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Im Jahr 2005 feierte Deutschland — neben dem 100. Geburtstag von Albert Einsteins 'Wunderjahr' — unübersehbar wieder einmal ein Schillerjahr. Allenthalben gab es Schiller-Aufführungen, Schiller-Ausstellungen, Schiller-Tagungen, Schiller-Lesungen, Schiller-Konzerte, Schiller-Wettbewerbe, Schiller-Comics, Schiller für den Manager und Schiller für Kinder, Schillerlocken und Schillerwein, Schiller und die Frauen, Schiller und Goethe natürlich, Schiller und kein Ende. Was es bisher (meines Wissens) allerdings nicht gegeben hat, ist — Schiller und Wezel.'
Das hat einen guten Grund. Wezel und Schiller sind sich nämlich, das kann man wohl mit einiger Sicherheit sagen, niemals persönlich begegnet. Sie haben auch nicht miteinander korrespondiert, ja, sie haben sich, soweit bekannt, nicht einmal gegenseitig erwähnt. Aber warum ist es eigentlich zu keiner Begegnung gekommen? Zwar hat die Nachwelt dem Dichter Schiller ungleich mehr und größere Kränze geflochten als dem Schriftsteller Wezel; trotzdem war diese unterschiedliche Wertung für die Zeitgenossen, zumindest vor Schillers Bündnis mit dem Heros Goethe, noch keinesfalls absehbar. Zu Beginn der 80er Jahre macht Schiller gerade erst als jugendlicher Revolutionär mit seinen Räubern von sich reden, und keiner weiß, was aus diesem schwäbischen Feuerkopf noch werden soll. Wezel hingegen — dessen Jugendwerke, vor allem der Belphegor, ebenfalls für einiges Aufsehen in der literarischen Welt gesorgt hatten — hat zu diesem Zeitpunkt gerade mit seinem Roman Herrmann und Ulrike nach Wielands Urteil den »besten teutschen Roman der mir jemals vor Augen gekommen«, vorgelegt. Zudem suchen beide durchaus die Nähe ihrer schreibenden Kollegen, verkehren brieflich und persönlich mit einer Vielzahl von weiteren Dichtern, reisen kreuz und quer durch Deutschland und äußern sich auch in Rezensionen über literarische Neuerscheinungen. Trotz alledem und noch einmal: Es gibt keinen Beweis einer persönlichen Begegnung; es gibt keinen Brief, keine Besprechung oder nur eine Erwähnung der Werke des jeweiligen anderen; noch nicht einmal eine spitze Xenie ist der Dichter Wezel dem Polemiker Schiller wert gewesen, noch nicht einmal einen polemischen Seitenblick der Autor Schiller dem Literaturkritiker Wezel. Immerhin, in Schillers Bibliothek soll sich ein Exemplar von Herrmann und Ulrike befunden haben. Aber warum diese öffentliche, auffällige und gezielte Nichtwahrnehmung?
Wer so laut nicht miteinander spricht, muß einen guten Grund für sein Schweigen haben. Zunächst könnte man über mehrere praktische Hindernisse spekulieren. Die Lebenswege beginnen zeitversetzt — Schiller ist zwölf Jahre jünger als Wezel — und an entgegengesetzten Ecken Deutschlands: Schiller kommt aus der schwäbischen Provinz, Wezel aus der thüringischen (aber immerhin: aus Provinzfürstentümern kommen sie beide!). Nur ein einziges Mal hätten sich die Bahnen geographisch kreuzen können: Im April 1785 reist Schiller nach Leipzig, um sich mit seinen neuen Freunden und Förderern um Christian Gottfried Körner zu treffen. Wezel ist zu dieser Zeit bereits von seinem kurzen Wiener Intermezzo nach Leipzig zurückgekehrt. Doch bald trennen sich die Lebenswege wieder, um von da an umso unterschiedlichere Richtungen einzuschlagen: Bereits im September zieht Schiller weiter nach Dresden, bevor er sich für den Rest seines Lebens zunächst in Jena, dann in Weimar niederläßt und zum klassischen Nationalautor wird; er stirbt, betrauert von der kulturellen Elite Deutschlands, bereits 1805. Wezel verbringt noch einige Jahre in Leipzig unter äußerst ärmlichen Umständen, bevor er schwerkrank in seine Heimatstadt Sondershausen zurückkehrt; aber er publiziert kaum noch, stirbt nach langem Dahinsiechen erst 1819 an Altersschwäche und ist schon zu Lebzeiten beinahe völlig in Vergessenheit geraten.
Keine Parallelbiographie also, sondern eher das Gegenteil davon? Und doch, ein Gedankenspiel wäre es wert: Worüber hätten die beiden so verschiedenen Dichter wohl gesprochen, wenn sie sich im Sommer 1785, vielleicht in »Richters Kaffeehaus“, einem beliebten Treffpunkt der literarischen Welt von Klein-Paris, getroffen hätten? Vielleicht über ihre Jugenderfahrungen als hochbegabte Kinder in eher ärmlichen, künstlerischen Ambitionen nicht gerade freundlich gesonnenen Verhältnissen. Beide Väter standen den jeweiligen Fürstenhöfen nahe, Vater Wezel als Reisemundkoch des Fürsten Heinrich I. von Schwarzburg-Sondershausen, Vater Schiller als Intendant der herzoglichen Hofgärtnerei auf der Solitude. Wezel imaginiert sich daraus in Herrmann und Ulrike ironisch ine Lebens-Legende als unehelicher Fürstensproß; Schiller hingegen hat genug damit zu tun, sich den württembergischen Herzog Carl Eugen vom Leibe zu halten, der als wirklicher Vaterersatz seiner Militär-Eleven in der Karlsschule auftritt und absolute Unterwerfung fordert. Doch beide sind in ihrer Situation auf geistige wie materielle Förderung und Unterstützung durch Mäzene von Jugend an angewiesen; Wezel wird durch den Sondershausener Lehrer und späteren Prinzenerzieher Gottfried Konrad Böttger in den alten Sprachen unterrichtet, Schiller erhält Lateinunterricht beim Pfarrer Philipp Ulrich Moser in Lorch (später wird er ihm in den Räubern ein Denkmal setzen). Und früh werden auch beide literarisch tätig; Wezel versucht sich in Homer-Übersetzungen, Schiller in Dankesversen auf die hohen Gönner an der Karlsschule.
Eine weitere, wenn auch marginale Parallele: Beide dürfen nach Schulabschluß ihrem eigentlichen Studienwunsch nicht folgen, sondern müssen sich zunächst ausgerechnet für Jura inskribieren — das prosaische Fach für bürgerliche Aufsteiger schlechthin. Schiller, der ursprünglich Theologie studieren wollte, wechselt 1775 zur Medizin, vertieft sich aber weiterhin in der kargen Freizeit am liebsten in philosophische und poetische Schriften; und Wezel läßt die Jurisprudenz ebenfalls sehr schnell zugunsten von Philosophie, Philologie und schönen Wissenschaften in Leipzig links liegen. Auch der Studienerfolg will sich bei beiden nicht so recht einstellen. Zwar ist Wezel Hausgast bei Christian Fürchtegott Gellert und wird von dem Altphilologen Johann August Ernesti wohlwollend gefördert; zu einem formalen Abschluß bringt er es jedoch nicht. Und Schiller erwirbt sich in der Karlsschule zwar bald die besondere Gunst des Philosophielehrers Jakob Friedrich Abel, der ihn mit Shakespeare in der Übersetzung Wielands bekanntmacht. Für die Promotion zum Doktor der Medizin benötigt er allerdings drei Anläufe; erst der Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen bringt 1780 den Erfolg.
An dieser Stelle ergibt sich eine der wenigen Koinzidenzen nicht der Lebens-, sondern der Schaffensbereiche. Während nämlich Schil1er Ende der 70er Jahre etwas lieblos an seiner Promotion bastelt, beginnt Wezel mit den Vorarbeiten zu seinem eigenen Versuch, dem Versuch über die Kenntniß des Menschen. Nun wäre es reichlich unfair, die frühreife akademische Qualifikationsschrift Schillers mit der Summa des Schriftstellers und Denkers Wezel zu vergleichen. Aber immerhin partizipieren hier beide einmal am gleichen Diskurs — nämlich dem der zeitgenössischen Ärzte-Anthropologie mit ihren mehr physiologischen denn metaphysischen Denk- und Erklärungsmustern. Beide nehmen ihren Ausgang dabei beim »tierischen« Teil des Menschen — seiner organischen und physiologischen Ausstattung — und betrachten den menschlichen Körper als »Maschine«. Dabei berufen sie sich auf die neuesten medizinischen Erkenntnisse zur Empfindlichkeit der Nerven und Reizbarkeit dee Muskeln, steigen von dort auf zu den Empfindungen und postulieren insgesamt einen engen Zusammenhang zwischen Leib und Seele. Beide wollen programmatisch nur empirische Wirkungen untersuchen, keine metaphysischen Ursachen; beide analysieren nicht nur die Entwicklung des einzelnen Menschen, sondern werfen auch einen geschichtsphilosophisch inspirierten Blick auf die Entwicklung des Menschengeschlechts. Dieses typisch spätaufklärerische anthropologische Denken prägt nicht nur Wezels Romane, sondern zumindest auch das dramatische Frühwerk Schillers; das zeigt sich schon daran, daß Schiller in seinem Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen direkt aus seinen Räubern zitiert. Für ihn ist die anthropologische Phase jedoch nur ein Übergangsstadium; seine philosophischen Überzeugungen werden durch die intensive Kant-Lektüre in den 90er Jahren neu ausgerichtet. Wezel hingegen wird lebenslang ein Anhänger des Lockeschen Empirismus bleiben, dessen Lektüre in seiner Leipziger Studienzeit, seinem vielzitierten Bekenntnis gemäß, sein »ganzes philosophisches System« geprägt habe; all seine Romane beziehen ihre Originalität und ihre Konsistenz über weite Strecken aus der anthropologischen Fundierung, die auch seine Ästhetik prägt.
Ich bin jedoch, zumindest in bezug auf Wezel, der Zeit vorausgeeilt. Vorerst müssen sich beide Autoren nach ihrem Studien-Abschluß (bzw. -nichtabschluß) durchschlagen, wie es eben geht. Aber es geht schlecht: Wezel wird, wie so viele seiner Zeitgenossen, verschiedene Hofmeisterstellen antreten, um sich danach als freier Autor im Zeitschriftenwesen zu verdingen. Schiller versucht es zunächst als Theaterdichter in Mannheim; auch er experimentiert mit dem Journalismus und gründet die Zeitschrift Die Rheinische Thalia. All diesen Projekten ist kein großer Erfolg beschieden; weiterhin bleibt es das wichtigste für beide, Freunde, Förderer und Mäzene zu finden. Aber nun zeichnet sich ab, daß Fortuna dem einen kontinuierlich wohlgesonnen ist, dem anderen hingegen höchstens dann und wann einmal einen kleinen freundlichen Seitenblick schenkt. Wezel, der mit Christoph Martin Wieland 1773 brieflich Kontakt aufgenommen hatte und ihn 1775 in Weimar besuchte, erhält zwar freundliche Ratschläge; einiges von ihm wird auch in Wielands Teutschen Merkur aufgenommen, aber das Verhältnis bleibt distanziert. Als Schiller hingegen genau zwölf Jahre später in Weimar bei Wieland vorspricht, wird er beinahe sofort zum Vertrauten und kurzzeitig zum Schoßkind des ganzen Hauses; Wieland erwägt sogar, ihn zum Mitherausgeber des Merkur zu machen. Darüber hinaus versucht Wezel in der zweiten Hälfte der 70er Jahre, teils brieflich, teils durch persönliche Besuche die literarischen Autoritäten Friedrich Nicolai, Karl Wilhelm Ramler und Heinrich Christian Boie dazu zu bewegen, ihn bei seiner literarischen Tätigkeit zu unterstützen; es sind diejenigen Autoren, die Schiller in einem Brief an Goethe später höhnisch als Vertreter der »Leipziger Geschmacksherberge« und Beispiele einer überkommenen, aufklärerisch-didaktischen Literaturauffassung abkanzeln wird. Außer Freundschaftsbekundungen und der Möglichkeit zur Publikation in ihren Zeitschriften (wie dem Deutschen Museum Boies, wo Wezel zeitweise zu einer Art Hausautor wird) können sie Wezel jedoch nichts bieten.
