Gesamttext
Die Behandlung von Schiller als philosophischer Dilettant im abwertenden Sinn hat eine lange Tradition in der Wirkungsgeschichte seiner ästhetischen Schriften. Von der Fachphilosophie wurden die Texte bis heute kaum zur Kenntnis genommen. Das zeigt in aller Deutlichkeit die im Schiller-Jahr erschienene Monographie von Frederick Beiser zu Schiller as Philosopher. A Re-Examination – immerhin verfaßt von einem veritablen Professor der Philosophie und Preisträger mehrerer akademischer Auszeichnungen –, einen der wenigen Beiträge überhaupt, die sich nicht nur mit einzelnen Aspekten von Schillers ästhetischer Theorie beschäftigen, sondern versuchen, deren inneren Zusammenhang zu rekonstruieren. Beiser stellt im Einleitungskapitel zunächst den apologetischen Charakter seines Vorhabens klar: Die Schillerschen Texte stellten hohe Ansprüche an die Bildung des Lesers; sie seien enorm einflußreich für die Romantik und den deutschen Idealismus gewesen; und sie seien insgesamt, und zwar explizit unter Anlegung eines fachphilosophischen Maßstabs, zu bewerten als "some of the most searching, thorough and rigorous writings on aesthetics in the Western philosophical tradition".[1] Umso erstaunlicher sei es, daß sie lange Zeit sowohl von der englisch- wie auch deutschsprachigen Fachphilosophie gegenüber den Kanongrößen Kant und Hegel völlig vernachlässigt worden seien.[2] Die Gründe dafür sieht Beiser vor allem in der fatalen Tendenz der modernen akademischen Welt zur Arbeitsteilung[3], die es von vornherein ausschließe, daß ein und derselbe Autor als Philosoph und als Poet ernst genommen werden kann: "For our own specialized age, this can only mean one thing: that Schiller must have been an amateur philosoph".[4] Mit dieser Begründung sei der Philosoph Schiller von den akademischen Vertretern der Disziplin seit längerer Zeit den Literaturwissenschaftlern überlassen worden, die ja offensichtlich für einen philosophisch nur dilettierenden Amateur zuständig sein mußten.[5]
Ein Amateur-Philosoph jedoch, so Beiser, sei Schiller nun keineswegs gewesen. Das zeigten sowohl der Inhalt wie die Form seiner Beiträge zur Ästhetik:
we have no choice but to treat his aesthetic writings as philosophy. They are philosophical not only in the questions they raise but also in the method with which they answer them. In standard philosophical fashion Schiller analyzes concepts, makes distinctions, lays down definitions, and engages in sustained discursive argument.[6]
Dazu komme seine substantielle philosophische Ausbildung an der Karlsschule sowie seine enorme praktische Erfahrung. All dies spreche dafür, daß Schiller eine substantielle ästhetische Theorie auf der Grundlage seines breiten Erfahrungsschatzes methodisch korrekt konzipiert und systematisch solide durchgeführt habe. Daß dies auch die Literaturwissenschaftler letztlich nicht anerkannt hätten, führt Beiser wiederum auf einen Professionalisierungszwang zurück. Sobald nämlich ein Literaturwissenschaftler sozusagen in Vertretung eines Philosophen agiere, stehe er unter starkem Rechtfertigungszwang, um nicht selbst als Dilettant zu erscheinen:
Anxious to prove their own philosophical credentials, they [die "literary historians"] stress Schiller's many philosophical vices: his vagueness and inconsistency, his bungled conceptual divisions, his many lapses in argument. Such mistakes, they assume, could only be made by a poet.[7]
Diesem Argument hält Beiser entgegen – und es ist nochmals daran zu erinnern, daß hier ein etablierter, erfahrener, international anerkannter Philosophie-Professor spricht:
What these scholars are too polite to say, however, is that such blunders are endemic in philosophy. As any philosopher would concede, they are simply business as usual.[8]
Darüber hinaus kehrt er in diesem Zusammenhang sogar den verbreiteten Kant-Schiller-Vergleich[9], der normalerweise von Philosophen wie Literaturhistorikern klar zu ungunsten des dilettierenden Dichter-Philosophen entschieden wird, um:
My central thesis is that, in fundamental respects, Schiller's ethics and aesthetics are an improvement on Kant's. Where Kant is vague, inconsistent and narrow, Schiller is clear, consistent, and broad.[10]
Ich habe die Ausführungen Beisers deshalb so ausführlich referiert, weil sie einen gemeinhin verschwiegenen, aber gleichwohl auch im Schiller-Jahr 2005 häufig mitschwingenden Subtext der Debatten um Schiller als Philosoph als Licht holen. Sowohl in den akademischen Grenzstreitigkeiten zwischen heutigen Literatur- und Philosophiehistorikern wie auch in den historischen Grenzstreitigkeiten zwischen Kant- und Schiller-Anhängern ist das erste Opfer Schillers Ästhetik selbst geworden. Beisers Rettungsversuch zielt demgegenüber auf das andere Extrem, nämlich die vollständige akademische und philosophische Rechtfertigung der Schillerschen Ästhetik als eigenständiges "System".
Wenn hier im folgenden trotzdem von Schiller als "philosophischem Dilettanten" die Rede ist, geht es mir nicht darum, Inhalt und Wert seiner ästhetischen Theorie zu bestimmen. Vielmehr ist zunächst zu klären, was ein philosophischer Dilettant im 18. Jahrhundert überhaupt ist,[11] und ob die Bezeichnung eine positive oder eine negative Bewertung impliziert. Denn letztlich hat sich Schiller selbst als einen solchen bezeichnet; in einem Brief an Körner vom 25. Mai 1792 – also zu Beginn seiner intensiven Kant-Studien – schreibt er:
Eigentlich ist es doch nur die Kunst selbst, wo ich meine Kräfte fühle; in der Theorie muß ich mich immer mit Principien plagen. Da bin ich bloß Dillettant.[12]
Ich werde deshalb im folgenden zunächst das Konzept des professionellen Philosophen beschreiben, wie es das 18. Jahrhundert vor allem in Gestalt des Schulphilosophen oder des Systemphilosophen vor Augen hat,[13] und zwar zum ersten anhand von Äußerungen der Zeitgenossen Schillers (I) und zum zweiten anhand von Schillers eigenen Äußerungen vor allem in seinen Briefen (II). In einem dritten Teil werde ich Schillers Essay Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen im Hinblick auf die darin vorgestellten Darstellungsweisen wissenschaftlicher, populärer und schöner Erkenntnis analysieren (III). Abschließend werde ich Defizite und Verdienste des Dilettantismus in der Philosophie am Beispiel Schillers diskutieren (IV).
Eine interessante Parallele zur Diskussion um Schillers philosophischen Status findet sich in einer Schrift, die Mendelssohn und Lessing 1755 gemeinsam verfaßten: Pope, ein Metaphysiker?, heißt ihr satirischer Titel. Die Berliner Akademie der Wissenschaften hatte eine Untersuchung des "Popischen Systems, welches in dem Satze: alles ist gut enthalten ist" gefordert[14]; und Mendelssohn/Lessing machen sich nun daran, zuerst gut aufklärerisch und philosophisch korrekt die Fragestellung selbst zu konkretisieren und die ihr zugrundeliegenden Begriffe zu klären. Es gehe im wesentlichen darum, ob ein Dichter ein System haben könne, genauer: ob systematische Metaphysik – als strengste vorstellbare Form der Philosophie – mit dem Konzept eines Gedichts als "vollkommene sinnliche Rede"[15] vereinbar sei. Die Antwort ist ein eindeutiges und energisches "Nein"; sie wird mit einer Reihe methodischer und formaler Argumente untermauert. So basiere die Philosophie auf eindeutigen begrifflichen Definitionen; die Dichtung hingegen sei auf semantische Abwechslung und akustischen Wohlklang aus.[16] In der Philosophie sei der Gebrauch von Figuren verboten; die Dichtung hingegen lebe von deren Vieldeutigkeit und Unschärfe.[17] Die logisch folgerechte Ordnung der Schlüsse sei die Grundlage einer jeden Metaphysik; im Gedicht jedoch lasse sich die freie Begeisterung des Künstlers in kein Schema pressen.[18] Schließlich seien im System alle Aussagen auf Wahrheit verpflichtet.[19] Im Gedicht hingegen gehe es um die Überzeugung, weshalb sich die Dichter hemmungslos in den unterschiedlichsten und unvereinbarsten philosophischen Systemen bedienten und "mit dem Epikur" sprächen, wo sie die Wollust verherrlichen wollten, und "mit der Stoa", wenn sie die Tugend priesen.[20] Zusammenfassend halten Mendelssohn/Lessing – bezeichnenderweise in einem Bild – fest:
Der Philosoph, welcher auf den Parnaß hinaufsteiget, und der Dichter, welcher sich in die Täler der ernsthaften und ruhigen Weisheit hinabbegeben will, treffen einander gleich auf dem halben Wege, wo sie, so zu reden, ihre Kleidung verwechseln, und wieder zurückgehen. Jeder bringt des andern Gestalt in seine Wohnungen mit sich; weiter aber auch nichts, als die Gestalt. Der Dichter ist ein philosophischer Dichter, und der Weltweise ein poetischer Weltweise geworden. Allein ein philosophischer Dichter ist darum noch kein Philosoph, und ein poetischer Weltweise ist darum noch kein Poet.[21]
Das klingt verdächtig konsensfähig: "Ein philosophischer Dichter ist darum noch kein Philosoph", und schreibe er noch so grundlegende Abhandlungen und noch so gedankenschwere Gedichte. Es sollte jedoch festgehalten werden, daß Mendelssohn und Lessing mit dem Systemphilosophen und Metaphysiker einen Idealtypus zeichnen. Legt man eine andere Definition des Philosophen zugrunde, verschwimmen die soeben säuberlich gezogenen Grenzen wieder. So könnte man beispielsweise vermuten, daß der rationalistische Systemphilosoph bereits im späten 18. Jahrhundert eine ziemlich deutsche und noch dazu im Aussterben begriffene Spezies war – und deshalb die Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des arts et métiers, par une société de gens de lettres hinzuziehen. Denis Diderot selbst versucht in einem entsprechenden Artikel darzutun, was ein "Philosoph" eigentlich ist.[22] Dabei kommt er zunächst auf die üblichen Verdächtigen – Philosophen seien Leute, die nach Prinzipien denken und handeln, die sich an der Vernunft und nicht an der Leidenschaft orientieren.[23] Sie seien jedoch keine abgeklärten Weisen nach stoischem Muster und auch keine "systematischen Geister", die unbeirrbar an ihren einmal aufgestellten "Weltsystemen"[24] festhielten. Vielmehr sind sie verpflichtet, ihre Erkenntnisse in Anbetracht neuer Erfahrungen und Beobachtungen ständig zu reformulieren; sie gelten wegen ihrer aus Prinzipien resultierenden "Rechtschaffenheit"[25] als moralische Vorbilder und werden auf gesellschaftliche Nützlichkeit verpflichtet. Die aus alldem abgeleitete Definition Diderots lautet schließlich:
Der Philosoph ist also ein rechtschaffener Mensch, der in allen Dingen vernünftig handelt und der mit seinem nachdenkenden und richtig urteilenden Geist gute Sitten und gesellige Eigenschaften verbindet.[26]
Damit haben wir uns schon eine gute Strecke vom metaphysischen Schulphilosophen entfernt und uns einer gleichwohl anspruchsvollen Philosophie fürs Leben angenähert. Darüber hinaus findet sich jedoch in der Encyclopédie noch ein eigenes Kapitel über den esprit philosophique, den philosophischen Geist. Bei diesem handele es sich um ein "Geschenk der Natur, das durch die Arbeit, die Kunst und die Übung vervollkommnet ist, damit alle Dinge vernünftig beurteilt werden können"[27];
er ist der Maßstab für das Wahre und das Schöne. In den verschiedenen Werken, die aus der Hand der Menschen hervorgehen, ist nur das schätzenswert, was von ihm beseelt ist. Von ihm hängt insbesondere der Ruhm der schönen Wissenschaften ab.[28]
Eine ähnliche Begriffsdefinition findet sich auch in den wirkungsmächtigen Philosophischen Aphorismen (1793) von Ernst Platner. Platner unterscheidet dort den "philosophischen Geist", der "gereizt durch eine innere Unruhe der Seele und angetrieben durch ein dunkel gefühltes Interesse"[29] sozusagen von seiner Natur zur Reflexion angehalten wird, vom "philosophischen Kopf", der auch alle dazu nötigen Fähigkeiten hat. Von beiden existieren aber auch Negativformen: Wer "philosophischen Geist" ohne den dazu nötigen "Kopf" hat, ist kein Philosoph, sondern mit einem verbreiteten Terminus der Zeit ein "Schwärmer".[30] Hingegen ist ein "philosophischer Kopf" ohne den nötigen "Geist" ein "philosophischer Komödiant"[31], der den philosophischen Geist nur simulieren kann, oder – und das ist besonders bemerkenswert – ein "philosophischer Gelehrter", der kein wahres existentielles Interesse an philosophischen Fragen hat, sondern nur ein historisches.[32]
Ich denke, der esprit philosophique in der Encyclopédie bzw. der "philosophische Geist" Platners sind mögliche positive Bestimmungen des philosophischen Dilettantismus im 18. Jahrhundert. Dieser ist eine Begabung, ein Naturtalent, das jedoch trainiert werden muß; er wirkt belebend auf alle Schöpfungen des Menschen. Wird der "philosophische Geist" hinreichend ausgebildet und geübt, kann es sein Träger zu einer Art nobilitiertem philosophischem Dilettantismus bringen. Dieser kann auch auf die Fachphilosophie zumindestens anregend wirken und zudem deren extreme Auswüchse in Form des Systemwahns oder der haltlosen metaphysischen Abstraktion durch seinen Praxisbezug korrigieren; er ist besonders wichtig im Bereich der "schönen Wissenschaften".
