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Friedrich Schiller

 

  • Schiller und die Gnade, krank sein zu dürfen
  • Annäherung an den Kranich
  • Freiheit als schöne Kunst betrachtet. Essay zum 200jährigen Todestag von Friedrich Schiller


 

Schiller und die Gnade, krank sein zu dürfen

Die Krankheit überschattete alles. Es war ein langes, immer wiederkehrendes Übel; es stieg aus den Gedärmen auf und legte sich auf die Brust und es nahm einem den Atem und den Lebensmut. Es hatte schon begonnen mit seiner jugendlich-romanhaften Flucht vor dem Herzog in Schwaben, dem ungeliebten Medizinstudium, der Pflanzschule, in der sie Untertanen pflanzten; er aber war ein Räuber, ein großer Kerl, und er brannte durch in einer Nacht-und-Nebelaktion ins benachbarte Mannheim, die Freiheit, mit der sein Name später einmal beinahe synonym werden sollte: Schiller, der Dichter der Freiheit. Zunächst aber wurde er ein Professor der Geschichte, in Jena, und er erfand die Geschichtsschreibung neu: nicht die gelehrte Historie der Brotgelehrten, sondern eine Geschichte für den philosophischen Kopf, so wie er selbst einer war, auch und gerade als Gelehrter; und als er seine Antrittsvorlesung hielt, eine Glanzstunde akademischer Selbstreflexion, fasste der Hörsaal die Zuhörer nicht. Und dann wurde er wieder krank, und dann nahm er sich einen Urlaub von seinem Leben: Er wollte in Ruhe die kantische Philosophie studieren, an der niemand vorbeikam, egal ob Brotgelehrter oder philosophischer Kopf. Und dann kam er zurück und erfand er die Ästhetik neu, in dem er ihr einen Grund gab, der weiter nicht hätte entfernt sein können von seinem siechen Körper und seinen täglichen Kämpfen: das Spiel, ausgerechnet das Spiel. Der Mensch sei nur da ganz Mensch, wo er spiele, und auf das „ganz“ kam es ihm an, bei all den Widersprüchen und Dualismen, mit denen er, treuer Schüler des großen Meisters Kant, jonglierte, dass es einem den Atem nehmen konnte. Und mit dem Spiel war es ihm, dem großen Tragiker, aufs bitterste Ernst: Denn sein Spiel war gar kein Kinderspiel, keine regellose Ausschweifung vom Alltag, kein Urlaub vom Ernst des Lebens; es war der schwierigste denkbare Balanceakt von Geist und Körper, Freiheit und Regel, Form und Inhalt, und nur wenn die Waage aufs genaueste im Gleichgewicht war und die Gegensätze einen ebenso freien wie regelgebenden Tanz veranstalten konnte, war es das wahre, das ganze, das ästhetische Spiel. Und nur in diesem Spiel konnte man die wahre, die ganze Freiheit gewinnen – die aber nichts anderes war als das Setzen selbstgewählter, in vollem Bewusstsein anerkannter Regeln; was die späteren Nachbeter und Freiheitsapostel nicht einmal im Ansatz verstanden hatten, die immer nur dachte, Freiheit sei die Abwesenheit von Grenzen. Nein, das Gegenteil war der Fall; es gab keine strengeren Regeln als die der Freiheit.

Bevor der Tod ihn dann doch viel zu früh holte, hatte das Leben ihm jedoch am Ende noch einen wahren Freund geschenkt – den einzigen, der gewillt und in der Lage war, dieses riskante Spiel mit ihm zu spielen, es ganz zu spielen, und der in allem sein Gegensatz war und gerade deshalb sein einziger und wahrer Geistesverwandter. Und kein Freund hat jemals eine rühren-der, vertrauensvollere, intimere Bitte an seinen Freund gestellt als Schiller an Goethe: Er bitte um die große Gnade, in seinem Haus – krank sein zu dürfen. Zwischendurch jedoch, wenn es Schiller besser ging, schrieben sie ihre spitzen, gnadenlosen Xenien gegen den Rest des literarischen Deutschlands, so frech und schamlos wie nur je zwei junge, aber hochbegabte Schuljungen, sie gründeten Zeitschriften, kritisierten sich gegenseitig ihre Werke und spielten sehr ernst-hafte Spiele mit der Schönheit, ihrer strengen Meisterin. Und als Schiller starb, erwartet und doch unerwartet – zu oft war er schon totgesagt gewesen -, sagte der Arzt nach der Obduktion, es sei ein Wunder gewesen, dass dieser Mann gelebt und produziert hätte: Der linke Lungenflügel war zerstört, die eine Niere beinahe aufgelöst, der Herzmuskel hatte sich zurückgebildet – ein Wrack. Aber Schiller hatte es immer gewusst, sein ganzes Leben war getrieben von der Furcht, nicht fertig zu werden mit dem, was er zu sagen hatte. Er hinterließ ein Textkorpus, unvergänglich und geschützt vor den Gebrechen des Körpers, und man könnte den Mann daraus wieder auferstehen lassen mit all seinen Werken, so voll Schaffenskraft sind sie. Er hat mit Einsatz seines ganzen Lebens auf Zeit gespielt – und gewonnen.


Annäherung an den Kranich (in drei Schritten,
mit Schiller und Brecht)