Schiller hingegen fällt 1784 zum ersten Mal — das wird sich wiederholen — das Glück in den Schoß: Aus Dresden meldet sich die oben schon erwähnte Gruppe junger Verehrer, die dem berühmt-berüchtigten Autor der Räuber mit Briefen und Geschenken huldigt. Zu dem Initiator Christian Gottfried Körner wird sich eine lebenslange Freundschaft entwickeln; die neuen Freunde werden ihn zudem ermutigen, sich trotz der verzweiflungsvollen finanziellen Lage ganz der Dichtung zu widmen, und ihn bei seinem Besuch in Leipzig mit Krediten und Bürgschaften bei seinem Zeitschriftenprojekt unterstützen.
Damit sind wir glücklich wieder in Leipzig im Jahr 1785, dem einzigen Schnittpunkt der (Nicht-)Parallelbiographien und bei Schiller und Wezel im Richterschen Kaffeehause in Leipzig angelangt. Das nächstliegende Gesprächsthema wäre zu dieser Zeit übrigens gewesen, sich über die noch frischen Erlebnisse als Theaterdichter auszutauschen. Schiller hatte gerade am Mannheimer Nationaltheater einige recht bittere Erfahrungen über die Vorlieben des Publikums für leichte, unterhaltsame Stücke, die Grenzen der Aufführbarkeit seiner eigenen Dramen, die ständigen Intrigen des Theaterbetriebs und die begrenzten Fähigkeiten der Schauspieler machen können; in seinem Lustspiel Die Komödianten hatte Wezel eben diese Probleme parodistisch dargestellt. Schiller hätte in Mannheim auch eines der Wezelschen Lustspiele sehen können: Der Eintakter Ertappt! Ertappt! wurde 1783 im dortigen Nationaltheater auf die Bühne gebracht. Über Wezels Wiener Theaterdichter-Zeit hingegen ist wenig bekannt. Offensichtlich war sie jedoch ebenfalls kein durchschlagender Erfolg; seine Werke wurden nicht auf dem renommierten Burgtheater aufgeführt, sondern in den Wiener Vorstadttheatern, und auch dort war die Resonanz eher durchwachsen.
In der Vorrede zum ersten Band seiner Lustspiele, der 1779 erschien, hatte Wezel bereits darüber spekuliert, warum sich die deutschen Bühnen der Zeit gerade mit den Lustspielen deutscher Autoren so schwer täten. Zum einen sei die »komische Muse« insgesamt die »sprödeste« der musischen Gattungen; sie hasse allen Zwang außer dem der »Blumenketten des Geschmacks und einer wohlverstandnen Anständigkeit«. Die deutsche kleinstädtische Wirklichkeit sei jedoch von solchen Zwängen durchgängig geprägt, die »Sitten, Lebensart, Gebräuche« »zu steif und abgezirkelt«, die »Leidenschaften, Thorheiten, Laster und Tugenden zu matt«, die »Begriffe von Sittsamkeit und Moral zu eng, zu blödsichtig«. Der deutschen Provinz und ihren Kleinbürgern fehle eben das »große Theater des Lebens«, das eine Voraussetzung für ein wirklich freies Lustspiel sei.
So weit hätte Schiller sicherlich zugestimmt. Auch er beschwert sich in Ueber das gegenwärtige teutsche Theater drei Jahre später über die allgemeine Unbildung von Dichter, Publikum und Schauspielern. Über den Begriff eines idealen Schauspieles hätte man sich vielleicht noch einigen können: Für Wezel ist es ein »Gemälde des menschlichen Lebens in seinem ganzen Umfange« und beruht auf der »Menschenkenntniß« des Dichters; Schiller sieht in ihm einen »offenen Spiegel des menschlichen Lebens«. Komischerweise jedoch ergeben sich daraus bei beiden durchaus verschiedene Konsequenzen. Wezel nämlich verwirft, sozusagen in Vorwegnahme klassischer Konzepte zur Kunstautonomie, jegliche Verpflichtung dieses dramatischen Gemäldes auf moralische Erziehungszwecke. Der dramatische Dichter als »Maler der Sitten« liefere eben keine »dramatisierte Moral«, keinen »Tugendspiegel«, sondern lediglich ein »schönes Werk«, das auch, wenn es unschöne Gegenstände zeige, schön gezeichnet sein müsse, um »zu gefallen und zu ergötzen«. Für Schiller hingegen ist die Schaubühne bereits zu einer »Schwester« der »Moral« und — nur »furchtsam wagt« er »die Vergleichung« — sogar der Religion avanciert. Einen expliziten Bildungsauftrag wird er ihm dann in der 1784 in Mannheim gehaltenen Vorlesung mit dem Titel Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? zuschreiben: »Die Schaubühne ist die Stiftung, wo sich Vergnügen mit Unterricht, Ruhe mit Anstrengung, Kurzweil mit Bildung gattet«? Tatsächlich ist Wezel natürlich kein Vertreter einer Kunstautonomie im daß das menschliche Leben eben nicht ausschließlich durch die Brille der Moral betrachtet werden muß, sondern die grundlegende Frage auch für den dramatischen Dichter ist, »welche Seite der Welt“ er seinen Zuschauern zeigen will. Und Schiller bleibt bis in seine späteren ästhetischen Theorien der moralischen Verpflichtung der Kunst treu; ihre ethische Wirkung ergibt sich dort allerdings nur vermittelt über die »ästhetische Erziehung des Menschen« und nicht über Moralpredigten in den künstlerischen Werken selbst.
Doch auch im dramatischen Fach — dem einzigen, in dem sich die literarische Tätigkeit des Hauptberufs-Epikers Wezel mit dem des auf Lyrik und Dramatik spezialisierten Schiller überschneidet — sollten sich die beiden gescheiterten Theaterdichter schnell voneinander entfernen. Wezels erstes und einziges Trauerspiel, der Graf von Wickham aus dem Jahr 1774, zehrte immerhin noch ebenso wie zehn Jahre später Schillers Kabale und Liebe (1784) von der Lessingschen Tradition des bürgerlichen Trauerspiels. Doch seine von 1778 bis 1787 veröffentlichten Lustspiele haben kaum etwas mit den Geschichtsdramen Schillers gemein, die ab 1799 Schlag auf Schlag erscheinen. Auch hier machen sich neben den großen Persönlichkeitsunterschieden die zwölf Jahre Differenz in der literarischen Entwicklung Deutschlands und den damit verbundenen ästhetischen Maßstäben bemerkbar. Werls Komödien bleiben, wie sein Erfolgswerk Herrmann und Ulrike, trotz aller zitierten Klagen auf deutschem Boden, in der deutschen Provinz; sie zeigen Familienkonflikte, realistische Gestalten, alltägliche Situationen. Schiller hingegen, kurzzeitig inzwischen zum Professor für Geschichte in Jena avanciert, begibt sich in die Vergangenheit, sucht die heroischen Gestalten, die großen tragischen Konflikte, das zugespitzte historische Ereignis; die nach diesen Kriterien ausgewählten Stoffe entsprechen ungleich besser der gemeinsam mit Goethe entwickelten klassischen Poetik der Idealisierung.
Wezel, das sahen schon die Zeitgenossen so, blieb also nicht nur Realist, sondern tendierte sogar häufig zur Karikatur und zur Satire. Immerhin hätte er Schiller damit als Modell für seine Theorie des satirischen Dichters dienen können, wie dieser sie in Über naive und sentimentalische Dichtung (1795) entwickelt. Satirisch sei der Dichter, so heißt es dort, »wenn er die Entfernung von der Natur und den Widerspruch der Wirklichkeit mit dem Ideale zu seinem Gegenstande macht«. Dies könne er sowohl ernsthaft wie auch komisch betreiben; dadurch entstehe im ersten Fall die »strafende«, im zweiten die »scherzhafte« Satire. Als nachahmenswerte Beispiele für die strafende Satire nennt Schiller Juvenal, Swift (da hätte ihm Wezel wohl zugestimmt), Rousseau und Haller; die scherzende Satire finde sich schön ausgeprägt bei Cervantes, Fielding und Wieland (auch hier wäre Einigkeit zu erzielen gewesen). Als Satiriker abzulehnen hingegen, so Schiller, sei Voltaire: Bei ihm sei unter all dem Spott — den er als witziger Kopf virtuos beherrsche — leider überhaupt kein Ernst mehr zu finden; und, was noch schlimmer sei, auch kein Gefühl. Nicht etwa das Leiden am Ideal, sondern die »Armut des Herzens« hätten ihn zum Satiriker gemacht.
An dieser Stelle wäre nun höchstwahrscheinlich wieder ein Streit ausgebrochen. Wezel hat immer wieder versucht, Voltaire gegen die Invektiven deutscher Autoren, besonders des Sturm und Drang, zu verteidigen: »Warum bedenken sie nicht, daß keiner unter ihnen Voltärens Fehler begehen kann? Er begehe sie; und er wird unserer Nation Ehre machen«, heißt es polemisch zugespitzt in einer seiner Rezensionen für das Deutsche Museum. Und vielleicht hatte Wezel ja den Schiller der Räuber vor Augen, als er im zweiten Teil des Versuch über die Kenntniß des Menschen die Theorie aufstellte, daß für das ästhetische Wohlgefallen nicht etwa abstrakte Gesetze oder objektivierbare Gründe ausschlaggebend seien, sondern die subjektive Disposition und momentane Verfassung desjenigen, der ein ästhetisches Urteil fällt. Sein Beispiel dafür ist nichts anderes als Voltaires La Pucelle d'Orleans; ein satirisches Versepos, in dem die uneheliche Tochter eines Gastwirts als Jungfrau von Orleans figuriert: »Die Pucelle von Voltaire gefällt keinem ernsthaften Manne von schlichtem Menschenverstande, keinem empfindsamen Frauenzimmer; weil ihr Geist keine ähnliche Stimmung hat, weil die Ideen der Liebe mit ganz andern Empfindungen bey ihnen verbunden sind«. Das letztere war zweifellos bei Schiller, dem späteren Autor einer eigenen, so ganz anderen Jungfrau von Orleans, der Fall. Voltaire, so hätte Wezel wohl argumentiert, war einfach ein anderer Charakter als Schiller, aber deshalb doch kein schlechterer Dichter!
Allerdings steht zu vermuten, daß Schiller über Wezel ähnlich wie über Voltaire geurteilt hätte. Schlimmer noch, er hätte ihn auch als Beispiel des »gemeinen Satirikers« verwenden können, dem die geballte Verachtung des Idealdichters Schillers in Über naive und sentimentalische Dichtung gilt. Der »gemeine Satiriker« nämlich verspotte die Wirklichkeit nicht aus einem unbefriedigten glühenden »Trieb für das Ideal« — nach Schiller der Voraussetzung für sämtliche sentimentalische und damit moderne Dichtung überhaupt sondern aus verletztem Selbstgefühl, aus Verbitterung, aus Ressentiment. Aus diesem nur subjektiven Widerstreit der persönlichen Neigungen und Bedürfnisse mit dem objektiven Lauf der Welt in der Satire erwachse jedoch ein »unreines und materielles Pathos« sowie eine »peinliche Befangenheit des Gemüts«.
Ob Wezel darin sich — oder einige seiner satirischen Gestalten — wohl wiedererkannt hätte? Tatsächlich hat es seiner Rezeption wahrscheinlich geschadet, daß er so gar nicht 'fürs Herz« geschrieben hat, und daß er auch über sein eigenes Gefühls- und Liebesleben so konsequent Stillschweigen bewahrt hat; nicht eine einzige Affäre, noch nicht einmal eine Schwärmerei für eine berühmte Schauspielerin oder auch nur eine Hauptmannswitwe sind der Nachwelt überliefert. Im Jahr 1782, als Schiller eine ebensolche Hauptmannswitwe zum Vorbild seiner schwärmerischen Laura-Gedichte macht, erscheint Wezels Wilhelmine Arend, eine gnadenlose Abrechnung mit dem empfindsam-übersteigerten Liebesideal der Zeit. Gut vorstellbar wäre es, daß einer von Wilhelmines dümmlichen Anbetern die Anfangsverse von Schillers Jugendgedicht Die seligen Augenblicke rezitierte: »Laura, über diese Welt zu flüchten / Wähn ich — mich in Himmelmaienglanz zu lichten, / Wenn dein Blick in meine Blicke flimmt, / Ätherlüfte träum ich einzusaugen / Wenn mein Bild in deiner sanften Augen / Himmelblauem Spiegel schwimmt«. Schiller hingegen hat die Herzen des Publikums bereits seit seiner reichlich theatralisch-abenteuerlichen Flucht von Stuttgart nach Mannheim auf seiner Seite. Auch seine schwere, schmerzhafte und langwierige Krankheit macht ihn letztlich sympathischer als Wezels diffuser und umstrittener Wahnsinn — der in diesem Falle noch nicht einmal, wie bei Hölderlin, zur Verklärung als wahnsinnigem Genie beitrug. Der Grund dafür ist offensichtlich psychologischer Natur: Während Wezels Wahnsinn für die ungnädige Nachwelt nur die sozusagen verdiente Konsequenz seiner vorgeblich menschenfeindlichen und aus Verbitterung erwachsenen Werke war, beglaubigte er im Falle Hölderlins umgekehrt gerade die idealistisch-weltfernen Tendenzen des literarischen Werks — der eine ein wahnsinniges Genie, der andere nur ein armer Irrer.