II.
Ein unmittelbarer Verwandter eines solchen "philosophischen Geistes" findet sich auch in Schillers Antrittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (1789): Dort unterscheidet Schiller zwischen dem "Brodgelehrten" und dem "philosophischen Kopf" in den Wissenschaften. Ersterer ist offensichtlich der (damalige?) akademische Normalfall des Gedächtnisgelehrten und Polyhistors, der nur auf wissenschaftlichen Ruhm und ökonomische Vorteile aus ist und unkooperativ auf seinem engen Fachgebiet vor sich hin forscht.[33] Letzterer, der philosophische Kopf hingegen, ist ständig bestrebt, sein Wissen zu erweitern und es auch für andere Wissensgebiete anschließbar zu machen. Er plädiert deshalb für ein notwendig interdisziplinäres Vorgehen: "denn nur der abstrahierende Verstand hat jene Grenzen gemacht, hat jene Wissenschaften von einander geschieden".[34] Schulmeinungen und Dogmen steht er feindlich gegenüber:
Durch immer neue und immer schönere Gedanken-Formen schreitet der philosophische Geist zu höherer Vortreflichkeit fort, wenn der Brodgelehrte, in ewigem Geistesstillstand, das unfruchtbare Einerley seiner Schulbegriffe hütet.[35]
Es geht also Schiller bereits hier um eine fruchtbare Form des Denkens, das sich nicht in sich selbst verschließt; es geht ihm um die Beziehung zur einen und ungeteilten Lebenswirklichkeit; und es geht ihm schließlich um eine bestimmte philosophische Methode: „Nicht was er treibt, sondern wie er das, was er treibt, behandelt, unterscheidet den philosophischen Geist“.[36]
Die eigene philosophische Betätigung im engeren Sinn[37] nimmt Schiller mit den Kant-Studien[38] und der Abfassung der großen Essays zur Ästhetik in den 90er Jahren auf.[39] Zwar betreibt er das Kant-Studium autodidaktisch, aber nichtsdestotrotz gründlich; bis zur Schließung seiner "philosophischen Bude" im Jahr 1795 stellt er die poetische Produktion ein und konzentriert sich ganz auf die philosophische Theorie. In mehreren Briefen an seinen Mäzen, den dänischen Prinzen von Augustenburg, reflektiert Schiller zwischen Februar und Dezember 1793 ausführlich Motivation, Intention, Methode und Form seiner philosophischen Betätigung.[40] Den biographischen Ausgangspunkt bildet seine seit der schweren Erkrankung im Januar 1791 immer noch zerrüttete Gesundheit; zur eigentlich poetischen Produktion fühlt er sich unfähig: "Mein jetziges Unvermögen die Kunst selbst auszuüben, wozu ein frischer und freier Geist gehört, hat mir eine günstige Musse verschaft, über ihre Principien nachzudencken"[41], heißt es im ersten Brief vom 9. Februar. Dazu komme die allgemeine "Revolution in der philosophischen Welt"[42], die die Kantische Philosophie ausgelöst habe und die auch die Ästhetik bedrohlich "erschüttert" habe.[43] Zu deren "Ritter" fühlt sich Schiller nun berufen:
Für jetzt zwar kann ich bloß einige flüchtige Ideen dazu liefern, weil mein Beruf zum Philosophiren noch sehr unentschieden ist, aber ich werde suchen, ihn mir zu geben. Zu Gründung einer Kunsttheorie ist es, däucht mir, nicht hinreichend, Philosoph zu seyn; man muß die Kunst selbst ausgeübt haben, und dieß, glaube ich, giebt mir einige Vortheile über diejenigen, die mir an philosophischer Einsicht ohne Zweifel überlegen seyn werden. Eine ziemlich lange Ausübung der Kunst hat mir Gelegenheit verschaft der Natur in mir selbst bey denjenigen Operationen, die nicht aus Büchern zu erlernen sind, zuzusehen. Ich habe mehr, als irgend ein anderer meiner Kunstbrüder in Deutschland durch Fehler gelernt und dieß, däucht mir, führt mehr als der sichere Gang eines nie irrenden Genies zur deutlichen Einsicht in das Heiligthum der Kunst.[44]
Schiller formuliert hier, mit aller Vorsicht und Zurückhaltung, eine Art Kant-Kritik: Die Philosophie der Kunst könne am besten von Künstlern selbst betrieben werden, und zwar speziell von solchen, die eine lange praktische Erfahrung mit einer Neigung zur Selbstreflexion und Selbstbeobachtung verbinden – "philosophischen Geistern" in der Kunst also. Damit verbunden ist zugleich ein bestimmtes Bild der Kunst selbst: Sie läßt sich – zumindestens nicht vollständig – aus "Büchern" lernen, sondern wirkt unmittelbar nach Regeln der Natur im Künstler. Im "Genie" ist diese unmittelbare Gewißheit so stark, daß es niemals zu "Kunstfehlern" kommt; für sich jedoch nimmt Schiller in Anspruch, daß er sogar mehr als seine "Kunstbrüder" erst durch Irrtum klug geworden sei.[45] Gerade die durch diese Fehler ausgelöste Reflexion bildet jetzt jedoch sozusagen den Materialfundus einer praxisnahen ästhetischen Theorie, der eben nur dem zur Verfügung steht, der sich selbst als Irrender und Lernender in der Kunst versucht hat.
Zu dieser eigenen Erfahrung kommen in einem zweiten Schritt die durch die Lektüre der Kantischen Schriften gewonnenen Einsichten hinzu, die es erst ermöglichen, das bereitliegende Material zu einer konsistenten ästhetischen Theorie zu verarbeiten. Schiller schreibt im gleichen Brief:
In der That würde ich nie den Muth dazu [zu einer neuen Kunsttheorie] gehabt haben, wenn nicht Kants Philosophie selbst mir die Mittel dazu verschafte. Diese fruchtbare Philosophie, die sich so oft nachsagen lassen muß, daß sie nur immer einreisse und nichts aufbaue giebt, nach meiner gegenwärtigen Ueberzeugung, die festen Grundsteine her, auch ein System der Aesthetik zu errichten.[46]
Schiller formuliert seine eigene Kunsttheorie also in Auseinandersetzung mit dem wichtigsten Philosophen seiner Zeit; zudem ist die Lektüre einer Vielzahl weiterer Schriften zur Ästhetik nachgewiesen.[47] Insofern ist der Ansatz durchaus professionell zu nennen. Bezüglich seiner philosophischen Methode verweist Schiller vor allem auf sein Autodidaktentum, aber auch auf seine mangelnde Übung und Ausbildung im schulgemäßen Gebrauch der philosophischen Instrumente:
Viel zu wenig bekannt mit dem Gebrauche schulgerechter Formen um durch Misbrauch derselben mich zu versündigen, werde ich vor der Gefahr wenigstens sicher seyn, Ihre Geduld methodisch zu ermüden. Meine Philosophie wird ihren Ursprung nicht verläugnen, und, wenn sie ja verunglücken sollte, eher in den Untiefen und in den Strudeln der poetisierenden Einbildungskraft untersinken, als an den kahlen Sandbänkchen trockner Abstraktionen scheitern. Eine Frucht meines eigenen Nachdenkens, und aus meinem beschränckten Erfahrungskreis geschöpft, wird sie sich vielmehr jedes andern Fehlers, als der Sektiererey schuldig machen, und eher aus eigner Gebrechlichkeit fallen, als durch Autorität und fremde Hülfe sich aufrecht erhalten.[48]
Schiller ist sich also durchaus der Schranken seines dilettantischen Vorhabens bewußt. Diese werden jedoch gleichzeitig zum Vorteil gewendet: Die Berufung auf die eigene praktische Erfahrung impliziert gleichzeitig eine notwendige Korrekturinstanz, die vor allzu abstrakten und wirklichkeitsfernen Konstruktionen schützt. In diesem Zusammenhang äußert sich Schiller unverhüllt ablehnend über den professionellen Systemphilosophen:
unsere mehresten Gelehrten besonders sind so ängstlich in ihre Systeme eingeschnallt, daß eine etwas ungewohnte Vorstellungsart ihre mit dreyfach Erzt umpanzerte Brust nicht durchdringen kann. Wenige sind es, in denen das zarte Schönheitsgefühl durch Abstraktion nicht erstickt wird, und noch weit wenigere halten es der Mühe wert, über ihre Empfindungen zu philosophieren.[49]
Damit kritisiert Schiller jedoch nicht das strenge methodische Vorgehen schlechthin: Es sei vielmehr selbstverständlich, daß "philosophische Wahrheiten" in einer anderen Form "gefunden" werden, als derjenigen, in der sie dann "angewandt und verbreitet" werden.[50] Auch dies ist eine Erfahrung, die er bei der Kant-Lektüre und der anschließenden Verarbeitung selbst gemacht hat. In einem Brief an Goethe vom 16. Oktober 1795 resümiert er zum Ende seiner philosophischen Tätigkeit, er habe zwar einen "sauren Weg" eingeschlagen, aber im nachhinein habe sich dieser als der richtige erwiesen:
Soviel habe ich nun aus gewißer Erfahrung, daß nur strenge Bestimmtheit der Gedanken zu einer Leichtigkeit verhilft. Sonst glaubte ich das Gegentheil und fürchtete Härte und Steifigkeit.[51]
"Strenge Bestimmtheit der Gedanken" ist natürlich eine Begründungsformel für philosophisches Vorgehen schlechthin. Aber bezeichnenderweise wendet Schiller diese Formel sogleich in ein Paradox: Gerade aus der gedanklichen Disziplinierung sei ihm letztendlich ein umso freierer, "leichter" Umgang mit der Theorie erwachsen. Das heißt: Auch die philosophische Erkenntnis selbst unterliegt einem Entwicklungsprozeß. In Über die ästhetische Erziehung des Menschen führt Schiller eine Art Naturgeschichte der philosophischen Erkenntnis aus, die ganz klar die triadische Struktur aufweist, die all seinen ästhetischen Schriften zugrundeliegt:
Die Natur (der Sinn) vereinigt überall, der Verstand scheidet überall, aber die Vernunft vereinigt wieder; daher ist der Mensch, ehe er anfängt zu philosophieren, der Wahrheit näher als der Philosoph, der seine Untersuchung noch nicht geendigt hat. Man kann deswegen ohne alle weitere Prüfung ein Philosophem für irrig erklären, sobald dasselbe, dem Resultat nach, die gemeine Empfindung gegen sich hat; mit demselben Rechte aber kann man es für verdächtig halten, wenn es, der Form und Methode nach, die gemeine Empfindung auf seiner Seite hat. Mit dem letztern mag sich ein jeder Schriftsteller trösten, der eine philosophische Deduction nicht, wie manche Leser zu erwarten scheinen, wie eine Unterhaltung am Kaminfeuer vortragen kann. Mit dem erstern mag man jeden zum Stillschweigen bringen, der auf Kosten des Menschenverstandes neue Systeme gründen will.[52]
Ich will kurz die nicht ganz einfache Argumentation rekonstruieren. Alle Philosophie geht aus auf Wahrheit. Diese Wahrheit empfindet der Mensch anfangs von Natur aus unmittelbar und unfehlbar. Entfernt er sich von diesem naiven Urzustand, so muß er Philosoph werden; sein ursprüngliches Wissen ist ihm nur noch über die Mühen der Reflexion und unter Risiko des Irrtums zugänglich. Die Vernunft jedoch soll im dritten Stadium anschauliches und reflexives Wahrheitswissen wieder vereinen. Deshalb, und nun kommt das Originelle an dem Gedanken, sind alle philosophischen Zwischenergebnisse falsch, wenn sie dem unverdorbenen "Menschenverstand" und der "gemeinen Empfindung" nicht einleuchten. Auf der anderen Seite ist jedoch nicht zu erwarten, daß die philosophische "Methode" dem Alltagssinn zugänglich ist; "philosophische Deduktionen" haben notwendig eine andere Form als "Unterhaltungen am Kaminfeuer". Eine philosophische Theorie darf also methodisch anspruchsvoll gewonnen sein, sie muß jedoch im Ergebnis dem gesunden Menschenverstand vermittelbar sein; und ihre Darstellung darf nicht beliebig unterkomplex werden, sondern muß ebenfalls ein gewisses Niveau halten.
