Publikationen
»Auf einmal weiß ich viel von den Fontänen« – Metamorphosen eines Jugendstilmotivs bei Rainer Maria Rilke. In: Andreas Beyer/Dieter Burdorf (Hg.): Jugendstil und Kulturkritik. Zur Literatur und Kunst um 1900. Heidelberg 1999, S. 177-194.
Rollenlyrik im Buch der Bilder. Zum Verwandlungspotential einer unterschätzten lyrischen Gattung. In: Blätter der Rilke-Gesellschaft 26 (2008), S. 168-192.
Zwischenräume. Zu einem Motivkomplex in Rilkes zweiter Duineser Elegie und dessen Tradition. In: World Literature Studies 5 (2012), S. 38-49. (Volltext)
Cézanne-Erlebnisse bei Rainer Maria Rilke und Peter Handke. Ansätze zu einer literarischen Phänomenologie. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 21 (2013), S. 367-389.
Unveröffentlicht:
(Dijon)
Noch schließt die aufgegebene Kartause
sich um den Hof, als würde etwas heil.
Auch die sie jetzt bewohnen, haben Pause
und nehmen nicht am Leben draußen teil.
Was irgend kommen konnte, das verlief.
Nun gehn sie gerne mit bekannten Wegen,
und trennen sich und kommen sich entgegen,
als ob sie kreisten, willig, primitiv.
Zwar manche pflegen dort die Frühlingsbeete,
demütig, dürftig, hingekniet;
aber sie haben, wenn es keiner sieht,
eine verheimlichte, verdrehte
Gebärde für das zarte frühe Gras,
ein prüfendes, verschüchtertes Liebkosen:
denn das ist freundlich, und das Rot der Rosen
wird vielleicht drohend sein und Übermaß
und wird vielleicht schon wieder übersteigen,
was ihre Seele wiederkennt und weiß.
Dies aber lässt sich noch verschweigen:
wie gut das Gras ist und wie leis.
Rainer Maria Rilke, zwischen dem 22.8. und 5.9.1907, Paris
Gedichte über Rosen gibt es wahrlich genug. Umgeben sind wir jedoch meistens von Gras. Gras ist langweilig und grün; wenn es im Sommer nicht genug regnet, wird es hässlich gelbbraun und verdorrt. Man muss es regelmäßig mähen, und man ärgert sich über Moos und Klee, Löwenzahn und Quecken, und manche sogar über unschuldige Gänseblümchen. Schon das Wort ist irgendwie nicht gerade lyrisch: einsilbig, mit harten Anlauten, es reimt auch nicht gut (nass? saß? Osterhas?). Man kann es auch nicht zu Sträußen binden; allerhöchstens kann man kleine Knoten daraus machen oder auf ihm pfeifen, wie damals, in den endlosen Sommern einer kaum noch erinnerten Kindheit. War damals nicht wirklich das Gras noch grüner? Vor allem im Frühling, wenn die ganze Welt in Pastell getaucht schien und man angesichts einer frisch aufgeblühten Wiese auf einmal, für einen Moment, eine Kuh sein wollte?
Rainer Maria Rilke hat ein Gedicht über Gras geschrieben. Es ist aber auch ein Gedicht über Irre: Irre im Garten, ist sein lakonischer Titel. Die „aufgegebene Kartause“, in der sich der Garten befindet, war ehemals ein berühmtes Kartäuserkloster in Dijon, die Grablege der mächtigen Herzöge von Burgund und ausgestattet mit wertvollen Kunstwerken. Der Furor der Französischen Revolution hat nur den ehemaligen Großen Kreuzgang verschont, mit dem Mosesbrunnen in der Mitte; schon seit langer Zeit wird das Gelände als psychiatrisches Krankenhaus genutzt. Rilke sah es auf seiner Reise nach Rom, Ende des Jahres 1803. Es hat aber wohl einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen, denn geschrieben hat er das Gedicht über das Gras und die Irren erst 1907, als er wieder zurück in Paris war. Ganz leise und heimlich beschwört das Gedicht auch diesen historische Hintergrund; wenig nur noch ist heil geblieben in dem ehemaligen Kloster, das mit aller Pracht und allen Kunstwerken den lauten Zeitläuften zum Opfer gefallen ist. Anstelle meditierender Kartäuser-Mönche pflegen nun Irre die Beete im Kreuzgang; und auch sie sind nicht heil, sondern versehrt von der Welt, dem „Leben draußen“.
Inmitten all dieser eigentlich gar nicht mehr heilen Welt jedoch bildet der Hof der Kartause eine Oase; in ihm ist „Pause“ vom Leben, und auf einmal erscheint das Leben als eine gigantische, nicht enden wollende Schulstunde, mit viel zu seltenen Pausen und immer überfüllten Pausenhöfen. Zwar schließt auch dieser Pausenhof seine Bewohner ein, aber diese leiden offensichtlich nicht unter ihrem Freiheitsentzug: Sie suchen nicht das Neue, das Unbekannte, sondern gehen „mit bekannten Wegen“ mit ihnen, nicht auf ihnen, so als wären die Wege ihre Freunde, etwas, mit dem man um-geht. Dabei folgen sie instinktiv einem unsichtbaren Muster, das aus dem Kommen und Gehen kein zielloses Gewusel, sondern eine harmonische Kreisbewegung macht: eine kommunikative, aber sprachlose Begegnung. Die Irren sind zu Wiedergängern der Mönche geworden: Sie haben sich (wenn auch unfreiwillig) von der Welt draußen abgeschieden; sie knien demütig; sie leben dürftig; aber sie erkennen das Gute, in ihrer Seele. Sie sind Irre, und sie sprechen lieber in Gebärden mit dem frühen Gras als in Worten von den roten Rosen (von Menschen, dieser größten vorstellbaren Bedrohung von allem, gar nicht zu reden).
Deshalb spricht das Gedicht, mit seinen bescheidenen Mitteln, für die Irren. Es versammelt einfache Gegenstände – den Hof, die Wege, die Frühlingsbeete, das Gras. Es benutzt einfache Worte, die nicht erschrecken: viele Verben mit der Vorsilbe ver-, die den Verlust von etwas andeuten, das Verschwinden und Vergehen; emotional anrührende Adjektive (zart, früh, verschüchtert, freundlich, gut, leise); auch auffällig unkonkrete Wörter, Unbestimmtheitsmarker wie „irgend“ oder „vielleicht“, die vieles offen lassen und nichts auf den Punkt bringen. Das Gedicht hat ein einfaches alternierendes Versmaß, das der gleichmäßigen Bewegung des Kommens und Gehens entspricht; es hat unauffällige Reime (heil-teil, weiß-leis, Wegen-entgegen) und verwendet eine zurückhaltende, geradezu pastellfarben aufgetragene Lautmalerei – schüchterne „Ü“s, beruhigende „W“s, unauffällige „E“s. Das Gedicht spricht nicht bedrohlich; es spricht, um eines seiner Worte aufzugreifen, „primitiv“.
Aber stimmt das eigentlich? „Primitiv“ ist nun wahrlich kein einfaches Wort; es ist ein Fremdwort und sticht geradezu heraus aus dem umfriedeten Vokabular, ähnlich wie „Kartause“. Der zweite Blick entdeckt eine ganze Reihe solcher Fremdlinge. Es gibt auch komplizierte und abstrakte Bilder (das „Übermaß“ der Rosen); sie „übersteigen“ die Sprache des Gedichtes ebenso wie das Rot der Rosen die Fassungskraft der einfachen Seelen der Irren übersteigt. „Zwar manche“ durchbricht zu Beginn der dritten Strophe die kollektive Sichtweise mit einer Inversion, einer grammatischen Umstellung der gewohnten Satzfolge – ebenso wie die genannten „manchen“ aus dem rhythmischen Kreisen der Gruppe isoliert werden. Neben einfachen Reimen stehen überraschend fremdartige, die Ungewohntes paaren und beinahe peinlich berühren: Die „Kartause“ wird mit der „Pause“ verbunden, „verlief“ mit „primitiv“, das „Gras“ mit „Übermaß“ – gerade die komplizierten Wörter und Vorstellungen, die das Gedicht „übersteigen“, erhalten einen eher „primitiven“ Partner, der sie zurückbindet an den geschlossenen Hof und die einfache Wahrnehmung. Die lautmalerischen „Ü“s schließlich sind nicht nur grün und schüchtern, sondern im „Übermaß“ und dem „Übersteigen“ auch übermächtig; sie konterkarieren nur mühsam das lautstarke „Drohen“ der „O“s der roten Rosen.
Eine Bedrohung ist im Gedicht also durchaus enthalten; sie steckt im wiederholten „noch“ – es handelt sich nur um einen begrenzten Zeitabschnitt, eine „Pause“ eben – ebenso wie im akustischen Anschwellen des Tones im Gedichtverlauf. Den Einschnitt bildet dabei offenbar die Formel „Zwar manche“. Mit der dritten Strophe variiert das Gedicht sein Reimschema: Die umarmenden Reime, die in den ersten beiden Strophen die Geschlossenheit des Hofes beschworen hatten, weichen einem Kreuzreim, der die Interaktion der „Manchen“ in ihren Gebärden mit dem „zarten frühen Gras“ einfängt, aber auch die Kontrastierung von grünem Gras und roten Rosen. Die letzte Strophe – und darin zeigt sich der Meister vereint untergründig beide Muster: Über „ei“-Assonanzen sind alle vier Reimwörter aneinander geknüpft, das „übersteigen“ und „verschweigen“ ebenso wie „weiß“ und „leis“. Und auch im Satzbau sind die drei letzten Strophen deutlich von den gleichmäßigen ersten beiden abgehoben, die jeweils einen einzelnen Satz umfassen. Der in der dritten Strophe angefangene Satz zieht sich über die gesamte vierte hin, um im „Übersteigen“ in der ersten Hälfte der fünften Strophe zu gipfeln. Zudem macht der lange Satz dabei zwei geradezu atemberaubende Sprünge: Über die Strophengrenzen hinweg, mitten im Satz, wird die „verheimlichte, verdrehte“ – „Gebärde“ am Ende der dritten Strophe mit einem Enjambement unterbrochen, so als müsse das Gedicht erst ein Wort suchen für das, was da heimlich geschieht (und das Wort, das er findet, ist dann auch ein eher „großes“). Und auch das „Übermaß“ am nächsten Strophenende lässt nach Luft schnappen, schafft Raum für das Anwachsen des Bedrohungsgefühls in einer Lücke zwischen den Strophen, in einer Pause im Fluss der Sprache.
Im umfriedeten Raum der Kartause ist die Bedrohung allerdings gezähmt. Sie ist vor allem deshalb nicht mehr primär verstörend, weil das Gedicht eine Umwertung der Werte vorgenommen hat: Indem es etwas „verdreht“ hat nämlich, weil es nicht von Rosen, sondern von Grashalmen spricht. Die (zumindest temporär) heile Welt ist die der Irren in der aufgegebenen Kartause, nicht die der Gesunden im „Leben draußen“. Sie sind fähig zu menschlichen Gesten und Gebärden, sie erkennen Freundlichkeit und Güte in kleinen Dingen, sie pflegen in Demut, willig, aber ohne zu wollen. Gleichwohl haben sie eine Ahnung davon, dass es auch große Dinge gäbe, jenseits der Mauern, dort, wo es laut und deutlich hergeht, wo die Dinge nicht verlaufen, sondern auf einen zukommen, wo man konfrontiert ist mit Fremden und Unvertrauten, nicht nur auf den Wegen, sondern in den Seelen. Selbst das Rot der Rosen würde schon mit aller Macht verlangen, gesagt zu werden; man müsste die richtigen Worte finden, große Worte, große Sätze für große Gefühle und große Gedanken. Das Gras hingegen, das frühe feingliedrige Gras des Frühlings, das Gras der glücklichen Kühe, das Gras der Irren – es lässt sich verschweigen. Es bleibt an einem geheimen Ort zurück, einer aufgegebenen Kartause, im Garten der Kindheit, noch, solange das Gedicht es für uns aufbewahrt und wir zu ihm zurückkehren können. Gedichte über Rosen gibt es schließlich genug.
I. Goethe und Rilke, oder: was ist eigentlich ein Gedicht?
Es lohnt sich eigentlich immer, bei Goethe anzufangen, egal, worüber man sprechen will. Von Goethe zu Rilke führen sogar viele Wege; hier geht es jedoch vor allem um denjenigen Weg, der zu einer neuen Art von Gedichten führt, die Rilke dem Titel entsprechend in den Neuen Gedichten zusammenstellt. Ganz neu ist aber auch diese Art von Gedichten natürlich nicht; und sogar die dazugehörige Poetik, die Rilke parallel zum Gedichtband entwickelt, hat ihre Vorläufer, bis in die Wortwahl. So schreibt Goethe in seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit über einen bestimmten Zeitpunkt seiner eigenen dichterischen Entwicklung:
„Und so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige, was mich erfreute oder quälte, oder sonst beschäftigte, in ein Bild, in ein Gedicht und zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschließen“.
In einer anderen bekannten Formulierung hat Goethe alle seine Gedichte als „Gelegenheitsgedichte“ in einem durchaus wörtlichen Sinn bezeichnet: Sie alle beruhen auf einer konkreten, subjektiven, eindrucksvollen und in gewissem Sinne „begeisternden“ Erfahrung. Sie gehen jedoch über diese hinaus, indem sie sie zu etwas anderem, allgemeinerem „verwandeln“; und diese Verwandlung ist es, die auch bei Rilke im Zentrum seiner Poetik für die Neuen Gedichte stehen wird, ebenso wie der damit verbundene abschließende, geradezu heilende, aber auch erkenntnisreiche Prozess und dessen Nutzen für das eigene Leben. Eine solche „Verwandlung“ von Lebenserfahrung in poetische Bilder und Gedichte ist dabei durchaus nicht nur eine Angelegenheit für den sozusagen professionellen Dichter; für Goethe ist sie ein Baustein persönlicher Bildung schlechthin. So heißt es im Schema zum Dilettantismus:
„Jeder gebildete Mensch muß seine Empfindungen poetisch schön ausdrücken und folglich ein gutes (lyrisches) Gedicht machen können“.
Das klingt zwar ein wenig nach Poesiealbum und gehobenem Dilettantismus, aber letztlich ist es ein Akt des „Machens“ – ebenfalls ein Begriff, den Rilke dann ins Zentrum seiner Poetologie der Neuen Gedichte stellen wird. Und ein solches poetisches „Machen“ ist wie alles andere Machen auch eine Technik, die Übung, Schulung und noch einmal Übung benötigt – und vielleicht, am Ende, noch ein Quäntchen Genie; notfalls tut es aber auch ein Talent, und nicht jeder Gedichtmacher muss und kann ein Goethe oder ein Rilke werden. Aber es zu versuchen, das ist schon für Goethe Teil eines Bildungs- und Emanzipationsprozesses, in dem man nicht nur etwas über Dichtung, sondern auch etwas über seine Empfindungen lernen kann.
Mit den „Empfindungen“ allerdings entfernen wir uns langsam von Goethe und gehen auf Rilkes Neue Gedichte zu, in denen es programmatisch und im Unterschied zu der von Goethe mitbegründeten Tradition der Erlebnislyrik nicht mehr – oder wenigstens: nicht mehr hauptsächlich und notwendig – um Empfindungen gehen wird, insofern jedenfalls, als man damit Vorstellungen von Subjektivität, Emotionalität in seinem eher sentimentalen Sinne und natürlich: die Liebe als lyrische Haupt- und Staatsaktion versteht. Denn Rilke revolutioniert zuerst einmal das Thema der Lyrik: Warum nicht einmal von etwas anderem sprechen als vom Menschen und seinem vermeintlich so reichen und vielfältigen, aber letztlich doch: gar nicht so originellen Innenleben? Warum nicht sprechen vom Unbelebtem, von den Dingen? Oder von den nächsten und doch vermeintlich so fernen Verwandten des Menschen, von den Tieren? Und wäre es nicht vorstellbar, dass mit diesen neuen Themen dann auch neue Darstellungsformen verbunden sind, von denen man bisher noch gar nichts ahnte? Muss man nicht beispielsweise anders sprechen, wenn man von beispielsweise von Tieren spricht, deren Innenleben uns als Menschen verschlossen ist, ja, wir wissen kaum, ob und welches sie haben? Wie erlebt ein Frosch den Teich, wie erlebt der Affe den anderen Affen, was fühlt die Katze, wenn sie schnurrt? Wie spricht man vom Tier im Gedicht – und lässt das Menschliche dabei möglicherweise hinter sich? Rainer Maria Rilke ist einer der ersten Autoren, der sich an Tiergedichten versucht hat; von Goethe sind, in einem ungleich breiteren lyrischen Werk, keine Tiergedichte überliefert, wohl aber spielen Tiere in seinen Novellen und Erzählungen manchmal eine überraschende Rolle. Aber natürlich kamen Tiere in der Literatur schon vor Rilke vor, seit der Antike; aber in anderen poetischen Formen, andere Zusammenhängen und zu anderen dichterischen Zwecken.
