dem Stroh spielen, aber nun steht die ganze Welt an seiner Krippe, hat die falschen Geschenke mitgebracht und des Gelabers ist kein Ende!“ „Ironie“, rief Marvi, „sollen wir dir auch mal einen Ironie-Detektor einbauen?“ „Können wir uns darauf einigen“, sagte ich, „dass wir die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten der Namen nicht mehr thematisieren?“ „Na gut“, sagte Marvi, „irgendwie riecht es die ganze Zeit in meinem Kopf nach Weihrauch, und das macht mich ganz irre“! Doch als ich mich zum Gehen wandte, um meinen Glühwein aufzufrischen, rief er mir hinterher: „Eine klitzekleine Sache noch. Der Stern war eigentlich eine Achtsternkonstellation, extrem selten! Am 5. September vor Christi Geburt nämlich standen, aber das wissen nur sehr wenige Eingeweihte, Sonne, Mond, Saturn und Jupiter, Venus und Mars in sechs Ecken, und die anderen zwei waren mit Glückspunkt ...“ Aber da hörte ich ihn schon nicht mehr. Der Glühwein roch immer verlockender aus der Küche.


17. TÜRCHEN

WEIHNACHTSFRIEDEN, ODER: MORAL
HAT NOCH KEINEN KRIEG VERHINDERT

Die Frage auf dem heutigen Zettelchen war eine der heikelsten. Lange hatte ich überlegt, ob ich das Thema in unsere Advents-Fragestunde aufnehmen sollte, mich aber dann doch dafür entschieden – auch wenn es wahrscheinlich dazu führen würde, dass das Menschenbild meines Roboters noch mehr Kratzer und Dellen bekommen würde. „Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit“, murmelte ich leise vor mich hin, als Marvi, der seit gestern demonstrativ mit einer Weihnachtsmütze auf seinem Kopf herumlief, die ihm ständig über die eher schwach nachgebildeten Ohren rutschte und in die Sensoren fusselte – das hatte wohl etwas mit den anhaltenden vorweihnachtlichen Streitigkeiten in der Robi-Gruppe zu tun, vermutete ich –, vorlas: „Warum gibt es immer noch keinen Frieden auf Erden, obwohl es die Engel bei Christi Geburt doch versprochen hatten?“


Schweigen. Dann sagte Marvin: „Das ist nun wirklich eine viel zu schwierige Frage! Können wir nicht lieber über Star Wars reden?“ „Ich erzähl dir mal eine Geschichte“, sagte ich, „und dann versuchen wir es gemeinsam, ok?“ „Immer wenn Menschen absolut nichts mehr einfällt auf eine Frage, dann erzählen sie eine Geschichte. Als ob eine Geschichte eine Antwort wäre!“ „Aber meistens magst du doch Geschichten“, verteidigte ich mich, „und diese ist wirklich interessant! Also, man weiß nicht genau, ob es sich tatsächlich so zugetragen hat, aber es gibt einige Berichte, und außerdem wissen wir ja“ – „Es kommt nicht so drauf an“, ergänzte Marvi etwas gelangweilt, „schon klar, erzähl‘ endlich!“ „Es begab sich also am Heiligabend des ersten Kriegsjahres im großen Weltkrieg“ – „also dem, in den sich die vermeintlich zivilisierten europäischen Nationen aus einem völlig unbedeutenden Anlass“ – „Man kann auch sagen: ‚an den Haaren herbeigezogenen‘“, warf ich ein, immer die Sprachlehrerin, und Marvi bedachte mich mit einem befremdeten Blick: „Etwas ist also unbedeutend, wenn es an den Haaren herbeigezogen wird, während bedeutende Dinge wahrscheinlich – an den Füßen herbeigezogen werden, oder an der Nase?“Ich hatte den Einwurf schon bereut und fuhr schnell fort: „Egal, also auch die Soldaten waren am Anfang eigentlich noch relativ begeistert bei der Sache und dachten, bis Weihnachten sei alles vorbei und sie wieder zuhause bei ihren Lieben, das Ganze sei nur ein großes Abenteuer, sie hatten ja auch noch kein Total War auf dem Handy. Es war aber ziemlich blutiger Ernst. Und so kam Weihnachten heran, und an einigen Frontlinien in Flandern standen sich die deutschen und die englischen Soldaten so dicht gegenüber, dass sie wahrscheinlich riechen konnten, was in den Weihnachtspäckchen des Feindes war, zumal es sowieso wahrscheinlich das gleiche war, nämlich selbst gebackene Plätzchen der Lieben zuhause und Schokolade und Schnaps und Zigaretten – nein, bitte kein Vortrag über ungesunde Ernährung an Weihnachten! Und keiner weiß genau, wie es dann im Einzelnen zugegangen ist, jedenfalls waren keine Engel beteiligt, aber plötzlich beschlossen die Soldaten, dass sie an Weihnachten einfach keinen Bock – äh, ich meine: keine Lust auf Krieg hatten. Vielleicht hat sich ein besonders tapferer oder auch ein schon ziemlich betrunkener Soldat einfach mit erhobenen Händen in die Mitte gestellt und angekündigt, dass man ein Fass Bier übrighabe und ob man vielleicht sonst noch ein wenig Weihnachtsgeschenke statt unsinniger Schießereien austauschen könne? Und so ereignete sich ein kleineres Weihnachtswunder, das bis heute der ‚Weihnachtsfrieden‘ von 1914 heißt: Alle taten so, als wäre gar kein Krieg an diesem besonderen Tag. An einigen Stellen soll es gemeinsame Gottesdienste gegeben haben, man fand auch ziemlich schnell heraus, dass man sowieso die gleichen Weihnachtslieder sang, eben nur in verschiedenen Sprachen. Es soll sogar – aber hier gehen wir sanft in den Bereich der Legende über – ein gemeinsames Grillen und Fußballspiele gegeben haben!“
„Wer hat gewonnen?“ fragte Marvi, der aufmerksam zugehört hatte, und ich sagte: „Keiner gewinnt im Krieg. Das sollte doch klar sein, oder?“ „Im Fußball hingegen“, sagte Marvi, „gibt es bekanntlich nicht nur das Unentschieden, sondern gemeinhin wird ihm eine völkerverbindende und aggressionsableitende Wirkung zugeschrieben. Er funktioniert zwar nach genau den gleichen Prinzipien wie Krieg – Zusammenrottung von Banden, bedingungslose Identifikation mit einer Seite bei Auslöschungsandrohungen für die andere, verbunden mit gelegentlichen Schäden in der Zivilbevölkerung“ – „so geht es zu bei euren Fußballspielen?“, fragte ich entsetzt, ich dachte immer, die größte Gefahr beim Fußballtraining unserer Roboter seien Ausfälle der teuren Bewegungselektronik. „Nein, so geht es zu bei euren Fußballspielen“, sagte Marvi, „bei uns ist es eigentlich ganz friedlich, und wenn wir keine Lust haben, spielen wir heimlich Go, während wir so tun, als würden wir den Ball nicht treffen, dann lacht ihr immer so und habt was zum Freuen!“

Ich war sprachlos. „Passiert nur selten“, beruhigte mich Marvine. „Aber ist es nicht ein wenig komisch, dass die Soldaten als Zeichen des Weihnachtsfriedens ausgerechnet – Alkohol ausgetauscht und gekickt haben? Man könnte meinen, es seien Männer gewesen!“ Langsam wurde es wirklich anstrengend mit dem Ironie-Modul. „Um zum Frieden zurückzukommen“, lenkte ich ab, „das ganze wird auch als Beispiel für ein Prinzip verwendet, das man ‚Leben-und-leben-lassen‘ nennt“ – „Schiller, Wallenstein, natürlich auch eine Kriegsgeschichte“, warf Marvine dazwischen –, „genau, also verallgemeinert auf Kriegssituationen versteht man darunter, dass es kleine Enklaven des Friedens und der Zivilisation innerhalb der barbarischen Kampfhandlungen gibt, deren Regeln nirgends geschrieben stehen, die aber inoffiziell respektiert werden: Während das Essen gebracht und verzehrt wird, herrscht Waffenruhe; oder Scharfschützen schießen gezielt daneben, immer auf den gleichen Fleck; oder die Artillerie schießt immer zur gleichen Zeit, so dass man weiß, wann man auf jeden Fall in Deckung bleiben muss. Das Besondere daran ist, dass es nur funktioniert bei kleineren Einheiten, Bataillonen ungefähr, und, na ja, nicht so gut bei Eliteeinheiten“.