III.
Gerade dieses Darstellungsproblem ist es nun, dem Schiller sich mit besonderer Intensität widmet. Bereits in den Augustenburger Briefen unterschied er explizit zwischen der angemessenen Darstellung in dogmatischen philosophischen Schriften, welche an ein Fachpublikum gerichtet seien und deshalb "der strengen Prüfung ausdrücklich hingegeben werden und Ueberzeugungen bewirken sollten"[53]: Bei diesen sei eine ästhetisch allzu ansprechende Form geradezu kontraproduktiv.[54] Wer sich hingegen an die Allgemeinheit richte und auf möglichst breite Wirkung aus sei, tue besser daran, seine Darstellung so zu formulieren, daß der Leser weder gelangweilt noch überfordert werde, sondern seine eigene Phantasie und seinen eigenen Verstand in angemessener Weise benutzen müsse.[55] Diese Vermittlungsüberlegung bestimmt explizit Schillers gleichzeitiges Horen-Projekt, das sich den Austausch zwischen akademischer Gelehrsamkeit und schöner Gesellschaft auf die Fahnen geschrieben hat. In der Ankündigung der Horen heißt es, unter Verwendung des gleichen Vokabulars und mit der gleichen typischen Verkreuzungsfigur :
So weit es tunlich ist, wird man die Resultate der Wissenschaft von ihrer scholastischen Form zu befreien und in einer reizenden, wenigstens einfachen, Hülle dem Gemeinsinn verständlich zu machen suchen. Zugleich aber wird man auf dem Schauplatze der Erfahrung nach neuen Erwerbungen für die Wissenschaft ausgehen und da nach Gesetzen forschen, wo bloß der Zufall zu spielen und die Willkür zu herrschen scheint. Auf diese Art glaubt man zu Aufhebung der Scheidewand beizutragen, welche die schöne Welt von der gelehrten zum Nachteile beider trennt, gründliche Kenntnisse in das gesellschaftliche Leben, und Geschmack in die Wissenschaft einzuführen.[56]
Welche Darstellungsform empfiehlt sich aber für die Vermittlung philosophischer Erkenntnisse an die "schöne Welt", sofern sie nicht "Unterhaltungen am Kaminfeuer" sein sollen? Dieses Thema steht nun ganz im Vordergrund der Schrift Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen, die Schiller im Oktober 1793 verfaßt hat[57] und die Überlegungen aus dem gleichzeitigen Augustenburger Briefwechsel aufnimmt und weiterführt. Gleich zu Beginn der Abhandlung beantwortet Schiller die im Titel gestellte Frage nach den "Grenzen" beim "Gebrauch schöner Formen": Diese würden exakt durch die Reichweite des Geschmacks in Fragen der Erkenntnis bezeichnet. Dessen allgemeinste Aufgabe sei es, "die sinnlichen und geistigen Kräfte des Menschen in Harmonie zu bringen, und in einem innigen Bündniß zu vereinigen".[58] Als rein formales Totalitätskonzept verhelfe er zu keiner Art positiven Wissens, sondern diene ausschließlich dazu, den Geist in eine der Erkenntnis "günstige Stimmung"[59] zu versetzen.
Eine günstige Stimmung – was ist damit denn bitte gewonnen, mag der Zeitgenosse des 21. Jahrhunderts, der weniger an weiche Stimmungsfaktoren denn an harte Objektivitätsfaktoren in der Wissenschaft glaubt, an dieser Stelle skeptisch fragen? Bevor ich diese berechtigte Frage beantworten kann, muß ich zunächst näher auf Schillers an dieser Stelle entwickelte, antithetische Unterscheidung der wissenschaftlichen Erkenntnis von der populären Erkenntnis eingehen. Schiller behauptet – und das ist die Voraussetzung der ganzen Argumentation –, daß dort, wo es um die Erkenntnis von Prinzipien geht, die Frage nach deren Wahrheit nicht allein vom Inhalt aus zu beantworten sei: Vielmehr müsse "die Probe der Wahrheit [...] in der Form des Vortrags zugleich mit enthalten sein".[60] Insofern erfordere die Mitteilung wissenschaftlicher Erkenntnis auch eine angemessene wissenschaftliche Schreibart, allein schon, um die intersubjektive Nachprüfbarkeit der Resultate zu gewährleisten. Deren wichtigste Merkmale sind, kurz zusammengefaßt: Sie gibt Beweise für ihre Behauptungen; sie entwickelt ihre Argumente in einer logisch nachvollziehbaren Reihenfolge: "die Stätigkeit in der Darstellung muß der Stätigkeit in der Idee entsprechen".[61] Ihr Vorgehen ist analytisch,[62] ihr Geltungsanspruch ist der einer notwendigen Wahrheit. Ihr Zielpublikum schließlich bildet die Gelehrtenwelt; sie taugt für den "Lehrstuhl".[63]
Die populäre Schreibart hingegen ist, wie zu erwarten, das genaue Gegenteil. Sie gibt keine Beweise, sondern nur Ergebnisse; sie arbeitet nicht mit Argumenten, sondern mit Anschauungen; diese folgen nicht aufeinander nach dem Gesetz der Stetigkeit, sondern nach der Willkür der Phantasie.[64] Sie ist nicht gezwungen, die Phänomene analytisch zu zerlegen, sondern kann deren Ganzheit erhalten; es ist jedoch nur die Ganzheit eines Einzelfalls. Ihr Geltungsanspruch geht nicht auf notwendige, sondern auf empirische Erkenntnis der Realität. Sie richtet sich an das aufgeklärte Publikum insgesamt, dessen Interesse an wissenschaftlichen Themen erst geweckt werden muß; dies geschieht am besten durch die Art der Darstellung. Die populäre Schreibweise taugt deshalb für die "Rednerbühne".[65]
Nachdem Schiller also zuerst die Grenzsteine sozusagen noch festgeklopft hat, die die "gelehrte Welt" von der "schönen Welt" trennen, macht er sich nun daran, sie wieder einzureißen, indem er den "Punkt der Vereinigung" sucht; "und diesen auszufinden, ist das eigentliche Verdienst der schönen Schreibart".[66] Schiller macht diese Vereinigung dadurch anschaulich, indem er sie bildhaft auf das Körper-Seele-Problem bezieht. Der körperliche Teil der "schönen Schreibart" besteht aus anschaulichen Vorstellungen, die den begrifflichen Abstraktionen zugrunde liegen. Diese erscheinen im schönen Vortrag willkürlich verbunden und bilden damit die "ganze Unordnung einer spielenden und bloß sich selbst gehorchenden Einbildungskraft"[67] ab; im Reich der Phantasie herrscht Freiheit. Der geistige Teil der "schönen Schreibart" besteht aus den diesen Anschauungen korrespondierenden Begriffen, die untergründig in einem genauen logischen Zusammenhang stehen und damit den Ansprüchen des Verstandes Genüge tun; im Gebiet des Geistes herrscht Notwendigkeit. Kurz: "Die Begriffe entwickeln sich nach dem Gesetz der Nothwendigkeit, aber nach dem Gesetz der Freyheit gehen sie an der Einbildungskraft vorüber; der Gedanke bleibt derselbe, nur wechselt das Medium, das ihn darstellt".[68] Nur die "schöne Schreibart", so schließt sich die Argumentation an dieser Stelle, ist deshalb geeignet, den "ganzen Menschen"[69] in der Totalität seiner Vermögen anzusprechen:
Ein solches Produkt wird dem Verstand vollkommen Genüge thun, sobald es studiert wird, aber eben weil es wahrhaft schön ist, so dringt es seine Gesetzmäßigkeit nicht auf, so wendet es sich nicht an den Verstand insbesondre, sondern spricht als reine Einheit zu dem harmonirenden Ganzen des Menschen, als Natur zur Natur.[70]
Dabei entsteht schließlich auch eine eigene Form des Geltungsanspruchs: Die in der schönen Schreibart dargestellten Erkenntnisse sind weder "notwendige" noch "wirkliche" Wahrheiten, sondern zeigen einen Sachverhalt als "möglich" und "wünschenswürdig".[71] Mit dem Terminus des "Möglichen" kommt darüber hinaus nun das Gebiet der Literatur ins Spiel. Denn der Platz für die schöne Schreibart ist weder die akademische Schule noch die gesellige "Konversazion"[72], sondern das Werk des "darstellenden Schriftstellers".[73] Der zentrale Aspekt an dessen "Darstellung" ist dabei offensichtlich ihr Verlebendigungspotential. Schiller resümiert:
Gewiß muß man einer Wahrheit schon in hohem Grad mächtig seyn, um ohne Gefahr die Form verlassen zu können, in der sie gefunden wurde [...]. Wer mir seine Kenntnisse in schulgerechter Form überliefert, der überzeugt mich zwar, daß er sie richtig faßte, und zu behaupten weiß; wer aber zugleich im Stande ist, sie in einer schönen Form mitzutheilen, der beweist nicht nur, daß er dazu gemacht ist, sie zu erweitern, er beweist auch, daß er sie in seine Natur aufgenommen und in seinen Handlungen darzustellen fähig ist. Es giebt für die Resultate des Denkens keinen andern Weg zu dem Willen und in das Leben, als durch die selbstthätige Bildungskraft. Nichts als was in uns selbst schon lebendige That ist, kann es außer uns werden.[74]
Letztlich formuliert Schiller hier, was auch die moderne Lernforschung inzwischen bestätigt: Lebendiges Lernen beruht darauf, daß Sachverhalte nicht nur abstrakt verstanden und memoriert, sondern in konkrete und persönliche Erfahrung umgesetzt werden können; nur das, was umfassend geistig, emotional und kreativ erlebt wurde, hinterläßt wirklich bleibende Spuren in der neuronalen Architektur des Gehirns.[75] Genau diesem Zweck dient letztlich die der Erkenntnis "günstige Stimmung",[76] auf die Schiller nun zurückkommt: Sie schafft ein anregendes Lern- und Erkenntnismilieu, in dem Begriffe und Theorien produktiv aufgenommen und selbständig weiterentwickelt werden können. Deren Herleitung und Beweis jedoch gehört nicht in das Herrschaftsgebiet des Geschmacks:
Er soll nie vergessen, daß er einen fremden Auftrag ausrichtet und nicht seine eignen Geschäfte führt. Sein ganzer Antheil soll darauf eingeschränkt seyn, das Gemüth in eine der Erkenntniß günstige Stimmung zu versetzen; aber in allem dem, was die Sache betrift, soll er sich durchaus keiner Autorität anmaßen.[77]
Bezeichnenderweise kommt Schiller an dieser Stelle nun explizit auf die Dilettantismus-Problematik zu sprechen: Das "Wahre" – der Philosophie - erschließe sich nämlich im Unterschied zum "Schönen" – der Kunst – nur durch "Studium".[78] Allerdings absolviere das nun gerade nicht davon, sich den Dingen der "schönen Kultur"[79] mit "Anstrengung und Ernst" zu widmen. Eine rein passive, "superficielle Betrachtung"[80] nütze nämlich niemals und niemanden; vielmehr gelte auf allen Gebieten:
Wer etwas großes leisten will, muß tief eindringen, scharf unterscheiden, vielseitig verbinden, und standhaft beharren. [...] Hat ihn hingegen die Natur bloß zum Dilettanten gestempelt, so erkältet die Schwierigkeit seinen kraftlosen Eifer.[81]
Zwar bleibt auch hier die Dilettantismus-Diskussion vor allem auf den Künstler bezogen. Dieser kann jedoch, will er wirklich große Werke schaffen, nicht darauf verzichten, "in den tiefen Schacht der Wissenschaft und Erfahrung" hinunterzusteigen, "wo, jedem Ungeweihten verborgen, der Quell aller wahren Schönheit entspringt".[82] Ohne Studium, sowohl der eigenen handwerklichen Mittel wie auch der wissenschaftlichen und philosophischen Grundlagen aller Erscheinungen, bleibt er ein "bloßer Liebhaber".[83]
Wenn man diese Definition des Dilettanten nun, mit der gebotenen Vorsicht, auf das Gebiet der Philosophie ausdehnt: Ist Schiller dann ein "bloßer Liebhaber", sprich: ein philosophischer Dilettant im abwertenden Sinn gewesen? Zweifellos ist er in Kants Ästhetik tief eingedrungen, hat scharf unterschieden, mehr noch vielseitig verbunden und relativ standhaft beharrt; von "kraftlosem Eifer" kann mit Sicherheit hier nicht die Rede sein. Vielmehr hat ihn das Kant-Studium, so schwer vorstellbar manchem das auch erscheinen mag, tatsächlich in eine höchst produktive Stimmung versetzt. Das positive Prädikat des "philosophischen Kopfes" oder des Diderot'schen esprit philosophique – verstanden im anfangs dargestellten Sinn als eine Art durch Training nobilitierter philosophischer Dilettant – hätten ihm dabei auch die strengeren unter seinen Zeitgenossen auf jeden Fall zugestanden. Als solcher hat er seine Vorzüge vor allem im unmittelbar praxisbezogenen Impuls seines Denkens und dessen sprachlicher Vermittlung, nicht so sehr hingegen in der methodischen Strenge und Beweiskraft, der scharfen Begriffsdefinition oder der systematischen Konsistenz. Daß auch dies jedoch wesentliche Elemente auch einer professionell betriebenen Philosophie sein können, haben spätere Philosophen außerhalb der akademischen Schulen immer wieder bewiesen.