Resümieren wir. Trotz einiger zeittypischer Parallelen in den Lebensläufen und eines großen Unterschiedes in der wankelmütigen Gunst der Fortuna ist es wohl eine Art grundlegender ästhetischer Aversion, die eine Kontaktaufnahme oder auch nur eine gegenseitige Wahrnehmung als Dichter verhindert. Diese Abneigung ist zum einen ein Resultat der zeitlichen Phasenverschiebung — Wezel bleibt in den Grund Zügen seiner Philosophie und seiner Literaturauffassung der Aufklärung verschworen, Schiller hingegen orientiert sich zunehmend an den neuen Theorien des philosophischen Idealismus und entwickelt daraus seine eigene klassische Ästhetik. Dieser dient die aufklärerische Dichtungsauffassung zwar in einigem durchaus noch als Feindbild (siehe die Kritik des »gemeinen Satirikers«) —, insgesamt jedoch versucht man, sie für nicht mehr satisfaktionsfähig zu erklären. Wezel hingegen ist ein strenger Kritiker der neuen Dichtungsauffassung des Sturm und Drang; die idealistische Wende Schillers kann er schon nicht mehr verfolgen.
Viel spricht allerdings dafür, daß er sie verurteilt hätte. Das deutet sich schon in der prinzipiellen Unterscheidung des Idealisten und des Realisten in der Dichtung an, die Wezel in seiner Oberon-Rezension in der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste ausführt. Idealisten, so Wezel, würden sich so gern als »kleine Schöpfer« aufführen, da sie sich für kategorisch nicht durch die Naturgesetze gebunden erklärt hätten. Deshalb jedoch müßten ihre Charaktere allerdings »Giganten im Guten und im Bösen seyn; denn auf einem Schauplatze, wo alles unnatürlich zugeht, machten natürliche Menschen eine sehr schlechte Figur«. Wezel schreibt dies im Jahr 1781; Schillers Räuber, in denen er in den Brüdern Karl und Franz Moor das Laster »in seiner kolossalischen Größe« »vor das Auge der Menschheit« gestellt hat (so Schiller selbst in der Vorrede), ist im gleichen Jahr im Selbstverlag erschienen. Die Realisten hingegen, so Wezel weiter, richteten sich zwar »bey der Verknüpfung der Ursachen und Wirkungen ganz nach dem Gange des menschlichen Lebens«. Gleichwohl seien sie nicht weniger Schöpfer, da sie die Wirklichkeit nur als Modell benutzten, das sie im Hinblick auf größere »poetische Wirkung« natürlich zuspitzen und poetisch gestalten müßten. Hier gibt Wezel ganz offensichtlich ein Selbstbild von sich als Schriftsteller; und es sollte nicht überlesen werden, daß er dabei nicht nur auf die Wirklichkeitsnähe realistischer Dichtung, sondern ebenso auf die Notwendigkeit poetischer Gestaltungskraft verweist. Im 19. Jahrhundert wird dieses Realismus-Konzept unter dem Titel des »poetischen Realismus“ als literarisch innovativ von berühmten Autoren vertreten werden.
Die gleiche Unterscheidung von Idealisten und Realisten verwendet, 14 Jahre später, Schiller in seiner Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung; und es ist typisch für die (Nicht-)Parallelbiographie, daß er, und nicht Wezel, gemeinhin als Begründer dieser Dichotomie in ästhetischer Hinsicht gilt. Schiller allerdings verbindet mit dem Idealisten nicht mehr den Feendichter und Freund des Wunderbaren, der Wezel mit Wieland vor Augen schwebt; vielmehr ist der Idealist bei ihm, streng nach Kant, derjenige, der sich nur der absoluten Gesetzlichkeit der Vernunft unterwirft und deshalb moralisch frei von allen sinnlichen Beschränkungen denkt und handelt. In der Literatur entspricht ihm der sentimentalische Dichter in seiner Reinform; sein übertriebenes Extrem ist der »Phantast«, der nur den Launen seiner Einbildungskraft gehorcht (und der damit schon eher Wezels Idealisten entsprechen würde). Der Schillersche Realist hingegen anerkennt nur die Notwendigkeit der Natur und die daraus resultierende strenge Kausalität von Ursache und Wirkung; in der Poesie entspricht ihm, wiederum in der Reinform, der naive Dichter. Die Abform ist hier der »gemeine Empiriker« (offensichtlich ein Verwandter des »gemeinen Satirikers“), der sich bedingungslos der Natur unterwirft. Es wäre ein tröstlicher Gedanke, daß Schiller Wezel bei etwas eingehenderer Betrachtung des Gesamtwerks, unter Einschluß der philosophischen und pädagogischen Werke, wenigstens als Realisten (und nicht als »gemeinen Empiriker«) hätte durchgehen lassen. Aber da der Idealtypus des wahren Realisten für Schiller schon mit Goethe in nicht mehr überbietbarer Weise besetzt war, wäre wohl Wezel wieder nur der Platz der »Karikatur« des Ideals beschieden gewesen.
Daß bereits die Zeitgenossen damit begonnen haben, Schiller und Wezel in zwei unterschiedliche Schubladen mit den Aufschriften »Idealisten« und »Realisten« zu packen, möge ein Rezeptionszeugnis belegen. In Johann Adam Bergks Die Kunst Bücher zu lesen aus dem Jahr 1799 heißt es im Kapitel »Bemerkungen über einige Romanenschriftsteller« zunächst über Schiller (allerdings nur über sein nicht gerade üppiges Romanschaffen; aber das Urteil kann wohl auch als Gesamturteil durchgehen):
»Sein Geist ist ein gewaltiger und unbeschränkter Herr seiner Stoffe. Er dringt gebieterisch in das Reich der Gedanken ein, und eröfnet hier und da neue Aussichten. Er arbeitet stets nach Idealen, ringt und kämpft mit den Hindernissen, die ihrer Erreichung im Wege stehen; aber der Sieg krönt allenthalben sein Unternehmen; er herrscht, wo er den Fuß hinsezt. Schillers Räsonnements sind scharfsinnig und oft originell, seine Darstellung ist lebendig und geistreich, seine Charaktere sind kraftvoll und richtig gezeichnet. Allenthalben charakterisirt seine Werke Energie und Reichthum an Gedanken, wenn er auch diese manchmal ins Dunkele verhüllt. Er ist ernst und feierlich; er hängt nicht an Begriffen, sondern schwingt sich auf den Flügeln von Ideen gen Himmel empor, und sein Geist trägt daher mehr den Charakter des Erhabenen, als des Schönen«.
Über Wezel weiß Bergk hingegen zu berichten:
»Wezels Schriften scheinen vergessen zu seyn, ob sie gleich dies Schicksal nicht verdienen. Er ist gedankenreich, lebhaft, und oft originell in seinen Darstellungen. Er gießt eine bittere Lauge über die Thorheiten und Laster der Menschen aus, und erquickt dadurch das Herz, das Tugend liebt. Er kennt den Menschen, ob er ihn gleich oft nur in seinen Abweichungen vom Pfade der Natur schildert, und er ist in dem Gewirre des menschlichen Lebens bewandert. Er züchtigt die Affengesichter, die stolz auf Einbildungen sind, und die sich von Narrheiten und lächerlichem Dünkel nähren«.
Während Schiller also »nach Idealen« arbeitet und sich auf den »Flügeln von Ideen gen Himmel« erhebt, bleibt Wezel am Boden und folgt den real existierenden »Thorheiten und Lastern« der Menschen. Deshalb wirkt Schiller erhaben, Wezel hingegen satirisch. Immerhin gesteht Bergk seiner Satire hier jedoch zu, nicht nur 'gemeine Satire« im Schillerschen Sinne zu sein, sondern gerade durch seine Verbitterung zu einem Herzen, »das Tugend liebt«, sprechen zu können.
Seltsamerweise jedoch finden sich in Bergks Charakteristik auch eine ganze Reihe Gemeinsamkeiten: Gedankenreich und originell sind sie beide, der Idealist Schiller wie der Realist Wezel; Schillers Darstellung ist »lebendig«, die Wezels »lebhaft«; Schillers Charaktere sind »richtig gezeichnet«, Wezel »kennt den Menschen«. Diese Übereinstimmungen, trotz aller ästhetischen Differenzen, zeigen ein letztes Mal, wo denn doch das Verbindende der (Nicht-)Parallelbiographien in bezug auf das literarische und sonstige Schaffen liegen könnte. Schiller und Wezel sind in hohem Maße selbständige Denker und selbständige Dichter, in hohem Maße auch Autodidakten. Beide haben sich nicht auf das Feld der schönen Literatur beschränkt, sondern nach vielen Richtungen darüber hinausgeblickt: auf die Geschichte und die Philosophie, die Pädagogik und die Ästhetik der Zeit. Und beide durchaus innovativ in ihren poetischen Schöpfungen: Weder das Schillersche Geschichtsdrama noch die »bürgerliche Epopee« von Herrmann und Ulrike haben ein unmittelbares Vorbild; weder Schillers philosophische Gedichte noch Wezels Kakerlak lassen sich eindeutig in eine Gattungstradition stellen. Und sie haben ihre einmal erreichten Positionen auch mit Verve verteidigt und den Streit durchaus nicht gescheut; das zeigen Wezels wiederholte publizistische Fehden ebenso wie Schillers früher Affront der literarischen Welt in den Räubern und der gemeinsame Literatur-Krieg mit Goethe in den Xenien.
Letztlich ging es Wezel und Schiller — und insofern sind sie ihren anthropologischen Interessen treu geblieben — immer wieder aufs neue um den Menschen, seine Entwicklungs- und Erziehungsmöglichkeiten vor allem; und Wezels pädagogisches Projekt der Geschmacksbildung ist zumindest in der Intention gar nicht so weit von Schillers Programm ästhetischer Erziehung entfernt. Das zeigt eine letzte weitere, wenn auch winzige Parallele. In Wezels letztem Roman, dem vielfach verschlüsselten und anspielungsreichen Kakerlak, bricht die faustisch inspirierte Titelfigur nach abenteuerlichen Reisen durch die sichtbare und unsichtbare Welt und ebenso abenteuerlichen Experimenten mit der eigenen Seele am Schluß eine Lanze für die ganz und gar unfaustische Beschränkung. Kakerlak zieht sich zurück in die Welt seiner Bibliothek, zu seinen geliebten Büchern; und er verteidigt sich mit folgenden Worten:
»ihr [die Bücher] seid zwar auch nur Spiele mit Gedanken, wie andere mit Würfeln oder gemalten Blättern spielen, aber doch edlere Spiele des Geistes. Das ganze Leben ist ein Spiel. Das Kind spielt mit Puppen oder Trommeln, der Jüngling mit Hunden und Pferden, das Mädchen mit der Liebe, mit Stoffen und Bändern, die Großen mit Soldaten, Sternen, Stammbäumen, Ordensbändern, die Kleinen mit Titeln, Männer und Weiber mit Karten, Würfeln und Kegeln, der Weise mit Gedanken und Empfindungen. Wenn alles spielt, warum sollt ich allein es nicht?
Wenn er nur ein paar Jahre gewartet hätte, hätte er auch einen der berühmtesten Sätze Schillers zitieren können:
»Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt«,
wird es in Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795) heißen.
Zwei gegnerische Spieler also, die sich aber doch zuweilen für ein gemeinsames Match auf dem fiktiven Spielfeld der Literatur treffen? Vielleicht trifft ja doch die Charakterisierung, die Schiller dem Idealisten und dem Realisten in bezug auf ihr Verhältnis zum Menschen und zur Menschheit insgesamt angedeihen läßt, auch ein wenig die Gemeinsamkeit und den Unterschied zwischen ihm und Wezel: »Jener [der Realist] beweist sich als Menschenfreund, ohne eben einen sehr großen Begriff von den Menschen und der Menschheit zu haben; dieser [der Idealist] denkt von der Menschheit so groß, daß er darüber in Gefahr kommt, die Menschen zu verachten«. Letztlich kann jedoch Lektüre beider Autoren, in ihren jeweiligen Stärken und Schwächen das ganze Bild des Menschen und seiner Menschheit ergeben.