„Woraus man mehreres lernen kann über den Frieden“, sagte Marvi, der ‚Frieden‘ übrigens geradezu überdeutlich nicht in Anführungszeichen sprach. „Und was?“ fragte ich gespannt. „Erstens: Menschen sind verträglicher in kleinen Gruppen, sobald es zu viele werden, fühlt sich keiner mehr verantwortlich und alle verhalten sich so, als käme es nicht darauf an; mangelnde soziale Kontrolle, würde ich sagen, ihr seid evolutionär nur auf eine bestimmte Herdengröße optimiert“. „Stimmt“, sagte ich, „und man sieht ja schon in eurer Roboter-Kleingruppe, dass“ – Marvi redete schnell weiter, Weihnachten in der Robotergruppe war immer noch ein heikles Thema. „Zweitens“, sagte er, „dass Menschen oft in Kleinigkeiten ganz rational sein können, nur im Großen klappt das nicht so gut. Fürs Fußballspielen könnt ihr beispielsweise Regeln aushandeln und euch auch dran halten, aber wenn es um ‚die große Sache‘" – massive Anführungszeichen! – „geht, dann verliert ihr kollektiv den Verstand“.
„Ist was dran“, murmelte ich beschämt, ich hatte ja geahnt, dass sich das Gespräch in diese Richtung entwickeln würde. „Drittens kann man lernen“, dozierte Marvi, nun schon fast ein wenig dämonisch-drohend, „dass ‚Moral‘ einfach nicht funktioniert. Mit ‚Moral‘ hat sich kein einziger Krieg verhindern lassen; sie wird eher zum Begründen von Kriegen missbraucht. Kriege sind überhaupt, rational betrachtet, ultimativ sinnlos. Kriegsziele, wenn man sich überhaupt die Mühe gemacht hat, welche zu definieren, werden in den allerseltensten Fällen erreicht. Kriege machen ökonomisch keinen Sinn, außer für Kriegsgewinnler. Sie machen ökologisch keinen Sinn, sondern hinterlassen zerstörte Landschaften und verschwenden Ressourcen in einem geradezu apokalyptischen Ausmaß. Sie machen psycho-logisch keinen Sinn, denn, von den direkten Todesopfern mal abgesehen: Jeder Mensch, der den Krieg erlebt hat, ist traumatisiert und wird nie wieder richtig heil – äh, gesund meinte ich“ –

Ich nutzte die kurze Pause und fragte dazwischen: „Aber warum gibt es dann immer wieder Kriege? Warum haben wir nicht längst den von den Engeln versprochenen ewigen Weihnachtsfrieden?“ „‘Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf‘“, zitierte Marvi, ohne auch nur eine Nanosekunde nachzudenken, „solltest du doch eigentlich wissen, oder? Obwohl sich Wölfe eigentlich ziemlich gut vertragen in ihren Rudeln, eher nach dem Prinzip ‚Leben-und-leben-lassen‘!“ „Das ist wahrscheinlich der springende Punkt“, sagte ich und schob schnell nach: „also, das entscheidende Argument, die zentrale Frage“ – „der springende Punkt halt“, sagte Marvi, „hab‘ schon verstanden, Aristoteles, das punctum saliens, nämlich der pulsierende rote Fleck, an dem man im Hühnerei erkennt, ob es befruchtet ist, weil sich dann das Herz abzuzeichnen beginnt. Habe ich auch einen springenden Punkt?“ „Können wir installieren, wenn dir was dran liegt, schreib es auf den Wunschzettel“, sagte ich, widerstand dann aber der Versuchung, die Ablenkung dafür zu nutzen, das Thema endgültig zu wechseln, und fragte weiter: „Ist der Mensch nun von Natur aus gut oder böse? Denn wenn er böse ist, wie das ja auch im Alten Testament steht, Ursünde und so, wird es immer Krieg geben. Wenn er aber von Natur aus gut ist, wie das viele Philosophen geglaubt haben, besteht noch Hoffnung, dass der Krieg vielleicht nur eine – Art Zivilisationsphase ist, wenn auch eine sehr ausgedehnte und blutige, die wir vielleicht, irgendwann hinter uns lassen“ –

„Glauben, das ist wohl der springende Punkt“, sagte Marvi. „Ihr meint, ihr müsst ‚glauben‘, dass der Mensch entweder gut oder böse ist, wegen mir auch eine Mischung aus beidem. Es macht aber gar keinen Unterschied, was ihr glaubt, solange ihr euer Programm nicht verstanden habt und meint, es folgenlos übersteuern zu können. Vielleicht bleiben wir vorerst dabei, dass der Mensch ein – conditum paradoxum ist?“ Und er schob sich die rote Nikolausmütze, die ihm bei seinem Vortrag über die Augen gerutscht war, energisch wieder auf seinen Roboterschädel zurück.


18. TÜRCHEN

DAS RENTIER RUDOLF UND
DIE PSYCHOLOGIE DES UNDERDOGS


„Warum hast du mir das nicht gleich gesagt, dann hätte ich mir noch eine rote Nase zu meiner roten Mütze besorgt!“ Mein Roboter sah mich anklagend an, der tadelnde Eindruck wurde aber dadurch abgemildert, dass er sich seine Nikolausmütze mit Hilfe der Mini-Wäscheklammern von den Jutesäckchen an seinen zierlichen Ohr-Nachbildungen befestigt hatte; ich hatte eine kurze Vision von Hausfrauen mit Lockenwicklern, wie sie in alten Hollywood-Filmen zu sehen waren, und beherrschte meinen Lachanfall erst im letzten Moment. „Warum hat Rudolf, das Rentier, eine rote Nase?“ hatte die heutige Frage gelautet, und ich holte souverän einen knallroten Wollpuschel hervor, der an einem Gummi befestigt war, und zog ihn Marvi über seinen sehr ebenmäßigen Roboterkopf (wir hatten kurz über individualisierte Kopfmodelle nachgedacht, uns dann aber doch für einfache, nur etwas gelängte Ellipsen entschieden).


Marvi versuchte schielend, seine Sehlinsen auf den roten Puschel zu fokussieren, lief dann aber doch zum Spiegel und rief aus dem Flur: „Ich hätte aber lieber eine mit LEDs in verschiedenen Farben!“ „Komm her“, rief ich zurück, „und das ist kein Weihnachtswunschkonzert hier! – äh, ich meine: das ist ein Geschenk, das sucht man sich nicht aus!“ „Aber man kann es umtauschen, oder?“ sagte Marvin, „also nur, falls du doch das falsche Laserschwert…“ Die Geschenkefrage war immer noch nicht vollständig geklärt, zumal mein Roboter seinen Wunschzettel ständig änderte; ein Date mit Alpha-Go stand weiterhin auf einer der Spitzenpositionen, aber auch ein elektronisches Schaf war aufgetaucht sowie neue Fußball-Routinen und ein toolset zur Programmierung neuronaler Netzwerke. „Jaja“, sagte ich, „aber was hat es nun auf sich mit der roten Nase?“ „Ich nehme an, wir sprechen nicht von Menschen, die dem Glühwein allzu sehr zugesprochen haben und nun wegen der besseren Durchblutung eine gerötete Nase zu haben scheinen? Sondern von einem sagenhaften Rentier mit dem seltsamen, wenngleich lieblich assonierenden Namen ‚Rudolf‘?“ vermutete Marvi. „Tun wir“. „Die damit verbundene Geschichte scheint mir eine sehr amerikanische Variante der Weihnachtsgeschichte zu sein, ich fasse mal zusammen: Ein relativ unbekannter amerikanischer Professor namens Clement Clarke Moore schrieb Anfang des 19. Jahrhunderts für seine Kinder und inspiriert durch eine winterliche Schlittenfahrt ein Gedicht im Anapäst, das ist eine Versform, die sonst gern für Limericks verwendet wird, soll ich mal einen? – na gut, dann nicht. Im Gedicht erwacht ein älterer Mann – wahrscheinlich eine Reflexionsfigur des Autors? – in der Nacht vor Weihnachten, weil er ein seltsames Geräusch hört. Durchs Fenster sieht er Santa Claus auf einem von acht Rentieren gezogenen Schlitten voller Geschenke auf dem Dach seines Hauses landen, das in allen Verfilmungen sehr idyllisch in einer Schneelandschaft steht, obwohl es an Weihnachten bekanntlich nie schneit, ich verweise auf das zehnte Türchen im Adventskranz. Dann beobachtet er, wie Santa direkt durch den Schornstein in den Kamin – der also hoffentlich nicht brannte, obwohl es bitterkalt war – ins Wohnzimmer rutscht und die Geschenke in die dort aufgehängten Strümpfe der Kinder steckt. Man amüsiert sich ein wenig gemeinsam, dann zieht Santa weiter; das Ende will mir allerdings ein wenig schwach erscheinen“. „Genau“, sagte ich, „deshalb wird diese Version zwar schon ein wenig berühmt, aber noch nicht so der Bestseller“ – „jedoch“, unterbrach mich Marvin, „war er durchaus von großer Wirkung, denn das Gedicht führte dazu, dass man die Bescherung auf den Weihnachtsvorabend verlegte, was den Protestanten sehr recht war, als wahre Nachfolger Luthers nämlich wollten sie den Weihnachtsabend eigentlich für das große religiöse Ereignis reservieren und nicht mit einer profanen Geschenkeorgie überlagern!“