B Tierwissen und Tierdichtung vor Rilke: Einhörner und Schwertfische
Wenn wir heute Tiere sehen wollen, gehen wir in die uns umgebende Natur oder in den Zoo, und schon haben wir einen Großteil der Tierwelt zu unserer unmittelbaren Anschauung. Wenn wir etwas über Tiere wissen wollen, schauen wir bei Wikipedia oder in ein Biologie-Buch. Das war für sehr lange Zeit völlig undenkbar. Es ist zwar eine Trivialität, aber man vergisst nur allzu leicht, dass die Naturwissenschaften in einem modernen Sinn erst zu Goethes Lebenszeit erfunden wurden; davor gab es nur sporadisch zusammengetragenes Wissen über die Tiere, die man beobachten konnte, oder Vermutungen und Phantasien über die Tiere, von denen man irgendwo gehört hatte. Tierwissen ist aber in gewisser Weise eine Voraussetzung für Tiergedichte: Man muss wissen, ob es das Tier überhaupt gibt, von dem man schreiben will (man kann aber auch wunderschöne Gedichte über Einhörner schreiben, beispielsweise, was Rilke gleich mehrfach getan hat, und eines davon beginnt programmatisch: „Dies ist das Tier, das es nicht gibt“). Es hilft vielleicht, etwas über seine Lebensweise, seinen Lebensraum, sein Verhalten, seine Lebensspanne, seine Vermehrung zu wissen. Nichts aber ersetzt die persönliche Anschauung; weshalb die seit der Antike dominante Form der Tierdichtung, die Fabel nämlich, zu ihren Gegenständen meist alltägliche, den meisten Lesern vertraute Tiere macht, Haus- und Nutztiere oder die im jeweiligen Kulturraum verbreitetsten Wildtiere.
a Physiologus: Der Schwertfisch und die Bibel – Naturbeobachtung und allegorische Auslegung
Im zweiten Jahrhundert nach Christus trägt ein unbekannter Autor unter dem Namen „Physiologus“ (also: einer, der Wissen von der Natur, der physis hat) das antike Wissen vom Tier zusammen und stellt dieses dann in einen christlich-moralischen Deutungszusammenhang. In bunter Reihenfolge finden sich hier reale und fantastische Tiere (auch das Einhorn ist dabei), auch Steine oder Pflanzen. Der Text wurde in griechischer Sprache verfasst, aber bald ins Lateinische, dann ins Arabische und schließlich auch im Mittelalter in alle europäischen Sprachen der Zeit übersetzt; es entstanden oft reich mit Miniaturbildern geschmückte Manuskripte in der Tradition des ‚Bestiariums‘. Ein interessantes Beispiel für die Mischung eines realen Tiers mit einer mythologischen Vorstellung ist der ‚Serre‘, eine Art von Delphin mit Flügeln. Er wird zu einem Bibelzitat aus Matthäus 24 in Beziehung gesetzt, das diejenigen getadelt, die etwas anfangen, aber nicht zu Ende führen – wie der ‚Serre‘ nämlich: Er folgt den Segelschiffen für drei oder vier Meilen, indem er sie mit seinen Flügeln nachmacht, ermüdet dann aber, zieht seine Flügel ein und lässt sich von den Wellen zu seinem Ausgangspunkt zurücktragen. Die allegorische Ausdeutung ist einigermaßen originell: Die Schiffe sind die Apostel und Propheten, die die neue Lehre unermüdlich und im Angesicht großer Gefahren in der Welt verbreiten; die Schwertfische hingegen sind Anhänger, die nur eine kurze Zeit folgen und gute Werke tun, sich dann aber durch menschliche Laster wie Neid, Stolz, Habgier oder Wollust (alles Todsünden im Christentum) abhalten lassen und sich von deren Wellen wieder zurücktragen lassen.
Hier wird also nicht eigentlich von Fischen gesprochen, sondern von Menschen; und der Deutungsrahmen ist abgesteckt durch die christliche Glaubenslehre, die bestimmte Verhaltensweisen fordert oder kritisiert. Das Tierreich ist also voller moralischer Lehren für den Menschen; es gibt vorbildliche Tiere (wie den Pelikan beispielsweise, der seine Jungen mit dem eigenen Herzblut nährt und damit auf Christus verweist), und es gibt verwerfliche (vor allem natürlich Schlangen, aber auch Delphine). Interessant daran ist vor allem Bemühung, die moralische Deutung auf ein natürliches Verhalten zurückzuführen: Um das Gleichnis vom menschlichen Durchhaltevermögen zu machen, muss man wissen, dass Delphine tatsächlich gelegentlich Schiffen folgen, auch wenn die Gründe dafür bis heute wissenschaftlich umstritten sind. Tierwissen ist die Voraussetzung auch für diese Form von naturphilosophischer Fabel.
b Christian Fürchtegott Gellert: Die Hunde und ihr unterschiedlicher moralischer Mehrwert – die aufklärerische Fabel als Erziehungsinstrument
Die prominenteste Gattung von Tiergedichten überhaupt sind natürlich die Fabeln. ‚Erfunden‘ wurden sie von Aesopus, einer ähnlich legendenhaften Gestalt wie Homer oder Physiologus, der im 6. Jh. vor Christus gelebt haben soll und als erster kurze, gleichnishafte Geschichten zusammentrug, in denen Tiere ebenso wie Götter, Menschen oder Pflanzen Handlungsträger sein können. Auch hier geht es vor allem darum, dass die Tiere für bestimmte menschliche Schwächen oder Stärken stehen, die sie in ihrem mehr oder weniger natürlichen Verhalten demonstrieren. Im europäischen Kulturraum sind Fabeln besonders beliebt im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung; sie gelten vielen Aufklärern wegen ihres moralisch-didaktischen Charakters als ideale Texte für die Erziehung der Jugend. Ein relativ beliebig ausgewähltes Beispiel dafür ist Christian Fürchtegott Gellerts Fabel von den beiden Hunden. Sie ist ziemlich klar in drei Teile unterteilt (von denen der zweite eine Art kleineren Anhang hat). Im ersten Teil wird ein allgemeiner Satz der Lebenserfahrung präsentiert: „Daß oft die allerbesten Gaben / die wenigsten Bewundrer haben / Und daß der größte Teil der Welt / Das Schlechte für das Gute hält / Dies Übel sieht man alle Tage“. Die Welt ist ungerecht, die Guten werden nicht belohnt, die Bösen nicht bestraft, zumindest nicht in diesem Leben, das wissen wir alle. Was aber kann man dagegen tun? Der Autor zweifelt, dass man überhaupt etwas tun kann; ausgenommen, vielleicht „einzig Mittel“: „Die Narren müßten weise werden“. Das aber ist kaum vorstellbar, denn: Die Narren sind und bleiben Narren, weil sie nur mit ihren Augen auf das Äußere der Dinge sehen und damit ein kurzsichtiges Urteil fällen; würden sie jedoch, mit ihrem aufgeklärten Verstand, die Dinge in ihrem wahren Wert erkennen, würde endlich Gerechtigkeit herrschen (offensichtlich ein aufklärerisches Fernziel: die Narren weise machen….)
Soweit die thematische Einführung und Vorbereitung. Der zweite Teil führt nun zwei konkrete Hunde ein:
Zween Hunde dienten einem Herrn;
Der eine von den beiden Tieren,
Joli, verstund die Kunst, sich lustig aufzuführen,
Und wer ihn sah, vertrug ihn gern.
Er holte die verlornen Dinge
Und spielte voller Ungestüm.
Man lobte seinen Scherz, belachte seine Sprünge:
Seht, hieß es, alles lebt an ihm!
Oft biß er mitten in dem Streicheln;
So falsch und boshaft war sein Herz!
Gleich fing er wieder an zu schmeicheln:
Dann hieß sein Biß ein feiner Scherz.
Er war verzagt und ungezogen;
Doch ob er gleich zur Unzeit bellt' und schrie:
So blieb ihm doch das ganze Haus gewogen;
Er hieß der lustige Joli.
Mit ihm vergnügte sich Lisette,
Er sprang mit ihr zu Tisch und Bette;
Und beide teilten ihre Zeit
In Schlaf, in Scherz und Lustbarkeit;
Sie aber übertraf ihn weit.
Der erste Hund ist also ein putziges Tierchen, Joli genannt (frz. der Lustige), er macht Kunststücke, springt herum, beißt nur gelegentlich einmal zu, wird aber sogar dafür noch gelobt: „Seht, hieß es, alles lebt an ihm!“ Eigentlich aber war er nicht lustig, sondern „verzogen und ungezogen“, „falsch und boshaft“, und zudem ein wahrer Kläffer; aber alle Welt liebt ihn nur einmal, er kann nichts falsch machen, und seine größten Erfolge hat er (ja, das ist ein klein wenig sexistisch….) hat er bei ungebildeten Frauen wie Lisette, die ihm vom Charakter her ähneln. Wie schwer hat es dagegen sein Konkurrent, der brave Fidel (lat., der Treue):
Fidel, der andre Hund, war von ganz anderm Wesen,
Zum Witze nicht ersehn, zum Scherze nicht erlesen,
Sehr ernsthaft von Natur, doch wachsam um das Haus;
Ging öfters auf die Jagd mit aus;
War treu und herzhaft in Gefahr
Und bellte nicht, als wenn es nötig war.
Er stirbt. Man hört ihn kaum erwähnen;
Man trägt ihn ungerühmt hinaus.
Joli stirbt auch. Da fließen Tränen!
Seht! ihn beklagt das ganze Haus.
Die ganze Nachbarschaft bezeiget ihren Schmerz
Ein nützliches Tier durchaus, er bewacht das Haus, er taugt zur Jagd, er ist treu und mutig von Charakter und bellt nur, wenn es nötig ist. Das sind Eigenschaften, die einem Lob, aber keine Freunde eintragen. Deshalb wird Joli betrauert, als er stirbt, nicht aber der treue Fidel, der ohne Träne ins Grab sinken muss. Aber so ist die Welt eben, und der Schlusssatz fasst zusammen: „So gilt ein bißchen Witz mehr als ein gutes Herz!“
Werden die Narren nun davon weise, dass man ihnen die Geschichte erzählt? Nun, zum einen, müssen sie sich ein wenig anstrengen, um die Geschichte mit der Moral in Verbindung zu bringen. Das ist die wesentliche erzieherische Leistung der Fabel, darin liegt ihr pädagogischer Wert: Sie erzieht im Sinne der Aufklärung zum Selbstdenken, weil man eine Übertragungsleistung zwischen (tierischem) Verhalten, eigentlich gemeinten menschlichen Fehlern und Moral herstellen muss. Zum zweiten ist der Trick der Fabel, dass sie eben Menschen nicht direkt bloßstellt oder kritisiert: Man kann ja sagen, seht nur, der dumme Hund, der unbeständige Delphin, was auch immer: Es ist ja von Tieren die Rede! Deshalb ist die andere Gattung, in der Tiere eine große Rolle in der Literatur spielen, auch das satirische Tierepos wie Goethes Reineke Fuchs; eine gern genutzte Möglichkeit zur Kritik menschlicher oder auch politischer Handlungsweisen, die sogar der Zensur entkommen kann.
Auch bei Gellert sieht man immerhin ein gewisses Tierwissen, das in den Text einfließt, auch wenn es eher Standard- und Alltagswissen über Hunde ist: Geschildert werden durchaus typische Verhaltensweisen eines Hundes, so kann Joli immerhin apportieren, ist also ein dressierter Hund; Fidel hingegen ist ein Nutztier und erfüllt als solches die wichtigsten Hunde-Funktionen, nämlich Jagen und Bewachen. Gellert also hat immerhin auf Hunde geachtet, bevor er sie in seine Fabel trug; schon mit Katzen würde die Geschichte nicht mehr so richtig funktionieren. Aber die Tiere sind trotzdem im Wesentlichen weiter nur Masken für menschliches Verhalten; es geht nicht um das Hündische am Hund, um das Wesen des Hundes, darum, was am Hund nun anders ist als am Menschen: Der Hund wird weiterhin, wenn auch hier mehr moralisch als religiös, anthropomorphisiert. Das ist das wesentliche Kriterium so gut wie aller Tierdichtung vor Rilke: Sie ist unterschiedlich stark durchgeführte Anthropomorphisierung, Vermenschlichung des Tierischen, meist zu religiösen oder didaktischen, selten nur zu ‚rein‘ poetischen Zwecken.
C Rilkes Tiergedichte in den Neuen Gedichten: Von Gazellen, Schwänen, Hunden und Delphinen
a Die Neuen Gedichte und ihre Poetologie des ‚Kunstdings‘ und des ‚sachlichen Sagens‘
Die meisten Tiergedichte Rilkes finden sich, wie schon angedeutet, in den Neuen Gedichten. Als sie veröffentlicht werden, ist Rilke 26 Jahre alt, kann aber schon auf ein umfangreiches Frühwerk zurückblicken. Er lebt seit 1902 vorzugsweise in Paris, der modernen Großstadt schlechthin, die er gleichermaßen furchterregend und faszinierend findet und die auch seine Gedichte beeinflusst. Noch stärker jedoch sind die Einflüsse zweiter bildender Künstler auf die Neuen Gedichte. Von 1905 bis 1906 ist Rilke als eine Art Sekretär bei dem berühmten Bildhauer Auguste Rodin angestellt (den Kontakt hat seine Ehefrau Clara vermittelt, die ebenfalls Bildhauerin ist); und 1907 sieht er die erste große Cézanne-Ausstellung nach dem Tod des Malers in Paris, der diesen endgültig zum Vater der modernen Malerei schlechthin machen wird. Man kann nicht genug betonen, wie wichtig diese Wendung zur bildenden Kunst als ästhetisches Vorbild für Rilke in dieser Phase war: Das Sehen wird zum neuen Leitmedium auch für die Lyrik, und das sachliche Zeigen von etwas zu ihrer neuen Funktion. Rodin und Cézanne sind dabei in mehrerlei Hinsicht Vorbilder für Rilke; er selbst spricht immer wieder davon, wie die Auseinandersetzung mit beiden für ihn eine „Lehre“ sei.
Was Rilke sowohl an Rodin wie auch an Cézanne zunächst beeindruckte, war zum ersten die Art, wie sie ihre Kunst betrieben: nämlich als schlichtes, ausdauerndes, konzentriertes, nicht auf Ruhm ausgerichtetes Handwerk, als Arbeit in einem ganz grundlegenden Sinn, eben: das ‚Machen‘ von Dingen. Kunst entsteht nicht aus der besonderen und einmaligen Situation der Inspiration heraus - die ja nicht verfügbar oder willentlich beeinflussbar durch den Künstler ist, sondern ist das Ergebnis eines andauernden, disziplinierten Bemühens, sich die ganze Welt künstlerisch anzueignen. So schreibt Rilke an seine Frau Clara am 9.8.1907 (erstes Zitat im Reader):
„Es ist ein Buch: Arbeit, der Übergang von der kommenden Inspiration zur herbeigerufenen und festgehaltenen. Wie soll man es nennen?“
Mit diesem neuen Konzept künstlerischen Schaffens ist zweierlei verbunden: Zum einen ist die künstlerische Tätigkeit als eine Art „Beruf“ etabliert (und damit der Künstler nicht mehr der Überflüssige in einer Gesellschaft, sondern ein Arbeiter wie die anderen auch); zum anderen wird deutlich, dass es sich um eine sehr bewusste Art der Tätigkeit handelt, wenn Rilke ein Gedicht „macht“.
Wie sieht nun diese Art von Arbeit aus? Wie macht man Kunst-Dinge? „Ding“ ist im Deutschen zunächst ein Begriff, der gern alltagsweltlich und umgangssprachlich vage verwendet wird: Ein Ding kann alles Mögliche sein, meist ist aber mitgemeint: etwas Unbelebtes (Menschen sind genauso wenig Dinge wie Hunde) und etwas künstlich Hergestelltes (Alltagsgegenstände aller Art, normalerweise nicht: Kunstwerke). Das ist bei Rilke nun grundlegend anders. Zum Kunst-Ding kann, und das ist sehr wichtig, alles Mögliche werden: Auch Kunstwerke aus der Antike oder aus dem Mittelalter, Naturdinge wie Tiere oder Pflanzen, aber auch die ganz unscheinbaren Alltagsgegenstände (Beispiele für alles das findet man in den Neuen Gedichten). Es ist nicht mehr wichtig – und dass ist ein starker Bruch mit der lyrischen Tradition -, das nicht mehr nur besonders bedeutende, besonders symbolische, besonders emotionsstarke Gegenstände lyrikwürdig sind; nein, man kann ein Gedicht genauso gut über einen Ball wie über eine antike Statue, über eine Hortensie wie über einen Spiegel oder eben: über einen Panther, einen Hund, einen Schwan machen. Dabei werden diese Dinge in einem Prozess der Verwandlung zu: Kunst-Dingen.