Über das Verhältnis von Goethe zu Schiller scheint schon lange alles erzählt: wie Schiller Goethe bereits vor dem Umzug nach Jena suchte und ihm nachstellte ; wie Goethe sich zunächst entzog und entwand; wie beide dann im "glücklichen Ereignis" plötzlich und unerwartet sich gegeneinander öffneten; und wie sie ein Bündnis schlossen, das im berühmten Weimarer Denkmal für die Ewigkeit in Bronze gefaßt wurde. Man könnte diese Freundschaft als Liebesgeschichte lesen, Ähnlichkeiten zu dem Verhältnis Goethes zu Frau von Stein drängen sich auf: Man nimmt sich zunächst aus der Ferne wahr und macht sich sein Bild voneinander; bei einer zufälligen Begegnung wird man vom persönlichen Eindruck hingerissen; das Liebesverhältnis hält sich, und zwar vor allem in den Briefen, lange frisch, um dann schließlich doch ins Alltägliche abzusinken. Schiller ist, sozusagen, der männliche Nachfolger von Frau von Stein nach der Rückkehr Goethes aus Italien: Er macht Goethe nach langen Jahren relativer poetischer Enthaltsamkeit nicht zum Mann, sondern wieder zum Dichter – und wird von Goethe als der Einzige, der ihn nunmehr versteht, gehätschelt, umworben und dabei gleichzeitig auf Distanz gehalten.
Die Nachwelt, mißgünstig wie sie ist, hat allerdings vielfach an dem schönen Mythos gekrittelt. Wo Wilhelm von Humboldt ein "bis dahin nie gesehenes Vorbild" an Freundschaft für die deutsche Nation rühmte und Hermann Grimm dem Bund eine "welthistorische Bedeutung" attestierte , sah schon Bertolt Brecht nur noch eine, wenn auch "hochgesinnte", Verschwörung gegen das Publikum. Hans Mayer unterstellte Goethe gar Neid auf den vom Publikum ungleich mehr geliebten Schiller und leugnete die Freundschaft schlechthin. Vor diesem Hintergrund soll im folgenden untersucht werden, welches Freundschaftsbild der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, den Goethe seit 1823 zum Druck vorbereitet und der 1828/29 nach schwierigen Verhandlungen mit Schillers Erben als eigenständiges Werk erscheint, darbietet. Daß es sich nicht mehr um eine empfindsame Seelen-Freundschaft im Sinne Gleims handelt, ist allbekannt und offensichtlich. Vielmehr wird gemeinhin der Charakter als "Arbeitsgemeinschaft" oder "Bündnis" betont. Dabei wird jedoch leicht übersehen, daß es nicht nur um eine persönliche und emotional tiefgehende Beziehung handelt, sondern daß die tatsächlich gelebte Freundschaft eine wichtige Voraussetzung für die gemeinsame Arbeit und die besondere Wirkung des "Bündnisses" war. Es wird deshalb zu untersuchen sein, wie sich im Briefwechsel Persönliches und Pragmatisches, freundschaftliche Intimität und gezielte Selbststilisierung gegenseitig bedingen. Insofern soll es im folgenden nicht in erster Linie darum gehen, die bekannten ästhetischen Debatten und Positionen abstrakt zu rekonstruieren, sondern über eine Detailanalyse von Bildern und Redeweisen deren Verwurzelung im Lebenskontext der Freundschaft zu erweisen.
Vor allem Goethes Selbstdeutungen während der Entstehungs- und Veröffentlichungszeit haben wesentlich zu einer monumentalisierenden Sicht auf den Briefwechsel beigetragen. Goethe rechtfertigt zunächst den inhomogenen Charakter des Textes, der beinahe ungekürzt die tatsächlichen Briefe mit all ihren Alltäglichkeiten und Trivialitäten neben philosophischen und ästhetischen Grundsatzdebatten, wiedergibt. Der Briefwechsel sei ein "Zeugnis einer Epoche [...], die vorüber ist, nicht wieder kommt und dennoch bis auf den heutigen Tag fortwirkt und nicht über Deutschland allein mächtig lebendigen Einfluß offenbart". Daneben enthalte er jedoch auch die "tiefsten Geheimnisse der Freundschaft" ; gerade in seinem unzensierten Zustand biete er ein "wahres Bild des beschatteten buntgrauen Erdenlebens" und wirke durch seine Unmittelbarkeit als lebendige Vergegenwärtigung des Vergangenen. Offensichtlich ist also die Nachbarschaft von Intimem und Öffentlichem keine Nachlässigkeit, sondern beabsichtigt: Sein Briefwechsel mit Schiller ist für Goethe gerade als Freundschaftszeugnis von nicht nur privatem, sondern hohem historischem Wert und bleibender, ausgebreiteter Wirkung. "Es wird eine große Gabe sein, die den Deutschen, ja ich darf wohl sagen den Menschen geboten wird", heißt es abschließend nicht gerade unbescheiden gegenüber Zelter.
Um die Singularität dieses Phänomens noch stärker zu betonen, schärft Goethe zudem in weiteren Beiträgen über seine Beziehung zu Schiller zunächst die Konturen. Im Glücklichen Ereigniß, einem frühen Meilenstein der Stilisierung zum Dichter-Kollektiv, faßt er den Abstand ihrer beiden Persönlichkeiten in das vielzitierte Bild von den zwei "Geistesantipoden", die durch "mehr als einen Erddiameter" getrennt seien, aber eben deswegen auch nicht in Gefahr seien, miteinander zu verschmelzen. Es sei aber doch, sehr allgemein formuliert, ein "Bezug" zwischen ihnen denkbar. In Ferneres in Bezug über mein Verhältnis zu Schiller verwendet er für den gleichen Sachverhalt den Aristophanes-Mythos von den zwei Hälften des Menschen, der gemeinhin als Liebes-Metapher gelesen wird. Bei Schiller und ihm gehe es hingegen um zwei grundsätzlich verschiedene, sich jedoch gegenseitig nicht abstoßende "Lebensmethoden". In beiden Texten wird die Polarität auch auf Begriffe gebracht: Im Glücklichen Ereigniß spricht Goethe von dem "Wettkampf" zwischen Subjekt und Objekt", der sich auch in den Zentralbegriffen "Erfahrung" und "Idee" verbirgt; in Ferneres in Bezug auf mein Verhältnis zu Schiller stellt er seiner eigenen "entwickelnden, entfaltenden" Lebens- und Denkweise Schillers "zusammenstellende, ordnende" gegenüber. Und auch Schiller verwendet in seinen monumentalen Einleitungsbriefen zum Briefwechsel, in denen er die "Summe" von Goethes Existenz zieht, eine Reihe solcher Polaritäten: Goethes forschendem Blick auf die Empirie stehen die "Spekulation" und die "Einbildungskraft" gegenüber; seiner genialischen "Intuition" korrespondiert die abstrakte "Analysis" Schillers ; als "griechischer Geist" steht er der "nordischen Schöpfung" gegenüber, sein "philosophischer Instinkt" führt ihn jedoch zur "schönen Übereinstimmung" mit den "reinsten Resultaten der spekulierenden Vernunft". Die Aufzählung ließe sich noch weiter fortsetzen, der Tenor bleibt der gleiche: Größer kann der Abstand zwischen zwei menschlichen Denkweisen nicht sein; aber nur deshalb, weil die eine das genaue metaphysische Gegenstück der anderen ist, können sich die Kontraste ergänzen wie die zwei Pole eines Magneten. Daß diese Polarität in der Freundschaft getreu den Naturgesetzen jedoch auch abstoßend wirkt, läßt Goethe in Ferneres über mein Verhältnis zu Schiller nicht unerwähnt - "weswegen große Liebe und Zutrauen, Bedürfnis und Treue im hohen Grad gefordert wurden um ein freundschaftliches Verhältnis ohne Störung immerfort zusammenwirken zu lassen".
Darüber hinaus deutet Goethe die Gegensätzlichkeit zwischen seiner und Schillers Persönlichkeit nach dem Muster von Polarität und Steigerung, das für seine naturwissenschaftlichen Schriften und sein morphologisches Denken insgesamt eine große Rolle spielt. Schiller und er seien, so heißt es in einem Brief an Zelter vom 30. Oktober 1824, "zwei Freunde der Art, die sich immer wechselseitig steigern indem sie sich augenblicklich expectorieren". Daß diese Steigerung jedoch durchaus Grenzen hatte und auch in der Freundschaft die Bäume nicht in den Himmel wuchsen, macht auch hier der folgende Nachsatz deutlich: Durch "innere Übertätigkeit" sowie durch äußere Störungen seien die Ergebnisse letztlich den Absichten nicht "völlig wert" gewesen.
Was jedoch ist die gemeinsame Basis dieses späterhin stilisierten "Bündnisses der Antipoden" im unmittelbaren Briefwechsel? In welchem Milieu interagieren die angesprochenen Polaritäten? Und welche Art von Freundschaft entwickelt sich dabei? Traditionell gründete man Freundschaft, seit der Antike und auch noch im 18. Jahrhundert, auf eine Gemeinsamkeit moralisch vorbildlicher Grundüberzeugungen, Werte, Gesinnungen. Freundschaft ist eine "befestigte Neigung" bei Aristoteles in der Nikomachischen Ethik, eine dauerhafte Mischung aus Neigung und Achtung bei Kant in der Metaphysik der Sitten. Wiederkehrende Elemente der meisten philosophischen Freundschaftskonzepte sind darüber hinaus: Freundschaft muß wechselseitig sein; sie sollte den Freund um seiner selbst willen und nicht um der durch ihn erwachsenden Vorteile oder Vergnügungen schätzen; und sie erfordert deshalb eine gewisse Anlage zur Gutwilligkeit und Vertraulichkeit, eine Neigung zur Öffnung, Mitteilung und Teilnahme. Nun ist offensichtlich die Grundlage der Beziehung von Goethe und Schiller nicht moralisch-werthafter Natur; so lehnte Schiller ja beispielsweise das Verhältnis von Goethe zu Christiane Vulpius energisch ab. Ebenso auszuschließen ist eine besondere Gemüts- oder gar empfindsame Seelenverwandtschaft; in diesem Punkt ist den Zeugnissen der Zeitgenossen wie auch Goethes zugespitzt formulierter Polarität der "Lebensmethoden" wohl zu trauen. Die grundlegende Gemeinsamkeit ist vielmehr im wesentlichen eine ästhetischer Prinzipien - bei anerkannter Ebenbürtigkeit der ästhetischen Urteilskraft und auf der Basis persönlicher Sympathie. Als "ästhetische Korrespondenz" bezeichnet Schiller den Briefwechsel bereits 1895. Und Goethe lobt angesichts Schillers reger Auseinandersetzung mit seinem Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre sowohl dessen ästhetische Kompetenz wie auch die persönliche Integrität:
Wie selten findet man bei den Geschäften und Handlungen des gemeinen Lebens die gewünschte Teilnahme, und in diesem hohen ästhetischen Falle ist sie kaum zu hoffen, denn wie viele Menschen sehen das Kunstwerk an sich selbst, wie viele können es übersehen, und dann ist doch nur die Neigung, die alles sehen kann was es enthält und die reine Neigung, die dann noch sehen kann was ihm mangelt. Und was wäre nicht noch alles hinzu zu setzen um den einzigen Fall auszudrucken, in dem ich mich mit Ihnen befinde.
Die Reflexion über ästhetische Sachverhalte, seien sie praktischer oder theoretischer Natur, prägt den Briefwechsel vom ersten bis zum letzten Brief. Man begutachtet wechselseitig die eigenen Werke oder die der Zeitgenossen; man ringt um die Allgemeingültigkeit ästhetischer Gesetze; man will gar eine "ästhetische Konfession" in Konkurrenz zur philosophischen begründen.