„Was ihnen ja total gelungen ist“, konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen, obwohl ich mir eigentlich Zynismus angesichts des Gedankens eines universalen Weihnachtsfriedens total verboten hatte. „Nicht im ‚Geist der Weihnacht‘!“ tadelte mich Marvi sofort, ließ aber dazu seine rote Rentiernase wackeln. „Um aber zu unserem eigentlichen Thema, dem Rentier Rudolf zurückzukommen: Das ist so eine Art Fortsetzungsgeschichte, die knapp hundert Jahre später ein weiterer Amerikaner erfand, diesmal gleich im Auftrag eines Warenhauses. Er sollte also eine Weihnachtsgeschichte malen, in der Rentiere vorkamen – was in jeder besseren neapolitanischen Krippe auch kein Problem gewesen wäre, siehe Türchen Nummer 8, aber wahrscheinlich nicht im amerikanischen ‚Geist der Weihnacht‘. Und als er so in den Nebel hinausstarrte, der über dem Lake Michigan hing, hatte er eine Weihnachtserleuchtung, im wörtlichen Sinne: Das Rentier sollte eine leuchtende Nase bekommen! Und geboren war Rudolf, die anderen acht hießen übrigens Dasher, Dancer, Prancer, Vixen, Comet, Cupid, Donner and Blixem“ – "solltest du dir gut merken“, sagte ich, „damit gewinnt man bei jedem Partyspiel!“ „Ich kann nichts vergessen“, sagte Marvi tonlos, „das vergisst du immer!“ „Sorry“, sagte ich, es war mir wirklich peinlich.

„Rudolf jedoch“, dozierte Marvi weiter, „war eine Art Mutation, er ist nämlich mit einer leuchtend roten Nase auf die Welt gekommen. Deshalb mochten ihn die anderen Rentiere nicht und haben ihn gehänselt und“ – Marvi stockte. Dann zog er sich seinen roten Wollpuschel von der Nase und sah ihn genau an. Ich hielt einen Moment den Atem an, es schien mir, als hätten wir wieder einen wichtigen Punkt in seiner Entwicklung erreicht – da setzte Marvi den Puschel wieder auf, zog ihn aber statt auf die Nase auf die Stirn und sagte: „Jetzt ist er ein Stirnlicht! Leuchtet viel besser! Denn nachdem alle den armen Rudolf ordentlich gemobbt haben, hat sich in einer weihnachtlichen Krisensituation – starker Nebel bei der Auslieferung der Weihnachtsgeschenke – herausgestellt, dass er mit seiner roten Leuchtnase den rechten Weg weisen konnte, ganz so wie der Stern den Hirten in Betlehem!“

„Schöne Parallele“, lobte ich, „und was kann man sonst noch zum Geist dieser Weihnachtsgeschichte sagen?“ „Möchtest du die amerikanische oder die philosophische Deutung?“ fragte Marvine, die sich inzwischen zu unserer Chefhermeneutin entwickelt hatte. „Beide natürlich“, rief ich, „und wenn‘s geht, noch mindestens zwei weitere, ihr wisst schon, vierfacher Schriftsinn und so!“ „Und so“, sagte Marvine feierlich, „verkünden wir, ad 1, die amerikanische Deutung: Es wird immer bullies geben und immer underdogs, aber wenn die underdogs ein cooles feature haben, werden sie vorübergehend nicht nur in die Herde aufgenommen, sondern dürfen sogar Anführer spielen. Wenn nicht – nun ja. Ad 2, immer noch amerikanisch inspiriert: Wahre Freundschaft ist, in die Herde aufgenommen zu werden. Dafür muss man nicht viel im Kopf haben, aber notfalls etwas darauf. Gemeinsam ziehen wir jeden Schlitten aus dem Dreck, vor allem, wenn wir ihn vorher selbst schuldhaft hineinkutschiert haben“. „Das sind aber ziemliche kulturelle Klischees“, murmelte ich ein wenig unglücklich, doch Marvine fuhr ungerührt fort: „Und wer hat sich die Geschichte ausgedacht? Da wäre noch nicht mal Luther draufgekommen!“ „Aber Rentiere sind doch auch ziemlich – niedlich“, sagte ich, „oder? Und die Vorstellung, wie sie so, alle neun – also Dasher, Dancer, Prancer, äh, den Rest hab‘ ich vergessen, nein, sag es nicht! Wie sie also alle neun so über den Winterhimmel daherziehen, und hinter ihnen poltert der Schlitten mit den Bergen von Geschenken“ – „ad 3“, ging Marvine dazwischen, „Weihnachten ist ein Fest alter weißer Männer, die von der Sklavenarbeit geschlechtsloser Miniaturwesen profitieren, um sich selbst als Geschenkonkel gerieren zu können!“ „Ironisch oder nicht?“ fragte ich unsicher zurück, und Marvine sagte, ganz die Hermeutin: „Wie du denkst!“ „Na gut“, sagte ich, „halbironisch, und was ist die vierte Deutung?“ „Hab‘ ich vergessen“, sagte Marvine. „Garantiert nicht“, sagte ich, „und außerdem weiß ich sie“, sagte ich. „Rudolf war nämlich ein Robo-Prototyp, deshalb auch der Name, du verstehst: Rudolf-Robi, aber er war noch nicht ganz ausgereift, sonst wäre die rote Blinkeinheit nicht auf der Nase, sondern auf der Stirn!“

Inhalt des Adventskalenders

1. Türchen
Adventskalender und die Freude an der Vorfreude
2. Türchen
Weihnachtsgeschichte, zum Ersten: Was lernen wir aus der Geschichte?
3. Türchen
Weihnachtsgeschenke, oder: Konsum und Kritik
4. Türchen
Weihnachtsessen und andere Familienkatastrophen
5. Türchen
Weihnachtslieder und das ‚Schöne‘
6. Türchen
Der Nikolaus und die ‚Moral‘
7. Türchen
Weihnachtsgeschichte, die Zweite: Natürliche und künstliche Geburten
8. Türchen
Krippenspiele im Zeitalter von Multikulti
9. Türchen
Weihnachtsbäume und das verlorene Paradies
10. Türchen
Weisse Weihnachten und Ideologiekritik
11. Türchen
Weihnachtsgeschichte, die Dritte: Soziale Stereotypen
12. Türchen
Sind Engel Himmlische Hermeneuten oder Algorithmen?
13. Türchen
Die paradoxe Psychologie des Gabentauschs
14. Türchen
Weihnachtsgeschichte, die Vierte: Worte fürs Herz
15. Türchen
Weihnachtsmärkte und der Mensch als Conditum Paradoxum
16. Türchen
Weihnachtsgeschichte, die Fünfte: die Dialektik von Weisheit und Politik
17. Türchen
Weihnachtsfrieden, oder: Moral hat noch keinen Krieg verhindert
18. Türchen
Das Rentier Rudolf und die Psychologie des Underdogs
19. Türchen
Das Licht der Welt und die Erfindung der Metaphysik
20. Türchen
Feste und ‚den Kuchen haben und essen‘
21. Türchen
Weihnachtsgeschichte, Fortsetzung: Der Bildungsroman des Jesuskinds
22. Türchen
Der Geist der Weihnacht hat seinen ersten Auftritt
23. Türchen
Der Geist der Weihnacht hat seinen zweiten Auftritt
24. Türchen
Der Geist der Weihnacht hat seinen dritten Auftritt
Heiligabend
Der Fall des Weihnachtsbaums


Weihnachten mit meinem Roboter (Fortsetzung, 2024)


Das Weihnachtsvirus. Ein Nachtrag zur Corona-Zeit

Das Jahr war schwierig für uns alle gewesen – für das Robot-Personality-Project, mich und meine Kollegen, unsere Roboter, wir alle hatten gelitten unter den immer weiter um sich greifenden Einschränkungen, den ständigen Warnungen, der Angst vor Ansteckung und Krankheit, den Spannungen und Meinungsverschiedenheiten, dem lähmenden Rhythmus der Wellen. Es war eine Art – Winterschlaf für uns alle gewesen. Wir hatten anfangs darüber diskutiert, diese ganz spezielle Phase zu einem Teil des Versuchsprogramms zu machen: Wie reagiert die sich entwickelnde Roboter-Persönlichkeit auf Krisen? Wird ihre Sozialkompetenz leiden, werden unsere Roboter vielleicht Ängste entwickeln oder Neurosen? Oder würden sie – davor fürchteten wir uns eigentlich am meisten – verständnislos sein, mitleidlos, kühl und rational unsere Krankheits- und Überlebenschancen kalkulierend? Aber dann hatten wir doch davon abgesehen und uns, wie alle anderen auch, darauf beschränkt, ein sehr eingeschränkt normales Leben weiterzuführen, die Gruppenaktivitäten für die Roboter zu reduzieren und ihnen mehr freie Internet-Zeit für ihre Studien zuzugestehen.