I. Das Erlebnis: Erhabenes, geballt auf abendlichen Wiesen


Es war dann doch überwältigend. Wir waren noch bei hellem Sonnenschein und mäßig sommerlichen Temperaturen hinausgefahren auf dem bunten Schaufelraddampfer. Auf den Uferwiesen tummelten sich schon größere Mengen von Vögeln, weiße Tupfen gegen das metallische Blau des windstillen großen Sees, aber alles war friedlich, sogar die einzelnen Fischerboote dümpelten. Wir waren natürlich gespannt: Kraniche hatte man uns versprochen, die Dame im Buchungsbüro hatte auf unsere skeptische Nachfrage hin geantwortet, sie könne nicht genau sagen, ob es Hunderte oder eher Tausende seien würden? Na gut, einzelne Paare begannen einzutrudeln, elegant im Paarflug segelnd, und durchs Gehirn streifte eine vereinzelte Brecht-Zeile: „Seht jene Kraniche in hohem Bogen / Die Wolken, ihnen beigegeben. / Flogen mit ihnen schon, als sie entflogen / von diesem in ein anderes Leben“. Natürlich hatte man das als Liebesgedicht gelesen, damals in der sentimentalen Jugend, nicht als ein Gedicht über Kraniche, aber was wusste man damals schon; und ganz falsch war es vielleicht auch nicht gewesen. Inzwischen jedoch, so verkündete der Lautsprecher in rührend syntaktisch-ungeschickten Sätzen, könnte man ganz dort hinten schon die ersten Züge erkennen; man strengte sich an, starrte in den sehr langsam dunkler werdenden Himmel, war das nur ein Wolkenstreif oder – nein, tatsächlich, die Kraniche flogen ein, sie flogen Zug um Zug, mal in geordneten Linien, mal in wirren, sich gerade umsortierenden Haufen, hier im spitzwinkligen, dort im stumpfwinklingen Dreieck. Sie machten einen Landeanflug, der mit einer Kurve begann, auf einmal sah man nicht mehr die langgestreckten Körper mit der leichten Schwellung in der Mitte, sondern nur noch schlanke Silhouetten, die in der schon tieferstehenden Sonne noch blitzten, dann streckten sie die schmalen Beine aus, und schon waren sie verschwunden im grauen Gewimmel auf der Wiese, das nun immer dichter wurde. Und da kamen schon die nächsten, an einer etwas anderen Stelle des immer größer werdenden Himmels; und da, man hörte sie jetzt schon weitem, ein anschwellendes Krah-Krah, es kam von dort, oder kam es von dort, oder von – und auf einmal flogen sie an, von fast allen Seiten, ein langer Zug nach dem Anderen, ja, es waren gewiss Tausende, und keiner wusste mehr, wohin er das leuchtende Handy zuerst richten sollte. Die Menschenmasse gab entzückte kleine Laute von sich, die aber bei weitem übertönt wurden vom immer lauteren, jetzt schon fast bedrohlichen Krah-Krah, dicht über den Köpfen, dort über dem Wasser, von hinten nachrückend, von den Seiten aufschließend, sich in grauen Schwärmen auf den Wiesen ballend. Lange hatte man sich nicht so – kollektiv erhaben gefühlt. Brecht war inzwischen verdrängt von einer anderen Stimme, sie nagte noch im Unterbewusstsein und sang die „Kraniche des Ibykus“, was war das noch? Als die Betäubung dann vorbei war und die Schwärme abklangen, war man ein wenig mitgenommen und ein wenig leer. Zeit zum Nachlesen!


2. Die Ballade: Graulichtes Geschwader, im Gedränge


Die Kraniche des Ibykus also, Ballade von Schiller. Tatsächlich fliegen die Kraniche in ihrem völkerverbindenden Zug bis heute über den Isthmus von Korinth. Sie taten das wohl auch schon in der Antike, wo sich die griechischen Völker, friedlich für eine kurze Zeit, zu den isthmischen Spielen trafen; es galt den „Kampf der Wagen und Gesänge“, Athletik des Geistes neben der des Körpers. Da machte sich auch auf Ibykus aus Rhegium, berühmt schon in jungen Jahren und vom jugendlich-sonnengleichen Gott Apoll begünstigt mit der Gabe des Gesanges, „der Lieder süßen Mund“. Und Ibykus wandert frohen Mutes und „mit leichtem Stab“, in der Ferne sieht er schon Akrokorinth auf dem Hügel, das Ziel seiner freudigen Reise. Doch vorher ist „Poseidons Fichtenhain“ zu durchqueren, die Götter sind auch hier anwesend, der leicht fühlsame Wanderer spürt sie am „frommen Schauer“; und über ihn zieht, „fernhin nach des Südens Wärme“, ein Schwarm von Kranichen, in „graulichtem Geschwader“ ziehen sie, und ein leicht fühlsamer Leser, eine sympathetische Leserin könnte hier vielleicht schon den ersten Schauder fühlen, eine kleine Ahnung wie eine kleine grau-lichte Wolke am noch hellen Himmel. 

Der Dichter jedoch grüßt die großen Vögel als treue Reisebegleiter (bis heute zehrt die deutsche Lufthansa von diesem Bilde): Sie wandern zwischen den Welten, wie er, der Dichter; und wie er müssen sie darauf vertrauen, gastlich aufgenommen zu werden in der Ferne, unter einem „wirtlich Dach“. Doch im Walde, da wohnen auch die Räuber und Ibykus soll niemals in Korinth ankommen. Genau in „des Waldes Mitte“, dort wo er am tiefsten, am fremdesten, am dunkelsten ist, erscheinen zwei Mörder auf „gedrangnem Steg“ – und die Leserin springt, mitten im Text schon, die Fremdheit des seltsamen Wortes an: „gedrangen“, man fühlt das Unbehagen förmlich, eingeklemmt zwischen „gedrungen“ und dem „Andrang“ entsteht ein Wort-Gedränge, in dem der schwache Sänger, gewohnt die Lyra zu halten und nicht den Bogen zu dehnen, unterliegen muss, den hirnlosen, aber bizepsstarken bösen Buben, die tatsächlich „Mörder“ genannt werden: Sie wollen nichts von dem armen, fremden Sänger, als sein Leben. Der letzte Blick des sterbenden Ibykus richtet sich auf den Himmel, und er beklagt, sprachgewaltig bis zum Ende, dass er nun ungerächt vergehen müsse, verlassen, „unbeweint“ auf fremden Boden. Und in gedrangner Not ruft er die Kraniche an, die einzigen Zeugen eines Endes, die in ihrem gewaltigen völkerverbindenden Zug jetzt den ganzen Himmel verdunkeln; er sieht sie schon nicht mehr, aber er hört „die nahen Stimmen furchtbar krähn“, das harte Kra-Kra, das ihnen den Namen gegeben hat, und er fleht sie an, für ihn zu sprechen, Anklage zu erheben. Dann stirbt er, nackt, entstellt von Wunden, ein wenig schimmert Christus durch die Beschreibung, ein anderer Fremder auf dieser Welt, getötet von bösen Buben. 

Sein Gastfreund in Korinth jedoch, der, der ihm ein „wirtlich Dach“ geben wollte, erkennt das entstellte Opfer an seinen Gesichtszügen und bricht in beredte Klage aus: Dahin sind der friedliche Sieg und der erhoffte Ruhm; und alle Gäste, versammelt im Namen der Götter und des friedlichen Kampfes leiden mit ihm. Das Volk jedoch leidet nicht still und nicht beredt, nein, es wütet: Es will Blut sehen, Rache muss geübt werden, nur so kann das Verbrechen gesühnt werden, das ist die älteste Gerechtigkeit der Welt und sie wohnt tief im kollektiven Unterbewusstsein. Wo jedoch soll man sie finden, die „schwarzen Täter“, die Feiglinge? Waren es vielleicht Konkurrenten, Neider? Man weiß es nicht, man wird es nicht wissen. 