Inwiefern jedoch läßt sich eine Freundschaft auf eine gemeinsame "ästhetische Konfession" gründen? Oder handelt es sich doch nur um eine Art poetischer Verwertungsgenossenschaft zur Abdrängung unliebsamer Konkurrenz? Schließlich steht neben der theoretischen und praktischen ästhetischen Reflexion streckenweise gleichberechtigt die Polemik, die im Xenien-Krieg gipfelte. So kristallisieren sich bereits früh Kampfeslinien, Koalitionen und Erzfeinde heraus. Die beliebtesten Verbündeten sind die Philosophen – von denen ja keine Konkurrenz auf poetischem Gebiet zu erwarten ist; vor allem Wilhelm von Humboldt wird zeitweise beinahe gleichberechtigt in die Freundschaft einbezogen und ist häufiger Mit-Leser der ausgetauschten Briefe. Besonders verhaßt sind beiden hingegen Kollegen, die auf ästhetischem Terrain gegen die eigenen Grundüberzeugungen verstoßen und als "Philister" geschmäht werden. Dazu gehören vor allem diejenigen, die ältere Konzepte empfindsam-moralischer Dichtung vertreten wie die Gebrüder Stolberg oder Jacobi; aber auch die kernaufklärerischen Vertreter der "Leipziger GeschmacksHerberge" (hier v.a. Friedrich Nicolai) sowie die idealistischen Philosophen der "metaphysischen Welt, mit ihren Ichs und NichtIchs" , die in eine Art Systemkonkurrenz zur zu befestigenden klassischen Doktrin treten. Auch ex negativo bestätigt sich so die fundamentale Bedeutung der Übereinstimmung in ästhetischen Prinzipien für die neue Freundschaft mit Schiller.
Eine rein pragmatische Bestimmung als operatives Kampfbündnis wäre jedoch zu kurz gedacht. Vielmehr tangiert die zu verteidigende Ästhetik direkt und fundamental Fragen des Lebens und Schaffens. Die poetische Produktion ist bei Goethe und Schiller so eng mit ihrer gesamten Persönlichkeit wie auch ihrer Lebensweise verbunden, daß häufig kaum zu unterscheiden ist, ob man lebt, um zu dichten, oder dichtet, um zu leben. Diese enge Verbindung zeigen zunächst scheinbar bedeutungslose Details. So geht es im Briefwechsel - was von ermüdeten Lesern häufig genug beklagt wurde – oft um recht triviale Dinge wie das Wetter oder den jeweiligen Gesundheitszustand. Beides jedoch wird immer wieder im unmittelbaren Zusammenhang mit der poetischen Produktion gesehen. Schiller fürchtet - mit Grund, wie man weiß - ständig um seine Gesundheit: "Ich muß die lebhafte Bewegungen büßen, in die mein Poetisieren mich versetzte. Zum Philosophieren ist schon der halbe Mensch genug; aber die Musen saugen einen aus". Goethe hingegen ist in hohem Maße abhängig von seiner jeweiligen "Stimmung": "Es kommt alles darauf an daß man die Zeit wohl braucht und keine Stimmung versäumt". Gleichzeitig ist es jedoch auch ein Kriterium für gute Poesie, wenn sie den Leser bei der Lektüre "nötigt" , in die gleiche Stimmung wie der Autor bei der Produktion zu geraten. "Stimmung" meint also nicht eine Art unwillkürliche Laune, sondern einen genuin poetischen Gemütszustand. Ihr Gegenbegriff ist die gesellschaftliche "Zerstreuung" , die Goethe immer wieder beklagt und die er gerade nicht als Zweck der Kunst anerkennen will: "Die Poesie verlangt, ja sie gebietet Sammlung, sie isoliert den Menschen wider seinen Willen".
Offensichtlich ist es einer der Hauptzwecke dieser Freundschaft und speziell des Briefwechsels, eine solche Stimmung und damit die idealen dichterischen Produktions- und Rezeptionsbedingungen im Kontakt miteinander hervorzubringen und zu pflegen. Das zeigen auch die ritualisierten Schlußformeln der Briefe, die Goethe häufig handschriftlich an seine diktierten Schreiben anhängte. "Wenn ich Ihnen lebe wohl sage", so heißt es ein- für allemal im August 1795, "so heißt das immer: gebrauchen Sie wie bisher der guten Stunden zu unsrer Freude".38 Schiller hingegen wünscht: "Leben Sie heiter und tätig". Bricht der Kontakt einmal zu lange ab, beschwert sich Schiller über den gewohnten und nun fehlenden geistigen "Input": "Ich kann mich gar nicht daran gewöhnen, Ihnen 8 Tage nichts zu sagen und nichts von Ihnen zu hören"; Goethe versucht gar einmal, der "abermaligen Unfruchtbarkeit dieses Briefes" "durch eine Portion Rüben nachzuhelfen". Ein Tag ohne "ästhetische Korrespondenz" war offensichtlich, zumindestens in der "Hauptverkehrszeit" des "commercios durch die Botenfrau" bis zum Jahr 1797, für beide ein verlorener Tag. Dazu kommen noch die unzähligen, nicht überlieferten und beinahe täglichen persönlichen Gespräche, die während einer gemeinsamen Anwesenheit beider in Jena oder Weimar die Briefe ersetzten.
Ein weiteres Indiz dafür, wie grundlegend dieses Verhältnis für die tägliche Arbeit war, sind schließlich die häufig für die Freundschaft verwandten Metaphern. Als "Geistes- und HerzensNahrung" bezeichnet Schiller das Zusammensein mit Goethe – Goethe bringt ihm die weite Welt ins Haus, die Wissenschaft, die bildende Kunst, den Hof, die Reisen, eben den Stoff der Dichtung. Goethe wiederum apostrophiert Schiller wiederholt als Deuter seiner Träume, als "wahren Prophet", der ihm seine genialischen poetischen Ahnungen in die feste Form ästhetischer Gesetze und Anschauungen gieße und ihm dadurch ihre Berechtigung und Richtigkeit garantiere. Die dabei entstehende Wechselwirkung schließlich wird mehrfach als "Commercio" bezeichnet. Zwar ist die Art des "influxus" letztlich nicht klärbar, seine Wirkungen jedoch aufs deutlichste nachweisbar: Goethe würdigt Schillers Einfluß dahingehend, dieser habe ihm "eine zweite Jugend verschafft und mich wieder zum Dichter gemacht"; und Schiller resümiert:
Die schönste und die fruchtbarste Art, wie ich unsre wechselseitige Mitteilungen benutze und mir zu eigen mache ist immer diese, daß ich sie unmittelbar auf die gegenwärtige Beschäftigung anwende, und gleich produktiv gebrauche.
Die ästhetische Korrespondenz steht damit insgesamt unter dem Signum der "Fruchtbarkeit" sowie der "Tätigkeit"; und hier befindet sich auch die Schnittstelle zwischen Ästhetik und Leben, poetischer Arbeitsgemeinschaft und persönlicher Freundschaft, öffentlicher Wirkung und Intimität der Mitteilung. Fruchtbare Tätigkeit verbindet den Menschen und den Dichter; der Dichter ist für Schiller sogar "der einzig wahre Mensch, und der beste Philosoph ist nur eine Karikatur gegen ihn". Fruchtbare Tätigkeit ist natürlich auch das Bindeglied zwischen großem und kleinen Schöpfer: Goethe wünscht deshalb Schiller, "daß ich Sie wohl und poetisch tätig antreffen möge, denn es ist das nun einmal der beste Zustand den Gott den Menschen hat gönnen wollen". Und Fruchtbarkeit ist schließlich kein statischer Zustand, sondern entsteht und wächst wie die Persönlichkeit selbst nach morphologischen Gesetzen. Deshalb kann Schiller in Goethes poetischer Laufbahn eine Art Phänotyp menschlicher Entwicklung schlechthin sehen:
Es sollte mich wundern, wenn sich an den Entwicklungen Ihres Wesens nicht ein gewisser notwendiger Gang der Natur im Menschen überhaupt nachweisen ließe.
Die Freundschaft – und speziell die hier in Rede stehende ästhetisch-produktive - spielt in diesem Zusammenhang die Rolle eines Katalysators. An der gemeinsamen Arbeit bildet man sich gegenseitig vielseitiger aus; sie verhindert Einseitigkeiten , gibt immer neue äußere Anregungen und ist so der Nährboden einer nicht mehr individuellen, sondern "wechselseitigen Perfektibilität". Diese ermöglicht es auch, daß die Beziehung nicht stagniert, sondern "frisch und lebendig" bleibt: Das Ziel ist zunehmende Harmonie der Einsichten bei zunehmender Mannigfaltigkeit der individuellen dichterischen Schöpfungen. Daß diese gegenseitige Belebung und Belehrung allerdings kein rein rational zu steuernder Prozeß ist, wird im Verlauf des Briefwechsels immer klarer, wobei Goethe von Anfang an die Inkommensurabilitäten des Schöpfungsprozesses wie auch die Grenzen der "Mitteilung" stärker bewußt sind. Auch hier sind die zur Darstellung künstlerischer Produktivität verwendeten Metaphern verräterisch: Goethe spricht beispielsweise davon, daß er zunächst für ein Werk einen "Holzstoß" langsam zusammentragen muß, der dann plötzlich und unerwartet Feuer fängt. An anderer Stelle vergleicht er die Bemühungen des Menschen um ein individuelles Verständnis der Welt mit der Herstellung eines "Spinnengewebes", in dessen Mitte das Individuum allein und ohne Mitteilungsmöglichkeiten sitzt. Aber auch Schiller gesteht schließlich zu, daß eine völlige Harmonisierung der Überzeugungen wie eine völlige Rationalisierung künstlerischer Produktion kein sinnvolles Ziel sein kann und auch nicht muß:
Ich darf hoffen, daß wir uns nach und nach in allem verstehen werden, wovon sich Rechenschaft geben läßt, und in demjenigen, was seiner Natur nach nicht begriffen werden kann, werden wir uns durch die Empfindung nahe bleiben.
Die Freundschaft dient hier dazu, die durch die Grenzen der Kommunizierbarkeit entstandenen Lücken zu füllen: Worüber man nicht reden kann, davon muß man schweigen – aber dieses Schweigen muß nicht zur Entfremdung führen, sondern kann durch ein habituell gewordenes Vertrauen, die "Empfindung", überbrückt werden.
Trotz aller Grenzen der Kommunikation und auch der Freundschaft ist das gemeinsame Ziel klar definiert: die Herstellung einer "Sprache für die Menschheit" in und durch poetische Werke, die noch den "leersten" und "gemeinsten" Gegenständen Tiefe und Inhalt verleihen können. Dabei basiert diese Bedeutungsstiftung nicht so sehr auf einer besonderen Würde der Stoffe der Dichtung, sondern wiederum – ganz ähnlich wie bei der "Stimmung" als seelischer Voraussetzung für die Produktion und Rezeption von Dichtung – auf psychischen Gegebenheiten:
Freilich der Gegenstand muß etwas bedeuten, so wie der poetische etwas sein muß; aber zuletzt kommt es auf das Gemüt an, ob ihm ein Gegenstand etwas bedeuten soll.
Diese Überlegung führt in der Zuspitzung zu einer geradezu antiklassischen Aussage: Bei einer "mehr aufgeschlossenen poetischen Stimmung" könne nämlich "jede Straße, Brücke, jedes Schiff, ein Pflug oder irgend ein anderes mechanisches Werkzeug" zum Gegenstand der Dichtung werden: "Ist es auch nicht poetisch, so ist es [...] menschlich; und das menschliche ist immer der Anfang des poetischen, das nur der Gipfel davon ist". In diesem Zitat zeigt sich einmal mehr die besondere Nähe von Bestimmung des Menschen und Bestimmung des Dichters, die nicht aus einem besonderen Hochmut der soeben für "autonom" erklärten Dichtung gegenüber dem Leben in seiner Vielfalt resultiert. Ein Poet – wenn auch vielleicht kein guter - ist deshalb sogar für den sicherlich etwas strengeren Schiller potentiell ein jeder,
der im Stande ist, seinen Empfindungszustand in ein Objekt zu legen, so, daß dieses Objekt mich nötigt, in jenen Empfindungszustand überzugehen, folglich lebendig auf mich wirkt.