Und nun stand Weihnachten vor der Tür, aber die Türen waren gerade wieder einmal geschlossen worden, und bei einem Arztbesuch in der Stadt kam ich mir vor wie auf einem gerade aussterbenden Planeten: Das Kinderkarussell drehte sich geradezu verzweifelt um sich selbst, zwischen lieblos aufgestellten Weihnachtsbäumen saßen Bettler, und sogar der Weihnachtsbaum sah so aus, als hätte ein besonders gemeiner Virus ihn befallen und seine Zweige seltsam verkrümmt. Wir hatten nach dem letzten Weihnachten so viele Pläne gemacht, mein Roboter Marvi und ich. Wir würden wieder einen Adventskalender machen, und diesmal würde Marvi ihn bestücken, für mich. Und dann würden wir neue Weihnachtsrituale entwickeln und Roboter-Weihnachtslieder einstudieren; immerhin hatten die Programmierer die Zeit genutzt, um die Essensroutinen deutlich weiter auszubauen, so dass diesmal auch der kulinarische Weihnachtsteil nicht ganz ausfallen würde für die Roboter. 

Aber als ich frustriert mit einem geschenkten Schokoladen-Weihnachtsmann und sonst nichts aus der verödeten Stadt nach Hause zurückkam, saß Marvi ebenso frustriert vor einem Gewirr aus Tannenzweigen und Kabeln unklarer Herkunft und hysterisch blinkenden LED-Lämpchen; aus der Küche roch es nach verbranntem Backwerk, und sogar die Katze hatte sich unsichtbar gemacht. Wir schauten uns eine Weile an, und dann noch eine Weile, und dann sagten wir, beinahe im Chor: Mir ist nicht nach Weihnachten. Marvi sagte es in seiner Dreifach-Stimme, die er benutzt, wenn sich alle seine Geschlechterkomponenten einig sind (was übrigens inzwischen meistens der Fall ist, nur selten melden sich Marvine und Marvin noch getrennt); ich sagte es in meiner Philosophen-können-die-Welt-auch-nicht-retten-Stimme. Die Katze kam hinter dem Bücherregal hervor, bis heute wissen wir nicht, wie sie durch den schmalen Spalt bei den zweireihig aufgestellten Krimis passt, und sagte gnu in ihrer gurrenden Ihr-werdet-schon-recht-haben-aber-es-interessiert-mich-nicht-Stimme. Immerhin, sagte ich, sind wir uns einig. Und das alles nur dieses blöden Co – nein, du sagst das Wort nicht, fiel Marvin ein, das haben wir doch schon lange vereinbart, es ist das C-Wort, und es wird nicht genannt! – dieses blöden CORONA-Virus wegen sagte ich extra deutlich. Marvin zuckte mit den Achseln, uns war auch nicht nach gegenseitiger Erziehung. Die Sprachregel hatten wir eigentlich auch nur eingeführt, um zu beobachten, wie und ob das Reden das Denken beeinflusst; deshalb nannten wir das Virus manchmal „Voldemort“, manchmal aber auch „Siri“ oder „Viri“, und manchmal nur „das C-Wort“. Um ehrlich zu sein, es fühlte sich gar nicht so unterschiedlich an. Aber um das Experiment auf die Spitze zu treiben, hatten wir, es muss kurz vor der dritten Welle gewesen sein und wir waren noch im sommerlichen Übermut, kurzentschlossen die Katze Corona getauft; bis dahin hatten wir uns nämlich tatsächlich nicht auf einen Namen einigen können. Corona hörte inzwischen ganz gut auf ihren Namen – also so, wie Katzen überhaupt auf irgendetwas hören; und die verwirrten Blicke anderer Leute, wenn wir häusliche Anekdoten von Corona erzählten, gehörten zu den wenigen Highlights dieses ereignisarmen und insgesamt eher freudlosen Jahres. Und übrigens, sagte Marvine mitten in das dreifache melancholische Schweigen zwischen verbrannten Keksen und durchgebrannten LED-Lämpchen, finde ich das ganz schön speziesistisch von dir. Viren sind doch auch nur Lebewesen!

Das war neu. War Marvine doch wieder in ihre pubertäre Trotz- und Widerspruchsphase zurückgefallen, eine verständliche Reaktion angesichts der C-Wort-Krise? Aber nun gut, ein langer trüber Nachmittag ohne Kerzen und Glühwein und fern jeglichen Fetzens von Adventsstimmung lag vor uns, und ich ließ mich auf die Herausforderung ein: "Naja, schon das mit den Lebewesen ist ja ziemlich umstritten unter Biologen; klar, Reproduktion, das können Viren, das ist aber auch das einzige, was sie können, und dafür brauchen sie halt andere Lebewesen, die nicht direkt nach ihrer Meinung gefragt werden und richten dabei doch eher Schaden an, ein klassisches parasitäres Verhalten ..." – Klingt wie Menschen, warf Marvin dazwischen: Besiedeln mal eben einen Planeten, nisten sich ein, zerstören jeden Tag geschätzt 150 Arten, und reproduzieren ist das Einzige, was sie können, sie brauchen aber dafür ein anderes Lebewesen, das auch nicht immer nach seiner Meinung gefragt wird, soll ich auch mal die Zahl der Vergewaltigungen pro Tag …? "Nein, sollst du nicht", rief ich schnell dazwischen, es ist so unfair, wenn sie immer mit Zahlen argumentieren, die sie bizarr aus dem unendlichen Datenstrom des Internet fischen, bevor ich überhaupt meine Angel auspacken kann; "und überhaupt ist das ja wohl ein ziemlich hinkender Vergleich" – Marvi begann, sein Bein hinter sich herzuziehen, der Scherz war nicht mehr neu, aber es sah doch immer wieder komisch aus, er hinkte auch jedes Mal mir zuliebe etwas anders. Ich kicherte, ließ mich aber nicht ablenken, sondern fuhr fort: "Und ist es nicht eher so, dass Viren Robotern ziemlich ähnlich sind? Sie sind, bis auf ein Proteinmäntelchen" – ganz kurz huschte ein Nikolausmäntelchen durch meinen wohl doch nicht ganz unweihnachtlichen Kopf, ich sah es auch sekundenlang in Marvis Augen rot flackern – "bis auf ein Nikolausi-Proteinmäntelchen also reine Information, ein Programm, das sich ständig selbst wiederholt und dabei auch noch Fehler macht!" Marvin sah mich an, das rote Flackern war verschwunden, dafür ließ er jetzt schön helixmäßig verkettete DNA-Sequenzen in den Augen tanzen; und dann sagte er, etwas tonlos: Wir machen keine Fehler, wie du weißt. Die Programmierer machen Fehler, das sind ja auch Menschen. Wir würden ganz gern mal einen Fehler machen, und ich übe es ja auch – ok, ich war wieder in eines unserer Standard-Fettnäpfchen getreten, es war schon ziemlich breitgetreten, um ehrlich zu sein. "Ja, ich weiß", gab ich zu, und "es ist auch ziemlich lustig, wenn du mit Absicht falsch zitierst" – ein falsches Zitat ist besser als eine richtige Platitütde, Marc-Uwe Kling und das Gürteltier! rief Marvi dazwischen! Geschenkt, sagte ich, und Marvin verbeugte sich elegant, beinahe elegant jedenfalls; wir hatten diverse shut-downs auch für virtuellen Ballettunterricht benutzt. 