Nur Helios, die Sonne selbst, die die Kraniche am Himmel begleitet in ihrem graulichten Zug, mag es wissen; nur der allsehende Sonnengott kann sehen, wie die Frevler mitten am hellichten Tage den Göttern und ihren Schützlingen trotzen. Sie drängen sich unter die „Menschenwellen“, wieder ein Gedrang, geballt fluten sie in Richtung des großen Theaters, wo Bank an Bank gedrängt der Griechen Völker sitzen. Und der Bau wächst über sich selbst hinaus: Die Stimmen vereinen sich „dumpfbrausend wie des Meeres Wogen“, und die dicht gefüllten Reihen scheinen menschenwimmelnd, aber doch geordnet in „stets geschweiftem Bogen“ hinauf bis zum Himmel zu wachsen; er ist blau, dort wohnen die Götter, dort strahlt Helios, der alles sieht, das weiß jeder Einzelne in der anonymen Masse und vergisst es nicht im Gedränge. „Wer zählt die Völker, nennt die Namen“ entspringt als geflügeltes Wort dieser Ballade, es wird maßlos missbraucht werden, wie alle geflügelten Wörter, die in die Enge der Alltagssprache geraten; in der Ballade jedoch werden sie aufgezählt, die Völker, werden mit ihren fremden Namen genannt: Sie kommen sogar aus Asien, sie kommen „aus allen Inseln“, sie haben sich vereint zur Kathedrale des Theaters und genießen den Gastfrieden. Doch nun verstimmt das Stimmengewirr, denn der Chor tritt auf; und man kann sich die Szene nicht düster, nicht schauerlich genug vorstellen. Aus der Tiefe der kollektiven Vergangenheit treten maskierte Gestalten auf der Bühne, unkenntlich sind sie, vermummt, riesenhaft und weiblich, aber: „So schreiten keine irdschen Weiber!“ Stumm umschreiten sie das Proscenium, in einer Parade des Schreckens, mit „langsam abgemeßnem Schritt“; sie folgen einem alten, tiefen, im Blut verankerten Rhythmus, und ihr Singen ist nicht melodisch wie die süßen Töne aus dem Munde des Götterfreundes Ibykus, sondern von „grauser Melodie“ wie das Geschrei der Kraniche. Gehüllt in lange schwarze Mäntel schreiten sie und schreiten sie; in ihren dürren Händen schwingen sie blutrote Fackeln, aber ihre eignen Wangen sind blutlos-gespenstisch, und anstelle von Haaren, die lebendig über Dichterstirnen flattern und sich mit der Lorbeerkrone verflechten, ringeln sich Schlangen mit „giftgeschwollnen Bäuchen“. Sieht man sie wirklich, oder ist es eine Vision, die die Menge ergriffen hat und unwiderstehlich Gewalt und Gestalt gewinnt; ein sich im Kreise drehender und niemals endender Alptraum eines früheren Seins, einer archaischen Gemeinschaft vor der sanften Menschlichkeit, „die besinnungsraubend, herzbetörend“ wirkt? 

Besinnungsraubend, herzbetörend – in diesen gedrängten Worten drängt der Dichter die Gewaltsamkeit der Erscheinung zusammen, denn die schwarzen Überweiber rauben den Menschen nicht nur den Verstand, nein, sie verzaubern, betören, vergiften auch sein Herz, ja, schlimmer noch: Ihr Gesang verzehrt des Hörers Mark von innen her auf. Willenlos wird das Menschengewimmel, der sanften Stimme der Dichtung ebenso wenig zugänglich wie der weisen der Vernunft. Und die schwarzen Überweiber in ihren wehenden Mänteln sprechen alle frei, die sich eine „kindlich reine Seele“ bewahrt haben; nur sie allein könnten „frei des Lebens Bahn“ wandeln, im Gespräch mit den Göttern und der Natur, so wie Ibykus vertrauensvoll sich in den Wald begab, den er nie mehr verließ; aber er war frei und hatte eine kindliche Seele. Doch der Verbrecher, der Mörder gar, ist von nun an und für immer gefangen: Er wird gejagt von den Erinnyen, dem „furchtbaren Geschlecht der Nacht“, und nie mehr wird die Sonne des Helios für ihn scheinen, nie mehr wird er unbeschwert durch den Wald des Poseidon gehen können. Überall sind ihm die geflügelten dunklen Göttinnen auf den Fersen, und nichts kann sie versöhnen, keine Reue, kein Bitten und Flehen, noch nicht einmal der Tod: in der Unterwelt selbst, in ihrer ewigen Nacht, lassen sie ihn immer noch nicht los. Erbarmen liegt nicht in ihrer Natur, Vergebung kennen sie nicht. Sie setzen sich im Mark fest, und von dort zerstören sie den Mörder von innen. Düstere Stille lastet über dem Theaterrund, als die Riesenweiber, immer noch im „langsam abgemeßnen Schritt“ – es eilt ihnen nicht mit der Rache, sie haben die Ewigkeit gepachtet – wieder abtreten; und jeder einzelne im Menschengewimmel spürt in seiner eigenen Brust die Wirkungen einer uralten, dunklen, furchtbaren Macht, die im Verborgenen richtet, „unerforschlich, unergründet“, sie kennt keinen Prozess, keine Berufung, ob Trug oder Wahrheit, das interessiert sie nicht. 

Und während die Menge noch dämmert, zweifelt, bebt, erschauert, da erhebt sich plötzlich, beinahe erschrickt man beim Lesen, eine einzelne Stimme, man imaginiert sie unwillkürlich hell. Und sie spricht vernehmliche Worte und sie spricht sich selbst ihr Urteil: „Sieh da! Sieh da, Timotheus! Die Kraniche des Ibykus!“ Denn der Himmel hatte sich verfinstert, über das Theater hinweg zieht genau in diesem einzelnen Moment, nicht mehr graulicht, sondern zu „schwärzlichtem Gewimmel“ zusammengedrängt, das „Kranichheer“ – eine Masse ununterscheidbarer Leiber, verschmolzen zu einer dunklen Macht, geleitet von einem tiefen, unerforschten, unergründlichen Willen. Doch die Menge erwacht ebenso plötzlich, wieso, was hat es auf mit diesen Kranichen, was hat das mit dem erschlagenen Ibykus zu tun? Und „wie im Meere Well auf Well“ verbreitet sich die Nachricht, das Gerücht, die Erkenntnis: Nur der Mörder kann wissen, dass Ibykus in seinem letzten Moment noch Kraniche gesehen hat! „Mit Blitzesschnelle“ erkennen alle Herzen in einem Moment der Erleuchtung, dass dies das Werk der Eumeniden, der dunklen Rachegöttin ist: Die Mörder „bieten selbst sich dar“ zum Urteil. Und die Übeltäter verwünschen noch das schnelle Wort, das ihrem „schreckenbleichen Mund“ entfahren ist; kaum finden sie die Zeit, ihre Schuld zu bereuen, da werden sie schon vor den Richter geschleppt, und sie haben noch Glück, dass die Menge sie nicht auf der Stelle zerreißt. Die Theaterszene wandelt sich zum Tribunal, die Mörder gestehen, und kaum zwei Zeilen später ist die Ballade zu Ende, in einer gewaltigen Anti-Klimax: Das Werk des irdischen, menschlichen Rechts tut sein unspektakuläres Werk. Und es ist nicht wichtig, wie das Urteil fällt; wichtig ist, dass Rache geschieht, dass die Götter dafür gesorgt haben, das der Tod ihres Lieblings gesühnt wird. Gerechtigkeit aber ist das, was im Inneren geschieht; und niemals werden die Mörder wieder freie Menschen werden können, immer werden ihnen die Erinnyen auf den Fersen sein, sie werden Schlangenköpfe sehen statt flatterndem Dichterhaar, und niemals verstummt das heisere Krah-Krah der Kraniche mehr in ihren Ohren. Wer Mord begeht, hat sein inneres Mark zerstört. Der Mensch jedoch bewahre sich sein kindlich reines Gemüt, auch wenn er in den dunklen Wald geht. Die Kraniche aber sind wie die Menschenwellen, die der Chor der Menschenleiber antreibt: das Bild einer grau-lichten Macht, ewig hin- und hergerissen zwischen Licht und Schatten, Tag und Nacht; ein gewaltiger Anblick, ein Gedränge im begrenzten Raum des Himmels. Aber bevor sie sich paaren, tanzen sie.