Autonomieästhetik heißt demnach nicht, daß die Kunst mit dem Leben nichts mehr zu tun hat, der Autor sich habituell vom Publikum distanziert oder der Dichter zum Übermenschen stilisiert wird – das ist gegenüber einer manchmal geradezu verkrustet wirkenden Rezeption der Klassik deutlich ins Bewußtsein zu rücken. Es heißt nur, daß die Kunst sich von ihr heterogenen Begründungs- und Verzweckungszusammenhängen emanzipiert hat. Wenn daher von "Humanität", von "Leben" und von "Dichtung" die Rede ist, handelt es sich ganz und gar nicht um große und leere Worte und Werte, sondern um eher einfache, geradezu biologisch fundierbare Dinge. Denn Humanität ist das, was den Menschen in seiner Reinform ausmacht – seine Bildungsfähigkeit als evolutionäres Potential und sein "Gemüt" als Voraussetzung dafür, Lebendigkeit tatsächlich zu empfinden; Leben ist das, was durch schöpferische Auseinandersetzung mit der natürlichen Umwelt entsteht. Und Dichtung ist vor allem anderen eine Möglichkeit, dem Mensch sein Menschsein bewußtzumachen, ihn seine Lebendigkeit unabhängig von allen Zerstreuungen und Verwertungszwängen des Alltags spüren zu lassen und ihn zu eigenständiger Produktion wie Rezeption anzuregen:
Denn was ist denn an unserm ganzen Bißchen Poesie wenn es uns nicht belebt und uns für alles und jedes was getan wird empfänglich macht.
Im Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, so möchte ich zusammenfassen, wird die Weimarer Klassik in ihrer Entstehung als lebendige Bewegung vorgeführt. Der Ausgangspunkt ist das Aufeinanderprallen der Polaritäten von "Idee" und "Erfahrung", zugespitzt im Glücklichen Ereigniß. Idee und Erfahrung jedoch, so Goethe in einem Brief an Schopenhauer aus dem Jahr 1816, könnten nur durch "Kunst und That" vereinigt werden. Das und nichts anderes, die Verbindung von praktischer Erzeugung theoretischer Reflexion von Kunst durch künstlerische Tätigkeit, bildet die "ästhetische Korrespondenz" von Goethe und Schiller von Tag zu Tag ab. An die Stelle älterer äußerer Freundschaftsrituale tritt dabei das gemeinsame Handeln in, so würden wir heute sagen, kurz- und längerfristigen poetischen "Projekten", von denen - und auch das ist geradezu wohltuend "normal" - wenige glücken, viele auf halber Strecke liegen bleiben und einige gänzlich scheitern.
Besonders dieser Aspekt der Tätigkeit wird von Goethe in seiner Altersphase immer stärker gegenüber den emotional verbindlicheren Zeugnissen während der Freundschaft und kurz nach Schillers Tod in den Vordergrund gerückt: 1825 befindet er schließlich:
Freundschaft kann sich bloß praktisch erzeugen, praktisch Dauer gewinnen. Neigung, ja sogar Liebe hilft alles nichts zur Freundschaft. Die wahre, die tätige, produktive besteht darin, daß wir gleichen Schritt im Leben halten, daß er meine Zwecke billigt, ich die seinigen, und daß wir so unverrückt zusammen fortgehen, wie auch sonst die Differenz unserer Denk- und Lebensweise sein möge.
Es war dieses "unverrückte" Fortgehen, dieses entschiedene Verfolgen eines gemeinschaftlichen "Zweckes" sowie die Fähigkeit beider, sowohl im Künstlerischen wie im Menschlichen miteinander "Schritt zu halten", die letztendlich den Mythos "Weimarer Klassik" begründet hat. Weder Goethe allein noch Schiller allein hätten eine derart kurzlebige und auf so wenige Vertreter und Muster beschränkte literarische Richtung derart wirkungsmächtig etablieren können. In der im Briefwechsel lebensweltlich dokumentierten Freundschaft extrem gegeneinander gespannter Polaritäten, die sich gegenseitig nicht bekämpfen oder ignorieren, sondern einander akzeptieren und sich gegenseitig steigern, gewinnt sie ihr außerordentliches Wirkungspotential und ihre andauernde Überzeugungskraft. Diese Steigerung kann man jedoch nicht durch Reflexion erreichen, sondern nur durch tatsächliche Bewegung und Annäherung, durch Mit-Teilung im wahrsten Sinn des Wortes - diesen zutiefst menschlichen Aspekt bewahrt selbst die moderne Redeweise von der Kommun-ikation noch. Deshalb ist auch ein dominierender Bildbereiche im gesamten Briefwechsel der des Weges. Freundschaft in diesem Sinne ist ein eminent kultureller Prozeß: Sie entwickelt sich unter bestimmten zeitlichen und räumlichen Bedingungen der gegenseitigen Nähe; sie schafft sich ihre Ausdrucks- und Kommunikationsformen und pflanzt sich schließlich über die durch sie erzeugten Wirkungen fort. Schiller ist letztlich doch gelungen, was Frau von Stein nicht gelang: dem "stolzen Prüden" namens Goethe ein Kind zu machen - und dieses Kind der Freundschaft, nicht der Liebe geistert seither als Weimarer Klassik folgenreich durch die Welt.
Es ist ein bemerkenswertes, gleichwohl aber wenig bemerktes Phänomen, daß in literarischen Texten wenig geboren wird. Es wird geliebt und gekämpft, geredet und geküßt, bisweilen auch gestorben – aber die Figuren scheinen sozusagen in voller Rüstung dem Haupt ihrer Schöpfer entsprungen zu sein. Das mag zum einen damit zusammenhängen, daß ein derart körpernahes Thema lange Zeit zweifelsohne tabuisiert war. Zum anderen waren die Autoren der meisten literarischen Texte männlich und damit von einer unmittelbaren Selbsterfahrung auf diesem Gebiet kategorisch ausgeschlossen. Geburten könnten insofern der erste und gleichzeitig letzte rein weibliche Erfahrungsbereich sein, vor dem selbst die omnipotenteste männliche fiktionale Anverwandlung von Wirklichkeit dann doch halt macht.
Da und dort finden sich aber vereinzelt Varianten des Geburtsthemas; von ihnen soll im folgenden die Rede sein, und zwar begrenzt auf den Ereignisraum Weimar-Jena und dessen Protagonisten Goethe und Schiller. Ich beginne mit einem kurzen Auswärts-Vorspiel, nämlich dem massiven Auftreten der Kindsmord-Thematik bei den Autoren des Sturm und Drang; ich werde kurz die sozialen, politischen und juristischen Hintergründe streifen und auf die Behandlung des Themas beim jungen Goethe und beim jungen Schiller eingehen (I). In einem Zwischenspiel wird es danach um Goethe und Schiller als Familienväter in Weimar und Jena gehen (II). Schließlich werde ich auf Varianten literarischer Geburten im späteren Werk Goethes und Schillers hinweisen (III).
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gewinnt ein bisher eher randständiges literarisches Thema schnell an Beliebtheit: die Kindsmörderin. Eine Vielzahl von Autoren, die gemeinhin der Bewegung des Sturm und Drang zugeordnet werden, greifen das Sujet auf; in der Forschungsliteratur ist von ca. 20 Bearbeitungen die Rede. Nun ist es nicht so, daß es vorher in der Literatur keine Kindsmörderinnen gegeben hätte. Berühmte Vorbilder sind die rächenden Frauen der antiken Mythologie wie Medea; im Mittelalter wird die Bestrafung der Kindsmörderin als Beispiel für die göttliche Allwissenheit thematisiert, und bis ins 18. Jahrhundert erscheint das Thema in Puppenspielen, Bänkelsänger- oder Volksliedern. Die gleiche Ubiquität gilt für das Phänomen selbst. Im Mittelalter war Kindsmord ein weithin geduldetes Mittel der Geburtenkontrolle zur Verhinderung unerträglicher wirtschaftlicher Not ; noch im 18. Jahrhundert läßt sich ein „identischer Verbrechensfundus“ in den meisten europäischen Staaten und Amerika nachweisen.
Warum aber diese außerordentliche Hochkonjunktur des Kindsmords gerade in der deutschen Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts? Die Forschung ist zu weiten Teilen der Meinung, daß in diesem Schlüsselthema eine Vielzahl unterschiedlicher Entwicklungen in unterschiedlichen Diskursen gleichsam handlich gebündelt vorliegen; ich zitiere nur eine Einschätzung:
Wenn im aufgeklärten Diskurs über Kindsmord – mit moralischer, juristischer, religiöser oder gar emanzipatorischer Emphase – geschrieben wird, geht es in Wahrheit um voreheliche Sexualität, um außereheliche Sexualität, um Liebesbeziehung versus Konvenienzbeziehung, um Verführung und Vergewaltigung, um gesellschaftliche Herrschaftsprivilegien, um die soziale Stellung der ledigen Schwangeren, um die soziale Stellung des unehelichen Kindes, um Verfahren zur Ermittlung des Kindsvaters.
Weder die juristischen noch die sozialen, ökonomischen, mentalitäts- und geschlechtergeschichtlichen sowie moralischen und religiösen Hintergründe können hier dargelegt werden. Ich will vielmehr in aller Kürze das Delinquentinnen-Profil nachzeichnen, das die Forschung erarbeitet hat, und anschließend auf dessen einigermaßen erstaunliches Verhältnis zu den literarischen Texten eingehen.
Ein Großteil der sogenannten „Kindsmörderinnen“ arbeitete als Dienstmagd in bäuerlichen Betrieben oder städtischen Haushalten. Der gleichen Unterschicht entstammen in den meisten Fällen auch die Kindsväter. Häufig sind die betroffenen Frauen ungebildet und unaufgeklärt , wirtschaftlich abhängig und oft in großer finanzieller Not. Das Problem wird durch die Heiratsverbote für viele Stände verschärft; es trat offenbar systematisch eine Art Triebnotstand im sexuell aktivsten dritten Lebensjahrzehnt ein, der nur durch außerehelichen Geschlechtsverkehr behoben werden konnte. Dabei waren gerade im ländlichen Raum uneheliche Geburten durchaus nichts Unehrenhaftes, wenn der Makel durch ein Heiratsversprechen und dessen baldige Einlösung geheilt werden konnte. Moralische oder religiöse Erwägungen waren demgegenüber meist deutlich nachgeordnet. Gleichwohl kam verschärfend hinzu, daß die getöteten Kinder nicht getauft werden konnten und somit der ewigen Verdammnis entgegensahen. Aus Vernehmungsprotokollen geht hervor, daß sich die Delinquentinnen häufig in einem psychischen Ausnahmezustand befanden. Teilweise wurde bereits die Schwangerschaft verdrängt; die Geburt fand heimlich statt und muß ohne jeden medizinischen oder seelischen Beistand ein ultimativ traumatisches Erlebnis gewesen sein. Oft erinnerten sich die Frauen kaum noch daran, wie das Kind nun zu Tode gekommen war. Eine aktive Tötung war wohl eher selten; die häufigste Todesart war das durch Nichtabbinden der Nabelschnur hervorgerufene Verbluten der Neugeborenen. Wenn Kindsmorde aktenkundig wurden, wurden im übrigen auch nicht durchgehend Todesstrafen verhängt, mehrheitlich sprach man – allerdings kaum weniger schreckliche – Haftstrafen aus.
Bemerkenswert ist nun, daß die literarische Umsetzung des Themas in weiten Teilen wenig mit den realen Hintergründen zu tun hatte. Die Kindsmörderinnen in der Literatur sind größtenteils Bürgerstöchter, die von einem Angehörigen des Adels unter falschen Versprechungen verführt und dann verlassen wurden. Sie betrauern, etwas zugespitzt gesagt, mehr den Verlust ihrer Tugend und ihres Liebhabers als den Tod ihres Kindes – das meist physisch als Abbild des Vaters erscheint und an dem deshalb als Ersatzobjekt die Rache vollzogen wird. Die Tötung ist meist ein aktiver, häufig sogar ein extrem brutaler Akt. Wirtschaftliche Nöte kommen ebenso wenig zur Sprache wie der Umgang mit außerehelicher Sexualität; statt dessen tritt die Darstellung der psychologischen Extremsituation in den Vordergrund. Kirsten Peters resümiert in ihrer Untersuchung Der Kindsmord als schöne Kunst betrachtet:
Die Figur einer ungebildeten Dienstmagd, die womöglich durch ihr „unsittliches“ Verhalten für die Schwangerschaft selbst verantwortlich ist und aus materiellem Interesse das Kind tötet, hätte zum einen die Zensur nicht passieren können und wäre auf der Bühne wie in der Literatur zum Eklat geworden, zum anderen hätte sie dem weiblichen Idealtypus widersprochen. Die literarische Metamorphose der Dienstmagd zur Bürgerstochter war somit unumgänglich, wenn die Literatur einem Publikum zugänglich gemacht werden sollte. Doch erscheint es in diesem Zusammenhang als nicht unwesentlich festzustellen, daß das gesellschaftspolitische Interesse der Literaten nicht so weit ging, das Leben der Dienstmägde zu betrachten. Die Ausleuchtung der inneren Konfliktsituation und der unglücklichen Liebesbeziehung war in ihren Augen literarisch attraktiver.