Lernen kann der Dichter Rilke darüber hinaus auch vom Plastiker Rodin und vom Maler Cézanne, wie man äußere Gegenstände in ein Kunst-Ding verwandelt. Dazu ist es nämlich wichtig, genau zu beobachten, ständig präsent zu sein, sich mit allen Dingen seiner Umwelt auseinanderzusetzen und mit dem Gegenstand, der dargestellt werden soll, auf ganz besondere Weise. So wie der Maler Paul Cézanne Tag für Tag mit seiner Staffelei in die Natur hinausgeht und dabei immer das gleiche mal, aber jeden Tag in einem anderen Licht, von einem ein wenig veränderten Standort, in einer unterschiedlichen Stimmung; so versucht nun auch Rilke die Dinge genau und immer wieder zu beobachten, die er zu einem Kunst-Ding machen will. Bezogen auf die Tiergedichte kann man relativ genau sagen, wie das geschah: Er ging nämlich regelmäßig in Paris in den Jardin des Plantes, der auch einen kleinen Zoo hatte; dort sah er den berühmten Panther, wahrscheinlich auch die Gazellen, Schwäne sowieso.
Rilke reiht also nun nicht mehr in seinen Texten imaginäre, besonders preziös ausgewählte Bilder aus seiner Phantasie aneinander (wie in der frühen Lyrik), sondern er begibt sich vor einen Gegenstand und beobachtet ihn; und dabei versucht er nach dem Vorbild von Cézanne, sein eigenes Ich, seine eigene subjektive Stimmung zurückzudrängen und so ganz in das Sein des Gegenstands einzudringen. Sehen lernen, das ist das Ziel: ein möglichst ungerichtetes, ein möglichst ergebnisoffenes, ein von allem Persönlichen und Konventionellen gereinigtes Sehen, das im Panther eben nur – den Panther sehen will, den Inbegriff des Pantherhaften und gerade nicht die menschliche Perspektive auf das gefährliche Raubtier. Der Dichter muss so lange auf den Panther sehen, seinen Bewegungen folgen, bis er sich selbst, sein eigenes Menschsein, ganz vergessen: Erst dann wird in ihm eine Ahnung dessen aufsteigen, was es heißt, ein Panther zu sein, ein Hund, ein Schwan, ein Delphin.
Ziel ist dabei jedoch nicht die rein objektive, möglichst exakte, „realistische“ Darstellung des Gegenstands - also eine recht primitive Art von Realismus. Vielmehr wird durch die konzentrierte Beobachtung ein innerer Verwandlungsprozess ausgelöst, der durchaus subjektiv und persönlich ist: nämlich in jedem Beobachter ein anderer. Dabei entsteht eine Art innerer Panther, eine innere Gazelle. Es ist eine Art plötzlicher, nicht begrifflich zu fassender Erkenntnis- und Erlebnisprozess beinahe meditativer Art, der durch das konzentrierte Anschauen eines Dinges ausgelöst wird und den der Dichter anschließend in die sprachliche Gestaltung des Kunst-Dinges überträgt. Das Ding ist also eine Art Äquivalent für eine innere Erfahrung, die der Dichter anhand des Dinges gemacht hat; und je konzentrierter und sachlicher und gleichzeitig für den Leser nachvollziehbar wie nach-empfindbar diese Erfahrung gestaltet wird, desto mehr beginnt das Ding sozusagen aus sich heraus zu leuchten.
Rilke versucht in dieser Zeit vor allem in seinen Briefen an seine Ehefrau Clara immer wieder, diesen Prozess zu schildern, diese neue Lernerfahrung, die den Neuen Gedichten zugrunde liegt; aber meist geraten ihm diese Erklärungsversuche selbst wieder zu poetischen Beschreibungen:
„Kunstdinge sind ja immer Ergebnisse des In-Gefahr-gewesen-Seins, des in einer Erfahrung Bis-ans-Ende-Gegangen-seins, bis wo kein Mensch mehr weiter kann. Je weiter man geht, desto eigener, desto persönlicher, desto einziger wird ein Erlebnis, und das Kunstding endlich ist die notwendige, ununterdrückbare, möglichst endgültige Aussprache dieser Einzigkeit … Darin liegt die ungeheure Hilfe des Kunstdings für das Leben dessen, der es machen muß -: daß es seine Zusammenfassung ist: der Knoten im Rosenkranz, bei dem sein Leben ein Gebet spricht, der immer wiederkehrende, für ihn selbst gegebene Beweis seiner Einheit und Wahrhaftigkeit, der doch nur ihm selber sich zukehrt und nach außen anonym wirkt, als Notwendigkeit nur, als Wirklichkeit, als Dasein“.
Nicht zufällig schildert Rilke dabei das Bedeutungserlebnis bei der Gestaltung eines Kunstdings in religiösen Begriffen. Das neue Sehen und das sachliche Sagen sind nicht reine Techniken, die man lernen kann und danach beliebig anwenden; der Dichter muss sich dabei als Person engagieren mit all seinen Kräften, er muss den Panther erleben bis an einen Punkt, wo alles andere an Bedeutung verliert, wo er eine Erfahrung macht, die so grundlegend ist, dass sie sein ganzes Sein als Person tangiert. Gerade in der Auseinandersetzung mit dem Kunst-Ding, vor allem: dem Tier als dem ganz Anderen, dem Fremden kann er sich dabei seines menschlichen Seins, sozusagen aus der Distanz und Perspektive des Nicht-Menschlichen, in all seiner Problematik bewusst werden.
b Dichterische Gazellen, watschelnde Schwäne, treue Hunde und springende Delphine – Sprechen vom Tier in den Neuen Gedichten
Die Tiergedichte machen nur einen kleinen, aber nicht unbedeutenden Teil der beiden Teile der Neuen Gedichte aus. Prominent wird das Thema des Tieres dann wieder in der achten Elegie im Spätwerk der Duineser Elegien, die auch keine Dinggedichte mehr sind, sondern sich mit dem Tier auf einer philosophischen und existentiellen Ebene als eine Art Gegenentwurf zum Menschen auseinandersetzen. Eine Auswahl kann dabei verdeutlichen, dass Rilkes poetologisches Verfahren, wie es oben geschildert wurde, durchaus variantenreich bei der Darstellung unterschiedlicher Tiere eingesetzt werden kann, ja sozusagen erst entwickelt wird durch seine Erprobung an unterschiedlichen Tier-Gegenständen.
Die Gazelle
Das Gazellen-Gedicht entstand am 17. August 1907 in Paris, und Rilke schreibt dazu an seine Frau Clara:
„Wie Frauen aus Bildern schauen, so schauen sie (die Gazellen) aus etwas heraus mit einer lautlosen, endgültigen Wendung. Und als ein Pferd wieherte, horchte die eine, und ich sah das Strahlen aus Ohren und Hörnern um ihr schlankes Haupt“ (an Clara Rilke, 13.6.1907)
Damit sind schon wesentliche Elemente des Gedichts angerissen: ein bildlicher Vergleich (die Frauen aus Bilder); die Lautlosigkeit der Erscheinung; die Erfahrung einer „Wendung“; und die Konzentration auf das Hören im „Horchen“ und den Ohren und Hörnern, die die Gazelle (Gattungsname: Gazella Dorcas) besonders auszeichnen; das damit verbundene, bedeutungsgeladene „Strahlen“ um den Kopf. Im Gedicht klingt das so:
Verzauberte: wie kann der Einklang zweier
erwählter Worte je den Reim erreichen,
der in dir kommt und geht, wie auf ein Zeichen.
Aus deiner Stirne steigen Laub und Leier,
und alles Deine geht schon im Vergleich
durch Liebeslieder, deren Worte, weich
wie Rosenblätter, dem, der nicht mehr liest,
sich auf die Augen legen, die er schließt:
um dich zu sehen: hingetragen, als
wäre mit Sprüngen jeder Lauf geladen
und schösse nur nicht ab, solang der Hals
das Haupt ins Horchen hält: wie wenn beim Baden
im Wald die Badende sich unterbricht:
den Waldsee im gewendeten Gesicht.
Das Gedicht selbst hat, wie viele andere in den Neuen Gedichten, die strenge Gedichtform des Sonetts: zwei Vierzeiler (Quartette), gefolgt von zwei Dreizeilern (Terzette), mit einem Reimschema, das variiert: Ein Kreuzreim im ersten Quartett, ein Paarreim im zweiten, und ein Kreuzreim gefolgt von einem Paarreim in den beiden zusammengenommenen Terzetten. Hier wird ebenfalls bereits eines der Themen aufgenommen, das das Gedicht prägt, nämlich das Verhältnis der beiden geschwungenen Hörner, die schon im ersten Quartett markant mit dem „Reim“ verglichen wird: Kein Reim, aus welch erlesenen Worten auch immer, kann die natürliche Harmonie erreichen, die in der geschwungenen Wendung der beiden Hörner bereits erreicht ist.
Das Gedicht beginnt mit einer rhetorischen Apostrophe, einer Anrede an das beobachtete Tier selbst: „Verzauberte“ – die Gazelle wird als geradezu magische Erscheinung erfahren, die im Beobachter eine dementsprechend magische Erfahrung auslöst. Das Tier verkörpert in dieser Erscheinung etwas, was die Lyrik im Reim vergeblich sucht. Dabei werden die beiden Hörner als „Laub und Leier“ benannt: beides ebenfalls Anspielungen auf die Figur des Dichters, der traditionell als poeta laureatus mit einem Lorbeerkranz gekrönt wird, und der – wie in der antiken Figur des Orpheus, für Rilke ein wichtiges und immer wieder in Gedichten beschriebenes Rollenmodell – eine Leier trägt. Die Gazelle ist, so suggeriert dieses Gedicht, eine Dichterin von Natur aus, in ihrer ganzen Erscheinung und Bewegung.
Die zweite Strophe schließt daran übergangslos (nämlich in einem Zeilensprung, einem Enjambement, und von Sprüngen wird noch die Rede sein) mit einem weiteren ausgebauten Vergleich an; auch insofern ist die Gazelle also ein natürlicher Inbegriff des Dichtens, dass sie solche Vergleiche gleichsam evoziert. Der Vergleich selbst benutzt das Motiv der Rosenblätter, das ebenfalls zentral ist für Rilke und sich auch in anderen Gedichten der Neuen Gedichte findet. Es ist aber kein ganz einfacher Vergleich, sondern ein syntaktisch kompliziert formulierter und logisch ein wenig paradoxer: Wir sollen Liebeslieder imaginieren, mit einschmeichelnd weichen Worten; um diese aber ganz wahrzunehmen, sozusagen intensiviert zu sehen, müssen wir die Augen schließen (indem wir gefühlte Rosenblätter auf sie legen) und „nicht mehr lesen“.
Damit springen wir mit einem Strophenenjambement mitten hinein ins erste Terzett, wo wir nun auf einmal, mit geschlossenen Augen, aber intensivierter Wahrnehmung plötzlich sehend werden. Das ist ein durchaus etwas gewaltsam geschilderter Prozess: Es ruft das Motiv einer Jagd auf, um aber gleichzeitig die Doppeldeutigkeit der zentralen Begriffe auszunützen: Die Sprünge sind die der für ihre Sprungkunst bekannten Gazellen in ihrem „Lauf“, der aber gleichzeitig ein Gewehrlauf ist, gefährlich, aber nicht abgefeuert, solange – es folgt der Sprung ins zweite Terzett – die Gazelle eine Horchende bleibt, ganz Hören geworden ist für den, der nicht mehr liest. Als letzter Vergleich taucht eine Waldszene auf (die man sich wahrscheinlich so ähnlich wie eine Szene aus der antiken Mythologie vorzustellen hat, eine Art weibliche Narzißfigur oder eine badende Nymphe, unterbrochen von einem lüsternen Halbgott). Der Kern des (wiederum komplizierten und nicht einfach übersetzbaren) Vergleichs ist wiederum ein Wechselverhältnis zwischen zwei „Dingen“, der Badenden und dem Waldsee nämlich. Es handelt sich um ein Spiegelverhältnis, das jedoch sozusagen umgekehrt, gewendet präsentiert wird: Beschrieben wird nicht primär, dass die Badende ihr eigenes Gesicht im Wasserspiegel sieht; vielmehr erscheint durch eine „Wendung“ – der Wahrnehmung, der Perspektive vom Menschlichen hin auf das Nicht-Menschliche – der Waldsee im „gewendeten Gesicht“. „Gesicht“ ist, das ist ein wichtiges Charakteristikum der Neuen Gedichte, wörtlich und doppeldeutig zu lesen: Es ist das Angesicht, das hier auch dem Tier zugeschrieben wird (mit Stirn und Haupt); und es ist das Gesehene, dessen Abbild im Gesicht erscheint. Insofern könnte das Gedicht geradezu ein Programmgedicht für die Tiergedichte in den Neuen Gedichten sein: Exemplarisch zeichnet es eine Wendung als Perspektivwechsel im Verhältnis von Menschlichen und Nicht-Menschlichen (Badende und Waldsee, Beobachter und Gazelle) auf, die an sich selbst schon Dichtung ist, ein lebendiger Vergleich in einer immerwährenden Bewegung, der über all das hinausgeht, was die Dichtung durch künstliche Reime oder noch so erwählte Vergleiche sagen kann. Jeder, der eine Gazelle so sehen kann, wie Rilke sie gesehen hat, ist schon zum Dichter geworden; er muss es nur noch poetisch schön in ein Gedicht verwandeln.
Der Schwan
Das Schwanen-Gedicht ist früher entstanden, wahrscheinlich im Winter 1905/1906, als Rilke noch bei Rodin in Meudon arbeitete. Als eifriger Parkbesucher wird Rilke jedoch schon vorher genug Gelegenheit gehabt haben, Schwäne zu beobachten. Schwäne haben in der europäischen Literatur eine lange Tradition. Besonders interessant ist ein antiker griechischer Mythos, demzufolge Schwäne vor ihrem Tod noch einmal einen traurigen letzten Gesang anstimmen, den sogenannten „Schwanengesang“; sie gelten deshalb auch als Symbol des Dichters. Davon findet sich jedoch wenig in Rilkes Gedicht:
Diese Mühsal, durch noch Ungetanes
schwer und wie gebunden hinzugehn,
gleicht dem ungeschaffnen Gang des Schwanes.
Und das Sterben, dieses Nichtmehrfassen
jenes Grunds, auf dem wir täglich stehn,
seinem ängstlichen Sich-Niederlassen –:
in die Wasser, die ihn sanft empfangen
und die sich, wie glücklich und vergangen,
unter ihm zurückziehn, Flut um Flut;
während er unendlich still und sicher
immer mündiger und königlicher
und gelassener zu ziehn geruht.
Rilke wählt also keines der Merkmale des Schwanes aus dem klassischen Symbolbestand aus, weder seine besondere Anmut noch seine reine Weißheit noch den Vergleich mit dem Dichter; vielmehr beginnt er eher überraschend das Gedicht mit dem ungeschickten, wenig anmutigen Gewatschel des Schwans, wenn er sich auf festem Boden bewegt. Das Gedicht hat dementsprechend auch keine strenge äußere Form. Zwei Terzette (mit einer Art umarmenden Reim) machen zunächst einen eher ungeschickten, weil sehr direkten Vergleich zwischen besonderen Bewegungen (also ähnlich wie bei den Gazellen) des Schwanes und sehr grundlegenden menschlichen Erfahrungen. Der „ungeschaffne Gang“ des Schwanes gleich der menschlichen Mühsal angesichts von schweren vor einem liegenden Aufgaben (dem „Ungetanen“, das dem „Ungeschaffenen“ auch in der negativen Wortform gleich); sein vorsichtiges Absenken aufs Wasser, das „ängstliche Sich-Niederlassen“, gleicht dem Sterben des Menschen: einem Vorgang, bei dem wir den gewohnten Grund unter den Füssen verlieren, „nichtmehrfassen“ können und in ein unbekanntes Element – das Totsein – eintauchen. Dann jedoch wird in der letzten, sechszeiligen Strophe das Gedicht auf einmal sozusagen verflüssigt: Es besteht aus einem langen, fließenden Satz, der verschiedene Bewegungen simuliert, nämlich die des Wasser und des Schwanes. Es tauchen ausschließlich positive Adjektive auf („sanft“, „glücklich“, „unendlich still und sicher“, „mündiger und königlicher“, schließlich: „gelassenere“); die Bewegung des Schwanes in seinem eigentlichen Element, dem fließenden Wasser wird geradezu majestätisch („königlicher“, geruht zu ziehen). Wie bei den Gazellen wird die Lautlosigkeit des Vorgangs betont („unendlich still“); wie bei den Gazellen steht am Ende ein gelungenes Wechselverhältnis von „Flut um Flut“, also der Bewegung des Wassers, und dem Ziehen des Schwanes, der gleichzeitig getragen wird und sich mündig bewegt. Das Gedicht simuliert also selbst in seinem Gang zuerst die Mühsal des Vergleichens und Beschreibens von noch „Ungeschaffenem“ sowie die conditio humana schlechthin, nämlich die Notwendigkeit, Sterben zu müssen und diesen Prozess anzuerkennen. Aber nur in diesem schweren Übergang kann so etwas wie „Mündigkeit“, wie eine glückliche Bewältigung von Vergangenem und schließlich: eine Sicherheit angesichts der grundlegenden Unsicherheit der menschlichen Existenz, und, als Krönung zusagen: Gelassenheit erreicht werden – die alte philosophische Generaltugend schlechthin. Das Gedicht ist in seinem beinahe lehrhaften Charakter noch dicht am Modell der Fabel; aber es unterscheidet sich von ihr darin, dass die „Moral“ nicht aus einer Anthropomorphisierung des Schwans abgeleitet wird, sondern aus sehr spezifischen, gut beobachten Bewegungen des Schwans und sogar und gerade seiner Ungeschicklichkeit beim Landgang.