3. Das Liebesgedicht: Wolke und Kranich, daneben


Das Gedicht von Brecht heißt übrigens Die Liebenden. Und es ist ja nicht ganz falsch. Immerhin geht es auch um den schönen Himmel und um Gastfreundschaft in Zeiten der Wanderung. Und es beschreibt auch etwas, das sich jenseits der Vernunft vollzieht, in Instinkten und Rhythmen, in der Wechselwirkung von Tier und Umgebung, in der stillen Übereinstimmung zwischen Wolke und Kranich. Denn nicht, wie man es allzu leicht assoziiert und damit verkennt, ist von zwei Kranichen die Rede; die Rede ist von den Kranichen und der ihnen beigegebenen Begleitwolke, zwei sehr unterschiedlichen Wesen in einer Beziehung von äußerst schwankender Dauer. Ihr Verhältnis, wenn man es denn „Liebe“ nennen will, gründet im Nichts des Augenblicks: einer gemeinsamen Wahrnehmung, einer geteilten Umgebung, einer rhythmischen Abstimmung im Moment, der man sich jedoch überlassen muss; reinen Herzens, mit einer kindlichen Seele, von Sonne und Mond beschienen, im Glauben daran, dass dieser Moment, diese Beziehung, dieses reine Verhältnis alles ist. Die Liebe nämlich ist, das wird auch in gereiftem Alter häufig übersehen, ein Moment geteilten und geschenkten Vertrauens, nicht sich unsterblicher wähnender Leidenschaft; ein „daneben“ mehr denn ein „miteinander“. (Hier ist das Gedicht:)


Seht jene Kraniche in großem Bogen!
Die Wolken, welche ihnen beigegeben
Zogen mit ihnen schon als sie entflogen
Aus einem Leben in ein anderes Leben.
In gleicher Höhe und mit gleicher Eile
Scheinen sie alle beide nur daneben.
Daß so der Kranich mit der Wolke teile
Den schönen Himmel, den sie kurz befliegen
Daß also keines länger hier verweile
Und keines anderes sehe als das Wiegen
Des andern in dem Wind, den beide spüren
Die jetzt im Fluge beieinander liegen:
So mag der Wind sie in das Nichts entführen.
Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben
So lange kann sie beide nichts berühren
So lange kann man sie von jedem Ort vertreiben
Wo Regen drohen oder Schüsse schallen.
So unter Sonn und Monds verschiedenen Scheiben
Fliegen sie hin, einander ganz verfallen.
Wohin ihr? - Nirgend hin. Von wem davon? - Von allen.
Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen?
Seit kurzem. - Und wann werden sie sich trennen? - Bald.
So scheint die Liebe Liebenden ein Halt.

 

 


Freiheit, als schöne Kunst betrachtet 

Essay zum 200jährigen Todestag von Friedrich Schiller


Wir schreiben das Jahr 2005. Vor zweihundert Jahren starb Friedrich Schiller, Dichter der Freiheit, nur 46jährig zermürbt von langwierigen und schmerzhaften Krankheiten. Vor einhundert Jahren schrieb Albert Einstein in seinem „Wunderjahr“ einige Aufsätze, die die Freiheit des Menschen einmal mehr angesichts der mathematischen Berechenbarkeit des Universums als lächerliches Konstrukt erscheinen ließen. Vor sechzig Jahren endete eine der größten Katastrophen der Menschheitsgeschichte mit der sogenannten „Befreiung“; ihr folgten Vertreibung, Gefangenschaft und neue Zwangsherrschaften. Wo war da die Freiheit?

Im gleichen Jahr 2005 werden in Südostasien über 300.000 Menschen von einem mörderischen Spiel der Natur, genannt Tsunami, innerhalb von wenigen Minuten getötet. In Deutschland erreicht trotz fortgesetzter Reformbemühungen der politischen Führung die Anzahl der vom modernen Industriestaat freigesetzten Arbeitskräfte einen neuen Höchststand. Im Irak wird unter dem Banner der Freiheit und unter dem Einsatz von technologisch ausgefeiltester Waffensysteme der internationale Terrorismus bekämpft; derweil werden die Freiheitsrechte der Bürger in den westlichen Demokratien allenthalben beschnitten. Wo ist da die Freiheit?

Auch zweihundert Jahren nach Schillers Tod scheint, trotz aller Fortschritte in Wissen und Gesellschaft, die Erfahrung von Unfreiheit in der globalisierten Weltgesellschaft unausrottbar zu sein: Gegen die Gewalt der Natur ist zwischenzeitlich ebenso wenig ein Wunderkraut gewachsen wie gegen die Gewalt des Menschen gegen den Menschen. Und selbst dort, wo politische Liberalität und friedliche Verhältnisse die größtmögliche Entfaltung individueller Freiheit in der Lebensgestaltung zu ermöglichen scheinen, erwachsen neue Zwänge und Unfreiheiten aus einer entfesselten ökonomischen Rationalität, die sich zu einer neuen und kaum weniger bedrohlichen Gewalt entwickelt hat. Wo wird sich zukünftig Freiheit finden lassen?

Die gleiche Frage stellte sich Friedrich Schillers in einem im Jahre 1801 veröffentlichten Gedicht, betitelt „Der Antritt des neuen Jahrhunderts“:

Edler Freund! Wo öffnet sich dem Frieden

Wo der Freiheit sich ein Zufluchtsort?
Das Jahrhundert ist im Sturm geschieden,
Und das neue öffnet sich mit Mord.