Auch Johann Wolfgang Goethes Gretchen im Faust, immerhin gestaltet nach dem realen Vorbild der Frankfurter Kindsmörderin Susanna Margarethe Brandt , ist weder in großer wirtschaftlicher Not noch ungebildet. Sie wird als besonders fromm und kinderlieb eingeführt; sie hat ihre kleine Schwester „ganz allein“ erzogen, als die Mutter nach einer schweren Geburt auf den Tod darniederlag. Nachdem sie sich jedoch von Faust hat verführen lassen, wächst gleichzeitig der Druck von innen und von außen. In der Szene „Am Brunnen“ verteidigt Gretchen noch ein befreundetes „Bärbelchen“, das ein uneheliches Kind erwartet, mit den naiven Worten: „er nimmt sie gewiß zu seiner Frau“ – unterstellt also die verbreitete nachträgliche Legitimation über die Ehe. Tatsächlich jedoch hätte sie sich besser Mephistos Warnung zu Herzen nehmen sollen, der leichtfertig singt:
Nehmt euch in Acht!
Ist es vollbracht,
Dann gute Nacht
Ihr armen, armen Dinger!
Habt ihr euch lieb,
Tut keinem Dieb
nur nichts zu Lieb’,
Als mit dem Ring am Finger.
Und auch Gretchens Bruder Valentin erweist sich angesichts des Todes als Visionär:
Wenn erst die Schande wird geboren,
Wird sie heimlich zur Welt gebracht,
Und man zieht den Schleier der Nacht
Ihr über Kopf und Ohren;
Ja, man möchte sie gern ermorden.
Die Anspielungen auf die Kindsmord-Thematik ziehen sich also deutlich sichtbar schon von Anfang an durch die gesamte Gretchen-Handlung. Sie gipfelt in der Schlußszene im Kerker, in der Faust zu Gretchens Rettung kommt. Gretchen ist inzwischen zu einer mehrfachen Komplizin und Mörderin geworden: Ihr Kind hat sie im Wahn im Teich ertränkt; ihre Mutter war zuvor an den von ihr verabreichten Schlafmitteln gestorben; der Bruder war bei der Verteidigung der verlorenen Ehre seiner Schwester getötet worden. Der Verführer Faust hat in der hemmungslosen Verfolgung seiner individuellen Triebbefriedigung eine komplette Familie zerstört, die nun erst wieder in den Gräbern zusammenfinden kann. Gretchen weist dem verzweifelten Faust in einer makabren Verfügung die Grabordnung an:
Der Mutter den besten Platz geben,
Meinen Bruder sogleich darneben,
Mich ein wenig bei Seit’,
Nur nicht gar zu weit!
Und das Kleine mir an die rechte Brust.
Für Gretchen fallen damit in dieser Schlußszene Geburt, Tod und Hochzeit zusammen: „Mein Hochzeittag sollt’ es sein!“ , gesteht sie Faust. Die bevorstehende Hinrichtung wird dementsprechend mit einem zutiefst doppelbödigen Motivbestand geschildert: Die Glocken läuten zwar auch jetzt; aber der Brautkranz ist zerrissen, der Hochzeitstanz wird in diesem Leben nicht mehr stattfinden. Faust hingegen tut in dieser wahrlich extremen Situation einen Ausspruch, der seltsam paradox an seine Wette mit Mephisto erinnert: Er erklärt nicht den Augenblick zur Ewigkeit, sondern wünscht sich, in alle Ewigkeit, nämlich „nie geboren“ zu sein. Den Ausgang der Szene entscheidet dann das plötzliche Erscheinen Mephistos. Im Angesicht des wahren Teufels ruft Gretchen die Heiligen an und stellt sich ihren Taten: „Gericht Gottes! dir hab’ ich mich übergeben!“
Welche Facetten akzentuiert Goethe mit dieser Verarbeitung der Kindsmord-Thematik? In Gretchen zeigt er ein weibliches Gegenmodell zum männlichen Selbstherrscher Faust: tiefgläubig, altruistisch, gemeinschaftsorientiert, naturverbunden – kurz gesagt, Gretchen ist all das, was Faust nicht ist. Indem Faust sie zerstört, zerstört er einen ganzen in sich ruhenden Kosmos; er stellt in der Familie die Grundlage des Staates, in der Religion das Fundament der Gemeinschaft, in der Beziehung das Vertrauen der Liebenden, im Rechtssystem den Zusammenhang von Schuld und Strafe in Frage. Eine einfache Verführung hätte dafür nicht ausgereicht; erst im Tatbestand des Kindsmords können alle diese Zusammenhänge mit einem Schlag thematisiert und in ihren ultimativen, nämlich letztlich auch metaphysisch fatalen Konsequenzen vorgeführt werden.
Friedrich Schillers frühes Gedicht Die Kindsmörderin erschien 1782 zwischen mehreren leidenschaftlichen Liebesgedichten in seiner Anthologie auf das Jahr 1782. In 15 achtzeiligen, streng trochäisch gebauten Strophen spricht eine Kindsmörderin einen letzten Verzweiflungsmonolog im Angesicht des Richtplatzes. Mit aller Wucht der Schillerschen Rhetorik und seiner typischen Antithetik ausgestattet stellt sie ihr Schicksal als dasjenige der typischen jugendlich Verführten dar:
Schön geschmükt mit rosenrothen Schlaifen
Dekte mich der Unschuld Schwanenkleid,
In der blonden Loken loses Schweifen
Waren junge Rosen eingestreut: ¬–
Wehe! – Die Geopferte der Hölle
Schmükt noch izt das weißlichte Gewand,
Aber ach! – der Rosenschlaifen Stelle
Nahm ein schwarzes Todenband.
Wie bei Gretchen erfahren wir nichts von ihrer sozialen Situation, nichts von ökonomischer Not, kaum etwas von moralischer Verurteilung. Ganz im Vordergrund hingegen steht ihre Verzweiflung, die vor allem aus der als „Verräterei“ empfundenen Untreue des Verführers Joseph resultiert. Louise klagt ihrem getöteten Kind:
Deine Mutter – o im Busen Hölle! –
Einsam sizt sie in dem All der Welt,
Durstet ewig an der Freudenquelle,
Die dein Anblik fürchterlich vergällt.
Hier spiegelt sich deutlich, lediglich ins Negative verkehrt, die enthusiastische Vereinigungsphilosophie des jungen Schiller: Wenn die Liebe als ursprünglichste menschliche Neigung, als unmittelbares Gefühl für das „All der Welt“, verraten wird, dann muß jeder Lebensmut versiegen; wenn die Liebe als universale „Freudenquelle“ vergiftet wird, ist das nicht nur empfindsame, sondern auch metaphysische Brunnenvergiftung. Demgegenüber wird auch hier das Schicksal des Kindes kaum thematisiert; es fungiert einzig als allzu sichtbares Zeichen einer mißlungenen Verbindung. Die Tötung selbst fand wiederum in einem Moment des Wahns statt, die der Text unter Berufung auf den antiken Mythos, sprachlich einigermaßen ungeschickt und fernab des sonstigen Pathos beschreibt: „hier umstrikte mich die Hyder; – / Und vollendet war der Mord“. Die Art der Tötung geht nicht klar aus dem Text hervor, war aber offenbar blutig: „Hingemezelt mit Erinnysmuthe“ hat die liebliche Louise ihr Kind.
Am Schluß des Gedichts nimmt Louise, auch hier in erstaunlicher Parallele zu ihrer Schicksalsgenossin Gretchen, zunächst Abschied von ihrem Geliebten und erfleht Verzeihung auch für ihn. Und ebenso wie Gretchen nimmt sie an diesem Punkt ihr Schicksal und die Strafe an. Das Gedicht endet jedoch nicht mit dieser metaphysischen Perspektive, sondern mit einem erstaunlich klaren und direkten Aufruf zur Emanzipation , der an Mephistos Warnung erinnert:
Trauet nicht den Rosen eurer Jugend,
Trauet, Schwestern, Männerschwüren nie!
Dieses neugewonnene weibliche Selbstbewußtsein führt schließlich in den letzten vier Versen sogar dazu, daß die Empfindsamkeit die Fronten wechselt: Am Schluß weint nicht mehr die verlassene jugendliche Unschuld angesichts des Richtblocks um ihren Liebhaber und ihr Kind, sondern ihr „bleiche Henker“ vergißt „Zähren“ angesichts einer gelungenen Rechtfertigungsrede und der darin zum Ausdruck gebrachten universalen Ungerechtigkeit. Louise kommentiert, nun beinahe zynisch:
Zähren? Zähren in des Würgers Bliken?
Schnell die Binde um mein Angesicht!
Henker kannst du keine Lilje kniken?
Bleicher Henker zittre nicht! ¬– – –
Damit aber ist am Schluß wirklich eingetreten, was Louise anfangs nur gefordert hatte:
Wehe! menschlich hat diß Herz empfunden! –
Und Empfindung soll mein Richtschwerd sein!
Indem der „bleiche Henker“ tatsächlich eine Empfindung zeigt, ist Louise zunächst menschlich gerechtfertigt. Daß sie darüber hinaus auch vom göttlichen Gericht Gnade erwarten kann, indiziert ein unscheinbarer Wechsel in der Blumen-Metaphorik. Durchgängig wird im Text das Thema sinnliche Liebe mit den Rosen verbunden („Trauet nicht den Rosen...“!). Die Lilie hingegen, das Symbol Marias, ist das Zeichen der jungfräulichen Unschuld. Wenn der Henker also am Schluß eine „Lilje kniken“ soll, wird angedeutet, daß auch Louise auf ein „ist gerettet“ von oben hoffen kann – also auch vor Gott gerechtfertigt ist.
Zusammenfassend ist festzuhalten: Goethe und Schiller liegen insofern im Mainstream des Kindsmords-Themas, als sie Verführung und Tugendverlust stärker akzentuieren als konkrete ökonomische oder soziale Hintergründe. Sie gehen aber insofern darüber hinaus, als sie in ihren Texten eine metaphysische Ebene einfügen: Die anfangs jugendlich-schwachen Verführten wachsen angesichts ihres Todes nicht nur über sich selbst, sondern auch über ihren Verführer hinaus; sie stellen ihr eigenes Schicksal in einen universalen Zusammenhang von – menschlicher – Schuld und – göttlicher – Strafe, wobei die göttliche Vergebung in beiden Fällen bereits angedeutet wird. Die Kindsmörderin ist damit nicht mehr nur eine Bürgerstochter, der ihre Unschuld bedauerlicherweise abhanden gekommen ist; sie wird zu einem Symbol menschlicher Schwäche und einer Herausforderung an allzu selbstgerechte Wertsysteme schlechthin.
Als Schiller seine Kindsmörderin schreibt, ist er 23; Goethe hat, als er die Arbeit am Urfaust beginnt, exakt das gleiche jugendliche Alter. Schiller heiratet mit 31 Jahren Charlotte von Lengefeld; der erste Sohn Karl Friedrich Ludwig wird drei Jahre später 1793 geboren, es folgen drei weitere Kinder, das letzte wird im Jahr von Schillers Tod geboren. Goethe hingegen wird zuerst Vater und danach Ehemann. Als August Carl im Jahr 1789 geboren wird, ist er genau 40. Es folgen eine Totgeburt und drei weitere uneheliche Kinder, die jeweils kurz nach der Geburt sterben. 1806 erst wird Goethe Christiane Vulpius heiraten; bereits im Jahr 1801 jedoch hatte er, nach überstandener schwerer Krankheit, bei Hofe mit Erfolg um die Legitimation von August nachgesucht.
Dies sind die nackten Daten zu Goethe und Schiller als Familienvätern. Darüber, was sich hinter ihnen verbirgt, kann man notgedrungen nur spekulieren: Beide haben sich kaum in Briefen oder sonstigen überlieferten Selbstäußerungen zu ihrer Vaterschaft oder gar zu den Geburten ausgesprochen. Was man mit einiger Sicherheit sagen kann, ist, daß die Geburten zu Hause stattfanden, im Hause Schiller unter dem Beistand von Hofrat Stark. Stoff zu einer Anekdote liefert einzig die erste Schwangerschaft von Schillers Frau, die das junge Ehepaar wohl aus Unerfahrenheit einfach nicht bemerkte; Schiller berichtet an Körner am 3. Juli 1793:
Nunmehr ist es durch die Aussage des Accoucheur entschieden daß meine Frau sich schon im siebenten Monat der Schwangerschaft befindet [...]. Ich kann Dir übrigens nicht genug sagen, wie wohl mir jetzt ums Herz ist, daß ich erstlich von der Unruhe befreyt bin, die mir die unerklärbaren und bedenklichen Zufälle meiner Frau schon seit 3 Monaten verursacht haben.