Schiller hat darüber hinaus darauf aufmerksam gemacht, daß die Art der Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnis an zwei Stellen von kultureller und gesellschaftlicher Bedeutung ist. Sie muß zum ersten bei einem abstrakten Problemen generell eher abgeneigten Publikum erst einmal überhaupt Interesse für die Auseinandersetzung mit philosophischen Themen wecken; und sie muß dafür Zugeständnisse an die Aufnahmebereitschaft und -fähigkeit dieses Publikums machen.[84] Sie soll zum zweiten gewährleisten, daß wissenschaftliche Erkenntnisse nicht nur abstrakt verstanden, sondern in konkrete gesellschaftliche Praxis umgesetzt werden können – bzw., im Falle der Schillerschen Ästhetik, in eine entsprechende ästhetische Praxis sowohl der Hervorbringung wie auch der Rezeption von Kunstwerken. Insofern ist der "philosophische Kopf" als Erscheinungsform eines nicht naiven, sondern elaborierten Dilettantismus eine wichtige Vermittlerfigur zwischen dem harten systemphilosophischen Fachdiskurs, seinen abstrakten Theorien und seinen methodischen Konventionen auf der einen Seite und dem aufklärerischen Diskurs der gebildeten Laien mit seinem Interesse an lebenspraktischer Verwendung von Wissen und seiner Neigung zu eher unterhaltsamen Darstellungsformen auf der anderen Seite.[85] Wichtig ist dabei, daß er nicht mit einem einfachen Popularisierungsdiskurs verwechselt werden darf, in dem die Erkenntnisse der Wissenschaften und der Philosophie für ein unbedarftes Publikum reduktionistisch verkürzt und didaktisch aufbereitet werden. Vielmehr soll die "schöne Schreibart" gewährleisten, daß es zu einer lebendigen Aufnahme, Anwendung und Weiterentwicklung philosophischer Gedanken beim Hörer kommt. Letztlich steht der philosophische Dilettant so bereits im Dienst des kulturphilosophischen Erziehungsprogramms, das die Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen dann wenig später ausformulieren werden und das Schiller in Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen aufs engste mit dem Vermittlungsproblem verknüpft:
Wenn man überlegt, wie viele Wahrheiten als innere Anschauungen längst schon lebendig wirkten, ehe die Philosophie sie demonstrirte, und wie kraftlos öfters die demonstrirtesten Wahrheiten für das Gefühl und den Willen bleiben, so erkennt man, wie wichtig es für das praktische Leben ist, diesen Wink der Natur zu befolgen, und die Erkenntnisse der Wissenschaft wieder in lebendige Anschauung umzuwandeln. Nur auf diese Art ist man im Stande, an den Schätzen der Weisheit auch diejenigen Antheil nehmen zu lassen, denen schon ihre Natur untersagte, den unnatürlichen Weg der Wissenschaft zu wandeln.[86]
[1] Frederick Beiser: Schiller as Philosopher. A Re-Examination, Oxford 2005, hier: S. 2.
[2] "Compared to the torrent of work on Kant, or any of the German idealistis, the output on Schiller amounts to a trickle" (Beiser, S. 7).
[3] Hingegen sei die Anerkennung von Schillers Verdiensten bei seinen Zeitgenossen bis hin zu berühmten Vertretern des Neukantianismus noch völlig unproblematisch gewesen (vgl. Beiser, S. 8). Nur zwei Beispiele mögen das illustrieren. So rühmt Ernst Cassirer die "belebende Kraft", die Schillers ästhetische Schriften besonders durch ihren dialogischen Charakter auf die "Entwicklung der deutschen Philosophie" ausübten (vgl. Ernst Cassirer: Die Methodik des Idealismus in Schillers philosophischen Schriften, in: Ders.: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 9: Aufsätze und kleine Schriften (1902-1921), hg. von Marcel Simon, Hamburg 2001, S. 343). Und Wilhelm von Humboldt würdigt Schillers philosophische Verdienste sowie auch explizit seinen Begriffsgebrauch in Ueber Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung mit folgenden Worten: "Aber über den Begriff der Schönheit, über das Aesthetische im Schaffen und Handeln, also über die Grundlagen aller Kunst, so wie über die Kunst selbst enthalten diese Arbeiten alles Wesentliche auf eine Weise, über die es niemals möglich seyn wird hinauszugehen. In diesem ganzen Gebiet dürfte schwerlich eine Frage vorkommen, deren richtige Beantwortung sich nicht würde bis zu den in diesen Abhandlungen aufgestellten Principien hinaufführen lassen. Dies liegt nicht bloss in der scharfen Absonderung und Begränzung der Begriffe, sondern fliesst bei weitem mehr aus dem viel seltneren Verdienst, alle in ihrem ganzen Umfange, ihrem vollen Gehalte, schon mit der Ahndung aller aus ihnen hervorgehenden Folgerungen hingestellt zu haben" (Wilhelm von Humboldt: "Ueber Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung", in: Ders.: Werke in fünf Bänden, Bd. II: Schriften zur Altertumskunde und Ästhetik, hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Berlin 1961, S. 367f.).
[4] Beiser, S. 8. Beiser sieht das gleiche Problem im übrigen auch in der anderen Richtung gegeben: Für das Verständnis von Schiller als Philosoph sei ebenso die Einbeziehung seiner poetischen Texte unentbehrlich: "If philosophy should come from the experience from life itself, then the best philosophy derives from those media that are closest to that experience: poetry and drama" (S. 10). Seine Monographie behandelt dementsprechend sowohl Schillers Essays zu allgemeinen ästhetischen Fragen wie auch seine Tragödientheorie.
[5] Vgl. zur Rezeptionsgeschichte und Wirkung der Schillerschen Ästhetik auch: Gert Schröter: Schillers Theorie ästhetischer Bildung zwischen neukantianischer Vereinnahmung und ideologiekritischer Verurteilung, Frankfurt a.M. u.a. 1998.
[6] Beiser, S. 8.
[7] Ebd. Vgl. zu Schillers philosophischer Methode und Darstellungsweise auch Klaus Berghahn: Schillers philosophischer Stil, in: Schiller-Handbuch, hg. von Helmut Koopmann, Stuttgart 1998, S. 288-301.
[8] Beiser, S. 8f.
[9] Daß es gerade der enge Bezug der Schillerschen Ästhetik auf Kant war, der ihr letztlich zum Verhängnis wurde, hat bereits Wolfgang Riedel bündig dargelegt: "Wo immer in der Schillerforschung Kant zum Maß aller Theorie erhoben wurde, kam es entweder zu angestrengten Apologien, die Schiller als Kantianer philosophisch zu legitimieren suchten, oder zu indignierten Zurückweisungen solchen Bestrebens, die Schiller als Defizitär-Kantianer ins zweite philosophische Glied zurückstellten. Eines so unfruchtbar wie das andere, verfehlte ersteres Quellen und Grund, letzteres Rand und Wirkung des Schillerschen Denkens" (vgl. Wolfgang Riedel: Schiller und die popularphilosophische Tradition, in: Schiller-Handbuch, hg. von Helmut Koopmann, Stuttgart 1998, S. 155-166, hier: S. 155).
[10] Beiser, S. 2.
[11] Dabei sind jedoch das bekannte Schiller-Goethesche Schema über den Dilettantismus (1799) sowie der dazugehörige Text keine Hilfe, da sie sich explizit nur auf die verschiedenen Künste beziehen; Übertragungen sind zwar denkbar, bleiben aber notwendig sehr spekulativ.
[12] Das Zitat lautet weiter: "Aber um der Ausübung selbst willen philosophiere ich gern über die Theorie; die Critik muß mir jetzt selbst den Schaden ersetzen, den sie mir zugefügt hat. Und geschadet hat sie mir in der That, denn die Kühnheit, die lebendige Glut, die ich hatte, eh mir noch eine Regel bekannt war, vermisse ich schon seit mehreren Jahren. Ich sehe mich jetzt erschaffen und bilden, ich beobachte das Spiel der Begeisterung, und meine Einbildungskraft beträgt sich mit minder Freiheit, seitdem sie sich nicht mehr ohne Zeugen weiß. Bin ich aber erst so weit, daß mir Kunstmäßigkeit zur Natur wird, wie einem wohlgesitteten Menschen die Erziehung, so erhält auch die Phantasie ihre vorige Freiheit zurük, und setzt sich keine andern als freiwillige Schranken" (NA 26, S. 141). Schiller betont hier zum einen den unmittelbar praktischen Ausgangs- wie Zielpunkt seiner ästhetischen Bemühungen. Zum anderen wird die eigene dichterische Laufbahn hier bereits in das triadische Entwicklungsschema eingepaßt, das erst in Ueber naive und sentimentalische Dichtung voll entfaltet vorliegt: Schiller beginnt als naiver Dichter (mit der "lebendigen Glut" des Regelunkundigen), wird durch Reflexion zum sentimentalischen Dichter und plant ein Ende als idealer Dichter, der beides vereint, in dem die "Kunstmäßigkeit" wieder zur "Natur" wird; s. dazu genauer unter II.
[13] Nötig wäre auch eine Diskussion des Professionalisierungsprozesses an den Universitäten. Vgl. dazu beispielsweise Immanuel Kants Streit der Fakultäten (1798), wo bereits von einer "fabrikenmäßige" Einteilung der Fakultäten die Rede ist (in: Immanuel Kant: Werke in zehn Bänden. Bd. 9: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1983, hier: S. 279). Daneben, so Kant, seien aber auch zunftfreie Wissenschaftler vorstellbar, die "gleichsam im Naturzustande der Gelehrsamkeit leben" und sich der Wissenschaft als "Liebhaber" (S. 279f.) widmen. – Ironisch reflektiert auch Johann Karl Wezel die Fakultätenaufteilung in seiner Satire Silvans Bibliothek (1777): "Wie niedrige Handwerker, die, auf das Interesse ihrer Innung eingeschränkt, mit kurzsichtigem Blicke das allgemeine Band der Nützlichkeit übersehen, daß sie insgesamt an die menschliche Gesellschaft knüpft, verachtet der Philosoph den Rechtsgelehrten, der Rechtsgelehrte den Dichter, der Dichter den Rechtsgelehrten [...] – kurz, schätzt nur Mitglieder seiner Klasse und verschmäht mit handwerksmäßigem Ekel alle, die nicht dazugehören" (Silvans Bibliothek oder die gelehrten Abenteuer, in: Satirische Erzählungen, hg. von Anneliese Klingenberg, Berlin 1983, S. 50).