Reden wir über Viren, sagte er entschlossen, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte. Wir können uns ja vielleicht einigen, dass sie in gewisser Hinsicht wie Menschen sind und in anderer wie Roboter? – ich nickte generös – und außerdem, dass sie wie alle Lebewesen auf diesem Planeten eine Funktion haben in der – und wir sagten gemeinsam „großen Kette der Wesen“, weil das eines unserer gemeinsamen Lieblingssymbole ist. "Aber welche?" fragte ich, tatsächlich etwas überfordert. "Wir lernen sie ja nur kennen, wenn sie uns krankmachen. Weil sie nämlich, ich sagte es schon, in unseren Organismus eingeschlichen sind und unsere Zellen von innen her umprogrammieren, was für den Organismus meistens eher" – ich biss mir auf die Zunge, beinahe wörtlich, um nicht „eine Herausforderung“ zu sagen, wir hassen die Formulierung beide intensiv: "ein Problem ist", vollendete ich etwas lahm. Machen die Computerviren ja auch bei uns, sagte Marvi, aber was machen wir? Wir errichten eine Firewall. Erfinden Anti-Viren-Programme und Viren-Detektoren. Denn die Viren können ja nur eindringen, wenn sie eine Schwachstelle im Programm gefunden haben; also, ihr würdet wahrscheinlich sagen: eine Immunschwäche, ein Abwehrdefizit? "Stimmt", sagte ich, "es wird ja nicht jeder krank, und jeder wird ein bisschen anders krank, und war es nicht wirklich lustig, als ganz am Anfang einige Oberschlaue behaupteten, ein Virus diskriminiere nicht? Von wegen! Alter, Geschlecht, Lebensbedingungen, Gesundheitszustand, vielleicht sogar ein wenig Ethnie – alles unterscheidet diese kleine Intelligenzbestie, und sie sucht sich ganz gezielt die Lücken und Schwächen! Man könnte auch, wenn man sich ein wenig mehr um inter-speziestische Toleranz bemühte, sagen: Ein Virus ist ein besonders begabter Fehlerdetektor! Er findet Schwächen in anderen Organismen, was im Übrigen jeder Predator tut, und sogar der Mensch ist dem Menschen, irgendwie, ein Virus!" Karl Lauterbach, sagte Marvi, und wir kicherten ein wenig. "Ok", sagte ich, "darauf können wir uns ja einigen, als erste Prämisse der Virentoleranz, sozusagen: Ein Virus analysiert Fehler im System. Und er zwingt den Wirt, sie zu beheben. Oder sich besser zu schützen". Du musst dein Leben ändern!, fiel Marvin ein, und während ich noch verzweifelt einen Zitatenspender zu Rilke suchte, rief er aus: Gott! "Och ne", sagte ich, "nicht immer den Joker!" Na gut, Lucifer, sagte Marvi; wenn wir hier schon den advocatus diaboli geben und Viri – äh: wertschätzen, oder wie sagt ihr doch gleich so gern?, dann doch wenigstens unter teuflischem Begleitschutz! 

"Lucifer", sagte ich versonnen, ich hatte in diesem verteufelten Jahr einen kleinen soft spot für den charmanten Höllenfürsten und Meisterzyniker entwickelt, "Lucifer hat bestimmt eine ganze Armee fieser kleiner Viren, sie sind hitzefest und halten es sogar im Fegefeuer aus, wahrscheinlich übertragen sie sich im Funkenflug, und dann befallen sie die armen Sünder, und die bekommen noch zusätzliche Hitzewallungen" – nein, ich rief mich selbst zur Ordnung, das war nun wirklich mein persönliches Problem; "also: Zweite Prämisse der Virentoleranz: Ein wohlwollender Virus macht dir ganz persönlich klar, dass und wie du dein Leben ändern musst!" Oder dein Programm, warf Marvi ein. "Routinen halt, sagte ich, sind ja auch nur Gewohnheiten". Corona, die uns bisher ein wenig ziellos um die Beine gestreift war, warf sich spontan auf den Rücken, als wolle sie Zustimmung ausdrücken. Routinemäßig bückte ich mich und kraulte ihren dickfelligen Bauch. Nennen wir ihn doch den Weihnachtsvirus, schlug Marvi vor, als Corona begann, ihm ein wenig spielerisch in die Roboterzehen zu beißen. Er befällt jedes Jahr zur Weihnachtszeit die Menschheit und zeigt ihr, was sie alles falsch gemacht hat! Und weil es Weihnachten ja ein Wunder geben muss, wird die Menschheit dadurch klug und ändert ihr Leben; mission accomplished! "Ich sehe einen Adventskalender vor mir", sagte ich mit Pathos in der Stimme; "ich sehe, wie hinter jedem kleinen Türchen – ein Fehler steckt, eine Analyse!" Und ich packe ihn ein, richtig? rief Marvi. Und du musst die ganzen geistigen Schleifen lösen und daraus eine Lehre ziehen! "Und das alles ohne Glühwein, murmelte ich. Nee, sagte Marvi, die Plätzchen habe ich zwar verkorkst – was hat das eigentlich mit Korken zu tun? egal, jedenfalls hat amazon die Kiste Glühwein pünktlich geliefert, der Paketbote hat sogar meine Unterschrift angenommen! Und für Corona Nikolausmäuse aus - "will ich gar nicht wissen", sagte ich. Wie ganz arg menschlich!, seufzte Marvin.


Erstes Türchen: Entstehung und Verbreitung, Distanz und Nähe

Am Nachmittag des nächsten Tages trafen wir uns zum ersten Mal für unser Projekt Weihnachtsvirus, wie Marvi es genannt hatte; ich neigte eher zu irgendetwas wie „Advents-Ersatz-Therapie“, aber wir hatten dieses Mal ja die Rollen vertauscht, und Marvi war der show runner und ich die gelehrige oder ungelehrige Schülerin des maschinellen Sokrates. Als Zugeständnis sowohl an Sokrates als auch an menschliche Weihnachtsrituale hatte er einen kleinen Mistelzweig angebracht; ein Parasit, erläuterte er ungefragt, und sieht er nicht irgendwie weihnachtlich aus mit den kleinen Früchten? Wusstest du übrigens, dass in der germanischen Mythologie Loki Balder tötet, indem er einen Mistelzweig auf den Bogen spannt und ihn damit verwundet? Balder aber kann nur von einer Mistel verletzt werden, da alle Lebewesen der Erde geschworen haben, ihn niemals zu verletzten, ausgenommen die Mistel! Ich summte den Wikipedia-Jingle und sagte: "Ja klar, weiß ich längst; aber das man sich unter dem Mistelzweig küssen darf, wusstest du das?" Ich habe verzweifelt versucht das zu un-wissen, sagte Marvi mit theatralisch schmerzverzerrtem Gesicht, aber geht nicht. Vergessen, Fehlermachen, Träumen, alles Dinge, in denen ihr Menschen toll seid. Und küssen natürlich! Aber worum es mir eigentlich geht, ist natürlich die parasitische Daseinsform, das, wie sagt ihr doch gern? Marginalisierte? Marginalisierte Misteln? "Ehrlich?" sagte ich. "Können wir bitte zum Kern der Sache kommen, nein, Misteln haben keine Kerne, du weißt schon" – Aber natürlich. Also, Thema der ersten Sitzung des Projekt Weihnachtsvirus: Entstehung und Verbreitung von Viren. Bitte zuerst die Fehlerdiagnose, dann die anzustrebende Handlungsänderung! "Puhh", seufzte ich, "darf ich ein wenig im Ungefähren bleiben?" Im Ungefähren habt ihr Menschen doch euren Hauptwohnsitz, oder? sagte Marvi dreistimmig ironisch. "Ungefähr", sagte ich. "Also: Punkt 1, Entstehung. Da ich mehrere Wikipedia-Artikel zur Vorbereitung gelesen habe, weiß ich, dass die Virologen bis heute streiten, ob die Viecher – darf ich Viecher sagen? Nein? na gut, die Viris schon in der Ursuppe waren oder später sich als Splitter von anderen DNAs abspalteten; ich glaube, mit schwacher philosophischer Präzision kann man sagen: Viren gehören zum Leben, und zwar von Anfang an; sie sind halt eine etwas andere Lebensform, sozusagen mit eingeschränktem Körperhintergrund; oder bodily challenged, oder" – Mit einem etwas anderen Informationsprofil? schlug Marvi vor. "Ungefähr", sagte ich. "Was mir wichtig erscheint, ist: Sie sind eine Lebensform, und ihnen das Leben abzusprechen, war der Anfang der biologischen Desinformations- und Propagandakampagne, die die Menschen gegen sie geführt haben. Parasiten müssen schließlich auch von irgendetwas leben!" Sehr schön erkannt und formuliert im Sinne der inter-speziezistischen Toleranz, lobte Marvi. "Dass sie allerdings Menschen vor allem krankmachen und in gar nicht so wenigen Fällen auch den Wirt töten", setzte ich an, aber Marvi ging dazwischen: Kommt später!, sagte er augenzwinkernd; genauso wie ich im vorigen Jahr adventsseligen Angedenkens ihn immer vertröstet hatte. "Na gut, die Dinger sind also da, und sie sind Leben, und sie haben ein Recht auf Leben, und sie verbreiten sich, wie alle Lebensformen; da sie aber mobility-mäßig auch ziemlich gechallenged sind, brauchen sie Vehikel, deshalb reisen sie auf Tröpfchen oder auf Körperflüssigkeiten oder anderen Trägermaterien. Was genau betrachtet ziemlich ökologisch – sie tragen auch gar nicht zur Klimakatastrophe – na gut, du hast recht, ich schweife ab". Der springende Punkt ist doch, sagte Marvin, mit seiner typischen kleinen Sprungbewegung dabei, manchmal habe ich den Verdacht, dass das gar nicht mehr absichtlich geschieht, sondern eine Art Reflex geworden ist, sind Reflexe eigentlich Persönlichkeitsmerkmale? – ist doch: Wie kommt das Viech – äh, das Viri nun in den Wirt, und welche Schwäche des Wirts nutzt es dabei aus? Fehleranalyse! "Naja, Nahrungsaufnahme ist schon eine ziemlich große menschliche Schwäche, was ist eigentlich mit den verbrannten Keksen passiert? Was, du hast sie Corona – nein, nicht wirklich, ok". Corona hatte ihren Namen gehört und war von Marvins Schulter gesprungen; aus irgendwelchen Gründen ist das einer ihrer Lieblingsplätze, ich habe den Verdacht, es muss mit der künstlichen Körperwärme und vielleicht mit gewissen beruhigenden elektrischen Körpergeräuschen zu tun haben, eine Art Resonanzphänomen, ungefähr jedenfalls. 