Der Hund
Hundegedichte gibt es sogar zwei von Rilke, das eine in den Neuen Gedichten, das zweite in den späteren Sonetten an Orpheus; Hunde finden sich auch in diversen seiner Erzähltexte. Ein Briefzitat enthält den Kern dessen, was Rilkes Verhältnis zu Hunden kennzeichnet: seine seltsame Nähe zum Menschen als eines der ältesten und am vollständigsten domestizierten Haustiere; seine besondere Bindungsfähigkeit an Menschen und gleichzeitig seine Begrenzung bei aller Vermenschlichung. In der lyrischen verwandelten Form heißt das dann in den Neuen Gedichten:
Da oben wird das Bild von einer Welt
aus Blicken immerfort erneut und gilt.
Nur manchmal, heimlich, kommt ein Ding und stellt
sich neben ihn, wenn er durch dieses Bild
sich drängt, ganz unten, anders, wie er ist;
nicht ausgestoßen und nicht eingereiht,
und wie im Zweifel seine Wirklichkeit
weggebend an das Bild, das er vergißt,
um dennoch immer wieder sein Gesicht
hineinzuhalten, fast mit einem Flehen,
beinah begreifend, nah am Einverstehen
und doch verzichtend: denn er wäre nicht.
Das Gedicht ist relativ einfach gebaut: drei vierzeilige Strophen, die eine gut nachvollziehbare Bewegung von unten nach oben, von der räumlichen Ebene des Hundes zur räumlichen Ebene des Menschen auftauchen. Mit „Da oben“ setzen wir ein auf der Ebene des Menschen: Von oben herab schaut der Mensch auf den Hund herab, er kommuniziert mit ihm durch „Blicke“, die dem Hund sein „Bild der Welt“ zusammensetzen und es für gültig erklären: Was der Herr sagt und befiehlt, gilt. Doch mit der zweiten Strophe – und wieder einem sehr sprunghaften Strophenenjambement – kommt ein zweites Element auf der unteren Ebene des Hundes dazu, ein „Ding“ nämlich – also etwas, was ebenfalls deutlich unterhalb der Ebene des Menschen angesiedelt ist, in einem Abhängigkeits- und Unterordnungsverhältnis mit ihm steht, sei es ein anderes Tier, ein Spielzeug, ein Knochen, was auch immer. Der Hund jedoch bleibt ausgerichtet auf den Menschen, und dieses sehr einseitige Abhängigkeitsverhältnis wird in der zweiten Strophe mit drastischen Worten geradezu gedrängt beschworen: Der Hund ist „anders“, wie alle Tiere; aber sein besonderes Schicksal ist es, in einen unbestimmten Zwischenraum zwischen Menschlichen und Tierischem geraten zu sein: Er ist nicht ausgestoßen (aus dem Tierreich); er ist aber auch nicht eingereiht (ins menschliche Reich); er existiert in einem permanenten Zustand des Zweifels, in dem er sein eigenes natürliches Sein, seine existentielle Sicherheit (wie sie der Schwan im Wasser oder die springende und horchende Gazelle haben) verliert er immer wieder für einen Augen-Blick hinauf zu seinem Herrn, der eine Beziehung herstellt; aber im nächsten Moment ist das Bild verschwunden, vergessen, es kann nicht festgehalten werden, sondern muss durch ständige Erneuerung des Blickkontaktes immer wieder hergestellt werden. Eine besondere Rolle spielt dabei auch hier das doppeldeutige „Gesicht“, das eben gleichzeitig Angesicht und Blickkontakt durch Sehen ist.
Das schildert die dritte Strophe mit ihrer herzergreifenden Reihung von Vokabeln des Nicht-Ganz: „fast“ mit einem Flehen, „beinahe“ begreifend, „nah“ am Einverstehen – aber am Ende doch in einen Verzicht zu münden: „denn er wäre nicht“ – nicht mehr Tier, nicht mehr in seinem natürlichen Element, nicht mehr ein Hund, sondern eben: ein halber Mensch. Auch hier versucht das Gedicht, sehr stark aus der Perspektive des Hundes zu sprechen; es schildert den sehr speziellen Zwischenraum, der zwischen Hund und Mensch entsteht, und der nur scheinbar zu Lasten des Hundes als des Ausgelieferten geht: Denn immerhin hat und bleibt dem Hund sein unbezweifeltes Sein, ein Sein an der Seite der Dinge und ihrer besonderen Wirklichkeit, das dem Menschen für immer verschlossen bleibt. Der Mensch hat immer nur sein Bild der Welt; er kann nicht mehr auf die Ebene des reinen Seins zurück (den Grund dafür wird die Achte Elegie dann benennen). Tatsächlich habe ich immer nach der Lektüre des Gedichts das Bedürfnis, zu einem Ding zu werden, das sich dem Hund an die Seite stellt, dort unten; und vielleicht ist es auch genau das, was der Dichter will und tut: Dort unten stehen und sozusagen solidarisch sein mit dem Hund.
Delphine
Das Delphin-Gedicht in den Neuen Gedichten unterscheidet sich von den bisher behandelnten Texten dadurch, dass sich Rilke hier ganz explizit auf antike Bildtraditionen. Schon der Physiologus hatte geschildert, wie der ‚Serre‘ Schiffe eine Weile mit seinen Sprüngen begleitet. In der griechischen Mythologie sind Delphine prinzipiell ein gutes Omen; sie sind direkt mit den Göttern Aphrodite und Apollo verbunden, und es gibt mehrere Geschichten, wie sie Menschen vor dem Ertrinken retten, indem sie sich auf ihrem Rücken reiten lassen, wie beispielsweise den legendären Dichter Arion. Die antiken Griechen sind denn auch die „Wirklichen“, die im ersten Vers beschworen werden (und „Wirklichkeit“ ist auch hier, wie beim Hund, ein zentraler Begriff).
Jene Wirklichen, die ihrem Gleichen
überall zu wachsen und zu wohnen
gaben, fühlten an verwandten Zeichen
Gleiche in den aufgelösten Reichen,
die der Gott, mit triefenden Tritonen,
überströmt bisweilen übersteigt;
denn da hatte sich das Tier gezeigt:
anders als die stumme, stumpfgemute
Zucht der Fische, Blut von ihrem Blute
und von fern dem Menschlichen geneigt.
Eine Schar kam, die sich überschlug,
froh, als fühlte sie die Fluten glänzend:
Warme, Zugetane, deren Zug
wie mit Zuversicht die Fahrt bekränzend,
leichtgebunden um den runden Bug
wie um einer Vase Rumpf und Rundung,
selig, sorglos, sicher vor Verwundung,
aufgerichtet, hingerissen, rauschend
und im Tauchen mit den Wellen tauschend
die Trireme heiter weitertrug.
Und der Schiffer nahm den neugewährten
Freund in seine einsame Gefahr
und ersann für ihn, für den Gefährten,
dankbar eine Welt und hielt für wahr,
daß er Töne liebte, Götter, Gärten
und das tiefe, stille Sternenjahr.
In der ersten der drei Strophen von unterschiedlicher Länge wird der Delphin im antiken Griechenland beschworen: Er wird von den Griechen, einem Volk von einer besonderen Wirklichkeitsnähe, an bestimmten „Zeichen“ als „Gleicher“ in einem anderen „Reich“, nämlich dem aufgelösten des Wassers erkannte; und der Gleichklang von Gleichen – Zeichen – Gleichen – Reichen betont natürlich dieses Verwandtschaft sprachlich aufs Schönste. Als neues Element kommt der Meeresgott (Poseidon) hinzu, der ebenfalls auf die Delphine reagiert, diese aber noch „übersteigen“ kann – eine Art metaphysische, aber in der Mythologie als wirklich verwandte höhere Ebene sozusagen. Und schließlich wird auch nach unten hin noch eine weitere Ebene eröffnet: Ganz unten sind die „Fische“ angesiedelt, deren „stumme stumpfgemute Zucht“ schon lautlich ihre Anordnung auf einer tieferen Stufe der Evolutionsordnung sozusagen rechtfertigt. Der Delphin hingegen gehört zur Familie der Wale und ist ein Meeressäugetier – deshalb „Blut von ihrem Blute“ und dem Menschlichen geneigt, als Säugetier stammesgeschichtlich mit ihm verwandt. Wir haben also sozusagen auf der obersten Ebene: den Meeresgott, der alles Menschliche und Tierische übersteigen kann, dem das Gedicht aber nicht gewidmet ist; auf einer mittleren Ebene des „Wirklichen“ die Delphine und die Griechen, ihre menschlichen Verwandten; und darunter die stummen Fische als reine Vertreter des Tierischen, die es nicht einmal auf eine Hunde-Ebene schaffen.
Dies ist sozusagen der theoretische Vorspann. Der zweite Teil des Gedichts schildert dann in lebhafter Bewegung einen Delphinzug um ein Schiff. Die Delphine kommen als Gruppe („Schar“) und überschlagen sich in ihrer typischen Sprungbewegung, wie man sie auch von Walen kennt; das „überschlug“ verweist dabei sogar auf eine gewisse Verwandtschaft zum Überströmen und Übersteigen des Meeresgottes. Wie die Schwäne bewegen sie sich souverän und glücklich („froh“) in den „Fluten“; sie werden auch mit positiven Gefühlsattributen wie „warm“ (auf die Warmblütigkeit der Säugetiere anspielend), „zugetan“ (das meint: geneigt, gewogen; es bildet aber auch eine schöne Dreiergruppe mit „Zug“ und „Zuversicht“); „selig, sorglos, sicher“ und schließlich „heiter“ beschrieben (das klassische Attribut des antiken Griechenlands, das als eine heitere Welt vorgestellt wurde, wo der Mensch noch mit der Natur im Einklang lebte). Delphine sind souverän in ihrem Element wie der mündige und gelassene Schwan; und sie sind sich ganz ihrer Wirklichkeit versichert. Wo der arme Hund zweifelt, feiern sie sie in ausgelassenen Sprüngen, in einer geradezu tanzenden, enthusiastischen Bewegung, „aufgerichtet, hingerissen, rauschend“. Dabei bleiben sie immer in einem engen Wechselverhältnis zum Schiff, das sie umspielen: Sie „bekränzen“ die Fahrt mit „Zuversicht“ (sie sind ein gutes Omen; das „bekränzen“ ist wiederum ein Motiv, was auf die Dichtung und die Lyrik speziell verweist), wie ein Blumenkranz „Rumpf und Rundung“ einer Vase umspielen würde – was noch ein drittes Ding hinzubringt, es aber durch den „Rumpf“ gleichzeitig ansatzweise vermenschlicht: Ein Rumpf kann sowohl ein Schiffsrumpf sein wie der menschliche Oberkörper. Die sich steigernde Dreierformel „Selig, sorglos, sicher vor Verwundung“ ist ebenfalls gleichzeitig konkret gemeint: Die Delphine werden das Schiff nicht umwerfen, die Schiffer werden sie nicht jagen; aber sie sind gleichzeitig existentiell ihres Delphinseins, ihrer Tierheit versichert: „Denn da hatte sich das Tier gezeigt“, hieß es geradezu programmatisch in der ersten Strophe, und gemeint ist nicht: das niedere, das dumme, das den Menschen unterlegene Tier, sondern: das wirkliche, das in sich ruhende, das seiner selbst ganz sichere Tier in seiner schönsten Form und höchsten Vollendung spielerischer Bewegung und seinem Einklang mit seinem Element: Denn auch die zweite Strophe endet mit einer vollendeten Wechselwirkung von Wasser und Tier, dem „Tauschen“ mit den Wellen, die gleichzeitig die Trireme (einer antiken Schiffsform mit drei Ruderreihen, deshalb die Dreier-Assoziation in „Tri“, die Rilke hier sehr willkommen war in der besonderen Dreier-Konstellation von Delphinen, Schiff und Wellen).
Die dritte Strophe konzentriert sich ganz auf die Figur eines einzelnen Schiffers: Er nimmt eine besondere Verbindung mit den Delphinen als Seinesgleichen auf. Es ist eine Verbindung der Freundschaft, die sich in der Gefahr bildet und bewährt (nämlich dem Meer, auf dem man nie sicher ist), aber auch einer geteilten Einsamkeit in einer Ausnahmesituation des Menschlichen. Und nun tut der Schiffer das, was der Mensch als Hundeherr im Hunde-Gedicht nicht getan hat: Er ersinnt eine eigene Welt für den tierischen Gefährten, nämlich diejenige der griechischen Mythologie und ihrer Geschichten. Die Mythologie ist ein klassisches Zwischenreich, in denen Mensch und Tier nicht kategorisch getrennt sind. Und der Delphin wird in diese Welt eingegliedert als ein Wesen, das speziell empfänglich ist für ästhetische Erfahrungen: Er liebt Töne (deshalb rettet er den Sänger Arion); er hat eine Verbindung zu den Göttern (Artemis und Aphrodite), er liebt sogar Gärten (und bis heute ist mir nicht eingefallen, auf was sich das genau beziehen könnte) und schließlich das „tiefe, stille Sternenjahr“ – womit noch einmal der Aspekt der Lautlosigkeit aufgerufen wird, den wir bisher in fast jedem Tiergedicht vorgefunden haben; das „Sternenjahr“ steht insgesamt wohl für einen geordneten, in sich ruhenden Kosmos, und natürlich haben es die Delphine auch in ein Sternbild geschafft, wahrscheinlich zu Ehren ihrer Rettung des Dichters Arion (hier ist aber die Überlieferung etwas unklar).
D. Was das Tier zeigen kann: Sprechen vom Tier her und seine Grenzen
a) Welche Tiere, und warum? Die Offenheit des Tiers und seine existentielle Sicherheit
Das sind nicht alle Tiergedichte Rilkes, sondern es ist eine in gewissem Sinne repräsentative Auswahl. Rilkes vollständiges Bestiarium umfasst: den Panther, die Gazelle, den Schwan, die schwarze Katze, die Flamingos, Papageien, den Hund und Delphine; in der Achten Elegie werden außerdem die Mücke (als exemplarisch kleines Tier, das „immer im Schooße bleibt“) der Vogel und die Fledermaus erwähnt. Warum nun gerade diese Tiere? Einiges erklärt sich pragmatisch aus dem, was Rilke beobachten konnte, also Haustiere wie Katze und Hunde, Parktiere wie Schwäne oder auch Papageien; dazu die exotischen Tiere im Pariser Zoo (Tiger, Gazellen, Flamingos), aber auch ganz normale, alltäglich erlebbare Wildtiere wie Mücken, Vögel, Fledermäuse (die er in Ägypten gesehen hat). Die Delphine bilden ein wenig eine Ausnahme, weil sich Rilke hier ganz auf das mythologische Überlieferungsmaterial verlässt. Aber damit ist insgesamt doch ein recht weites Spektrum aus der Tierwelt abgedeckt: Natürlicherweise sind Säugetiere als die nächsten Verwandten des Menschen in gewisser Weise bevorzugt, sie lassen sich auch offensichtlich leichter anthropomorphisieren (auffällig ist dabei in gewisser Weise das Fehlen von Affen als den nächsten Verwandten des Menschen, sind sie uns zu nahe?) Aber es gibt ebenso Fische wie Vögel und Insekten, auch wenn sie eher Teilbestände einzelner Texte sind. Es gibt traditionell „schöne“ Tiere: den Schwan oder den Flamingo; am Schwan wird aber ausgerechnet sein hässlicher Gang thematisiert. Klassische Fabeltiere samt ihren moralistischen Stereotypen tauchen kaum auf; an die Stelle der moralisierenden Allegorie treten eine Vielzahl von gelegentlich überraschenden und teilweise auch schwierigen Vergleichen.