[14] Vgl. die Einleitung: "Man würde es nur vergebens leugnen wollen, daß gegenwärtige Abhandlung durch die neuliche Aufgabe der Königl. Preußischen Akademie der Wissenschaften, veranlaßt worden; und daher hat man auch diese Veranlassung selbst nirgends zu verstecken gesucht. [...]. Die Akademie verlangt eine Untersuchung des Popischen Systems, welches in dem Satze alles ist gut enthalten ist. Und zwar so, daß man Erstlich den wahren Sinn dieses Satzes, der Hypothes seines Urhebers gemäß, bestimme. Zweitens ihn mit dem System des Optimismus, oder der Wahl des Besten, genau vergleiche, und Drittens die Gründe anführe, warum dieses Popische System entweder zu behaupten oder zu verwerfen sei" (Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 3: Werke 1754-1757, hg. von Conrad Wiedemann, Frankfurt a.M. 2003, hier: S. 614f.).
[15] S. 617. Hingegen lehnen Mendelssohn/Lessing die Begriffsdefinition von "System" mutwillig ab: "Es ist so ungeziemend, als unnötig, einer Versammlung von Philosophen, das ist, einer Versammlung systematischer Köpfe zu sagen, was ein System sei?" (ebd.).
[16] Vgl. S. 618.
[17] Vgl. ebd.
[18] Vgl. ebd.
[19] Vgl. S. 620.
[20] Ebd.
[21] S. 619.
[22] Vgl. Diderots Artikel "Philosophe"; hier zitiert nach: Artikel aus der von Diderot und d'Alembert herausgegebenen Enzyklopädie, aus dem Frz. von Theodor Lücke, hg. von Manfred Naumann, Leipzig 1972, S. 841-848. Darauf folgt der anonyme Artikel "Philosophie", S. 867; darauf folgt der Artikel "Philosophique, Esprit", S. 867-868, von de Jaucourt. Die Argumentation ist vor dem Hintergrund der negativen Konnotationen zu sehen, die im Frankreich des 18. Jahrhunderts mit dem Begriff des "philosophe" verbunden sind, mit dem man verschiedene mißliebige philosophische Richtungen (wie z. B. der Enzyklopädisten, der Materialisten, der Moralisten) belegte, die des Atheismus, des Skeptizismus und des Materialismus verdächtigt wurden. Darauf hebt auch Diderot zu Beginn seines Artikels ab (vgl. S. 841f.).
[23] "Die anderen Menschen erscheinen dazu bestimmt, zu handeln, ohne die Ursachen, die sie dazu bewegen, zu empfinden und zu erkennen; sie denken überhaupt nicht daran, daß es Ursachen gibt. Der Philosoph dagegen erkennt die Ursachen, soweit dies in seiner Macht steht [...]. Der Philosoph bildet sich seine Prinzipien auf der Grundlage unzähliger einzelner Beobachtungen" (S. 842).
[24] "Unter systematischem Geist verstehe ich nicht den Geist, der die Wahrheiten miteinander verbindet, um Beweise zu führen; denn dies bedeutet nichts anderes als wahrhaft philosophischer Geist. Nein, ich bezeichne damit jenen Geist, der Pläne aufstellt und Weltsysteme bildet, denen er dann die Erscheinungen mehr oder weniger gewaltsam anzupassen versucht" (S. 866).
[25] "Er ist sozusagen mit dem Sauerteig der Ordnung und der Gesetzlichkeit zusammengeknetet" (S. 846).
[26] S. 847.
[27] S. 867.
[28] S. 868.
[29] Ernst Platner: Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte. Ganz neue Ausarbeitung. Erster Theil, Leipzig 1793, hier: S. 4.
[30] "Die Schwärmerey ist meistentheils verfehlte Philosophie" (S. 6).
[31] Ebd.
[32] S. 7.
[33] "Er hat umsonst nach Wahrheit geforscht, wenn sich Wahrheit, für ihn nicht in Gold, in Zeitungslob, in Fürstengunst verwandelt" (NA 17, S. 361).
[34] S. 362.
[35] S. 362f.
[36] S. 363.
[37] Wolfgang Riedel hat in mehreren Veröffentlichungen dargetan, daß der junge Schiller an der Karlsschule eine anspruchsvolle und umfangreiche philosophische Grundausbildung erhalten hat. Darüber hinaus, so Riedel, seien Schillers eigene Texte zur Ästhetik sinnvoll in den Kontext der Popularphilosophie einzuordnen (vgl. Riedel, Schiller und die Popularphilosophie, Anm. 1). Nun liegt jedoch das Argument nahe, daß die Popularphilosophie zur Gänze als eine Art dilettantischer Philosophie-Diskurs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts betrachtet werden könnte. Diese These könnte jedoch wiederum nur in einer Darstellung, die auch die konkreten Professionalisierungsphänomene und –diskurse analysierte, diskutiert werden.
[38] Nach Rüdiger Safranski ist die intensivste Phase von Schillers philosophischem Selbststudium vom Februar 1791 bis 1794 zu datieren; ab Juni 1795 setzt die poetische Produktion wieder ein. Den finanziellen Rückhalt bietet das dreijährige Stipendium des Prinzen von Augustenburg. Folgende Texte Schillers entstehen in dieser Zeit: Im Wintersemester 1792 beginnt Schiller eine Ästhetik-Vorlesung; Anfang 1793 entsteht Kallias, oder über die Schönheit; im Sommersemester 1793 wird die Ästhetik-Vorlesung fortgesetzt. Im gleichen Jahr schreibt Schiller Über Anmut und Würde, Vom Erhabenen und beginnt mit Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Anfang 1795 lehnt Schiller einen Ruf nach Tübingen als ordentlicher Professor für Philosophie ab. In diesem Jahr entstehen: Von den notwendigen Grenzen des Schönen (s.u.); Über naive und sentimentalische Dichtung (vgl. Rüdiger Safranski: Friedrich Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus, München 2004, S. 534-536).
[39] Schillers erster philosophischer Versuch noch aus seiner Jugendzeit sind die Philosophischen Briefe (entstanden wahrscheinlich zwischen 1783 und 1786 und 1786 gedruckt in der Thalia). Bereits hier finden sich einige typische Merkmale von Schillers philosophischer Methode. So verwendet er hier schon die Briefform, die er später sowohl in den Kallias-Briefen als auch in Über die ästhetische Erziehung des Menschen einsetzen wird. Seine philosophischen Bezugsgrößen zu dieser Zeit sind allerdings noch vor allem Leibniz und Shaftesbury sowie die Vereinigungsphilosophie.
[40] Vgl. zu diesen Briefen wie auch insgesamt zur Entwicklung der ästhetischen Studien den vorzüglichen Aufsatz von Hermann Meyer mit dem etwas irreführenden Titel: Schillers philosophische Rhetorik, in: Euphorion 53 (1959), S. 313-350.
[41] NA 26, S. 184.
[42] Ebd.
[43] Zudem befürchtet Schiller, daß die Aufräumungsarbeiten der Fachphilosophen sich zunächst auf andere Gebiete beschränken würden: "Aber so wie es jetzt in der philosophischen Welt aussieht, dürfte die Reihe wohl zuletzt an die Aesthetik kommen, eine Regeneration zu erfahren. Unsere vorzüglichsten Denker haben mit der Metaphysik noch alle Hände voll zu thun" (ebd.).
[44] S. 185.
[45] Auch in dieser Unterscheidung findet sich natürlich diejenige von naivem und sentimentalischem Dichter.
[46] Brief vom 9. Februar 1793, NA 26, S. 186.
[47] Die Auseinandersetzung mit anderen Leitfiguren des ästhetischen Diskurses hat Schiller bereits im Rahmen seiner Ästhetik-Vorlesung im Wintersemester 1792/93 und seinen Kallias-Briefen betrieben. Vgl. zu diesen Kenntnissen als Verständnisvoraussetzung für Schillers ästhetische Theorie auch Beiser, S. 1.
[48] Brief vom 13. Juli 1793, NA 26, S. 257f.
[49] Brief vom 9. Februar 1793, NA 26, S. 186. An dieser Stelle wird auch erstmals das anvisierte Zielpublikum benannt: Er schreibe für "freye und heitre Geister, die über den Staub der Schulen erhaben sind" (S. 187); eine Formulierung, die ein sehr viel späterer Kritiker der Schulphilosophie in seiner Fröhlichen Wissenschaft aufnehmen wird.
[50] Brief vom 13. Juli, NA 16, S. 258. Schiller nimmt anschließend Kants architektonische Metaphorik auf, wen er die streng philosophische Methode Kants mit einem "Gerüst" und "Geräthen" vergleicht, die jedoch entfernt werden müßten, wenn der Bau vollendet sei, damit man die "Schönheit des Gebäudes" wahrnehmen könne: "Aber die mehresten Schüler Kants ließen sich eher den Geist, als die Maschinerie seines Systems entreißen" (ebd.).
[51] Brief an Goethe vom 16.10.1795 (NA 28, S. 79). Schiller fährt fort: "Aber freilich spannt diese Thätigkeit sehr an, denn wenn der Philosoph seine Einbildungskraft und der Dichter seine Abstraktionskraft ruhen laßen darf, so muss ich, bey dieser Art von Produktionen, diese beyden Kräfte immer in gleicher Anspannung erhalten, und nur durch eine ewige Bewegung in mir kann ich die 2 heterogenen Elemente in einer Art von Solution erhalten" (ebd.). Hier wird das gleiche Modell beschrieben, nach dem auch der "schöne Vortrag" auf die verschiedenen Kräfte des Menschen gleichzeitig wirkt; s. dazu u. III.
[52] 18. Brief; NA 20, S. 368.
[53] Brief vom 21. November, NA 26, S. 320.
[54] "So würde Kants Kritick der Vernunft offenbar ein weniger vollkommenes Werk seyn, wenn sie mit mehr Geschmack geschrieben wäre" (ebd).
[55] Vgl. ebd. Die in diesem Zusammenhang verwendeten Bilder weisen darauf hin, daß Schiller sich geläufiger Vorstellungen der ästhetischen Debatten wie der Hogarthschen "line of beauty" bedient: "Wenn der dogmatische Vortrag in geraden Linien und harten Ecken mit mathematischer Steifigkeit fortschreittet, so windet sich der schöne Vortrag in einer freyen Wellenbewegung fort [...]. Der dogmatische Lehrer, könnte man sagen, zwingt uns seine Begriffe auf, der sokratische lockt sie aus uns heraus, der Redner und Dichter gibt uns Gelegenheit, sie mit scheinbarer Freiheit aus uns selbst zu erzeugen" (S. 321).
[56] NA 22, S. 107.
[57] Die Abhandlung erscheint in zwei Teilen in den Horen: 9 Stück (Von den notwendigen Grenzen des Schönen besonders im Vortrag philosophischer Wahrheiten) und 11. Stück (Über die Gefahr ästhetischer Sitten). Im folgenden werde ich nur auf den ersten Teil der ersten Abhandlung eingehen. Der Beitrag wurde von der Forschung bereits relativ umfassend behandelt und soll hier vor allem im Blick auf das Dilettantismus-Problem akzentuiert werden. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang auch sein Entstehungskontext: Schiller hatte einen für die Horen bestimmten Beitrag von Fichte mit dem Titel Über Geist und Buchstab in der Philosophie zurückgewiesen; daraus hatte sich eine Kontroverse zwischen beiden Autoren über das Thema Verständlichkeit in der Philosophie entwickelt. Zudem hatte Schiller auch bei Christian Garve nachgefragt, ob er nicht einen Beitrag zum Verhältnis des Schriftstellers zum Publikum verfassen wolle (vgl. dazu die ausführliche Darstellung bei Meyer (Schillers philosophische Rhetorik, S. 339-347). Dort findet sich auch eine umfassende Würdigung von Schillers eigenem Projekt und dessen rhetorisch-pädagogischen Grundlagen: Meyer bezeichnet den Text als "Summa" von Schillers "philosophischen Rhetorik", die in enger Verbindung zum inhaltlichen Anliegen der "ästhetischen Erziehung" stünde (vgl. S. 349f.). – Vgl. auch Klaus Berghahn, der den Text als Versuch sieht, "stilistisch die Antithese von Sinnlichkeit und Vernunft aufzuheben, um so die Totalität des Menschen als regulative Idee zu beschwören" (Berghahn, S. 291).
[58] NA 21, S. 3.
[59] S. 4.
[60] S. 5.
[61] Ebd.
[62] Sie zerteilt ein "lebendiges Ganzes" in Teilvorstellungen (S. 6).
[63] S. 12.
[64] Die Phantasie verfährt aber hier nur reproduktiv, nicht produktiv, da sie nur zur Veranschaulichung abstrakter Ideen didaktisch eingesetzt wird (vgl. S. 7).
[65] S. 11.