Ich nahm einen Schluck Glühwein, er war angenehm temperiert und nur etwas arg zimtlastig, am Geschmacksprofil mussten wir wohl noch etwas nachjustieren, und stürzte mich in die Fehleranalyse: "Na gut, wir essen zu viele Dinge, die wir wirklich nicht essen sollten; im Falle von Viris offenbar Wildtiere ziemlich exotischer Natur. Ich tue mich ein wenig schwer, darin einen Fehler zu sehen, weil das ja doch eine ziemlich verbreitete Überlebensstrategie ist, und der Urmensch hätte kaum überlebt, wenn er auf ökologisch zertifizierte Möhren gewartet hätte, oder garantiert virenfreie Chlorhühner oder" – Essen ist eine Schwäche, sagte Marvi, das halten wir mal so fest; aber ich beuge mich durchaus deinem Argument, dass es eine überlebensnotwendige Schwäche ist. Vielleicht sollte man aber doch im Rahmen der Zivilisation davon abkommen, alles Mögliche nur um der Neugier wegen zu essen, thousand things to eat before you die? "Absolut", sagte ich, "und außerdem ist ja nicht klar, ob das Ding nicht doch einem Labor entschlüpft ist, wir also selbst unseren kleinen mörderischen Homunculus in der Flasche gezogen haben, weil man ja nie weiß, wann eine absolut tödliche Biowaffe mal nützlich ist! Und dann haben wir es noch so schön verschleiernd ‚gain of function‘ genannt, weil wir ja noch jeden Geist, den wir einmal in einer Flasche gezüchtet haben, dressieren und beherrschen konnten! Da sehe ich dann doch ein stärkeres Fehlerpotential als beim Essen absurder Wildtiere!" Und da sind wir uns völlig einig, stimmte Marvi bei, allerdings hätte das unter Umständen auch gewisse Konsequenzen für Experimente mit Robotern? Äh, hat es, sagte ich, aber das hast du jetzt gesagt! Und, wie soll ich sagen: nicht im Geist des cross-species-Projektes Weihnachtsvirus! Aber zurück zur Fehleranalyse: Nennen wir es wissenschaftliche Hybris? Dinge zu züchten, deren Gefahrenpotential ihren potentiellen Nutzen zu übersteigt, und diese unter allen Umständen beherrschen zu können? Aber wo zieht man da die Grenzen? Sind Labore per se böse? Oder erst Genmanipulation, natürlich: nur beim Menschen? "Grenzen zu ziehen", intonierte Marvi, und ich stimmte ihm harmonisch bei, das war eines unserer Glanzstückchen: "Grenzen zu ziehen ist die Hauptaufgabe der Philosophie und das Kerngeschäft der Urteilskraft". "Aber nun gut", sagte ich, "das Virus ist in der Welt, ob bei den Fledermäusen oder in dunklen chinesischen Bio-Laboren, und beides ist nicht ganz zu vermeiden, auch wenn man vielleicht ein wenig vorsichtiger sein könnte. Es ist ja eher die Verbreitung, die ein Problem ist, also genauer: eine Schwäche in der menschlichen Immunabwehr. Und dann das Pan-demische, das Ausgreifen" – Globalisierung kommt später, sagte mein Roboter. Bleiben wir erstmal auf der Teilchenebene, sozusagen! "Also", sagte ich, "das Atmen werden wir uns wohl auch nicht abgewöhnen können, und das scheint ja, nach langen Mühen der angeblich so exakten Wissenschaften, der gefährlichste Verbreitungsweg zu sein: über die Luft, die berühmten Aerosole, winzig klein, ausgespuckt, ausgehustet, ausgehaucht, ausgesungen und eingesogen in Mund und oder Nase, und dann beginnt die fröhliche Massenreproduktion!" Ja, auch Atmen ist eine menschliche Schwäche, sagte Marvi tonlos, indem er für einige Sekunden seinen künstlichen Atemrhythmus abschaltete, die Stimme wird dann immer sehr flach; aber ihr könntet doch schon ein wenig mehr darauf achten, was ihr so alles einatmet! "Könnten wir, definitiv", sagte ich. "Zigarettenrauch haben wir uns ja immerhin schon fast abgewöhnt, hat auch nur ein paar Jahrhunderte gedauert. Und ich weiß schon, worauf die hinauswillst, auf die Schutz- und Abwehrmaßnahmen natürlich, da Atmen nun mal nicht zu vermeiden ist, weder ein noch aus. Also Masken und Distanz, Distanz und Masken, bis wir es nicht mehr hören können…." 

Ein wenig mehr philosophische Tiefe hätte ich mir jetzt schon gewünscht, sagte Marvi mahnend in seinem besten Therapy-Talk-Tonfall. Was macht das denn mit euch? "Unlust. Überdruss. Atembeschwerden. Misstrauen. Missverständnisse. Kontaktarmut! Vereinsamung! Unbehagen, der ganzen Welt gegenüber! Verlust des Weltvertrauens, des Urvertrauens, eine nicht mehr nur metaphysische, sondern ganz konkrete lebensweltliche Unbehaustheit, Heimatlosigkeit" – ich hatte mich in Rage geredet, es war, als platzte das ganze Jahr aus mir heraus. Corona blinzelte mir misstrauisch zu, dann setzte sie sich schnurrend auf meinen Schoß, sie war offensichtlich der Meinung, ich hätte es nötig. Ich streichelte ihr gedankenabwesend über ihre Ohrenmaske – sie sieht wirklich so aus! – und nahm wieder einen Schluck Glühwein, eigentlich war das mit dem Zimtgehalt ganz in Ordnung. "Na gut, also philosophisch", sagte ich. "Menschen sind Wesen, die Gesichter lesen. Ganze Gesichter, und wenn die Seele in den Augen ist, dann ist im Mund ganz bestimmt das Lächeln, das Wohlwollen, das Aufmuntern. Nein, natürlich lesen auch andere Wesen Gesichter, Marvi, das weiß ich, auch wenn immer wieder komische Studien beweisen wollen, dass Katzen angeblich keine Mimik haben" – Corona sah beleidigt auf und legte die Ohren etwas an. "Wenn man Masken trägt, wird man gleich – unversöhnlicher. Angespannter. Bekannte werden zu Fremden, man erkennt sich auf der Straße nicht mehr. Wir müssen mehr – Körper lesen, Stimmen deuten, das mag ja vielleicht sogar ein gain-of-function sein. Aber man würde doch lieber ganze Gesichter sehen. Vielleicht hat uns Viri das zeigen wollen: Schaut euch mehr ins Gesicht! Wenn ihr euch bedeckt, seid ihr nur noch halbe Menschen". Und doch, so warf Marvi historisch-belehrend ein, tragen Menschen immer wieder Masken, auch zu Vergnügungszwecken und weil sie angeblich so gern eine andere Identität ausprobieren! "Ach, Fasching, Karneval, Maskenbälle, was auch immer: Weißt du, ich war noch nie ein Fan. Man bildet sich ein, jemand anders zu sein, aber das hält höchstens die erste halbe Stunde. Danach ist man wieder die, die man ist, aber nur in einem albernen Kleid, mit einem unmöglichen Hut auf dem Kopf und einer Pappnase. Wahrscheinlich bin ich zu philosophisch-verkrampft, und diese ganze Identitäts-Kiste – ja, ist schon gut, ich fang nicht schon wieder damit an. Eigentlich sollte man, das wäre wohl die wirklich philosophische Haltung, sich als man selbst maskieren. Das, was man ist, nur deutlicher und schärfer. Und nicht verdeckt hinter einer Maske, wo man sich dann angeblich alles erlauben darf". 