Insgesamt – das zieht sich mehr oder weniger durch alle Tiergedichte Rilkes – verkörpern die Tiere für Rilke eine vom Menschen unterschiedene Seinsform, eine Existenzweise, die er in den späteren Duineser Elegien mit dem Begriff des „Offenen“ kennzeichnet. Das erläutert er in einem Brief aus dieser Zeit folgendermaßen:
„Diese Achte Elegie ruft … den Liebenden nur vorübergehend auf, um eine menschliche Verfassung zu zeigen, die, einen Augenblick, jene Sicht ins Offene zu gewähren mag, von der ich vermute, daß sie des Tieres (in unserem Sinne) ‚Sorglossein‘ ausmacht. Sie müssen den Begriff des ‚Offenen‘, den ich in dieser Elegie vorzuschlagen versucht habe, so auffassen, daß der Bewußtseinsgrad des Tieres es in die Welt einsetzt, ohne daß es sich (wie wir es tun) jeden Moment gegenüber stellt; das Tiere ist in der Welt, wir stehen vor ihr durch die eigentümliche Wendung und Steigerung, die unser Bewußtsein genommen hat … Mit dem ‚Offenen‘ ist also nicht Himmel, Luft und Raum gemeint, auch die sind, für den Betrachter und Beurteiler, ‚Gegenstand‘ und somit ‚opaque‘ und zu. Das Tiere, die Blume, vermutlich, ist alles das, ohne sich Rechenschaft zu geben und hat so vor sich und über sich jene unbeschreiblich offene Freiheit, die vielleicht nur in den ersten Liebesaugenblicken, wo ein Mensch im anderen, im Geliebten, seine eigene Weite sieht, und in der Hingehobenheit zu Gott ein uns (höchst momentane) Aequivalente hat“.
Hier werden mehrere Aspekte erwähnt, die schon in den Gedichten auftauchten: Das Tier hat eine andere, direktere Beziehung zur Wirklichkeit; es existiert unmittelbar, nicht wie der Mensch von der Wirklichkeit auf ewig getrennt, „gegenübergestellt“ durch seine Reflexion. Das Tier ist sorglos („sicher“ hieß das in den Gedichten immer wieder); es denkt nicht an seine Zukunft, weil es keinen Zeitbegriff hat, sondern voll in der Gegenwart steht. Dadurch gewinnt es eine Freiheit, die dem Menschen generell verschlossen ist: Der Mensch weiß – und das ist der allerwichtigste Punkt! – um seine eigene Sterblichkeit; er weiß, dass sein Sein vergänglich ist, konstitutionell verunsichert, und alles, was er sieht und erfährt, steht unter dem Signum dieser Vergänglichkeit. Dieses Selbstbewusstsein ist zwar eine „eigentümliche Wendung und Steigerung“ (und letztlich die Voraussetzung dafür, Gedichte machen zu können!); aber auch ein Verlust an direktem Erleben, Wirklichkeit, Sicherheit, Vielfalt der Erfahrung. Die Welt ist für den Menschen eben nicht mehr weit und offen, sondern durch seine Erwartungen, Erfahrungen, Befürchtungen, Theorien eingeschränkt; ein vergleichbares Erlebnis im Menschlichen sieht Rilke höchstens sehr kurz und „momentan“ im Moment der ersten Liebe (wo der andere noch nicht auf eine bestimmte Rolle, ein bestimmtes Verhalten festgelegt ist) oder in einem speziellen Verhältnis zu Gott, das er als „Hingehobenheit“ bezeichnet: eine Art Ur- und Grundvertrauen, wie es die Heiligen und Märtyrer haben, die die eigene Person hinter sich gelassen haben. In den Anfangspassagen wird außerdem das Kind genannt, das noch eine ähnliche Erfahrung von Offenheit machen kann, bevor es eben von den Erwachsenen „erzogen“ und dadurch „umgewendet“ wird; es kann die Welt noch ähnlich unbeteiligt, sorglos und vertrauensvoll sehen wie die Tiere.
Mit allen Augen sieht die Kreatur
das Offene. Nur unsre Augen sind
wie umgekehrt und ganz um sie gestellt
als Fallen, rings um ihren freien Ausgang.
Was draußen ist, wir wissens aus des Tiers
Antlitz allein; denn schon das frühe Kind
wenden wir um und zwingens, daß es rückwärts
Gestaltung sehe, nicht das Offne, das
im Tiergesicht so tief ist. Frei von Tod.
Ihn sehen wir allein; das freie Tier
hat seinen Untergang stets hinter sich
und vor sich Gott, und wenn es geht, so gehts
in Ewigkeit, so wie die Brunnen gehen.
Auch hier tauchen bezeichnenderweise ähnliche Motive auf wie in den behandelten Tiergedichten: Die Augen und das Antlitz, das Angesicht spielen eine wichtige Rolle; die Idee der Wendung; die Vorstellung einer Freiheit vom Tod.
b) Sprechen vom Tierischen und die Grenzen des Anthropomorphisierens: Prozess, Vergleich, Wendung, Zwischenraum
Rilke geht in seinen Tiergedichten, seinem poetologischen Konzept in den Neuen Gedichten getreu, von der unmittelbaren Anschauung, dem gezielten, wiederholten, aber möglichst ergebnisoffenem Sehen aus – das in seinem Schwan eben nicht nur das klassische Dichtersymbol erkennt, sondern auch sein wenig anmutiges Watscheln auf dem Land zur Kenntnis nimmt. Die Gedicht zeichnen dann häufig einen Prozess nach (geben also nicht einfach nur eine statische Beschreibung), wo eine äußerliche Wahrnehmung durch eine Reihe von Vergleichen – meist mit nicht-menschlichen Dingen, wie dem Waldsee bei den Gazellen, dem „Ding“ bei den Hunden – eine Wendung nach innen erfährt. Dabei rückt gelegentlich auffällig das „Horchen“ in den Vordergrund: Das Bild, das zwischen Mensch und Tier ständig gemacht wird, kann durch akustische Elemente ergänzt werden. Dabei bleibt jedoch eine Atmosphäre der Stille und Lautlosigkeit im Tierreich erhalten, die sie sowohl vom Lärm der Märchenwelt als auch spezifisch von Worten und Sprache abgrenzt: Tiere äußern sich in Blicken, in Bewegungen, in Haltungen, in spontanen und momenthaften Aktionen wie den spielerischen Sprüngen der Delphine um das Schiff. In ihren ästhetischen Aspekten sind diese Bewegungsformen sogar der Dichtung verwandt; so wird die Gazelle zur perfekten sprachlosen Verkörperung der Dichtung wie der Delphin zum Verwandten des ästhetisch empfindenden Menschen in seiner Neigung zu Tönen und Gärten. Häufig findet in den Gedichten an irgendeiner Stelle eine Wendung, eine Art Umschlag, eine Verwandlung statt, die die Krönung des dargestellten Prozesses ist, wie das Mündigwerden des Schwans, als er in sein flüssiges Element eintaucht. Die Voraussetzung für eine solche gelungene Wendung ist eine harmonische Beziehung zwischen zwei Elementen, Dingen, Seins- und Wahrnehmungsweisen. Am sprechendsten ist hier vielleicht wieder das Gazellen-Gedicht: Als die Badende sich umdreht, hat sie den See gespiegelt im Gesicht, nicht umgekehrt! Ebenso stehen die Delphine in einem kontinuierlichen und wechselseitigen Austauschverhältnis mit den Wellen, einem gegenseitigen Getragensein, das sich dann auch auf das Schiff ausdehnt. Hingegen versucht der Hund immer wieder, den Menschen in sein Angesicht aufzunehmen, er bleibt aber in einem Zwischenraum stecken. Ganz ähnlich heißt es von den Vögeln in der achten Elegie, sie hätten eine „halbe Sicherheit“ und wüssten „beinahe“ (die gleiche Einschränkung wie bei den Hunden) beides, das Menschliche und das Tierische. Es gibt also durchaus unterschiedliche Grade der Annäherung zwischen Mensch und Tier in den einzelnen Gedichten; es gibt gelungene Wechselbeziehungen, aber auch Zwischenräume, Verzicht, Resignation auf beiden Seiten (vor allem aber: auf der des Menschen).
Den Gefahren der Anthropomorphisierung kann also Rilke in seinen Tiergedichten nicht ganz entkommen. Letztlich ist das, der Sprachgebundenheit der Gattung wegen, wohl auch unmöglich: Sobald wir von Tieren sprechen, ist es vorbei mit der Offenheit, sie werden in Worte, Gedichtstrukturen, Reime, Vergleiche gezwängt, wie vorsichtig und bemüht um Perspektivenwechsel auch immer. Was aber Rilkes Tiergedichte deutlich unterscheidet von den ‚klassischen‘ Tiergattungen der Literaturgeschichte – der Fabel, der Satire, auch des Tierepos – ist nicht nur ihre Zurückhaltung gegenüber allzu offensichtlich moralischen und stereotypen allegorischen Ausdeutungen; zwar ist auch Rilkes Hund ein treuer Fidel im Gellertschen Sinn, aber er ist es seiner Natur wegen und nicht einer zugeschriebenen moralischen Qualität wegen. Rilke versucht das an einem Tier herauszuarbeiten, was man nicht auf den ersten Blick sieht; und er versucht dabei, sich einen offenen Blick soweit wie möglich zu erhalten, auch eine Anerkennung der grundsätzlichen Fremdheit und Nicht-Ausdeutbarkeit des Tiers nach menschlichen Maßstäben. Im Blick auf das Tier und seine vorbildliche existentielle Offenheit (die das Tier letztendlich als äußerste Form des „Wirklichen“ über den Menschen stellt) färbt wenigstens etwas von dieser Offenheit auf den sorgfältigen, sich selbst vergessenden Betrachter ab. Vielleicht öffnet sich dadurch – wenigstens ein Zwischenraum zwischen Tier und Mensch, eine Ahnung einer gemeinsamen Verwandtschaft, durchaus auch: eine Sehnsucht nach der Rückkehr ins Sichere der Tierexistenz. Damit wäre schon viel gewonnen in einer Welt, in der inzwischen um 99,9 % aller Arten ausgestorben sind (WWF), und zwar die meisten direkt oder indirekt durch den Einfluss des Menschen, schon viel gewonnen.
„Zwischenräume“ sind etwas, was normalerweise unserer Aufmerksamkeit entgeht. Schon das Wort klingt so prosaisch: Zwischenraum – das ist gleichsam die sprachgewordene Verlegenheit, etwas zwischen den Zeilen, zwischen den Stühlen, zwischen ordentlichen und eigentlichen Räumen und Begriffen. Tatsächlich jedoch hat die Rede vom „Dazwischen“ – der Räume, der Zeiten, der Erfahrungen – eine lange, und zwar nicht nur literarische, sondern allgemeiner geistesgeschichtliche und sogar naturwissenschaftliche Tradition, die in den Texten Rilkes mal mehr, mal weniger verschlüsselt aufscheint. Angesichts eines rasanten Verlustes kultureller und speziell literarischer Traditionsbestände scheint es mir eine grundständige Aufgabe von Literaturwissenschaft zu sein, durch kommentierende Darstellungen zu einem vertieften Textverständnis und gleichzeitig zu einer lebendigeren Überlieferung, die auch an aktuelle Texte anschließt, beizutragen. Rilke heute – das kann und muss wohl ein ausführlich erklärter, begleitend kommentierter und vielfach vermittelter Rilke sein. Das will ich im Folgenden an dem eher unscheinbaren Motivkomplex des „Zwischenraums“ exemplarisch entfalten. Zunächst wird von seiner naturphilosophischen (1) sowie kultur- und literaturgeschichtlichen Tradition (2) die Rede sein, bevor ich auf seine unterschiedlichen Ausprägungen im Werk Rilkes (3) und seine poetologische Funktion (4) eingehe.
(1) Naturphilosophische Tradition: Atome und Synapsen
Das Konzept vom "Zwischenraum" entwickelt sich in der Naturphilosophie aus der antiken Atomlehre und wird von Lukrez in seinem Hexameter-Lehrgedicht de rerum natura (1. Jh. v. Chr.) – sozusagen als früher Versuch der Wissenschaftspopularisierung – vorgetragen. Ich zitiere eine längere Passage, in der es darum geht, wie sich die Atome des Körpers zu denen der Seele verhalten, und welche Rolle Zwischenräume dabei spielen:
Denn die Atome der Seele sind erstens geringer an Größe
Als die, welche den Körper und dessen Inneres bilden,
Dann auch geringer an Zahl. Auch sind sie nur sparsam verteilet
Hier und da durch die Glieder, so daß sich nur dieses behaupten
Läßt: wie klein nur eben ein einzelner Körper noch sein kann,
Um die Sinneserregung in unserem Körper zu wecken,
Soviel Zwischenraum bleibt auch für die Seelenatome.
Denn wir fühlen's bisweilen auch nicht, wenn Staub an den Körper
Anfliegt, oder wenn Tünche auf unsere Glieder herabfällt,
[…] Fühlen auch Vogelfedern und fliegende Samen der Pflanzen,
Die nur langsam meist infolge der Leichtigkeit fallen,
Ebenso wenig wie irgendein Tier, das auf uns herumschleicht,
Oder die einzelnen Tritte der Mücken und andren Geschmeißes,
Das auf unseren Körper die kriechenden Füße gesetzt hat.
Also müssen zuerst gar viele der Körperatome
In die Bewegung geraten, bis dann die unserem Körper
Beigemischten Atome der Seele Erschütterung spüren
Und durch Stöße getrennt in bedeutenden Zwischenräumen
Wechselseitig verkehren durch Anprall, Einigung, Abprall.[1]
Der Text liest sich, vor allem in den aufgeführten Beispielen „zarter“, kaum spürbarer sinnlicher Wahrnehmungen, beinahe wie ein Rilke-Gedicht. Die Seelenteilchen werden hier als eine Art besonders feingliedriger Atome geschildert, die in „bedeutenden Zwischenräumen“ zwischen den gröberen Körperatomen für „wechselseitigen Verkehr“ (bei Rilke hieße das wohl „Bezug“) sorgen. Dafür jedoch ist es wichtig, dass es diese Zwischenräume gibt: Wäre der Raum vollständig von Atomen ausgefüllt, wären Bewegung und Veränderung unmöglich.
Die Debatte um das Verhältnis von Atomen, Bewegung und leeren Raum zieht sich durch die Naturphilosophie bis hin zum Beginn der Naturwissenschaften in der Neuzeit. Ich will nur kurz noch ein modernes Beispiel für einen „bedeutenden“, natürlichen „Zwischenraum“ aus der Biologie anführen. Die Erregungs- und Informationsübertragung über die Nerven in den Synapsen geschieht über einen „Zwischenraum“ hinweg, den sogenannten „synaptischen Spalt“ nämlich, eine winzige Lücke zwischen verschiedenen Nervenzellen, die elektrische Ladungen jedoch nicht überwinden können. Deshalb wird das ursprünglich elektrische Signal an dieser Stelle in ein chemisches Signal umgewandelt. Dabei werden die sogenannten „Neurotransmitter“ (wie Adrenalin, Serotonin oder Dopamin) erzeugt, die auf vielfache Weise unseren Körper und unsere Emotionen beeinflussen. Auch hier findet also ein wichtiger qualitativer Übergang an einer Lücke statt.
(2) Kulturgeschichtliche und literarische Tradition: „Zwischenland“ der Kultur; zwischen Leben und Tod
Etwas näher an Rilke führt die kulturgeschichtliche Tradition des „Zwischenraums. In Johann Gottfried Herders Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) heißt es – mit einer kleinen Begriffsvariation, die den Terminus schon ein wenig poetisch auflädt, aber offenbar trotzdem das gleiche meint:
Siehe dies schöne griechische Klima und in ihm das wohlgebildete Menschengeschlecht mit freier Stirn und feinen Sinnen – ein rechtes Zwischenland der Kultur, wo aus zwei Enden alles zusammenfloß, was sie so leicht und edel verwandelten![2]
Der Zwischenraum steht hier für eine sowohl zeitlich wie räumlich abgegrenzte Zone besonderer kultureller Vielfalt, die von dieser Mittelstellung profitiert: Das "Zwischenland" Griechenland bildet eine Art Schnittmenge für Einflüsse aus einander entgegengesetzten Richtungen ("zwei Enden"), die sich hier ungezwungen vereinigen und verwandeln können, ohne ihre antagonistischen Charakterzüge gänzlich ablegen zu müssen. Der Zwischenraum wird dabei aufs engste mit dem Begriff der Kultur verbunden, die sich als Anverwandlung von Gegensätzen vollzieht.