[66] S. 8.
[67] S. 9.
[68] S. 10. Dazu muß der Schriftsteller vor allem zwei genuin poetische Mittel einsetzen: Er muß seine Gegenstände "individualisieren", um die Sinnlichkeit des Menschen stärker anzusprechen und seine Phantasie in Bewegung zu setzen – aber immer in den von den Begriffen vorgegebenen Grenzen. Noch wichtiger jedoch ist der Einsatz des "uneigentlichen Ausdrucks" (ebd.). In der Metaphorik des Textes findet sich die Grundfigur der "schönen Schreibart" geradezu konzentriert abgebildet: "Der uneigentliche Ausdruck treybt diese Freiheit noch weiter, indem er Bilder zusammengattet, die ihrem Inhalt nach ganz verschieden sind, aber sich gemeinschaftlich unter einem höhern Begriff verbinden. Weil sich nun die Phantasie an den Inhalt, der Verstand hingegen an jenen höhern Begriff hält, so macht die erstere eben da einen Sprung, wo der letztere die vollkommenste Stätigkeit wahrnimmt" (ebd.).
[69] S. 14.
[70] S. 13f.
[71] S. 10. Hier scheint auch der ästhetische und ethische Anspruch des Textes auf, der dann im zweiten Teil weiter ausgeführt wird.
[72] S. 12.
[73] S. 14. Was ein "darstellender Schriftsteller" genau ist, verrät Schiller nicht; man kann aber wohl mit einiger Berechtigung spekulieren, daß er sich als einen solchen versteht. Spiegelbildlich dazu gehört das Konzept eines Lesers, der "darstellend denkend" (ebd.) kann. Einen Hinweis gibt auch das Konzept des wahren Volksdichters als Popularisator in Über Bürgers Gedichte (1789/90): "Selbst die erhabenste Philosophie des Lebens würde ein solcher Dichter in die einfachen Gefühle der Natur auflösen, die Resultate des mühsamsten Forschens der Einbildungskraft überliefern und die Geheimnisse des Denkers in leicht zu entziffernder Bildersprache dem Kindersinn zu erraten geben. Ein Vorläufer der hellen Erkenntnis, brächte er die gewagtesten Vernunftwahrheiten, in reizender und verdachtloser Hülle, lange vorher unter das Volk, ehe der Philosoph und Gesetzgeber sich erkühnen dürfen, sie in ihrem vollen Glanze heraufzuführen. Ehe sie ein Eigentum der Überzeugung geworden, hätten sie durch ihn schon ihre stille Macht an den Herzen bewiesen, und ein ungeduldiges einstimmiges Verlangen würde sie endlich von selbst der Vernunft abfodern. In diesem Sinne genommen, scheint uns der Volksdichter, man messe ihn nach den Fähigkeiten, die bei ihm vorausgesetzt werden, oder nach seinem Wirkungskreis, einen sehr hohen Rang zu verdienen. Nur dem großen Talent ist es gegeben, mit den Resultaten des Tiefsinns zu spielen, den Gedanken von der Form los zu machen, an die er ursprünglich geheftet, aus der er vielleicht entstanden war, ihn in eine fremde Ideenreihe zu verpflanzen" (NA 22, S. 249).
[74] NA 21, S. 15f.
[75] Vgl. zum Konzept des "episodischen Gedächtnis" die zusammenfassende Darstellung bei Harald Welzer: Art. Gedächtnis und Erinnerung, in: Handbuch der Kulturwissenschaften, hg. von Friedrich Jäger und Jörn Rüsen, Bd. 3: Themen und Tendenzen, Stuttgart/Weimar 2004, S. 155-171, bes. S. 158ff.
[76] Die produktive "Stimmung" spielt auch eine große Rolle im Briefwechsel von Goethe und Schiller; vgl. dazu: "Die wahre, die tätige, produktive Freundschaft". Die Freundschaft von Goethe und Schiller im Spiegel ihres Briefwechsels, erscheint in: Rituale der Freundschaft, hg. von Klaus Manger und Ute Pott. Heidelberg 2006.
[77] NA 21, S. 17.
[78] S. 18. Vgl. auch die Xenie Wissenschaftliches Genie: "Wird der Poet nur geboren? Der Philosoph wirds nicht minder, / Alle Wahrheit zuletzt wird nur gebildet, geschaut" (in: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, Bd. 4.1., hg. von Reiner Wild, S. 783).
[79] NA 21, S. 17.
[80] Ebd.
[81] S. 20f.
[82] S. 20.
[83] S. 21.
[84] Schillers Analyse der Schwervermittelbarkeit wissenschaftlicher Inhalte ist wohl bis heute nichts hinzuzufügen: "Wo sich aber ein solcher Entschluß [zur Aufnahme und zum Verständnis auch schwieriger und abstrakter wissenschaftlicher Sachverhalte] nicht voraussetzen läßt, und wo man sich keine Hofnung machen kann, daß das Interesse an dem Inhalt stark genug seyn werde, um zu dieser Anstrengung Muth zu machen, da wird man freylich auf Mitteilhung einer wissenschaftlichen Erkenntniß Verzicht thun müssen" (S. 7).
[85] Ob Schillers eigene "schöne Schreibart" die von ihm postulierten Zwecke erfüllt, hängt letztlich wohl doch vom Empfänger und dessen persönlichen Voraussetzungen ab. Das Experiment mit dem dänischen Prinzen muß leider als mißlungen bezeichnet werden; in einem Brief vom Februar 1795 an seine Schwester äußert sich dieser: "Der gute Schiller ist doch eigentlich nicht zum Philosophen geschaffen. Er bedarf einen Übersezer, der das poetisch schön gesagte mit philosophischer Precision entwickelt, der ihn aus dem Poetischen in die philosophische Sprache übersezt" (zitiert nach: Meyer, S. 344). Interessanterweise wird hier nicht die Schwerverständlichkeit des dilettantischen Vermittlungsversuchs beklagt, sondern eben die mangelnde Professionalität im Ausdruck. Andererseits ließe sich dagegen einwenden, daß der Prinz noch nicht genug ästhetisch erzogen ist, um die Vorzüge der "schönen Schreibart" im vollen Umfang würdigen zu können, sondern noch dem Vorurteil anhängt, gelehrte Diskurse seien nur dann gültig, wenn sie sich auch der Fachkonventionen bedienen (die sozusagen ihre Solidität verbürgen).
[86] NA 21, S. 16. – Insofern ist es für Schiller nur eine natürliche Entwicklung, daß er die Phase der philosophischen Tätigkeit wieder abschließen und zur poetischen Tätigkeit zurückkehren muß; vgl. auch den Brief an Goethe vom 7.1.1795: "Soviel ist indeß gewiß, der Dichter ist der einzige wahre Mensch, und der beste Philosoph ist nur eine Karikatur gegen ihn" (NA 27, S. 116).
Der Begriff „Gedankenlyrik“ ist in der literaturwissenschaftlichen Forschung nicht besonders beliebt und wirkt wahrscheinlich auch auf den nicht-fachlichen Leser nicht direkt „sexy“, wie man heute in der Sprache des Marketings zu sagen pflegt: Um zu denken, braucht man doch nun wirklich keine Gedichte, sondern eher den kühlen, logischen, von Gefühlen vermeintlich freien Geist; und um zu dichten, braucht man ebenso wenig Ge-danken, sondern tiefe Gefühle, hohe Begeisterung und allenfalls ein bedeutungsschweres „Erlebnis“. Die Goethesche Erlebnislyrik gilt dabei untergründig als Paradigma für lyrisches Sprechen schlechthin, seine Reinform sozusagen – wobei man leicht vergisst, dass erlebnislyrisch im engeren Sinne auch nur der junge Goethe sprach, der alte hingegen ebenso prototypische gedankenlyrische Werke produzierte. Nach einem so richtig erlebnislyrischen Gedicht Schillers hingegen wird man selbst im durchaus enthusiastisch geprägten Jugendwerk ziemlich vergeblich suchen. Aber abgesehen von solchen immer willkürlichen und über die Zeit recht wandelbaren Kategorisierungsversuchen der Literaturwissenschaft: Was meint Gedankenlyrik eigentlich? Wie sieht es aus mit dem Verhältnis von Denken und Dichten, von „stummen Gedanken“ und verkörperter „Stimme“ im Gedicht, und zwar sowohl im Allgemeinen als auch bei Schiller im Besonderen?
Ich will im Folgenden zunächst einige theoretische Vorüberlegungen zu diesem ungeliebten Begriff anstellen. Dazu werde ich in einem ersten Schritt auf Definitionsversuche der Forschung und Abgrenzungen zu verwandten Gattungen eingehen. Danach werde ich in einem zweiten Schritt einige theoretische Überlegungen Schillers zum Verhältnis von „Idee“ und Gedicht in seinen ästhetischen Schriften darlegen. Schließlich werde ich zwei Beispiele gedankenlyrischer Gestaltung in Gedichten Schillers vorstellen, bevor ich abschließend versuche, die theoretischen Überlegungen und die Analyseergebnisse zusammenzuführen.
Prinzipiell gibt es zwei Möglichkeiten, Gattungsbegriffe in der Literaturwissenschaft her-zuleiten, die beide schon immer benutzt wurden und eine ganz allgemeine wissenschafts-theoretische Unterscheidung widerspiegeln: Man argumentiert entweder deduktiv oder induktiv. Wenn man die erste Möglichkeit wählt – also deduktiv verfährt, vom Allgemeinen zum Besonderen hinabsteigend -, definiert man zunächst theoretisch, was Dichtkunst oder Literatur ist; aus dieser allgemeinen Bestimmung leitet man dann Unterkatego-ien wie Gattungen ab, die sich möglichst zwingend aus der allgemeinen Bestimmung ergeben sollten. Das Ganze hat den Vorzug eindrucksvoller Logik und Gesetzlichkeit – leider zum Preis einer gewissen Realitätsferne; poetische Texte und deren Verfasser tendieren dazu, sich nicht an Regelbücher zu halten. Argumentiert man hingegen induktiv – also vom Besonderen zum Allgemeinen aufsteigend -, sichtet man zunächst möglichst viele konkret vorliegende dichterische Werke und versucht anschließend daraus ein ein-leuchtendes und hinreichend differenziertes Regel- und Gliederungssystem zu entwickeln – was den Vorzug stärkerer Realitätsnähe hat, aber leider relativ willkürlich wirken kann und nur zu historisch begrenzt gültigen Kategorien, aber keinen allgemeinen Gesetzen führt. Ich versuche deshalb im Folgenden, beide Verfahren miteinander zu koppeln, um (hoffentlich) die Vorteile zu vereinen und die Nachteile zu vermeiden.
Ich beginne mit dem ersten Verfahren, dem systematisch-deduktiven. Der Begriff „Gedankenlyrik“ wird Mitte des 19. Jahrhunderts in die Poetik eingeführt (also relativ spät im Blick auf unsere Texte), und zwar von Literaturwissenschaftlern und -theoretikern im Gefolge der Hegelschen Philosophie (also einem der größten vorstellbaren deduktiven philosophischen Systeme schlechthin). Man geht dabei gut hegelianisch davon aus, dass alle literarischen Gattungen als Ausformungen des Verhältnisses von Subjektivität (These) und Objektivität (Antithese) darstellbar sein müssen; dazu muß es, der Hegelschen Dialektik gemäß, Vermittlungsformen geben (Synthese). Vereinfacht gesagt führt das meist dazu, dass die Lyrik der Subjektivität zugeschlagen wird, das Epos der Objektivität, und im Drama als höchster Kunstform beides vermittelt erscheint. Die Gedankenlyrik passt offensichtlich nicht so recht in dieses grob vereinfachte Schema, kann jedoch eingepasst werden; so formuliert beispielsweise der Ästhetiker Moritz Carriere:
Der Gedanke ist hier nicht wissenschaftlich verbunden, sondern künstlerisch frei, nicht dialektisch vermittelt, sondern unmittelbar in der Seele geboren, und wird ausgesprochen je nach und mit dem Echo das er im Herzen findet. Reflexionen oder Kenntnisse werden nicht zur Belehrung als ein für sich Bestehendes mitgetheilt. Sondern für das Gemüth werden die Gedanken zur Einheit der Empfindung gebracht, und die Idee erleuchtet und erwärmt zugleich, indem sie in ihrer Wirkung auf das Innere dargestellt wird.