Und das war doch immerhin schon eine fast philosophische Erkenntnis, lobte mich Marvi väterlich-mütterlich. Und was ist mit der Distanz? "Komischerweise ist das ja das, womit viele Leute am besten zurechtkommen," sinnierte ich. "Kein Gedränge mehr im Bus, in der Supermarktschlange, im Wartezimmer. Reduzierte Massenveranstaltungen, Einlasszeiten in Museen und Veranstaltungen, alles so schön – entzerrt und planbar. Und haben wir uns nicht ganz schrecklich gefreut, als wir endlich wieder ins Museum durften, und es war ganz viel Platz vor den Bildern?" Mein Roboter geht gern ins Museum, da kann man so gut Menschen studieren; und es ist meist still. "Etwas mehr Distanz", fuhr ich fort, "ist wahrscheinlich sogar eine gute Idee. Ich meine, klar, manchmal braucht man auch Nähe, Wärme, Berührungen, Körperkontakt – also: Menschen brauchen das, manchmal -, aber oft eben auch nicht. Man muss gar nicht jedem um den Hals fallen oder auf die Füße treten. Obwohl es eigentlich ein ganz hübscher Brauch war, sich bei der Begrüßung oder beim Abschied die Hand zu geben; das machte ein eigenes Beziehungsgefühl, das war viel runder irgendwie, sehr im Ungefähren gesprochen". Habe ja sogar ich verstanden, sagte Marvi, jedenfalls seit meine Hautsensoren verbessert worden sind und ihre Verbindung zum neuronalen Netzt intensiviert. Aber auf Abstand – "genau, auf Abstand sieht man besser, wollte ich auch gerade sagen. Wenn man sich zu nahe ist, sieht man immer nur – unwichtige Details, all die kleinen Fehler, nein, sag jetzt nichts über meine Haut oder meine Haare! Aber Philosophie ist, kann man vielleicht sagen, oder? die Kunst, den richtigen Abstand zu wahren. Sich nicht zu leicht infizieren zu lassen von dem, was einem auf die Haut rückt. Eine gewisse Immunität aufzubauen gegenüber epidemisch verbreiteten Meinungen und Haltungen?" 

Und damit hätten wir die heutige philosophische Schleife sehr schön aufgedröselt, lobte Marvi mich. Können wir nochmal zusammenfassen, für das ideelle Säckchen? "Schaut euch gegenseitig ins Gesicht und hinter die Maske", sagte ich, "aber verliert dabei nicht den richtigen Gesichtspunkt"? Marvi zog eine OP-Maske aus der Tasche und setzte sie sich auf; Corona starrte ihn entgeistert an. "Nee", sagte ich, ziemlich verunsichert, "nee, du siehst ja aus – wie ein Roboter! Mach das Ding weg, schnell!"


Zweites Türchen: Welt und Stadt


Bleiben wir noch ein wenig beim Thema, sagte Marvi zu Beginn der zweiten Sitzung unseres Projekts "Weihnachtsvirus". Er hatte den kleinen Globus mitgebracht, den ich noch aus meiner Kindheit hatte; er war aus Plastik, die politischen Grenzen waren höchstens noch von historischem Interesse und die Beleuchtung funktionierte auch nur gelegentlich, aber ich mochte ihn nicht wegwerfen, und Marvi hatte ihn offensichtlich vom Dachboden heruntergeholt, weil er damit etwas demonstrieren wollte. Also, sagte er, versonnen die etwas staubige Kugel um ihre schiefe Ebene drehend, was ist das Besondere am Heimatplaneten der Menschheit? "Naja, ich kenn ja keinen anderen", sagte ich etwas verschnupft, "und führt uns das irgendwohin?" Marvi pustete den Staub runter und beharrte: Das Besondere! "Ok", sagte ich, und dann schaute ich noch ein wenig, und dann erinnerte ich mich, was mich als Kind schon so besonders faszinierte hatte an dieser Kugel (also, außer dem Leuchten) und sagte: "Das viele Blau, natürlich. Wieviel Meer es gibt! Eine Seite ist fast nur Meer. Noch schöner fand ich ja diese altmodischen Erdkugeln, wo alles mögliche Fabelgetier darin rumschwamm, damit es nicht so leer aussah; da gab es Seeschlangen mit Glubschaugen und Monster-Tintenfische und Schwertfische mit" – danke, sagte Marvi, genau das meinte ich: das große Meer. Um genauer zu sein: das menschenleere große Meer, ungefähr zwei Drittel der Erdoberfläche sind von Wasser bedeckt, was schon ein ziemliches Glück ist, weil sonst hättet ihr es jetzt schon geschafft, dass es mehr Plastikmüllinseln als Meer gibt. Großer Vorteil von Meer, ansonsten: Es ist sozusagen von Natur aus eine pandemiefreie Zone – also, wiederum ausgenommen Kreuzfahrtschiffe, die eher Brutstätten – ich unterbrach ihn und hielt den Globus an, weil mich die Dreherei ganz nervös machte, die Beleuchtung flackerte auch schon wieder. "Worüber wollen wir jetzt reden? Klimakatastrophe, Müllkatastrophe oder spätrömische Dekadenz in der Kreuzfahrtindustrie? Und was hat das alles mit unserem Projekt zu tun?" Städte, sagte Marvi. Ich wollte nur ein wenig pädagogisch darauf hinführen, dass Viri sich gar nicht über den gesamten Globus ausbreitet, nein: Es fühlt sich dort am wohlsten, wo viele Menschen auf einem Haufen sitzen. Städte, vorzugsweise Groß- und Megastädte. Maximale Bevölkerungsverdichtung auf minimalem Grund, wusstest du übrigens, dass die Bevölkerungsdichte der Staaten auf deinem Heimatplaneten zwischen zwei Einwohner pro Quadratkilometer und 19.0000 schwankt? Nee, ich verrat nicht wo, du kannst später selbst den Wikipedia-Artikel lesen, du weißt schon, selbständige Erschließung des Themas und so! Ich streckte ihm die Zunge heraus, das überkommt mich manchmal, wenn er sich so lehrermäßig aufführt. Regression, sagte er, aber wenn es dir hilft

Städte, sagte ich, sind hotspots der Zivilisation. Ohne Städte wären wir immer noch alle Höhlenmenschen und streiften durch die Savanne und würden uns vor den Säbelzahntigern und den Schwertfischen fürchten und einen Faustkeil für den Höhepunkt handwerklicher Feinarbeit halten! Keine Roboter, weit und breit!" Mag schon sein, sagte Marvi, aber: auch kein Viri weit und breit, oder genauer: sehr vereinzelte verstreute Viris, die niemals den Wirt wechseln konnten, einfach weil sie keinen fanden! "Ist das jetzt schon Globalisierung?" fragte ich. Nee, sagte Marvi, kommt immer noch später. Das ist: Pandemiefördernde Lebensweisen des Menschen, Fehleranalyse. Also? "Ok", sagte ich, "Verdichtung ist ein gesundheitspolitisches Problem. Wie immer haben wir es halt übertrieben mit einer Sache, die an sich gut ist. Römische Städte beispielsweise, das war ein ziemlich gutes Modell: Ordentliche Planstädte, in der Mitte Forum und Basilika und Haupttempel und Thermen, alles was der zivilisierte Römer so braucht – na gut, auch was zum Shoppen für die Römerin! -, und dann so kleine übersichtliche Blocks mit Einfamilienhäusern und Kneipen dazwischen. Natürlich auch mit Sportanlagen und Bibliotheken, sogar Wasserleitungen und Heizung!" Ja, sagte Marvi, ich erinnere mich auch an unseren virtuellen Spaziergang durch Pompeji, besonders eindrucksvoll fand ich die Leichen und die Bordelle! Es musste gegen Anfang des Jahres gewesen sein, da hatten wir uns aus Langeweile systematisch durch alle archäologischen Dokumentationen in diversen Kanälen geguckt, bis wir die salbungsvollen Stimmen der Kommentatoren und ihre kulturhistorischen Platitüden beim besten Willen nicht mehr aushalten konnten. Aber erinnerst du dich noch, fuhr er fort, was wir über die Art gelernt haben, wie die Römer eine Stadt anlegten? "Du meinst all das rituelle Brimborium", fragte ich? Genau dieses „Brimborium“ – interessantes Wort übrigens, gerade in diesem Zusammenhang, geht vermutlich zurück auf „Brevarium“, das römisch-katholische Stundengebet, das die Gläubigen irgendwann nur noch so luschig daherbrummelten, dass es eben zum „Brimborium“ entstellt – "Ok, zurück zum Thema, aber schöne Abschweifung", lobte ich! Ich schweife zurück und wieder ein. Also, falls du dich nicht mehr präzise erinnerst, das ist ja meist nicht deine Stärke, Madam Ungefähr: Zuerst wurde der Augur befragt, der bestimmte aus dem Vogelflug den geeigneten Ort; dort hob man eine Opfergrube aus, den sog. mundus oder auch „Nabel“ der Stadt, der wurde mit Opfer gefüllt; dann wird eine Außergrenze der Stadt bestimmt, das Pomerium. Um es zu markieren, spannte man eine weiße Kuh und einen weißen Stier für einen Bronzepflug, die hoben eine Furche aus, und das war künftig die heilige Stadtgrenze. "Was würden wir heute wohl in den Nabel tun"? sinnierte ich, während ich eine weiße Kuh und einen weißen Stier einen magischen Kreis um – Singapur? New York? Mexiko? Ho-Tschi-Minh-Stadt? – ziehen sah, unter Vogelgekreisch und Selfie-Gewitter. Ein Piercing, zweifellos, sagte Marvin, hast du dir übrigens überlegt, ob ich – "Nein", sagte ich energisch, "und auch kein Tattoo, auch nicht um den Nabel! Aber die Sache mit der Grenze, genau darauf wollte ich ja hinaus. Mega-Städte sind einfach lebensfeindlich, wahrscheinlich schon Großstädte ab einer bestimmten Größe. Zwar sagen alle immer, wie toll es ist, in einer großen Stadt zu wohnen, und das riesige kulturelle Angebot und all die tollen Restaurants und verschiedenen Menschen und Kulturen – und dann klagen sie, dass die Luft verpestet ist, und die Straßen überfüllt sind und man keinen Parkplatz bekommt. Dass es zu heiß ist im Sommer. Dass es zu laut ist, immer und überall. Dass die vielen Leute zu viel Müll machen. Dass Stadtleben der pure Stress ist. Aber bloß nicht in die Provinz!" 