Auch in der Literatur scheinen hier und dort Zwischenräume bedeutungsvoll auf. Bezeichnenderweise ist es gerade ein besonders zwischen verschiedenen Extremen hin- und hergerissener Autor wie Jean Paul, der das Konzept häufig verwendet; ich zitiere nur eine Stelle aus seinem Roman Siebenkäs (1796/97):
Er suchte die Wehmut sich mit philosophischen Bemerkungen aus der Brust zu schaffen; daher sagt' er: Die Menschen und die Uhren stocken, solange sie aufgezogen werden für einen neuen langen Tag, und er glaube, der dunkle Zwischenraum, womit der Schlaf und der Tod unsere Zustände abteile und absondere, wende das zu große wachsende Leuchten einer Idee, das Brennen nie gekühlter Wünsche und sogar das Zusammenfließen von Ideen ab, so wie die Planetensysteme durch düstere Wüsten, und die Sonnensysteme durch noch größere auseinandergehalten werden.[3]
Der Zwischenraum vermittelt auch hier zwischen Extremen: Der Schlaf und der Tod unterteilen das menschliche Leben zwischen sinnlicher Vergänglichkeit und geistiger Unsterblichkeit so wie die "düsteren Wüsten" des Raumes die verschiedenen Planetensysteme (oder die leeren Räume zwischen den Atomen – hier findet sich auch die naturphilosophische Traditionslinie wieder). Die "dunklen Zwischenräume" von Schlaf und Tod ermöglichen es nach Jean Paul, die mit dem menschlichen Dasein verbundenen Spannungen, vor allem die Überforderungen durch Transzendenzerfahrungen ("das große wachsende Leuchten einer Idee"), menschlich auszuhalten.
Es gibt natürlich auch Belege aus anderen Kulturräumen, wobei sich aber das Problem der Übersetzung des Begriffs ergibt. Ich will nur ein besonders bedeutsames Beispiel aus dem slawischen Sprachraum anführen; es findet sich in Tolstois Roman Anna Karenina (1877/78), und zwar im Zusammenhang mit dem Selbstmord von Anna Karenina, erzählt am Ende des siebten Teils:
Auf einmal kam ihr der Mann ins Gedächtnis, der an dem Tag ihrer ersten Begegnung mit Wronski überfahren worden war, und nun wusste sie, was sie zu tun hatte. Mit schnellen, leichten Schritten stieg sie die Stufen hinab, die von der Wasserstelle zu den Schienen führten, und blieb neben dem dicht an ihr vorüberfahrenden Zuge stehen. Sie blickte nach dem unteren Teile der Wagen, nach den Schrauben, den Ketten und den hohen, gußeisernen Rädern des langsam dahinrollenden ersten Wagens und suchte nach dem Augenmaß die Sekunde abzupassen, wo der Zwischenraum zwischen den Vorder- und den Hinterrädern gerade vor ihr sein werde.
›Dorthin!‹ sagte sie zu sich selbst, indem sie in den Schatten blickte, den der Wagen warf, und ihre Augen auf den mit Kohlen vermischten Sand richtete, mit dem die Schwellen bedeckt waren. ›Dorthin, gerade in den Zwischenraum; so werde ich ihn bestrafen und mich von allen und von mir selbst befreien.‹[4]
Anna Karenina stürzt sich also ganz bewusst in einen (tödlichen) Zwischenraum (und nicht etwa vor einen fahrenden Zug). Dieser Zwischenraum symbolisiert offensichtlich ihr Verhältnis zu Wronski wie auch ihre vergebliche Suche nach dem richtigen Platz im Leben. Tatsächlich reflektiert sie in den sich anschließenden Passagen noch einmal ihr ganzes Leben; als sie sich kurz vor dem Sprung in den tödlichen Zwischenraum bekreuzigt, so heißt es, „zerriß die Finsternis, die ihr bisher alles verborgen hatte, und ihr vergangenes Leben stand einen Augenblick lang mit all seinen hellschimmernden Freuden vor ihrem geistigen Blicke“.[5] Kurz vor ihrem Tod hat Anna Karenina eine Erscheinung, eine Epiphanie angesichts eines Zwischenraums – das wird auch für Rilkes Konzept des „Zwischenraums“ entscheidend werden.
(3) Zwischenräume bei Rilke
(a) geographische Zwischenräume: Ägypten, Duino, Venedig
In Rilkes zu Beginn des Jahres 1912 entstandenen zweiten Duineser Elegie[6] steht am Schluss eine auf den ersten Blick eher unauffällige Passage; sie lautet:
Fänden auch wir ein reines, verhaltenes, schmales
Menschliches, einen unseren Streifen Fruchtlands
zwischen Strom und Gestein. Denn das eigene Herz übersteigt uns
noch immer wie jene. Und wir können ihm nicht mehr
nachschaun in Bildern, die es besänftigen,
noch in göttliche Körper, in denen es größer sich mäßigt.[7]
Hier findet sich der Terminus vom "Zwischenraum" zwar nicht wörtlich, tatsächlich ist nur die Rede von "einem unseren Streifen Fruchtlands zwischen Strom und Gestein". Der Zusammenhang zur kulturgeschichtlichen Vorstellung des Zwischenlandes jedoch ist naheliegend: Es ist wie bei Herder nämlich die Rede von einem spezifischen Kulturraum – einem Streifen fruchtbaren Landes zwischen Wasser und Gebirge. Ebenso präsent ist die Vorstellung vom Zwischenraum als etwas Vermittelndem zwischen Ewigkeit und Vergänglichkeit: Wie bei Jean Paul ist die Rede von einer Überforderung durch die Erfahrung der Transzendenz (das "Übersteigen" des eigenen Herzens) und der Suche nach einem spezifisch menschlichen Schutzraum davor (ein "reines, verhaltenes, schmales Menschliches").
Spricht Rilke hier von einem tatsächlich existenten Raum? Der Kommentar der Werkausgabe von Manfred Engel und Ulrich Fülleborn verweist zum Verständnis auf einen konkreten, für Rilke besonders relevanten Kulturraum, nämlich Ägypten, das Rilke 1911 besucht hatte.[8] Am 27. Juni 1911 beschreibt er in einem Brief an Antonie Baumgarten
das Wunder der unberührbar überlieferten Landschaft, in der neben dem Stromgott und dem fortwährenden Anheben der Wüste ein Streifen dichtesten, drängendsten, entschlossensten Lebens verläuft, auf dem Menschen und Tiere und rasch heranwachsende Pflanzen sich in gleichsam ewige, starke Bedingungen teilen.[9]
Rilke hatte also wahrscheinlich beim Verfassen der zweiten Elegie den Nil vor Augen und den schmalen Streifen fruchtbaren Schwemmlandes zwischen dem Strom und der leblosen Wüste („Strom und Gestein“, wie es im Gedicht heißt), der jedem Nil-Kreuzfahrer heutzutage vertraut ist. Und das, was ihn an diesem "Zwischenraum" so fasziniert, ist zum einen seine lange Tradition, seine "Unberührbarkeit" als Kulturraum durch mehr als 2000 Jahre Modernisierungsgeschichte der Menschheit; und zum zweiten das besonders intensive Leben des Menschen im Einklang mit der Natur, das sich in diesem Lebensraum konzentriert entwickelt hat.
Dass sich das Motiv des "Zwischenraums" bei Rilke darüber hinaus auf einen bestimmten Landschaftstypus bezieht, kann noch durch weitere Beispiele erhärtet werden. Die zweite Duineser Elegie entsteht bei seinem ersten Aufenthalt auf Schloss Duino[10], einem etwas düsteren, aber sehr imposanten Bau, der an einem Felsen über der Adria mehr hängt als steht. Rilke beschreibt die Lage des Schlosses, "das wie ein Vorgebirg menschlichen Daseins mit manchen seiner Fenster in den offensten Meerraum hinaussieht", in einem Brief vom 25. Oktober 1911 und hebt wiederum besonders einen Zwischenraum hervor:
Dahinter aber, wenn man aus all den sicheren Toren austritt, hebt sich, nicht weniger unwegsam denn das Meer, der leere Karst, und das so von allem Kleineren ausgeräumte Auge faßt eine besondere Rührung zu dem kleinen Burggarten.[11]
Schließlich sei noch ein dritter von Rilkes geographisch lokalisierbaren Zwischenräumen aufgezählt. In einem Brief vom 26. Juni 1920 berichtet er von einem alten Garten auf der Guidecca bei Venedig[12]: Dieser werde nur durch einen "ernsten Rasenstreifen" getrennt von der Lagune; und nichts sei für ihn
ergreifender, als dieser Streifen Zwischen-Welt, als sollte man sich in ihm der Vielfältigkeit entwöhnen und auf ein Ewiges vorbereiten, das einfach ist.[13]
Auch hier ist also die Zwischenstellung des Zwischenraums damit begründet, dass er an zwei Extremen menschlicher Existenz teilhat: der Vielfältigkeit des Irdischen im Garten und der Einfachheit des Ewigen im Meer; und auch hier dient er als eine Art Schutzzone der kulturellen Einübung des Menschen in die Ansprüche der Transzendenz, ohne die Immanenz ganz verlassen zu müssen.
(b) menschliche Zwischenräume: der Heilige unter der Stiege
Auf welche Weise jedoch dieser trostreiche Streifen Fruchtlandes ein Gegengewicht gegen die Zumutungen der Transzendenzerfahrung, die "Übersteigungen des eigenen Herzens", bilden soll, bleibt vorerst ungeklärt, ebenso wie die Frage danach, wo man denn einen solchen Zwischenraum des Menschlichen in modernen, nach-mythologischen Zeiten noch finden könnte. Hier setzt nun ein zweiter Strang des Zwischenraum-Motivs ein, der das geographisch-kulturgeschichtliche Modell durch ein psychologisch-religionsgeschichtliches Modell ergänzt, das gleichwohl seinen ganz bestimmten, konkreten (Zwischen-)Raum hat: nämlich unter der Treppe.
In den Jahren 1912 und 1913 - also im zeitlichen Kontext der Entstehung der zweiten Elegie bzw. unmittelbar danach - reflektiert Rilke seine Ägypten-Erfahrung häufig in poetologischen Zusammenhängen; unter anderem in Über den jungen Dichter (1913). In diesem poetologischen Text geht es im Wesentlichen darum, wie in einem Kind – das jeder Dichter ja irgendwann einmal gewesen sein muss – die Fähigkeit heranwächst, das "Übersteigen des eigenen Herzens", die Erfahrungen des Ewigen und Großen, auszuhalten und produktiv umzusetzen. Gegen Schluss findet sich die folgende Stelle:
Und wie, eigentlich, sollte es [das Große] ihm [dem jungen Dichter] zuerst kenntlich geworden sein, da es in seiner ursprünglichen Umwelt vielleicht nur vermummt, sich verstellend oder verachtet vorkam, gleich jenem Heiligen im Zwischenraum unter der Treppe wohnend? [...] Erschreckt im Innern durch das ferne Donnern des Gottes, von außen bestürzt durch ein unaufhaltsames Übermaß von Erscheinung, hat der gewaltig Behandelte eben nur Raum, auf dem Streifen zwischen beiden Welten dazustehn, bis ihm, aufeinmal, ein unbeteiligtes kleines Geschehn seinen ungeheueren Zustand mit Unschuld überflutet.[14]
Ich konzentriere mich wiederum zunächst auf die vielleicht unauffälligste Formulierung der nicht ganz einfachen Textstelle, nämlich die Rede vom Heiligen, der "im Zwischenraum unter der Treppe wohnt". Es handelt sich dabei um den Heiligen Alexius aus der syrischen Stadt Edessa, über den eine Legende aus dem 5. Jahrhundert folgendes zu erzählen weiß (in einer Fassung von Joseph von Eichendorff aus seiner Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands):
In der Legende vom heiligen ‚Alexius‘ des vorhin genannten Konrad von Würzburg entsagt Alexius, der Sohn eines reichen römischen Bürgers, am Abend seines Hochzeittages der Welt und ihren Freuden, giebt den goldenen Ring seiner Braut Adriatica zurück, und zieht in ärmlicher Kleidung hinaus. Nach mancherlei strengen Bußübungen und Pilgerfahrten wird er zuletzt in einem Meersturm nach Rom verschlagen. Hier findet er in dem Palast seines Vaters unter der Treppe als Bettler eine Lagerstatt, von Allen unerkannt, so bleich waren Antlitz und Locken durch die freiwillige Noth geworden. Die Diener verhöhnen den vermeintlichen Bettler, der Vater fragt ihn nach seinem Sohne, die treue Adriatica nach ihrem Gemahl. Dort stirbt er bald darauf, nachdem er seinen Lebenslauf auf ein Pergament niedergeschrieben und dieses fest in seine Hand geschlossen hatte; im Augenblick seines Todes aber fangen alle Glocken Romʼs von selbst zu läuten an, und es verbreitet sich die Kunde, daß unter der Treppe des Palastes der Heilige verschieden. Nun versuchen erst der Vater, dann die beiden Kaiser Arkadius und Honorius, und endlich selbst der Papst vergeblich, das Pergament aus der erstarrten Hand des Todten zu ziehen, sie öffnet sich nur der stillweinenden Adriatica.[15]
Die Hauptquelle dieser Legende ist eine lateinische Vita des St. Alexius in den Acta Sanctorum; verbreitet wurde sie in vielen volkssprachlichen Dichtungen des Mittelalters, z.B. einem altfranzösischen Heldenlied aus der Mitte des 11. Jahrhunderts. In Deutschland am bekanntesten ist wohl die mittelhochdeutsche Fassung des Konrad von Würzburg (1273-87), die auch Eichendorff erwähnt.
Wie und wo Rilke könnte auf die Geschichte dieses Heiligen, der namentlich niemals bei ihm erwähnt wird, gestoßen sein? Dass Rilke häufig, vor allem während seines ersten Paris-Aufenthalts im Jahre 1902, altfranzösische Chroniken und Geschichtsbücher in der Bibliotheque Nationale studiert, ist bekannt. Eine zweite Möglichkeit ist die Lektüre eines Textes für das Marien-Leben, das unmittelbar vor der zweiten Elegie entstanden ist: Rilke hatte dafür eine Übersetzung des Flos Sanctorum des Pedro de Ribadeneyra zurate gezogen, und zwar in der deutschen Übersetzung von Johannes Hornig: Die triumphierende Tugend, das ist: Die außerlesenste Leben aller Heiligen Gottes, die in mehreren Bänden ab 1717 erschien. Schließlich hat Rilke sich auch im Rahmen eines Seminars während seines Studiums in Berlin mit mittelhochdeutscher Lyrik beschäftigt.
Trotzdem ist auszuschließen, dass er die Geschichte des Heiligen Alexius in der vorhin zitierten Version des Konrad von Würzburg kennengelernt hat; und auch die Sammlung von Ribadeneyra scheidet aus. Tatsächlich gibt es nämlich im Mittelalter zwei verschiedene Überlieferungsstränge des Alexius-Stoffes; und nur in einer von beiden hält sich Alexius unterhalb der Stiege im elterlichen Haus auf.[16] Konrad von Würzburg und Ribadeneyra gehören zu dem Überlieferungsstrang ohne Stiege;[17] davon unabhängig jedoch ist die Stiege im Laufe der Zeit zu einem unzertrennlichen Attribut von Alexius' literarischer und bildnerischer Darstellung geworden. Das zeigt auch die zitierte Fassung der Legende von Eichendorff, die sich zwar ausdrücklich auf den treppenlosen Konrad von Würzburg bezieht, jedoch Alexius gleichwohl "unter der Treppe" im Hause des Vaters ansiedelt.
Die Vorstellung des "unter der Treppe" Lebenden hat im Lauf der Zeit vielfach Eingang in literarische wie volkstümliche Texte gefunden. Ein Beispiel dafür sind die von Jakob und Wilhelm Grimm gesammelten Volksmärchen. In Allerleirauh wird der titelgebenden Figur "ein Ställchen unter der Treppe, wo kein Tageslicht hinkam"[18], angewiesen. Armut und Demut führen zum Himmel, aus den Kinderlegenden, gestaltet den Alexius-Stoff sogar direkt:
Da ließ ihm die Königin aus Mitleid einen Platz unter der Treppe anweisen und ihm täglich durch zwei Diener Essen bringen. Aber der eine war bös und sprach „was soll dem Bettler das gute Essen!“ behielts für sich oder gabs den Hunden und brachte dem Schwachen, Abgezehrten nur Wasser; doch der andere war ehrlich und brachte ihm, was er für ihn bekam. Es war wenig, doch konnte er davon eine Zeitlang leben; dabei war er ganz geduldig, bis er immer schwächer ward. Als aber seine Krankheit zunahm, da begehrte er das heilige Abendmahl zu empfangen. Wie es nun unter der halben Messe ist, fangen von selbst alle Glocken in der Stadt und in der Gegend an zu läuten. Der Geistliche geht nach der Messe zu dem armen Mann unter der Treppe, so liegt er da tot, in der einen Hand eine Rose, in der andern eine Lilie, und neben ihm ein Papier, darauf steht seine Geschichte aufgeschrieben. Als er begraben war, wuchs auf der einen Seite des Grabes eine Rose, auf der andern eine Lilie heraus.[19]
Hier sind auch die Parallelen zur Darstellung von Alexius' Tod in der Legende noch greifbar. Allerdings ist aus dem Sohn eines reichen römischen Bürgers dem Märchenambiente entsprechend ein unerkannter Königssohn geworden.