Natürlich war der Vater bei der Geburt nicht anwesend; Schillers Jugendfreund Hoven berichtet von der ersten Entbindung, die bei einem Besuch des jungen Paares im heimatlichen Schwaben vor sich ging:
Schiller hatte sich zu Bette begeben, die Entbindung verzögerte sich bis tief in die Nacht, aber sie ging glücklich vorüber. Meine Frau brachte Schillern das Kind vor das Bette, er schlief noch, aber das Geräusch erweckte ihn. Sein erster Anblick, wie er die Augen aufgeschlagen hatte, war der ihm geborene Sohn.
Vor der zweiten Geburt äußerte Schiller gegenüber Goethe vor allem die Befürchtung, daß die „Wochen meiner Frau“ „der poetischen Stimmung nicht günstig seyn werden“. Goethes freundschaftliches Angebot, für die Zeit unmittelbar nach der Geburt des zweiten Kindes den ersten Sohn Carl zu sich ins Haus zu nehmen, da er „in Gesellschafft der vielen Kinder, die sich in meinem Hause und Garten versammeln, sich recht wohl befinden“ würde , lehnt Schiller jedoch ab: Man habe „einige Personen mehr zur Bedienung angenommen, und die Disposition mit den Zimmern gemacht [...], daß er nicht stört“. Trotz dieser eher prosaisch anmutenden Erwägungen: Schiller wurde allenthalben als begeisterter Vater gelobt; Voß berichtet in einem Brief vom 14. August 1804 nach mehrfachen Besuchen im Schillerschen Haushalt:
Schiller hat seine Kinder gewiß so lieb, wie nur die zärtlichste Mutter lieben kann. Der Mann schien mir unaussprechlich liebenswürdig in dem Augenblicke, als er nach der Taufe das Kind mit dem Blicke der tieffsten Empfindung anschaute.
Bei Goethe hingegen ist nicht nur die familiäre Situation ungleich schwieriger. Als besonders unrühmlich hat die Forschung auch die aktive Beteiligung Goethes an einem Todesurteil gegen die Kindsmörderin Johanna Höhn im Jahr 1783 in Weimar vermerkt; der Herzog hatte vor der Bestätigung des Todesurteils die Mitglieder des Geheimen Consiliums um Stellungnahmen ersucht, und Goethe hatte für die Todesstrafe plädiert. Auch bei den Geburten Christianes droht ständig die Gefahr, daß sie wegen unehelichen Beischlafs gerichtlich verfolgt wird; Goethe interveniert deshalb mehrere Male vorsorglich bei seinen Kollegen im Geheimen Consilium. Vor diesem Hintergrund ist es vielleicht kein Zufall, daß in seinen späteren Romanen vor allem problematische Vaterschaften auftauchen. Wilhelm Meister beispielsweise weiß zunächst nichts von seinem Vaterglück und muß es sich mühsam im Laufe seiner Lehr- und Wanderjahre erarbeiten. Gleichwohl spielt es eine zentrale Rolle für seine Bildung; erst die Frage nach seiner Vaterschaft absolviert ihn in den Lehrjahren von seinem Schülerstatus. Und auch die seltsam verkreuzten Vaterschaftsverhältnisse in den Wahlverwandtschaften sind kein gutes Omen; das aus dem „geistigen Ehebruch“ hervorgegangene Kind überlebt folgerichtig das mühsam gekittete eheliche Einverständnis nicht lang.
Ich will nur noch in aller Kürze einige weitere Beispiele „literarischer Geburten“ im Werk der Familienväter Schiller und Goethe skizzieren. In Schillers Geschichtsdramen spielen Kinder kaum einmal eine Rolle; eine Ausnahme bildet hier Wilhelm Tell, wo die Titelfigur im Rahmen des patriarchalischen Gesellschaftskonstrukts auch als pater familias vorgeführt wird. In demjenigen späteren Gedicht Schillers, das die Familie vor allem thematisiert – dem berühmt-berüchtigten Lied von der Glocke – stirbt bezeichnenderweise nicht mehr das Kind, sondern die für die Familien-Ideologie ungleich wichtigere Mutter. Eine bezeichnende Veränderung erfährt die Geburts-Metapher nun aber in Schillers theoretischen Texten. War in der Ankündigung der Räuber in der Thalia noch in drastischer Diktion die Rede von einer „Geburt“, die der „naturwidrige Beischlaf der Subordination und des Genius“ in die Welt gesetzt hatte, geht es jetzt um die „sentimentalische Dichtung“ als „Geburt der Abgezogenheit und Stille“ oder die Schönheit als „Bürgerin zwoer Welten“, deren einer sie „durch Geburt, der andern durch Adoption angehört“. Offensichtlich handelt es sich hier um ein kompensatorisches Konzept: Frauen gebären Kinder, Männer gebären Kunstwerke; und beide haben dadurch einen vergleichbaren Anspruch auf Weiterleben bzw. Unsterblichkeit erworben. David Wellbery sieht es in einer umfangreichen Studie zum Themenkomplex Kunst-Zeugung-Geburt geradezu als „anthropologische Grundfigur“, „daß jede gediegene Kunsttheorie die Spuren einer Embryologie trägt, und umgekehrt“. Der künstlerische „Geburts“-Vorgang selbst aber verläuft bei den Klassikern Schiller und Goethe nunmehr – zumindest in der theoretischen Stilisierung – sehr viel leichter als beim ungestümen Sturm-und-Drang-Genie.
Hingegen findet sich bei Goethe im Faust II ein besonders originelles Konzept einer spezifisch männlichen Geburt: Der Wissenschaftler Wagner hat im Reagenzglas „einen Mensch gemacht“. Die natürliche Zeugung sei nämlich aus der Mode geraten; an die Stelle der natürlichen „Organisation“ ist die „Krystallisation“ aus der richtigen „Mischung“ der alchimistischen Substanzen getreten. Kaum jedoch ist der kleine Homunculus in seinem Gläschen ins Leben getreten, verlangt es ihm schon nach etwas, das ihm sein Vater nicht recht geben kann:
Komm, drücke mich recht zärtlich an dein Herz,
Doch nicht zu fest, damit das Glas nicht springe.
Das ist die Eigenschaft der Dinge:
Natürlichem genügt das Weltall kaum,
Was künstlich ist, verlangt geschloßnen Raum.
Dieser künstliche, geschlossene Lebensraum erweist sich im kurzen Leben des Homunculus als das eigentliche Lebenshindernis. Der winzige Hermaphrodit ist gerade lebendig genug, um zu erkennen, daß ihm etwas unersetzliches zum eigentlichen Leben abgeht: Sein sehnlichster Wunsch ist es, nicht nur „halb zur Welt gekommen“ zu sein, sondern „im besten Sinn [zu] entstehn“. Der Naturphilosoph Thales berichtet:
Er ist, wie ich von ihm vernommen,
Gar wundersam nur halb zur Welt gekommen.
Ihm fehlt es nicht an geistigen Eigenschaften,
Doch gar zu sehr am greiflich Tüchtighaften.
Bis jetzt giebt ihm das Glas allein Gewicht,
Doch wär’ er gern zunächst verkörperlicht.
Der Preis für dieses „eigentliche“ und vollständige Entstehen als Geist- und Körperwesen ist jedoch paradoxerweise der Tod. Homunculus beendet aus freiem Willen sein gläsernes Dasein, sobald ihn angesichts der Meeresgöttin Galatea ein „herrisches Sehnen“ befällt und ihm damit das Wesen der Liebe deutlich wird. Er kann sich mit Galatea nur vereinigen, indem er sein Glas verläßt. Der Zerstörungsprozeß der Phiole wird dementsprechend von den Augenzeugen eher als Vereinigungsprozeß geschildert: „Jetzt flammt es, nun blitzt es, ergießet sich schon“ ; wie für Gretchen fallen Hochzeit und Hinrichtung auch für Homunculus zusammen.
Die männliche Geisteszeugung Homunculus ist offensichtlich nicht lebensfähig. Er kann jedoch diese Beschränkung selbst transzendieren und zurück in die Natur eingehen; sein Lebenstrieb ist gleichzeitig ein Destruktions- und ein Zeugungstrieb und damit ein besonders extremes Beispiel für die Polaritäten, die Goethes Spätwerk in allen vorstellbaren Varianten durchziehen. Wagners Versuch, das Geheimnis der Zeugung zu lüften und damit der Wissenschaft zur Unsterblichkeit zu verhelfen – „Was wollen wir, was will die Welt nun mehr? / Denn das Geheimniß liegt am Tage“ triumphiert er nach dem Schöpfungsakt –, ist jedoch nicht nur zum Scheitern verurteilt, weil das Leben sich selbst gegen die einseitige Beschränkung auf den Geist zur Wehr zu setzen weiß. Er wird darüber hinaus in der großen metaphysischen Rahmenhandlung geradezu kategorisch abgeurteilt. In der letzten Szene des Faust II, den mystisch getönten Bergschluchten, erscheint urplötzlich wieder Gretchen, und zwar an der Seite „großer Sünderinnen“ und „leicht Verführbarer“. Diese leisten nun bei Maria als Verkörperung von „Jungfrau“, „Mutter“, „Königinn“ und „Göttin“ – und damit Inbegriff aller Weiblichkeit schlechthin – erfolgreich Fürbitte für sie. Und Gretchen selbst bittet wiederum für Faust, worauf die Mater Gloriosa erwidert:
Komm! hebe dich zu höhern Sphären,
Wenn er dich ahnet folgt er nach.
Das „Ewig-Weibliche“ hat damit das letzte Wort – auch wenn und vielleicht gerade weil es in Geheimnissen und mystischen Chören spricht. Die Kindsmörderin ist wahrhaft gerettet; sie rettet nun ihren Verführer und damit sind die Rollen endgültig vertauscht: Gretchen wird ihren einstmaligen weltlichen Lehrer Faust nun in den himmlischen Sphären „belehren“.
Die immerhin vorhandenen, wenn auch augenscheinlich kaum reflektierten oder thematisierten Erfahrungen als Väter scheinen, oberflächlich betrachtet, nicht dazu geführt zu haben, daß Schiller und Goethe das Thema Geburt in ihren literarischen Werken lebensnäher verarbeitet haben. Gleichwohl kann sowohl die symbolische Überhöhung der Geburtsmetapher für das dichterische Schöpfertum bei Schiller wie auch die Einbindung von männlichen und weiblichen Geburten in ein metaphysisch-naturgeschichtliches Rahmenkonzept bei Goethe als spezifisch klassische Variante des Geburtsthemas gelesen werden. Beide setzen damit Tendenzen fort, die in ihren frühen Kindsmord-Texten angelegt sind. Sowohl in der Gretchen-Tragödie wie im Schicksal der Kindsmörderin Louise wurde das Thema bereits, wie oben gezeigt, deutlich philosophisch-metaphysisch überlagert. Dabei verschafft das Kindsmord-Thema der üblichen empfindsamen Liebesverklärung so etwas wie eine realistische Fallhöhe: In der drastischen Darstellung der verlassenen Liebenden und der im Wahn Tötenden läßt sich eine maximale Spannung zwischen einer enthusiastisch idealisierten Liebes- und Vereinigungserfahrung und deren Widerruf im ultimativen Liebesverrat herstellen.
Aber wie bei allen Revolutionen folgt die Restauration auf dem Fuß: Das Thema verliert sich in der Folgezeit nicht nur bei Goethe und Schiller, sondern tritt allgemein wieder in die Randständigkeit zurück. Doch noch Bertolt Brechts Moritat von der Kindermörderin Marie Farrar (1927) zeigt ebenso wie die bis heute mit schauriger Regelmäßigkeit wiederkehrenden Schlagzeilen über spektakuläre Kindstötungen, daß der Kindsmord weiterhin nicht nur eine bleibende poetische Inspirationsquelle ist, sondern das metaphysische Sprengpotential durchaus nicht verloren hat, das Brecht so lakonisch wie eindrücklich formuliert:
Marie Farrar, geboren im April
gestorben im Gefängnishaus zu Meißen
Ledige Kindesmutter, abgeurteilt, will
Euch die Gebrechen aller Kreatur erweisen.