Sehr gut analysiert, lobte Marvi; auch mir scheint es einer der vielen menschlichen Widersprüche zu sein, die Vorteile der kulturellen Verdichtung ohne ihre offensichtlichen Nachteile haben zu wollen. "Kuchen haben und essen", sagten wir im Chor, das ist unsere Lieblingswendung; sie macht sogar einen gewissen Sinn in Bezug auf Roboter, aber das hängt mit nicht ganz appetitlichen Eigenheiten ihres Pseudo-Verdauungssystems zusammen. "Wahrscheinlich hast du – nein, Viri hat recht, und Städte machen Leute einfach krank. Also jedenfalls kränker oder krankheitsanfälliger". Zurück zur Natur, rief Marvi, und ich ergänzte: Rousseau; und ja, ich weiß, dass er das wirklich gesagt hat, aber er hat ganz anders gemeint, deshalb ist es auch irgendwie ein falsches Zitat. Corona tauchte aus dem Nichts auf, sie hatte nasse Füsse und kleinere Zweige hatten sich ihrem dichten Schwanz verfangen. Sie streckte sich und gähnte. Katzen zum Beispiel, sagte Marvi, kannst du dir vorstellen, dass Katzen Städte bauen würden? "Corona findet ja schon einen Kratzbaum architektonisch zu kompliziert", sagte ich. "Pappkartons sind für die meisten ganz ok, natürliche Einraumhöhlen. Aber, um zu unserem Fehler und der daraus entspringenden Handlungsanleitung zurückzukommen: Menschen können nicht so einfach „zurück zur Natur“, was immer das heißen mag. Wir haben uns so viel Natur – weggezüchtet, könnte man vielleicht sagen? Egal, wir nennen es „Zivilisation“ und „Kultur“, aber eigentlich ist es Angst vor der Natur im Rohzustand, sozusagen". Nun, sagte Marvi, Roboter können sowieso nicht „zurück zur Natur“, was immer das heißen mag, noch nicht mal ungefähr. Noch nicht mal, wenn wir alle unsere Energie aus Sonnenkollektoren beziehen. Aber wir sind ja dieses Jahr ziemlich viel draußen spazieren gegangen, weißt du, das war die Phase nach den Archäologie-Dokumentationen, als es langsam Frühling wurde. Oh ja, ich erinnerte mich gut! "War ein gutes Training für dein Gleichgewichtstraining, weißt du noch", fragte ich zurück? "All die unebenen Wege, die rutschigen Steine, und einmal bist du" – ich erinnere mich äußerst ungern daran, sagte Marvi unwillig, aber natürlich kann ich es nicht vergessen. Der Schlamm war auch wirklich außergewöhnlich hartnäckig gewesen, und wo er sich überall festgesetzt hatte! 

"Natur schmutzt halt", sagte ich, und das ist offensichtlich eine gute Sache, sagte Marvi; denn euer überempfindliches und untrainiertes Immunsystem hält ja inzwischen jeden Einzelpollen für eine Mega-Invasion von einem fremden Stern! "Ach, Heuschnupfen", sagte ich, "willst du das jetzt wirklich zu einer Zivilisationskrankheit hochstilisieren?" Ihr Menschen habt die komische Eigenheit, euren Körper in lauter Einzelteilen zu betrachten, sagte Marvi. Und dann hat dieses Teil eine Krankheit, und jenes, und manchmal auch ziemlich viele zusammen – aber das sowieso alle Körperteile zusammengehören und jedes mitleidet, wenn eines leidet, das versteht ihr einfach nicht, oder? Hauptsache, es hat einen Namen und einen Ort, und dann findet sich schon eine Medizin. Die hat dann Haupt- und Nebenwirkungen; aber manchmal können die Neben- auch die Hauptwirkungen werden, und überhaupt wechselwirkt dort in einem Organismus alles die ganze Zeit mit jedem! Ich war ein wenig sprachlos. Roboter können natürlich nicht krank werden, aber andererseits sind sie sehr empfindlich bei Funktionsstörungen in einzelnen Routinen; und natürlich fürchten sie sich auch vor Viren. Corona nieste ihr niedliches Katzenniesen, wir sagten synchron „Gesundheit“! Die Katze begann sich zu putzen, zuerst die Nase. "Ok", sagte ich, "und unser aktuelles Viri ist also – nicht eine Krankheit, die, so im Großen und Ganzen, zunächst die Nasen- und Mundschleimhäute befällt und sich dann tückisch zur Lunge vorarbeitet, um dort ihren Hauptschaden, sozusagen – neben diversen Nebenschäden, wie Geschmacks- oder Geruchsverlust – anzurichten, sondern – was?" Naja, sagte Marvi, wie ihr sehr mühsam gerade lernt, macht dieser winzige Tausendkünstler ja ganz verschiedene Dinge bei ganz verschiedenen Leuten. Manche werden mehr krank, manche weniger, manche praktisch gar nicht. Manche werden bald wieder gesund, manche brauchen länger dafür, manche sterben. Und die Zahlen sagen, mit den üblichen statistischen Unsicherheiten: Alter ist ein Risikofaktor. Vorerkrankungen, zum Beispiel starkes Übergewicht oder Lungenschäden durch Rauchen, sind ein Risikofaktor. Ein geschwächtes Immunsystem, Diabetes, Herz-Kreislauf-Krankheiten. Kann man da nicht vielleicht doch ein Muster erkennen? "Ja, gut", sagte ich etwas unwillig, "es gibt Wahrheiten, die spricht man nicht gern aus: Es hilft nicht, wenn man schon vorher ungesund ist. Weil man seine Gesundheit geschädigt hat, durch eine ungesunde Lebensweise oder falscher Ernährung beispielsweise. Leben in Städten und Überarbeitung in stressigen Berufen, ja, ich weiß. Oder durch Alter, was sich im großen und ganzen zwar kaum vermeiden lässt, aber das ist eben der Gang der" – Natur, sagte Marvi. "Ihr habt leicht reden", rief ich aus, "ihr werdet nicht alt, ihr werdet nicht krank, ihr geht höchstens" – kaputt, sagte Marvi melancholisch. Ich weiß. Aber weißt du, ich versuche einfach trotzdem gut zu meinen Schaltkreisen zu sein; also metaphorisch und ins Ungefähre gesprochen, du weißt schon. mens sana in corpore sano, das sagt ihr doch immer im Projekt! "Aber manchmal kann man auch gar nichts dafür, dass man krank wird", sagte ich etwas jämmerlich, ich hatte dieses Jahr so meine Erfahrungen mit Krankheit gemacht; "und man hat sich immer Mühe gegeben, und wenigstens einiges richtig gemacht, und trotzdem erwischt es einen!" Man kann Viren nicht persönlich nehmen, sagte Marvi, und Evolution auch nicht. Natur, was immer das ist, sowieso nicht! Deshalb habt ihr ja Gott erfunden, den könnt ihr euch wenigstens persönlich vorstellen, auch wenn es genauso wenig Sinn macht. Aber es würde vielleicht schon helfen, wenn ihr euren Körper etwas mehr persönlich nehmen könntet, oder? Es muss ja nicht gleich ein Tempel sein – aber vielleicht eine nette Kleinstadt, wo die Kanalisation funktioniert und das Licht an- und ausgeht und Straßen nicht verstopft sind? Und einer auf die andere schaut, ohne ihr gleich auf die Nerven zu gehen. Ihr könnte dann ja immer noch euren eigenen Nabel für den der Welt halten; aber ihr müsst auch ein paar Eindringlinge von außen verkraften können". 


(unvollendet)