Nur kurz noch sei, um die literarische Genealogie des Motivs abzurunden, ein eifriger Rilke-Leser erwähnt. In Peter Handkes Lehre der Sainte-Victoire berichtet der Ich-Erzähler im Zusammenhang mit der Rechtfertigung seiner Berufung zum Dichter (also in einem vergleichbaren Kontext wie bei Rilke in Über den jungen Dichter):
Im Großelternhaus gab es eine hölzerne Stiege, unter der sich eine fensterlose Kammer befand. In diesem Raum "unter der Stiege" lag damals für mich der heilige Alexius, unerkannt aus der Fremde zurückgekehrt, in triumphalen Schauern der Verborgenheit (die meine eigenen waren).[20]
Ähnlich heißt es bei Hugo von Hofmannsthal in Der Dichter und diese Zeit (1907), wieder mit Bezug auf den Hl. Alexius:
So ist der Dichter da, wo er nicht da zu sein scheint, und ist immer an einer anderen Stelle als er vermeint wird. Seltsam wohnt er im Haus der Zeit, unter der Stiege, wo alle an ihm vorüber müssen und keiner ihn achtet. Gleicht er nicht dem fürstlichen Pilger aus der alten Legende.[21]
Und, zum wirklich allerletzten: Noch ein legendärer Held unserer Zeit verbringt einen Teil seiner Jugend unerkannt in einem "cupboard under the stairs"[22] und muss ständig niedere Hausarbeiten verrichten; es handelt sich, um wen sonst, um Harry Potter, der in einem Zwischenraum zwischen der Welt der Muggles, der normalen Menschen, und der der Zauberer gefangen ist.
(4) Zum Zusammenhang von Dichtung und Zwischenraum: Verlorene Söhne
Bei Rilke war an der zitierten Stelle in Über den jungen Dichter von einem "Zwischenraum unter der Treppe" die Rede, in dem "vermummt", "verstellt" und "verachtet" das "Große" wohnt. Das "Große" steht in diesem Text, grob gesagt, für die Transzendenzerfahrungen der Menschheit wie des eigenen Lebens, die das jugendliche "Herz" des Dichters überfordern; es geht also um genau das gleiche, was in der zweiten Elegie das "Übersteigen" des eigenen Herzens genannt wird. Solchen nicht-alltäglichen, die Seele erhebenden, eben "großen" Erfahrungen wird in der alltäglichen Welt jedoch nur eine schmale Sphäre eingeräumt. Das Große wohnt deshalb inkognito im Haus des jungen Dichters; es hat sich menschlich, klein und verächtlich gemacht, um dem jungen Dichter menschlich begegnen zu können. Enthüllt es sich ihm jedoch nur einmal in seiner ganzen unverstellten Größe, in seiner " auf keinen Rücksicht nehmenden Herrlichkeit"[23], gerät auch der Dichter selbst in den Sog des Zwischenraums: Der solchermaßen "gewaltig Behandelte" hat nur noch Raum, "auf dem Streifen zwischen beiden Welten dazustehn".[24] Hier taucht die aus der zweiten Duineser Elegie vertraute Formulierung des „Streifens“ wieder auf; und wieder erfüllt dieser die gleiche Funktion: Die Einflüsse des „Großen“, die das menschliche Herz übersteigen, lassen sich hier mäßigen, ohne dass der Dichter dafür völlig aus seiner eigenen, der menschlich-alltäglichen Welt, entrückt werden muss. Und auf diesem schmalen Raum ereignet sich nun in einem Moment der Epiphanie - eine plötzliche Erleuchtung, die man durchaus als eine Art „Zwischenzeit“ betrachten kann - die dichterische Schöpfung. Die zitierte Textstelle aus Über den jungen Dichter geht nämlich weiter:
Dieses ist der Augenblick, der in die Waage, auf deren einer Schale sein von meteorisches Herz ruht, zu erhaben beruhigter Gleiche, das große Gedicht legt.[25]
Der Zwischenraum, in dem sich der Dichter mit dem "Großen" befindet, ist also nicht nur ein Milieu erhöhten emotionalen, geistigen und kulturellen Lebens; er ist auch das spezifische Milieu dichterischer Schöpfung.[26] Das "große Gedicht", das in diesem Zwischenraum entsteht, zehrt dabei von der religiösen Aura, wie sie am Beispiel des Heiligen Alexius aufgerufen wird. Seine Legende ist nämlich ganz offensichtlich eine Variante der biblischen Geschichte vom verlorenen Sohn, die Rilke bekanntermaßen des Öfteren beschäftigt hatte. Und ebenso, wie Rilkes Verlorener Sohn in der Schlussparabel des Malte Laurids Brigge beim Zurückkommen gerade nicht wiedererkannt und gefeiert und vereinnahmt werden will, so bleibt Alexius absichtlich unerkannt – in "triumphalen Schauern der Verborgenheit" (wie es bei Handke heißt) – in seinem Verschlag unter der Stiege. Letztlich ist der Dichter der "verlorene Sohn" Gottes, der dort ausgezogen ist, wo das Große doch einmal zuhause war. Und der Dichter kann es nur wiederfinden, wenn er als Mensch ungekannt und unbehaust und ungeliebt umkehrt und sich in Zwischenräume begibt, wo das Göttliche, und sei es noch so verstellt und vermummt, anwesend ist – und wo er es in seinen Gedichten für die anderen Menschen mäßigen, bändigen und ausgleichen kann. Rilke entwirft in seinen Texten also eine bescheidene „Metaphysik des Zwischenraums“, die den schmalen und bedrohten Streifen des Menschlichen zwischen einer übermächtigen Versachlichung aller Beziehungen in der Moderne und einer ebenso übermächtigen Sehnsucht nach metaphysischem Trost zu allen Zeiten ausmisst und zu erhalten sucht.[27]
***
Wozu sollten nun all diese Ausflüge in etwas entlegenere Seitengassen des Rilkeschen Werks bzw. der abendländischen Kultur- und Begriffsgeschichte eigentlich gut sein? Sie sollten an einem etwas abseitigen Exempel (sozusagen in einen Zwischenraum der traditionellen Rilke-Interpretation) die Notwendigkeit und Nützlichkeit von kommentatorischen Bemühungen in der Editionspraxis demonstrieren; und zwar, zum ersten, für das Textverständnis, sowie, zum zweiten, für eine daran anschließende Interpretation; sie sollten, zum dritten, eine darüber hinausgehende kulturgeschichtliche Perspektive eröffnen. Auf der untersten Stufe dieses Modells, dem ‚wörtlichen‘ Textverständnis, ist der "Streifen Fruchtlandes" der zweiten Duineser Elegie dann nicht nur eine dunkle Metapher mehr in einem sowieso weitgehend esoterischen Text, sondern beruht auf einer konkreten, kulturgeschichtlich verortbaren und sogar visualisierbaren Vorstellung. In einem zweiten Schritt kann die Anreicherung der Stelle durch zeitlich naheliegende Parallelstellen aus Rilkes Briefwerk und seinen essayistischen Schriften in einen weiteren Interpretationskontext führen: Der "Streifen Fruchtlands" ist auch der Ort des "großen Gedichts" und hat damit poetologische Relevanz; er ist nicht nur biologisch und kulturell, sondern auch literarisch schöpferisch. Zum dritten kann man Rilke über diesen unscheinbaren Motivkomplex in einen sehr weiten ideen- und kulturgeschichtlichen Kontext einordnen, der sich von der Antike bis zur unmittelbaren Gegenwart fortschreibt. In diesem Zusammenhang ist der "Streifen Fruchtlands" ein Zwischenraum, der immer wieder mit der Vorstellung einer kulturellen Schutzzone verbunden wird. In ihm kann sich der Mensch unter dem mäßigenden Einfluss der Kunst Transzendenzerfahrungen aussetzen, die ihn ansonsten überfordern würden.
Damit werden hier auf recht handgreifliche Weise sowohl Kontinuitäten wie auch Wandlungen im Bild-, Text- und Ideenhaushalt unserer Kultur ersichtlich, die bei einer unmittelbaren Textlektüre angesichts rasant schwindenden Bildungswissens und immer minimalerer Lektürekenntnisse nur noch von einer sehr kleinen Bildungselite realisiert werden können, die sich in die schützenden „Zwischenräume“ altmodischer Gedichte gerettet hat. Die zukünftige Literaturwissenschaft müsste sich der bildungspolitischen Aufgabe, das kulturelle Erbe zu erhalten, auch dadurch stellen, das sie auf möglichst vielen Ebenen des Wissens möglichst viele Zugänge des Verstehens eröffnet. Zugespitzt gesagt: Es mag zwar wissenschaftlich nicht gerade korrekt sein, Rilkes Duineser Elegien von Harry Potter her zu lesen; aber sie überhaupt nicht zu lesen, wäre dann doch wohl die schlechtere Alternative.
[1] Die Passage findet sich in dem Absatz „Gegen Demokrit“ (Lukrez 107). Zur weiteren Begriffstradition vgl. den Art. „Zwischen“ im Historischen Wörterbuch der Philosophie (12, 1543-1549).
[2] Herder 23.
[3] Jean Paul 266.
[4] In der Übersetzung von Röhl: Tolstoi 3, 269. Andere Übersetzungen geben den Begriff (russisches Wort im Original?) allerdings anders wieder. So ist in der neueren Übersetzung von Rosemarie Tietze an den entsprechenden Stellen die Rede von der „Mitte“ (1152f.).
[5] Tolstoi 3, 269.
[6] Vgl. zu den Duineser Elegien insgesamt Engel.
[7] Rilke, Werke 2, 207.
[8] Vgl. zu Rilke und Ägypten Grimm, A.
[9] Rilke, Gesammelte Briefe 3, 143f.
[10] Vgl. zu Rilke und Duino Czernin (vor allem die Fotografien von Duino).
[11] Rilke, Briefe 1, 294.
[12] Vgl. zu Rilke und Venedig Schmidt-Bergmann.
[13] Rilke, Briefe 2, 622.
[14] Rilke, Werke 4, 675f. Dass Rilke gerade in dieser Zeit mit dem Begriff arbeitet, wird auch dadurch belegt, dass er in Erlebnis (II) auftaucht, das ebenfalls 1913 entstanden ist. Dort heißt es: „Etwas sanft trennendes unterhielt zwischen ihm und den Menschen einen reinen, fast scheinenden Zwischenraum, durch den sich wohl Einzelnes hinüberreichen ließ, der aber jedes Verhältnis in sich aufsaugte und, überfüllt davon, wie ein trüber Rauch Gestalt von Gestalt betrog“ (Werke 4, 669). Um die Zusammenstellung zu vervollständigen: Zwei spätere Belege finden sich noch in den Sonetten an Orpheus (2. Teil): Im 3. Sonett werden die Spiegel als „erfüllte Zwischenräume der Zeit“ (Werke 2, 258) bezeichnet; im 26. Sonett geht der „Vogelschrei“ in „Zwischenräume“ des „Weltalls“ ein (Werke 2, 270).
[15] Eichendorff, Werke IX, 61.
[16] Vgl. zur Überlieferungsgeschichte Göller: „Dieses Attribut [die Stiege] des Heiligen ist in die volkstümlichen Legendare eingegangen; es gehört seit dem Ende des Mittelalters so fest zur Person des hl. Alexius wie der Drache zum hl. Georg oder die Leier zur hl. Caecilia. Man sollte daher annehmen, daß der Platz unter der Treppe als Domizil des Heiligen in allen bedeutenderen Ausformungen der Legende anzutreffen sei. Mit Ausnahme der altfranzösischen Vita des hl. Alexius, die etwa 1050 geschrieben wurde, ist das jedoch nicht der Fall“ (385).
[17] Vgl. zu Konrad Göller, 385; in Hornigs Übersetzung von Ribadeneyra ist in der Erzählung der Geschichte von Alexius die Rede davon, Alexius sei in „ein enges und finsteres Hüttlein […] in dem Vorhof an solchem Ort, wo der allgemeine Ein- und Außgang zu und von dem Pallast wäre“ einquartiert worden (57).
[18] Grimm 373.
[19] Grimm 816.
[20] Handke 55. Eine ähnliche Stelle findet sich auch bei Anton Matthias Sprickmann, Meine Geschichte (67): „So erzählte sie mir einmal die Geschichte des heiligen Alexius, der, von seinen Eltern verstoßen, unter der Treppe der Haußtüre lag […]. Den andern Tag lag ich unter der Treppe: man hatte mich verloren, fand mich nach langem Suchen, und ich hätte vergehn mögen über die Güte meiner Eltern, die mich nicht auch so verstoßen wollten“.
[21] Hofmannsthal 1, 54.
[22] Rowling, 26. Rowling greift dabei ein Motiv auf, dass auch in der englischen Literatur tradiert ist; vgl. z.B. George Reginald Turners Erzählung The Cupboard under the Stairs (1962).
[23] Rilke, Werke 4, 676.
[24] Ebd.
[25] Ebd.
[26] Vgl. zu einer ähnlichen Überlegung in allgemeinen ästhetischen Zusammenhängen auch Günter Figal: Erscheinungsdinge (§ 14: Leere, 258f.), der sich auf das Konzept des Zwischenraums bei Husserl bezieht.
[27] Letztlich ist das auch nicht viel anders gedacht, als es Christian Morgenstern in einem kleinen großen Gedicht über die transzendenten Möglichkeiten des Schöpferischen innerhalb der Begrenzungen der gutbürgerlichen Alltagswelt formuliert hat (in den Galgenliedern, 260):
Der Lattenzaun
Wer sich zu Beginn des dritten Jahrtausends unserer Zeitrechnung einem Rilke-Gedicht nähern wird, könnte dies vielleicht auf eine heutigen Lyrikfreunden befremdlich erscheinende Weise tun. Statt zu einer Lesung oder an den Bücherschrank würde er zu seinem PC gehen und ihn einschalten; dann den Datenhand-schuh anziehen, den Kopfhörer aufsetzen und aus einem umfangreichen Menü über den Pfad "Kultur - Literatur - Lyrik - 20. Jahrhundert - Rilke" schließlich das ehemals berühmte Gedicht Römische Fontäne auswählen. Mit einem Schlag befindet er sich nun im Park der Villa Borghese in Rom, 1904. Vor ihm steht ein Brunnen mit drei übereinander angeordneten Becken; vom höchsten steigt ein Wasser-strahl auf, bricht sich und verteilt sich nach und nach mit einem freundlichen Geplätscher auf die unteren. Es riecht nach Frühling im Park, im Hintergrund sind einige Kinderstimmen und viel Vogelgezwitscher zu hören. Während das Sonett Rilkes ertönt - man hat versucht, aus den überlieferten Berichten von Besuchern seiner Lesungen und Freunden über seine Stimme und seinen Vortragsstil den Ton möglichst originalgetreu zu treffen -, umschreitet er den Brunnen, kühlt sich dann die Hände im Wasser. Der sehr klare Himmel spiegelt sich in den Becken; heutzutage, so denkt er, hat schon lange keiner mehr einen blauen Himmel in Rom gesehen. Das Gedicht verklingt.
Rilke im Cyberspace - das Gedankenexperiment mag zunächst einfach lächerlich, modisch bemüht oder moderner Lyrik nicht angemessen erscheinen. Es ist jedoch vielleicht nicht müßig, anhand dieses Exempels einige Überlegungen über den Wandel ästhetischer Anschauungsformen im Allgemeinen anzustellen und damit möglicherweise auch einen neuen Zugang zu solch altmodischen Texten wie den Klassikern der Moderne zu erschließen. Dazu eignet sich die Lyrik Rainer Maria Rilkes in besonderem Maße: Denn wie kaum ein anderer Lyriker bezieht Rilke Realien, äußere Dinge in seine Gedichte ein, schafft also eine Art virtueller Realität mit den Mitteln der Dichtung. Rilke als Dichter der Dinge - diese pauschale Formel umfaßt zwar nicht alle Aspekte seines Werks und nimmt zu verschiede-nen Zeiten recht verschiedene Ausprägungen an, trifft jedoch einen wesentlichen Bestandteil seiner Auffassung vom Dichten und seiner lyrischen Praxis.