Und er beantwortet die Frage selbst am Schluß des Gedichts:

Ach umsonst auf allen Länderkarten
Spähst du nach dem seligen Gebiet,
Wo der Freiheit ewig grüner Garten,
Wo der Menschheit schöne Jugend blüht.
In des Herzens heilig stille Räume
Mußt du fliehen aus des Lebens Drang,
Freiheit ist nur in dem Reich der Träume,
Und das Schöne blüht nur im Gesang.

Es wäre demnach ein Irrtum, die Freiheit auf der geopolitischen Landkarte zu suchen. Gemeinsam mit ihrer Schwester, der Schönheit, hat sie sich still und verborgen ins Innere des Menschen, in sein „Herz“ und seine „Träume“ zurückgezogen; und nach außen treten sie beide nur noch im "Gesang", also in der Kunst. Wahre und vollständige Freiheit, so behauptet Schiller hier und anderswo immer wieder, gibt es nur als schöne Kunst betrachtet.

Das läßt sich allzu leicht als Aufruf zur Emigration ins schöngeistige Innere brandmarken. Etwas mühsamer ist es, Schillers Begründungen für diesen Sachverhalt nachzuvollziehen. Und noch schwerer läßt sich beweisen, daß Schillers ästhetische Theorie, in der diese Fragen verhandelt werden, durchaus nicht eskapistisch und unpolitisch gemeint ist, sondern sich mit unendlicher Redlichkeit des Bemühens und differenziertester Argumentation bemüht, gerade das Gegenteil herzuleiten: „Die wahre Kunst aber hat es nicht bloß auf ein vorübergehendes Spiel abgesehen, es ist ihr Ernst damit, den Menschen nicht bloß in einen augenblicklichen Traum von Freiheit zu versetzen, sondern ihn wirklich und in der Tat frei zu machen“ (Braut von Messina).

Wie jedoch macht die "wahre Kunst" den Menschen „wirklich und in der Tat“ – und nicht nur in der Kunst und im Traum – frei? Die Antwort auf diese Frage gibt das gesamte Schillersche Werk, und zwar sowohl das dichterische als auch das immer noch weitgehend unterschätzte philosophische. Ihr Verständnis erfordert deshalb einen etwas längeren gedanklichen Atemzug und die Bereitschaft, sich nicht mit vordergründigen und plakativen Formeln wie der vom "Dichter der Freiheit" zufriedenzugeben, sondern zwischen verschiedenen Formen der Freiheit sorgfältig zu unterscheiden und vor die wohlfeile Kritik das mühsame Bemühen um Verständnis zu setzen; Fähigkeiten, die dem neuen 21. Jahrhundert zunehmend über der Kurzatmigkeit und Oberflächlichkeit medialer Präsentationsformen verloren zu gehen drohen. 

Wenn von Schiller als Dichter der Freiheit der Rede ist, drängen sich wohl als erstes zwei Figuren des dramatischen Werks in den Vordergrund: "Geben Sie Gedankenfreiheit!", fordert der Marquis Posa im Don Carlos von König Philipp; und im Rütlischwur des Wilhelm Tell versprechen sich die aufständischen Schweizer: "Wir wollen frei sein, wie die Väter waren, / Eher den Tod als in der Knechtschaft leben". Gedankenfreiheit und politische Freiheit sind aufklärerische Grundforderungen und bilden zusammengenommen die allergrundlegendeste Voraussetzung für jede andere Form von Freiheit. Allerdings sind beide nur das, was in der Sprache der Philosophie "negative Freiheiten" heißt: Sie machen frei von etwas ‑ einem äußerlichen Zwang wie der Zensur oder absolutistischen Herrschaft; sie bilden aber nur die Basis für die Freiheit zu, der eigentlichen positiven und kreativen Umsetzung der gewonnenen Handlungs- und Denkfreiheit. Trotz allgemeiner Pressefreiheit ist es weiterhin möglich, daß ein öffentlicher Meinungsterror herrscht; ebenso kann auch in der allerfreiheitlichsten Demokratie passive Teilnahmslosigkeit herrschen. Erst die Entfaltung aktiver politischer Gestaltungskraft und der Mut, sich des eigenen Verstandes auch wirklich ohne fremde Vormünder zu bedienen, machen den freien Bürger und den freien Denker.

Nun ist das dem Marquis Posa durchaus bewußt. Die Gedankenfreiheit, die er vom spanischen König fordert, soll nämlich dazu dienen, den "verlorenen Adel" der Menschheit wiederherzustellen. Erst wenn das geschehen ist – "wenn nun der Mensch, sich selbst zurückgegeben, / zu seines Werts Gefühl erwacht" ‑, dann können "der Freiheit / erhabne, stolze Tugenden gedeihen". Die Wiedereinsetzung der von der Natur verliehenen Menschenrechte ist nur die Voraussetzung für die weit wichtigere Verpflichtung zu tugendhaften Handeln. Richtiges und freies Denken allein ist zwar eine schöne, aber weitgehend folgenlose Angelegenheit; zur "Triebkraft", wie Schiller im mechanistischen Jargon der Zeit immer wieder sagt, wird es erst, wenn es mit einem lebendigen Gefühl, einer Motivation verbunden werden kann. "Ausbildung des Empfindungsvermögens", so wird es in den Ästhetischen Briefen zur Erziehung des Menschen heißen, sei deshalb nach weitgehend vollzogener Aufklärung des Verstandes das eigentliche Gebot der Zeit – eine Forderung, die sich in Zeiten des zwar allseitig ausgebreiteten, aber deshalb keineswegs tiefer verstandenen Gefühlsleben nicht erübrigt hat.

Auf freies Denken muß moralisch freies Handeln folgen – dieser Sachverhalt wird bis heute unter dem Stichwort des "freien Willens" verhandelt. Direkt im Anschluß an die zitierte Rede Posas beweist der vermeintlich so verhärtete König Philipp, daß auch er zu so etwas fähig ist: Er will

den Jüngling, der sich übereilte,
Als Greis und nicht als König widerlegen.
Ich will es, weil ich’s will.

Philipp will als Mensch sprechen, und nicht als Monarch; und diese moralische Entscheidung bedarf keinerlei Begründung: "Ich will es, weil ich's will". Mit der gleichen Formel könnte man allerdings auch die völlige Beliebigkeit des Handelns begründen, die bis heute weitgehend unreflektiert unter "freiem Willen" verstanden wird: eine Art Diktatur des von jeglichem Begründungs- und Legitimationszwängen freigesprochenen, spontanen, individuellen, willkürlichen Handelns.