Der „Gedanke“ wird also, das ist zentral, nicht primär oder gar ausschließlich als objektiv verstanden, sondern als subjektive Reflexion „unmittelbar in der Seele geboren“; und er wird nicht zu Belehrungszwecken vorgebracht (das wäre Lehrdichtung, dazu weiter unten Näheres). Vielmehr wird eher seine emotionale Wirkung auf das Subjekt dargestellt als der Gedanke selbst. Bemerkenswerterweise greift Carriere zu Metaphern, um diese Wirkung darzustellen: Die Idee „erleuchtet und erwärmt“ das Gemüt. Man kann wohl davon ausgehen, dass das auch die intendierte Wirkung auf den Leser ist, der nicht eine frostige, vereinzelte Idee auf einem Silberteller poetisch blankpoliert vorgesetzt bekommt, sondern einen enthusiastisch aufgeladenen und emotional eingefärbten Gedanken, den er dann selbst wieder zur subjektiven „Einheit der Empfindung“ in seinem eigenen Gemüt bringen muss.
Bestimmt man den Begriff „Gedankenlyrik“ hingegen empirisch und induktiv aus seiner Geschichte, trifft man als ersten Vorläufer auf die Lehrdichtung. Sie entsteht in der griechischen Antike mit kanonischen Werken wie Hesiods Erga (Werke und Tage, entstanden um 700 v. Chr.; beschrieben werden die Arbeiten des Landmanns im Verlauf des Jahres); berühmte römische Beispiele sind das große naturphilosophische Lehrgedicht des Lukrez, De rerum natura (entstanden im 1. Jh. v. Chr.), Vergils Georgica (zwischen 37 und 29 v. Chr.) oder auch die ars poetica des Horaz (um 14 v. Chr.), eine einflussreiche Poetik. Dichtung sind diese Werke deshalb, weil sie in Versform verfasst wurden. Der zumeist verwendete Hexameter dient dabei durchaus praktischen Zwecken, da er einprägsam ist; rhythmisierte Sprache merkt man sich einfach leichter. Zudem beginnen diese berühmten antiken Lehrgedichte meist mit dem klassischen Musenanruf, stellen sich also selbst als Werke der Dichtkunst dar. Gleichzeitig präsentieren sie jedoch ganz eindeutig praktische Lehren, seien sie nun agrarischer, astronomischer, medizinischer, philosophischer oder poetischer Natur.
Die antike Lehrdichtung entsteht in einer Zeit, in der wissenschaftliche und poetische Diskurse noch nicht, wie für uns spätestens seit dem 18. Jahrhundert selbstverständlich, voneinander getrennt sind; auch der Dichter als eigenständige Lebensform ist noch nicht erfunden. Erst mit der Verbreitung wissenschaftlicher Sachprosa im engeren Sinne werden Lehrgedichte überflüssig. Stattdessen entsteht nun im 18. Jahrhundert eine philosophische Lehrdichtung: Poetische und wissenschaftliche Autoritäten und „Leuchttürme“ der Aufklärung wie Alexander Pope in England, Voltaire in Frankreich oder Alfred von Haller im deutschen Sprachraum benutzen Gedichte zur Verbreitung aufklärerischer Inhalte. Die bevorzugte Gattung dafür ist die philosophische Ode, die lyrischen Lieblingsmittel sind die Personifizierung von sittlichen Idealen und die moralische Allegorie (in dieser Tradition steht auch Schiller). Insgesamt kann man damit die Lehrdichtung sowohl historisch als auch systematisch von der Gedankenlyrik absetzen: Gemeinsam ist beiden die Vermittlung gedanklicher Inhalte, wobei jedoch die Lehrdichtung entweder auf konkrete Lehren im Wortsinn oder, wie in der Aufklärung, auf die Vermittlung vor allem moralischer Lehren zielt. Auch die Vorliebe der Lehrdichtung für bestimmte lyrische Formen wie den Hexameter, das Distichon oder das Epigramm wird an die Gedankenlyrik weiter-gegeben. Demnach besteht der Unterschied vor allem in der Funktion: Lehrdichtung will positiv lehren oder zumindest aufklären; Gedankenlyrik will, nach Carriere, Gedanken emotionalisieren, in ihrer subjektiven Entstehung und Wirkung auf das Gemüt zeigen. Es stellt sich die Frage: Was will Schiller?
Schillers theoretische Schriften bilden ein Korpus von Texten, das sich gegenseitig in vielerlei Hinsicht beleuchtet und ergänzt. Ich werde mich für meine Zwecke nicht auf einen der „großen“ theoretischen Texte beziehen, sondern wähle als Ausgangspunkt seine Rezension Über Matthissons Gedichte (1794). Hier legt Schiller relativ komprimiert im Blick speziell auf die Lyrik dar, was er unter derjenigen „symbolischen Operation“ (S. 271) versteht, die der klassizistischen Ästhetik insgesamt zugrunde liegt.
Die Ausgangsfrage ist zunächst, inwiefern die Natur – hier im engeren Sinn als landschaftliche Natur verstanden – ein Gegenstand für die Dichtung ist. Sie ist es nur insoweit, so Schiller, als sie symbolfähig für etwas Menschliches ist:
Es gibt zweierlei Wege, auf denen die unbeseelte Natur ein Symbol der menschlichen werden kann: entweder als Darstellung von Empfindungen oder als Darstellung von Ideen. (S. 271)
Für uns ist der zweite Punkt von besonderem Interesse, nämlich die „Darstellung von Ideen“. An dieser Stelle wird es etwas komplizierter, weil Schiller nun tiefer in die Begriffskiste seiner bekanntermaßen von Kant geprägten Ästhetik greifen muss; ich versuche den Verlauf der Argumentation in diesem Absatz zu zitieren und gleichzeitig zu paraphrasieren: Wie kommt also der „Ausdruck von Ideen“ ins Gedicht? Zunächst, so Schiller, darf es sich bei diesen Ideen nicht um solche handeln, die „von dem Zufall der Assoziation abhängig“ sind, also nur persönlich, willkürlich, subjektiv. Vielmehr sind der poetischen Darstellung nur solche Ideen würdig, die zwar im Subjekt entstehen, aber nicht etwa zufällig und willkürlich, sondern im Einklang mit den „Gesetzen der symbolisieren-den Einbildungskraft“. Wie kann eine Assoziation, ein spontaner Einfall, jedoch gesetzlich sein? Er ist es, so wiederum Schiller, nur bei „tätigen und zum Gefühl ihrer moralischen Würde erwachten Gemütern“, bei denen die „Vernunft“ dem „Spiele der Einbildungskraft“ – der subjektiven Assoziation – nicht einfach „müßig“ zusieht. Vielmehr überprüft sie sozusagen ständig und gewohnheitsmäßig die willkürlich aufsteigenden Ideen darauf, ob sie mit „ihrem eigenen Verfahren übereinstimmend zu machen“ sind – sprich: sich irgendwie eine moralische Idee der Vernunft darin detektieren lässt. Dann und nur dann wird der „tote Buchstabe der Natur“ zu einer „lebendigen Geistersprache“ – der Naturgegenstand hat sich damit als geeignetes Symbol erwiesen; er „entzücket“ gleichzeitig den äußeren „ästhetischen Sinn“ und „befriedigt zugleich den moralischen“ (S. 273). Ideen ohne jegliche moralische Verwendbarkeit hingegen, von nur subjektiv-willkürlicher Relevanz, taugen nicht zu symbolischen Operationen und werden von der inneren Zensur verworfen.
Wie eine solche „symbolische Operation“ der Verwandlung von Naturgegenständen zu Ideen der Vernunft vor sich geht, deutet Schiller in zwei sehr allgemeinen Beispielen zunächst aus dem Bereich von Malerei und Musik an:
Jene Stetigkeit, mit der sich die Linien im Raum oder die Töne in der Zeit aneinander fügen, ist ein natürliches Symbol der innern Übereinstimmung des Gemüts mit sich selbst und des sittlichen Zusammenhangs der Handlungen und Gefühle, und in der schönen Haltung eines pittoresken oder musikalischen Stücks malt sich die noch schönere einer sittlich gestimmten Seele. (ebd.)
Das klingt zwar einleuchtend, aber auch ein wenig trivial: Was in Tönen harmonisch klingt, spiegelt eben zwangsläufig die harmonische Seele des Künstlers. Der Dichter hat jedoch gegenüber dem Maler und dem Komponisten noch einen entscheidenden Vorteil: Er kann die darzustellenden Ideen auch begrifflich andeuten, indem er den durch die Darstellung ausgelösten Empfindungen „einen Text unterlegt“ (ebd.); er kann über den „Inhalt“ die darzustellenden Ideen explizit benennen. Gleichwohl, so warnt Schiller, darf der Inhalt gemäß der klassizistischen Ästhetik nicht überbewertet werden, sonst erhält man nämlich wieder nur Lehrdichtung:
Andeuten mag er jene Ideen, anspielen jene Empfindungen; doch ausführen soll er sie nicht selbst, nicht der Einbildungskraft seines Lesers vorgreifen. Jede nähere Bestimmung wird hier als eine lästige Schranke empfunden, denn eben darin liegt das Anziehende solcher ästhetischen Ideen, daß wir in den Inhalt derselben wie in eine grundlose Tiefe blicken. Der wirkliche und ausdrückliche Gehalt, den der Dichter hineinlegt, bleibt stets eine endliche; der mögliche Gehalt, den er uns hineinzulegen überläßt, ist eine unendliche Größe. (S. 273f.)
Die Idee, die der Dichter ins Gedicht legt, muss also immer eine „ästhetische“ bleiben und nie eine begrifflich-festgeklopfte werden: Sie spielt nur an, deutet nur an – und überlässt es dem Leser, sie durch seine eigene Erfahrung wieder zum Leben zu erwecken, und zwar in so vielen Formen, als es Leser gibt; den spiegelbildlichen Zusammenhang von subjektiver „Empfängnis“ der Idee im Produzenten und ihrer Wiederbelebung im jeweiligen Leser sieht Schiller genauso wie Carriere. Diesen paradigmatischen Belebungsprozess formuliert Schiller knapp und auf den Punkt gebracht auch in einem Distichon (einer alt-ehrwürdige Lehrform) unter dem programmatischen Titel „Dichtungskraft“:
Daß dein Leben Gestalt, dein Gedanke Leben gewinne,
Laß die belebende Kraft stets auch die bildende sein. (NA 1, S. 300)
a) Würde der Frauen: „und vereinen, was ewig sich flieht“
Wie jedoch äußert sich dieser Vorgang der Belebung von Gedanken durch eine genuin symbolische Operation – Äußeres wird zum sprechenden Zeichen von Innerem, so wie Naturgegenstände zum Äquivalent moralischer Ideen - nun in konkreten Texten? Das will ich im Folgenden exemplarisch an zwei Gedichten zeigen. Eine sehr einsichtige Variante gedankenlyrischen Sprechens führt Schillers von den Zeitgenossen viel verspottetes Gedicht Würde der Frauen (1795) vor. Um zunächst kurz zum Inhalt und damit zur begrifflichen Idee zu kommen, die im Gedicht verhandelt wird: Es geht um ein zweifellos auch ideell aufgeladenes Thema, nämlich die Geschlechterdifferenz. Dessen „moralischen“ Wert signalisiert darüber hinaus bereits der Titel, indem von der „Würde“ der Frauen die Rede ist. Dass das gedankliche Thema zudem zumeist hochemotional rezipiert wird, bedarf wohl bis heute keines weiteren Beweises. Insofern ist also der Gegen-stand im Blick auf seine gedankenlyrische Würde sehr gut gewählt, weil er ideelle, anthropologische, emotionale und moralische Aspekte mit einer spezifischen ästhetischen Darstellungsform verknüpft.