Nun ist gerade Rilke nichts weniger als ein platter Realist; seine Dichtung erschöpft sich gerade nicht in der naturgetreuen Darstellung vorhandener Gegen-stände, läßt sich also auch nicht banal durch ein noch so exaktes Abbild der Vorlage oder den Besuch der Originalstätten substituieren. Das oben geschilderte Cyberspace-Gedankenexperiment zieht seine Berechtigung deswegen nicht allein aus der Formel vom "Dichter der Dinge", sondern auch aus Rilkes Diagnose der Veränderungen der Lebenswelt zu Beginn unseres Jahrhunderts. Angesichts seiner Erfahrungen mit einer zunehmend gesichtslosen, von Technik dominierten Massen-Gesellschaft heißt es in einem der großen Erklärungs-Briefe zu den Duineser Elegien an seinen Übersetzer Witold Hulewicz vom 13.11.1925:
“Die Natur, die Dinge unseres Umgangs und Gebrauchs, sind Vorläufigkeiten und Hinfälligkeiten; aber sie sind, solang wir hier sind, unser Besitz und unsere Freundschaft, Mitwisser unserer Not und Froheit, wie sie schon die Vertrauten unserer Vorfahren gewesen sind. So gilt es, alles Hiesige nicht nur nicht schlecht zu machen und herabzusetzen, sondern gerade, um seiner Vorläufigkeit willen, die es mit uns teilt, sollen diese Erscheinungen und Dinge von uns in einem innigsten Verstande begriffen und verwandelt werden. Verwandelt? Ja, denn unsere Aufgabe ist es, diese vorläufige, hinfällige Erde uns so tief, so leidend und leidenschaftlich einzuprägen, daß ihr Wesen in uns ‘unsichtbar’ wieder aufersteht. [...] Und diese Tätigkeit wird eigentümlich gestützt und gedrängt durch das immer raschere Hinschwinden von so vielem Sichtbaren, das nicht mehr ersetzt werden wird. Noch für unsere Großeltern war ein ‘Haus’, ein ‘Brunnen’, ein ihnen vertrauter Turm, ja ihr eigenes Kleid, ihr Mantel: unendlich mehr, unendlich vertraulicher; fast jedes Ding ein Gefäß, in dem sie Menschliches vorfanden und Menschliches hinzusparten. Nun drängen, von Amerika her, leere gleichgültige Dinge herüber, Schein-Dinge, Lebens-Attrappen [...]. Die belebten, die erlebten, die uns mitwissenden Dinge gehen zur Neige und können nicht mehr ersetzt werden.“
Vor allem Rilkes späte Dichtung kann als Versuch gedeutet werden, in der "Bewahrung der erkannten Gestalt" (Siebente Elegie) diesen Ersatz zu leisten, die bedrohten Dinge durch ihre Verwand-lung in Dichtung vor ihrem endgültigen Untergang zu retten - zumindest für das Bewußtsein späterer Zeiten und damit als unverlierbares, kulturelles Erfahrungsinventar einer Gesellschaft.
Diese Bewahrung nun, so könnte man provozierend behaupten, könnte schließlich in der Informationsgesellschaft auch mit technischen Mitteln durchge-führt werden; und wäre es nicht gar besser auch in Rilkes Sinn, die Dinge in ihrer ganzen sinnlich erlebbaren Vielfalt zu bewahren - in einer "virtual reality" eben? Ist Cyberspace nicht die endlich handgreiflich gewordene fiktionale Welt der Tex-te aller Dichter und aller Zeiten? Wozu noch die Mühen von Mimesis oder Poeisis, wenn wir Realität endlich vollkommen simulieren können? Schon die Begriffsbildung „virtual reality“ kann ja als Analogon zu etablierten literaturtheoretischen Begriffen und damit geradezu als zeitgemäße Definition von Literatur verstanden werden: Dabei zielt die alltagssprachliche Bedeutung von „Virtualität“ - als noch nicht zur Aktualisierung gelangte Alternative - auf den der Literatur immanenten „Möglichkeitssinn“, ihre fiktionale Komponente. Die technische Bedeutung von „virtuell“ - beispielsweise im Zusammenhang mit virtuellen Maschinen, die durch Abbildungsverfahren der Simulation oder Emulation einen nicht vorhandenen Zustand vortäuschen - entspricht dem zweiten wesentlichen Merkmal von Literatur, nämlich ihrer Poetizität.
Lassen wir zunächst den sich in diesem Zusammenhang aufdringenden und offensichtlichen Einwand beiseite, daß es sich bei Gedichten nicht nur um virtuelle Realitäten im allgemeinen Sinn, sondern um Sprachkunstwerke, also eine ganz spezielle Form ästhetischer Erfahrung handelt. Daß eine „virtual reality“ zunächst überhaupt eine Art der Gegenstandserfahrung vermitteln könnte, die Rilkes "Ret-tung der Dinge" auf trivialer Ebene gleichkäme, ist offensichtlich: Wer im 21. Jahrhundert aufgrund eigener Anschauung keine Möglichkeit mehr hat, in eigener Anschauung zu erfahren, was und wie eine Fontäne tut, kann sich ebensogut an die Lektüre eines Textes wie in eine künstlich rekonstruierte historische Welt begeben; beides wird ihm eine, wenn auch zunächst oberflächliche, Erfahrung eines real nicht mehr vorhandenen Gegenstandes der äußeren Anschauung vermitteln können, und zwar (im Gegensatz beispielsweise zu einer einfachen zweidimensionalen Abbildung) in jedem Fall mittels einer Vielfalt und Intensität der sinnlichen Erfahrung, die die alltäglichen Welterlebens signifikant übersteigt.
Rilkes dichterisches Anliegen in den Duineser Elegien greift jedoch über dieses dokumentarisch-bewahrende Anliegen hinaus. Vom Verlust besonders bedroht seien, so Rilke im zitierten Brief an Hulewicz, die Dinge "unseres Umgangs und Gebrauchs". Es handelt sich dabei nicht etwa um Luxusgegenstände oder Raritäten: Als Beispiele nennt Rilke vielmehr ein Haus, ein Brunnen, ein Kleid; von Brücke, Brunnen und Tor, von Krug, Obstbaum, Fenster und Schwelle spricht er in der Neunten Elegie. Das alles sind lebensnotwendige Dinge in einem ganz ur-sprünglichen Sinn; sie werden von Menschen seit altersher hergestellt und gestaltet, werden von einer Generation zur nächsten überliefert und erlangen dadurch eine Geschichte. Aber was soll nun an einer primitiven Türschwelle bewahrenswert im Sinne einer kulturellen Leistung sein?
Zunächst einmal, so legen auch die anderen Beispiele nahe, stehen die genannten Alltagsgegenständen in einem besonderen Verhältnis zum Menschen; sie vermitteln nämlich auf eine besonders prägnante Weise zwischen menschlichem Inneren und äußerer Objektwelt, sind also eine Art Symbol. Ins Prosaische übersetzt, klingt diese Art der Dingsymbolik trivial: Die Brücke schafft Verbindungen zwischen verschiedenen Ufern, also getrennten Lebensbereichen; das Fenster gibt dem Blick in die fremde, unbegrenzte Natur einen Rahmen und damit Halt; die Schwel-le bildet den Übergang von diesem fremden Außen in das vertraute Eigene - so könnten mögliche begriffliche Übersetzungen lauten. Die gleichen Funktionen erfüllen jedoch auch ein Tunnel, ein Fernrohr oder eine elektronische Schiebetür - ob Rilke diese Dinge lyrisch preisen würde, erscheint zweifelhaft. "Weite Speicher der Kraft schafft sich der Zeitgeist, gestaltlos / wie der spannende Drang, den er aus allem gewinnt. / Tempel kennt er nicht mehr" heißt es in der Siebenten Elegie. Zu den „belebten, erlebten“ Dingen der Alltagswelt treten die „gestaltlosen“ der technischen Welt in Konkurrenz. Nicht jegliche menschliche Schöpfung im Um-gang mit der ihn umgebenden Natur ist also symbolfähig; in ihr muß vielmehr eine grundlegende, menschliche Erfahrung oder Bewußtseinsstruktur über die Zeiten hinweg eine anschauliche Ausdrucksform gefunden haben.
Die erhaltenswerten Dinge sind also dadurch aus ihrer Alltäglichkeit herausgehoben, daß sie ein Mindestmaß an Gestaltungspotential aufweisen - und zwar nicht, wie es heute zweifellos der Fall wäre, als modisches Design, sondern als über die Zeit entstandenes und damit natürliches Ergebnis menschlichen Handelns. Ein solches Ding ist zum einen Produkt schöpferischer menschlicher Tätigkeit, "von Geschlecht zu Geschlechtern gestaltet"; zum anderen nutzt es sich ab im täglichen Gebrauch, "dient als ein Ding", und wird "von Hingang lebend" schließlich verbraucht; dabei bleibt es jedoch "glücklich" und "schuldlos" (Neunte Elegie). Daß all diese Bestimmungen jenseits des Dings, ihres objektiven Trägers, auf ein subjektives Identitätsideal des Menschen hindeuten, ist offensichtlich: In den gestalteten, gebrauchten, dem Schicksal unterworfenen Dingen sieht Rilke sein Ideal eines offeneren Lebens enthalten, unabhängig von allen Beschränkungen gesellschaftlicher wie auch individueller Existenz. Derjenige, der sich wie ein Ding unter seine Bestimmung als Mensch stellt und sein Schicksal an sich erfährt, ist erlöst vom Zwang zum Handeln und Scheitern, vom Trieb zum Planen und Deuten; mehr noch, er ist erlöst von der letzten und größten aller menschlichen Ängste, der Todesangst.
Denn gerade die Geschichtlichkeit, die Vergänglichkeit verbindet die Menschen als die „Schwindendsten“ (Neunte Elegie) mit den gebrauchten, vom Schicksal verbrauchten Dingen. Ein rein technisches "Tun ohne Bild" hingegen bleibt von vornherein abstrakt, durch eine kategoriale Grenze von menschlichem Erleben geschieden; weder Wasserleitungen noch elektronische Schiebetüren sind unmittelbar anschaulich und damit auch nicht überlieferungswert. Statt einer dem Menschen vergleichbaren Entwicklung über die Zeit kennen sie nur die zwei Zu-stände, die das digitale Zeitalter kennzeichnen: Null oder Eins, Ein oder Aus, funktionsfähig oder defekt. Sie speichern keine Erlebnisse, stiften keine Tradition, er-möglichen keine Beziehung zu Menschlichem. Niemand wird auf ein gläserne Schwingtür mit automatischem Bewegungsmelder dichten: "Schwelle: was ists für
zwei / Liebende, daß sie die eigne ältere Schwelle der Tür / ein wenig verbrauchen, auch sie, nach den vielen vorher / und vor den Künftigen ... leicht" (Neunte Elegie).
Was aber geschähe mit diesen Liebenden im Cyberspace? Nun, zum einen würden sie sich wahrscheinlich nicht mit so trivialen Dingen wie Schwellen beschäftigen; die unbeschränkten Möglichkeiten verführen wohl zunächst einmal dazu, statt der einfachen Dinge vor allem die sensationellen Eindrücke, die paradoxen Erfahrungen zu suchen. Dazu trägt die äußere Situation erheblich bei: Ein schon durch den Gebrauch technischer Hilfsmittel derartig aus dem Alltag isoliertes Erlebnis wäre wohl noch schwerer auf lebensweltliche Erfahrungen zu beziehen, als das bei der konventionellen Lektüre literarischer Texte der Fall ist; die Kluft zwischen Kunst und Leben - die ja Rilke letztendlich auch und gerade durch die „Rettung der Dinge“ schließen will - würde sich unabsehbar verbreitern. Schwerwiegender ist jedoch, daß in diesem virtuellen Raum keine reale Verbindung zwischen Men-schen und Dingen mehr stattfinden kann: Die virtuell reproduzierte Schwelle nutzt sich eben nicht mehr ab. Damit entfällt aber die Erfahrung der Vergänglichkeit, die für Rilkes Konzept des Dinges ja entscheidend ist; es entfällt letztendlich die gemeinsame ontologische Basis für die "Rettung ins Unsichtbare". Die Dinge sind zwar gerettet - aber ins immer und ewig Sichtbare. Nur ein virtueller Mensch könnte ihnen noch gerecht werden.
Mit dieser Erkenntnis kehren wir aus Vergangenheit und Zukunft zurück in die Jetztzeit. Rilkes Diagnose des Verschwindens der sichtbaren Dinge hat - selbst im Zeitalter des Welt-Denkmalschutz, der allgemeinen Musealisierung und der um-fassenden historischen Dokumentationen - im Bezug auf unser Alltagserleben nichts von ihrer Aktualität verloren; davon zeugt das Gesicht unserer Städte und Landschaften wie der Wechsel synthetisch erzeugter Moden und der omnipräsente Design-Kult. Gleichzeitig belegen diese Trends auch ein konstantes Bedürfnis nach gestalteter Umwelt, nach bedeutungsvollen Gegenständen, nach Identifikati-onsmöglichkeiten innerhalb der alltäglichen Lebenswelt. Daß dieses Bedürfnis jedoch weder mit musealer Archivierung noch mit nostalgischer Reproduktion oder beziehungslosem Design zu erfüllen ist, zeigt das Gedankenexperiment. Rilkes Dichtung vermittelt stattdessen Bedeutungserlebnisse an einer Objektwelt, die noch geprägt ist von unmittelbarer Erfahrung und verbindender menschlicher Ge-schichte. Deren Objekte selbst sind verschwunden; die Dinge, die er ins Unsichtbare gerettet hat, haben jedoch ihren Bestand in der virtuelle Welt der Dichtung, wo der eine „Panther“ des berühmten Gedichts für viele Leser größere „Realität“ - sprich: Komplexität und Anschaulichkeit der Vorstellung - gewonnen hat, als ihnen eine Vielzahl von virtuellen Zoobesuchen im Jardin des Plantes um 1902 hätte vermitteln können.
Der ‘Panther’ ist, um nun auf den anfangs zurückgestellten Einwand zu-rückzukommen, natürlich ein Sprachkunstwerk; nicht der Panther als Tier ist es, der ein so prägnantes Äquivalent für eine menschliche Erfahrung wird, sondern die sprachliche Gestaltung vor allem seiner Bewegung im Gedicht stellt diese Bedeut-samkeit erst her, die dann vom Leser erst in der Lektüre entfaltet werden muß. Das Gedicht wird dadurch jedoch nicht unabhängig von dieser ursprünglichen, lebens-weltlichen Objekterfahrung: Rilkes Ding-Gedichte entstanden ja - wenn auch über lange Zeit hinweg und in vielen Verwandlungen - aus der bewußt gesuchten und gewollten Auseinandersetzung mit Gegenständen seiner Umwelt - seien sie Werke der Natur oder der Kunst -, nicht aus reiner Imagination. Damit der Panther nun in einem sprachlich-kreativen Akt zum äußeren Äquivalent einer inneren Erfahrung gemacht werden kann, muß er die oben beschriebenen Eigenschaften aufweisen:
Er muß ein lebendiges Ding sein, anschaulich und gestalthaft sein, eine Geschichte haben, der Vergänglichkeit unterworfen sein - wie der Mensch. Ist diese grundlegende Gemeinsamkeit außer Kraft gesetzt, ist auch keine poetische Gestaltung und Bewahrung der Dinge mehr möglich: Von den Objekten im Cyberspace gibt es nur noch „Science Fiction“.
„Sind wir vielleicht hier, um zu sagen: Haus / Brücke, Brunnen, Tor, Krug, Obstbaum, Fenster“ - mit Rilkes Neunter Elegie im Ohr begeben wir uns noch einmal ins 21. Jahrhundert. Die Menschheit haust in unterirdischen Wohnsilos, da der oberirdische Platz für Verkehrssysteme gebraucht wird. Wer das Erlebnis haben möchte, durch ein Tor in ein Haus zu gehen, dort Schwellen zu überschreiten, aus einem Fenster auf einen Apfelbaum zu blicken, macht einen Ausflug ins Cyberspace. Er betritt so das Haus seiner Vorfahren auf dem Lande. Die Türangel des Eisentors quietscht; als er das Haus über die abgetretene Schwelle betritt, riecht es nach frischgescheuerten Holzböden. Er öffnet das Fenster; aus dem Garten weht der Geruch von vermoderndem Laub herein. Nach einiger Zeit langweilt er sich; er zieht einen zerblättert aussehenden Band aus dem Regal: Rainer Maria Rilke, Gedichte, steht darauf. Er setzt sich nieder und vertieft sich in die Lektüre. Ein Gedicht erzählt ihm von Fenstern: "Längst, von uns Wohnenden fort, unter die Sterne versetztes / Fenster, das feiert und gilt; / du, nach Leyer und Schwan, überleben-des, letztes, / langsam vergöttlichtes Bild. // Wir gebrauchen dich noch, leicht in die Häuser gerahmte / Form, die uns Weite versprach. / Doch das verlassenste irdische Fenster ahmte / deinen Verklärungen nach!" Langsam steht er auf und tritt ans offene Fenster. Er denkt darüber nach, was "Leyer und Schwan" wohl sein mögen und beschließt, sich in der nächsten Sitzung ins Weltall zu begeben und mit den Sternen zu beschäftigen. Der Apfelbaum draußen sieht appetitanregend aus; leider kann man die Früchte nur riechen und greifen, nicht aber essen. Schnell legt er Datenhandschuh und Kopfhörer ab, schaltet das Gerät aus und bereitet sich einen synthetischen Apfelkuchen in der Mikrowelle. Ein anderes Gedicht aus dem Buch klingt ihm noch fremdartig im Ohr: "Wagt zu sagen, was ihr Apfel nennt. / Diese Süße, die sich erst verdichtet, / um, im Schmecken leise aufgerichtet, / klar zu werden, wach und transparent, / doppeldeutig, sonnig, erdig, hiesig -:/ O Erfahrung, Fühlung, Freude -, riesig!" Der Apfelkuchen schmeckt nach künstlichem Apfelaroma. Wie immer. Der Geschmack ist im Gedicht geblieben.