Das allerdings meinte Schiller gerade nicht mit der moralischen Freiheit des Menschen. Die Paradoxien, die aus einem solchen bloß willkürlichen Freiheitsbegriff entstehen, thematisieren alle seine Dramen, vom frühen Don Carlos bis zum späten Wilhelm Tell. Willkürlich sei eines aus der Mitte herausgegriffen. In Wallensteins Lager feiern die Soldaten enthusiastisch die Freiheit ihres Berufsstandes und ihrer Lebensweise. Wohlgemerkt, wir befinden uns im Krieg – allgemein nicht gerade als eine Oase freien Handelns bekannt -; und es herrscht strenge militärische Disziplin unter dem Regiment des Fürsten Wallenstein. Gerade aus dieser Situation extremen äußerlichen Zwanges heraus jedoch entfalten die Soldaten ihren Freiheitsbegriff:

Aus der Welt die Freiheit verschwunden ist,
Man sieht nur Herren und Knechte;
Die Falschheit herrschet, die Hinterlist
Bei dem feigen Menschengeschlechte.
Der dem Tod ins Angesicht schauen kann,
Der Soldat allein ist der freie Mann.

Wiederum ist hier zunächst von einer negativen Freiheit die Rede: Die Voraussetzungen zum freien Handeln erwachsen erst daraus, daß man die Notwendigkeit des Todes anerkennt und sich von der zwanghaften Angst, sterben zu müssen, befreit. Nur wer dem Tod ohne Furcht ins Auge blicken kann, gewinnt Gestaltungsfreiheit für sein Leben. Allerdings können die Soldaten diese letztlich nur auf dem Schlachtfeld verwirklichen: "Ins Feld, in die Freiheit gezogen", heißt ihre Parole. Eine positive gesellschaftliche Perspektive ist daraus nicht zu gewinnen.

Für Wallenstein selbst stellt sich die Lage von oben her gesehen etwas anders dar. Aus einer Position beinahe absoluter Macht heraus kann er, wie König Philipp im Don Carlos, von sich behaupten, der "Täter seiner Taten" zu sein. So ist seine Verschwörung gegen den Kaiser zunächst ein Akt freien Denkens:

In dem Gedanken bloß gefiel ich mir;
Die Freiheit reizte mich und das Vermögen.
Blieb in der Brust mir nicht der Wille frei?

Doch als er sein Gedankenspiel in die Tat umsetzt, ist er urplötzlich nicht mehr der "Täter seiner Taten":

In meiner Brust war meine Tat noch mein;
Einmal entlassen aus dem sichern Winkel
Des Herzens, ihrem mütterlichen Boden,
hinausgegeben in des Lebens Fremde,
gehört sie jenen tückschen Mächten an,
Die keines Menschen Kunst vertraulich macht.

 Nun wird er getrieben von der äußerlichen Eigendynamik seines Tuns – dem Selbsttäter ein unerträglicher Gedanke. Seine Freiheit gewinnt er erst zurück, als die Situation ausweglos geworden ist:

Die Brust ist wieder frei, der Geist ist hell,
Nacht muß es sein, wo Friedlands Sterne strahlen.
Mit zögerndem Entschluß, mit wankendem Gemüt
Zog ich das Schwert, ich tats mit Widerstreben,
Da es in meine Wahl noch war gegeben!
Notwendigkeit ist da, der Zweifel flieht,
Jetzt fecht ich für mein Haupt und für mein Leben.

Auch hier ist also die Basis wahrer Freiheit des Handelns, wie bei den Soldaten, ein Zwang: Freiheit wird nicht etwa verwirklicht in beliebigen Willkürakten der "Wahl", sondern in der Anerkennung einer strengen und unumgänglichen "Notwendigkeit". Wallenstein wird erst wieder der "Täter seiner Taten", als er sich aus der Sphäre des "tückschen Mächte" des Schicksals erhebt; nun entspringt sein Handeln wieder rein aus ihm selbst, aus dem "mütterlichen Boden" des Herzens, aus der "freien Brust".

Damit jedoch ist dem moralisch freien Handeln des Menschen in Schillers Dramen eine unüberwindliche Grenze gesetzt. Zum einen folgen die vermeintlich freien Taten des Menschen, wenn sie tatsächlich ausgeführt werden, nicht mehr ihrem eigenen Gesetz, sondern den fremden Gesetzen äußerlicher Zwänge. Zum zweiten kann sich der Mensch in kurzen Momenten der absoluten Selbstbestimmung zwar als moralisch frei erfahren; aber er kann dieses paradoxerweise nur durch die Erfahrung absoluter Fremdbestimmung – angesichts des Todes, angesichts eines unabwendbar gewordenen Verhängnisses. Solange er noch eine Wahl zwischen verschiedenen Handlungsoptionen hat, wird er hin- und hergerissen zwischen verschiedenen Ansprüchen der Außenwelt, zwischen seinen Bedürfnissen und seinen Prinzipien. Erst wenn alles allzu pragmatische Abwägen von Vor- und Nachteilen verschwindet, gewinnt der Geist die Freiheit, das Notwendige zu tun.

Nun ist das offensichtlich ein sehr idealistisches Modell von Freiheit, das weder eine Beziehung zur menschlichen Alltagserfahrung noch zur alltagsweltlichen Dominanz sinnlicher Bedürfnisse aufweist: Im Normalfall steht der Mensch nicht vor singulären, großen Entscheidungen über Sein oder Nichtsein, sondern vor vielen, kleinen Entscheidungen über das Wie-im-einzelnen-besser-oder-schlechter-Sein; und er trifft diese meist eher im Modus der abwägenden Wahl zwischen unterschiedlichen Alternativen als im Modus der unbedingten Anerkennung allgemeiner Gesetzlichkeiten. Anstelle nur einmal die Täter unserer Taten zu sein, sind wir alltäglich die Opfer eigener wie fremder Bedürfnisse und Ansprüche. Wo also wäre der Platz des freien Willens außerhalb der Sphäre des Heroischen zu finden?

"Freiheit ist nur in dem Reich der Träume, / Und das Schöne blüht nur im Gesang" – nun sind wir offenbar also doch dort angekommen, wohin Schiller uns haben wollte. Außerhalb des Bereichs der Ideale und der großen Taten der Selbst-Täter lebt die Freiheit in der Kunst; und dort ist sie für jeden erreichbar und erfahrbar. Während Wallenstein auf der Bühne mit den determinierenden Kräften des Schicksals ringt, können sich die Zuschauer dem Genuß eines Kunstwerks hingeben. Der höchste Genuß aber, so Schiller in der Vorrede zur Braut von Messina, "ist die Freiheit des Gemütes in dem lebendigen Spiel aller seiner Kräfte", wie sie der Mensch in den "Künsten der Einbildungskraft" erfahren kann. Hier - und nur hier – nämlich macht er die volle Erfahrung seiner Menschheit. In einer vielzitierten Passage der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen heißt es programmatisch: "Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. Dieser Satz, der in diesem Augenblicke vielleicht paradox erscheint, wird eine große und tiefe Bedeutung erhalten; er wird, ich verspreche es Ihnen, das ganze Gebäude der ästhetischen Kunst und der noch schwierigern Lebenskunst tragen".

Es ist immer wieder als frappierend empfunden worden, daß Schiller die volle Last seiner Theorie der Freiheit wie seiner aufs engste damit verbundene Ästhetik einem unschuldigen alltagsweltlichen Begriff überbürdet. Was qualifiziert das Spiel eigentlich zu dieser Schlüsselstellung? Letztlich ist es wohl gerade seine tiefe und vielfache Verwurzelung sowohl in der "ästhetischen Kunst" als auch in der "Lebenskunst". Wir spielen als Kinder und als Erwachsene; wir spielen in der Musik und auf dem Sportplatz; wir spielen in gesellschaftlichen Rollen und auf dem Theater. In Spielen wird Kreativität entfaltet und trainiert; in Spielen wird der Umgang mit sozialen Beziehungen simuliert; Spielen macht Spaß und wirkt entspannend auf Geist und Gemüt, die gleichwohl beim Spielen gleichermaßen beteiligt sind. Definiert man den Menschen – wie Schiller dies im Einklang mit seinen Zeitgenossen tut – als "ganzen Menschen", dann macht er diese Erfahrung von Ganzheit offensichtlich weder in den arbeitsteiligen Zwängen der Berufswelt, die ihn auf seine Rationalität reduzieren, noch in der sogenannten "rein menschlichen" Sphäre der familiären Intimität, die ihn emotional vereinseitigt. Er macht sie vielmehr sowohl in realen Spielen als auch in den Spielen der Kunst, die Kopf, Herz und Phantasie in gleichem Maße anregen und ihm eine freie Entfaltung seiner Persönlichkeit – wohlgemerkt: innerhalb der Regeln des jeweiligen Spiels! ‑ ermöglichen. Denn kennzeichnend für alle Spiele ist die Erfahrung von Freiheit beim gleichzeitigen Bestehen von Regeln. Wir treten freiwillig in Spiele ein und beenden diese freiwillig; wir beachten die Regeln, variieren sie aber in der Anwendung. Ein Spiel ohne Spielregeln wäre nicht nur sinnlos, es würde auch keinen Spaß machen; das weiß jeder, der Kinder einmal bei Spielen beobachtet hat.

Allerdings bleibt, auch wenn man Schiller bisher folgt, weiterhin die erzieherische Wirkung von ästhetischen Spielen für das Leben zu beweisen: Macht es den Menschen denn wirklich besser, wenn er viele schöne Spiele befriedigend spielen kann? Verbürgt das Schöne (des Spiels) und das Wahre (der Kunst) wirklich auch das Gute (im Leben)? Und welche Rolle spielt die Freiheit in diesem Zusammenhang? An dieser Stelle setzt normalerweise der moderne Abwehrreflex gegen alles Klassische, das zur monumentalen Leerformel verschmolzenen Schöne-Wahre-Gute, ein. Auch hier jedoch argumentiert Schiller differenzierter und lebensnäher, als die anti-klassische Kritik ihm das häufig unterstellt. Zunächst verknüpft er Spiel und Freiheit aufs engste mit dem genuin schöpferischen Vermögen der Einbildungskraft: Während in der Sphäre der Gedankenfreiheit der Verstand sich frei betätigen darf, im freien Willen sich das Gefühl seinen Weg bahnt, herrscht in der Kunst das freie Spiel der Phantasie. Auch hier gibt es natürlich wieder eine negative und eine positive Variante: Das Spiel der Phantasie ist zwar frei von den Beschränkungen der Logik und den Grenzen der guten Sitten; es ist aber keineswegs hinreichend, nur seine Assoziationen angesichts eines Kunstwerks regel- und ziellos herumschweifen zu lassen. Vielmehr entsteht auch hier wahre positive Freiheit erst in einem gestaltenden Akt: nämlich der realen Teilnahme am Spiel, und zwar entweder in der Schöpfung eines Kunstwerks als "lebendige Gestalt", oder in der Wiederbelebung dieses Geschöpfs durch den Betrachter. Beides ist für Schiller gleichwertig: Wenn der Künstler nach Gott ein zweiter Schöpfer (nach Gott) ist, sind die Kunstrezipienten dritte, vierte, fünfte (und bis ins Unendliche fort) Schöpfer.

Wie jedoch vollzieht sich dieser menschliche Schöpfungsakt lebendiger Gestalten? An dieser Stelle erreicht Schillers ästhetische Theorie ihr Maximum an Komplexität, die deshalb zu Darstellungszwecken etwas reduziert werden muß. Im wesentlichen, so Schiller, findet während dieses Schöpfungsakts eine ständige Wechselwirkung in Form eines Rollentauschs statt. In einem Kunstwerk, so zunächst die ästhetische Klippschul-Theorie, wird ein bestimmter Stoff in eine bestimmte Form gebracht. Der Stoff entstammt der konkreten und sinnlich-vielfältigen Welt der Realität (zum Beispiel: Wallensteins tatsächlich gelebtes und überliefertes Leben mit all seinen historischen Details). Die Form hingegen entsteht durch eine Anwendung allgemeiner künstlerischer Verfahren und Regeln, durch die der Künstler dem Stoff eine einmalige äußere Gestalt verleiht (also im Falle Wallensteins die einer dreiteiligen Tragödie mit bestimmten Versmaßen, Dialogformen und sonstigen Formmerkmalen). Beides zusammen erst, Inhalt und Form, Individualität und Allgemeinheit, Leben und Gestaltung, machen das Kunstwerk zur "lebendigen Gestalt". Allerdings läßt sich beides weder bei der Herstellung noch bei der Betrachtung des Kunstwerks so sauber voneinander trennen noch in eine bestimmte Reihenfolge bringen: Beides interagiert vielmehr ständig im schöpferischen Prozeß. Die Schönheit des Kunstwerks wird dabei abwechselnd und über kreuz gleichzeitig empfunden und gedacht, genauer: das Empfinden wird nun gedanklich aufgeladen, das Denken emotional geprägt und alles zusammen als lustvoll empfunden. Vermittelt wird all dies durch die äußerst rege Tätigkeit der Einbildungskraft in einem Prozeß, den man sich neurobiologisch durchaus als blitzschnelle Verschaltung möglichst vieler und unterschiedlicher Synapsen vorstellen könnte: Ein Kunstwerk löst ein Neutronenfeuerwerk im Gehirn aus und verbindet dabei sonst getrennte Bereiche und Funktionen.

Dabei jedoch, und damit kommen wir zum eigentlichen Ziel der Argumentation, entsteht nach Schiller die Erfahrung von Freiheit nicht aus Regellosigkeit, sondern aus Notwendigkeit: Die Grenzen zwischen Stoff und Form, Sinnlichkeit und Geist, Empfinden und Denken sind nicht nur aufgehoben, sondern gleichzeitig wieder in eine neue Regelhaftigkeit überführt worden. Denn das Kunstwerk als "lebende Gestalt" kann diese Lebendigkeit nur erhalten, wenn seine Form weder starr noch sein Inhalt willkürlich ist. Vielmehr muß beides in einer organischen und absolut notwendigen Verbindung zueinander stehen. Jedes Kunstwerk trägt, so Schiller immer wieder, sein eigenes Gesetz in sich; wie jedes lebende Wesen bei äußerlich vollständiger Individualität sein eigenes Wesensgesetz –biologisch begründbar in Form der DNA – in sich trägt. Das ideale Kunstwerk schließlich verwirklicht damit das, was im Leben selbst nur ein unerreichbare Zielvorstellung bleiben muß: "frei sich selbst / Zu leben nach dem eigenen Gesetz" (Braut von Messina).

Aber sind wir damit nicht immer noch nur im Reich der Träume? Mitnichten. Schiller versucht in den Ästhetischen Briefen, die ästhetische Erfahrung nur als Vorreiter allgemeinerer menschlicher Erfahrungen darzustellen. Gegen Schluß des Textes nennt er zumindestens ein weiteres Beispiel für eine gesellschaftlich breitere erzieherische Wirkung des schönen Scheins der Kunst und der damit verbundenen produktiven Ausübung der Freiheit:

Es ist auffallend, wie sich der gute Ton (Schönheit des Umgangs) aus meinem Begriff der Schönheit entwickeln läßt. Das erste Gesetz des guten Tones ist: Schone fremde Freiheit. Das zweite: Zeige selbst Freiheit. Ich weiß für das Ideal des schönen Umgangs kein passenderes Bild als einen gut getanzten und aus vielen verwickelten Touren komponierten englischen Tanz. Ein Zuschauer aus der Galerie sieht unzählige Bewegungen, die sich aufs bunteste durchkreuzen und ihre Richtung lebhaft und mutwillig verändern und doch niemals zusammenstoßen. Alles ist so geordnet, daß der eine schon Platz gemacht hat, wenn der andere kommt, alles fügt sich so geschickt und doch wieder so kunstlos ineinander, daß jeder nur seinem eigenen Kopf zu folgen scheint und doch nie dem andern in den Weg tritt. Es ist das treffendste Sinnbild der behaupteten eigenen Freiheit und der geschonten Freiheit des andern.

Vielleicht wird die von Schiller am Beispiel des gesellschaftlichen Tanzes seiner Zeit illustrierte Kunst des schönen Umgangs in geselliger Freiheit am deutlichsten, wenn man sie mit dem - gezielt ins plakativ-negative retuschierten - Bild vergleicht, das eine Love Parade dem Betrachter bietet. Zunächst wird dieser kaum den Eindruck gewinnen, es handele sich um einen "verwickelten" oder "komponierten" Bewegungsablauf; vielmehr herrscht eine relative monotone Wiederholung einiger weniger Bewegungen vor. Zum zweiten bleiben die Tänzer relativ statisch auf ihrem Platz; da es keinen Tanzpartner gibt, entfällt auch die Koordination der "lebhaften und mutwilligen" Bewegungen untereinander und der dadurch entstehende ästhetische Eindruck von kunstloser Ordnung. Der anscheinend so freie, weil regellose Tanz zu den hämmernden Rhythmen der Techno-Sounds ist, von Schillers Warte auf der Galerie betrachtet, damit gerade nicht zur Freiheit qualifiziert: Er ist nicht schöpferisch, sondern reproduzierend; nicht vielfältig und lebendig, sondern monoton und mechanisch; keine ganzheitliche und konzentrierte Erfahrung, sondern eine rein physische, unter Umständen mit künstlichen Mitteln noch gesteigerte Ekstase; nicht regelschaffend und –variierend, sondern nur wahllos und willkürlich. Da er keine eigene Freiheit hat, kann er schließlich auch nicht fremde Freiheit respektieren; er stößt gar nicht erst in den Bereich ethischen Handelns vor.

Es ist wohl vor allem dieser letzte Punkt, auf dem die pädagogische Vision von Schillers ästhetischem Modell im engeren Sinn beruht: "Schone fremde Freiheit; zeige selbst Freiheit". Die Formel vereint die beiden unterschiedlichen Grundformen der Freiheit, die negative – im zu schonenden Anderen – und die positive – in der Verpflichtung, nicht nur frei zu denken und frei zu wollen, sondern wahrhaft frei zu handeln und zu gestalten, Freiheit auch zu "zeigen". Dann und nur dann läßt sich Freiheit als eine schöne Kunst betrachten, die aber nicht nur im „Reich der Träume“, sondern ebenso im sozialen Miteinander des Alltags und darüber hinaus innerhalb der globalisierten Weltgesellschaft trainiert und praktiziert werden müßte. Und so läßt sich Schillers Gedicht Der Tanz auch als Parabel für einen schönen, freien und maßvollen Umgang nicht nur mit den menschlichen Leidenschaften und der Gewalten der Natur, sondern auch mit den Tanzpartnern im großen Welttheater lesen:

Ewig zerstört, es erzeugt sich ewig die drehende Schöpfung,
Und ein stilles Gesetz lenkt der Verwandlungen Spiel.
Sprich, wie geschiehts, daß rastlos erneut die Bildungen schwanken
Und die Ruhe besteht in der bewegten Gestalt?
Jeder ein Herrscher, frei, nur dem eigenen Herzen gehorchet
Und im eilenden Lauf findet die einzige Bahn?
Willst du es wissen? Es ist des Wohllauts mächtige Gottheit,
Die zum geselligen Tanz ordnet den tobenden Sprung,
Die, der Nemesis gleich, an des Rhythmus goldenem Zügel
Lenkt die brausende Lust und die verwilderte zähmt.
Und dir rauschen umsonst die Harmonien des Weltalls,
Dich ergreift nicht der Strom dieses erhabnen Gesangs,
Nicht der begeisternde Takt, den alle Wesen dir schlagen,
Nicht der wirbelnde Tanz, der durch den ewigen Raum
Leuchtende Sonnen schwingt in kühn gewundenen Bahnen,
Das du im Spiele doch ehrst, fliehst du im Handeln, das Maß. 




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