Im Folgenden geht es mir ausschließlich um diese ästhetische Darstellungsform, den begrifflichen Inhalt werde ich dazu weitgehend ausblenden. Die ästhetische Form präsentiert sich dem Leser auf den ersten Blick bereits zweigeteilt: Bei insgesamt neun Strophen wechseln kürzere, sechszeilige Strophen (mit längeren Einzelversen) mit längeren achtzeiligen Strophen (die dafür kürzere Einzelverse haben). Dabei werden die kürzeren Strophen schon durch die Einleitungsformel des ersten Verses – „Ehret die Frauen!“ – eindeutig der Frau zugeteilt, während die längeren dem Mann gewidmet sind – „Ewig aus der Wahrheit Schranken / Schweift des Mannes wilde Kraft“, beginnt die zweite Strophe. Offensichtlich werden hier bereits zwei Dinge gleichzeitig voneinander getrennt und mit-einander verschränkt: „Die Frauen“ – die (beinahe) durchgängig im Gedicht in der Plural-form adressiert werden – haben zwar längere Einzelverse, aber dafür kürzere Strophen; „der Mann“ (beinahe durchgängig im Singular) äußert sich im Einzelnen (dem Vers) knapper und kürzer, dafür insgesamt länger. Zudem sind den Frauen mehr Strophen ge-widmet, da ihnen sowohl die Anfangs- wie auch die Schlussstrophe gelten, die das Ge-dicht dadurch rahmen. Das könnte man zum einen wiederum durch den Gedichttitel begründen, der ja die Frauenperspektive in den Vordergrund rückt. Führt man außerdem eine kleine mathematische Operation durch (über die der Systematiker Schiller durchaus nicht erhaben war), merkt man: Insgesamt ist das quantitative Geschlechter-Verhältnis tatsächlich beinahe ausgeglichen, da 5 weibliche Strophen à 6 Verse insgesamt 30 Vers-zeilen ergeben, nur 4 männliche Strophen à 8 Verse insgesamt 32. Als erstes formales Muster ergibt sich damit: Verschränkung und Ausgleich der in den Einzelstrophen durch-aus als solche erhaltenen Polaritäten auf der Ebene des Gesamttextes; sowie als zweites: Umrahmung und Umfassung des männlichen Elements durch das weibliche.
Ebenso sofort hörbar ist, dass die Strophen auch ein unterschiedliches Versmaß auf-weisen. Die „weiblichen“ Strophen sind vierhebige Daktylen, ein relativ fließendes Versmaß. Zudem weisen die Verse relativ viele Enjambements auf, die den melodischen Eindruck verstärken. Im Reimschema folgt jeweils auf einen Paarreim ein umarmender Reim; Paarreim und umarmender Reim bilden zusammen einen Schweifreim, und damit sozusagen die maximal integrierende Reimform. Die Versenden sind überwiegend weiblich-zweisilbig gereimt, haben jedoch im umarmenden Reim jeweils auch ein männlich-einsilbiges Verspaar.
Die „männlichen“ Strophen hingegen bestehen aus vierhebigen Trochäen; ein energischer, aber auch etwas monoton wirkender Rhythmus. Es gibt zudem keinerlei Enjambements (bis auf eine sprechende Ausnahme). Sie sind durchgehend im Kreuzreim gehalten, dabei alternieren weibliche und männliche Versenden. Dadurch präsentieren sich die „männlichen“ Strophen zum einen regelmäßiger, zum anderen mit einer stärkeren Spannung aufgeladen. Auch auf der Ebene des Versmaßes sind damit die Polaritäten deutlich erkennbar, werden aber ebenso auf dieser Ebene schon in Ansätzen vereint.
Interessant ist nun, was in den beiden Schlussstrophen passiert. Die letzte „männliche“ Strophe stellt mit den abstrakten Nomina „Herrschgebiete“, „Stärke“, „Grimme“, „Begierden“ sowie den Adjektiven „trotzig“, „wild und roh“, „rauhe“ noch einmal explizit die Gewaltsamkeit des männlichen Geschlechtscharakters ganz in den Vordergrund. Allein der letzte Vers lässt eine sanftere Note erklingen: „Waltet, wo die Charis floh“ (V. 56). Mit „Charis“, der griechischen Göttin der Anmut, hat sich schon eine weibliche Gestalt in die „männliche Strophe“ gewagt. Zudem gerät erstmals das gleichmäßig alternierende „männliche“ Versmaß ins Wanken: Anstelle von „waltet wo die Charis floh“ liest man doch lieber fließender: „waltet wo die Charis floh“, lässt also die zweite Hebung zugunsten einer unregelmäßigen dreifachen Senkung aus.
Die letzte Strophe schließlich lässt schon in der Wortwahl erkennen, dass hier Männliches und Weibliches gleichzeitig anwesend sind: „Bitte“ und „Sitte“ stehen der „Zwietracht“ gegenüber, die „sanfte überredende Bitte“ den „feindlich sich hassenden“ „Kräften“. Das Zauberwort, und zwar nicht nur für diese Strophe, sondern für das gesamte Gedicht ist die „liebliche Form“ im vorletzten Vers (V. 61): In ihr vereinen sich Männliches (die Form) und Weibliches (die Lieblichkeit), indem sie sich „umfassen“; nur sie, die „liebliche Form“, kann nämlich „vereinen, was ewig sich flieht“. Wie sie das tut, deutet noch der allerletzte Vers durch eine winzige Verschiebung im Versmaß an: In „Und ver-einen, was ewig sich flieht“ hat sich am Anfang ein Trochäus eingeschlichen, also ein im Kontext des Gedichtes eindeutig männliches Element, der nun von den fließenden weiblichen Daktylen im wahrsten Sinne des Wortes „umfasst“ wird. Die Geschlechterpolarität wird also bis in winzigste Details herab auf die formale Ebene transponiert und am Ende in eine verschränkende Einheit überführt.
b) Der Genius: „Einfach gehst du und still“
Mein zweites Beispiel ist ein Gedicht aus dem gleichen Jahr (1795), das seinem ursprünglichen Titel zufolge ein sozusagen genuin gedankenlyrisches Thema zum Gegenstand hatte: Der Genius hieß zunächst Natur und Schule - „Schule“ verstanden nicht als konkrete Institution, sondern als Gegenpol des Kulturell-Erlernten im Gegensatz zum Natürlich-Gegebenen. Damit ist die für dieses Gedicht zentrale Polarität angesprochen, seine begriffliche „Idee“, die vom ersten Sprecher als Frage formuliert wird: „Kann die Wissenschaft nur zum wahren Frieden mich führen / Nur des Systemes Gebälkʼ stützen das Glück und das Recht?“ (V. 3/4) Was also ist die Funktion einer als systematisch verstandenen, sozusagen „harten“ Wissenschaft, und zwar nicht im Blick auf Erkenntnis als Zweck an sich selbst oder auf Fortschritt, sondern im Blick auf die Glückseligkeit des Einzelnen und die rechtliche Verfassung des Staates, also genuin moralische Kategorien? Und wiederum wird die Frage nicht nur auf der begrifflichen und der inhaltlichen Ebene, sondern auch durch die ästhetische Darstellung beantwortet – hier jedoch mit dem Thema entsprechend angepassten, anderen Mitteln lyrischer Sprache.
Zunächst handelt es sich bei dem Gedicht um eine Elegie – ebenfalls eine Form mit einer starken gedankenlyrischen Tradition, wie man bei Schiller auch in Ueber naive und sentimentalische Dichtung nachlesen kann; im elegischen Ton, so erläutert Schiller dort, wird entweder der Verlust der Natur (dann handelt es sich um eine Idylle) oder die Unerreichbarkeit des Ideals (dann handelt es sich um eine Elegie im engeren Sinne) beklagt. Die Frage des Gedichts hat insofern auch eine geschichtsphilosophische Dimension, wie der Spaziergang, die berühmteren Elegie Schillers: Welches Ideal ist der Wissenschaft verloren gegangen?
Beginnen wir zunächst wieder mit etwas Mathematik. Eine Elegie besteht aus Distichen, also jeweils Paaren aus einem Hexameter und einem Pentameter. Die kontrastierenden poetischen Wirkungen beider hat Schiller selbst im berühmten Distichon Das Distichon verglichen:
Im Hexameter steigt des Springquells flüssige Säule,
im Pentameter drauf fällt sie melodisch herab.
Das Gedicht hat insgesamt 27 Distichen, was mathematisch zwar eine Dreiteilung nach 3x9 Strophen nahelegen würde, es ist aber etwas komplizierter aufgebaut. Ziemlich eindeutig weist Der Genius zunächst eine Mittelzäsur mit Vers 27/28 auf, die man als das inhaltliche Zentrum bezeichnen könnte; es heißt dort:
Gleich verständlich für jegliches Herz war die ewige Regel,
gleich verborgen der Quell, dem sie belebend entfloß.
Auf der inhaltlichen Ebene wird hier genau das beschworen, was verloren gegangen ist, das verschwundene Ideal also: Es gab eine Zeit, in der die Herzen im Einklang mit Regeln waren, und zwar ohne Reflexion; und diese Einheit hatte Bestand, obwohl die Quelle dieses Einklangs nicht sichtbar war (wie ein System beispielsweise). Das doppelte „gleich“ markiert dabei in der rhetorischen Figur der Anapher eben diese Parallelität von Ursache und Wirkung, dem verborgenen Quell der Einheit und seiner offenbaren Verständlichkeit für das „Herz“ (und nicht den reflektierenden Verstand!) Diese Einheit wird im Gedicht selbst, Schillers geschichtsphilosophischen Grundüberzeugungen getreu, der „goldenen Zeit“ (V. 15) zugeschrieben.
Neben der Zweiteilung gibt es eine fünfgliedrige Feindifferenzierung, wobei die erste und zweite Strophe genauso eng zusammengehören wie vierte und fünfte, während die dritte für sich steht. Der erste Teil erstreckt sich, durch wörtliche Rede eines fragenden „Du“ deutlich markiert, von V. 1 bis V. 15 und formuliert die schon ausgeführte Grund-frage des Gedichts. Im zweiten Teil antwortet ein lyrisches Ich und beschwört für das Du das verlorene Goldene Zeitalter; er endet mit der bereits zitierten Mittelzäsur in V. 28. Mit einem deutlichen Bruch beginnt der kürzeste dritte Teil: „Aber die glückliche Zeit ist dahin!“ Dieser dritte Teil schildert die Zeit der verlorenen Einheit und führt diesen Verlust im Wesentlichen auf das „entweihte Gefühl“ (V. 31) und die „entadelte Brust“ (V. 32) zurück. Auch hier findet sich also eine Wiederholungsfigur in der doppelten Vorsilbe „ent-“, die das Gefühl des Verlustes als Entzug und Entbehrung verstärken soll; „enta-delt“ ist zugleich ein Neologismus, der immer besondere Aufmerksamkeit herstellt.
Der vierte Teil setzt an, indem das „Du“ wieder direkt apostrophiert wird: „Hast du Glücklicher, nie den schützenden Engel verloren“ (V. 37). Anschließend wird das „Du“ in mehreren rhetorischen Fragen auf seinen Seelenzustand angesprochen. Der fünfte und letzte Teil beendet das Gedicht mit der Beschwörung einer glücklichen Zukunft, einer neuen Zeit der Einheit nämlich: „O dann gehe du hin in deiner köstlichen Unschuld!“ (V. 45). Auf der inhaltlichen Ebene wird die Frage des Gedichts nach dem Verhältnis von „Natur“ und „Schule“ damit relativ eindeutig beantwortet: Glücklich durch die Wissenschaft wird nur derjenige, der die Wahrheit seiner Erkenntnisse unmittelbar durch seine Gefühle bestätigt bekommt - dessen Gedanken also im Sinne der Schillerschen Gedankenlyrik emotionalisiert werden können und dadurch von moralischer Würde sind. Die Richtigkeit dieser Korrespondenz von Gedanke und Gefühl wird von den Göttern bezeugt, die direkt im unverdorbenen menschlichen Herzen sprechen; die menschliche Erkenntnis darf sich niemals von dieser natürlichen, unreflektierten Einheit ablösen, dann gewährt sie automatisch Wahrheit, Glückseligkeit, Recht und Frieden.
Doch welche ästhetischen Mittel wählt Schiller nun, um dieser Idee zu einer ästhetischen Erfahrung im Gedicht zu verhelfen? Einen Hinweis gibt der bereits erwähnte Parallelismus im „Herz“ des Gedichts. Parallelismen und Chiasmen sind rhetorische Figuren, die Schiller und seinem Denken in dualistischen Polaritäten unmittelbar entgegenkommen und die er deshalb vielfältig verwendet, in diesem Gedicht aber auf besonders aussagefähige Art und Weise. Untersucht man nämlich die einzelnen Teile des Gedichts im Blick auf genau diese rhetorischen Figuren der parallelen oder verkreuzten Wiederholung, zeigt sich folgendes:
Das Gedicht beginnt mit einem Parallelismus in den ersten beiden Zeilen, und zwar in Form einer syntaktisch parallelen Formulierung: „‘Glaubʼ ich‘, sprichst du, ‚dem Wort, das der Weisheit Meister mich lehren, / Das der Lehrlinge Schaar sicher und fertig beschwört?‘“ (V. 1/2) Parallel gesetzt werden hier also die sich gegenseitig ergänzenden Gegensätze von „Meister“ und „Lehrlingen“. Gefolgt wird dieser Parallelismus von einem Chiasmus in V. 3 und 4: „Kann die Wissenschaft nur zum wahren Frieden mich führen?“; die folgende Zeile würde genau parallel formuliert lauten: „kann nur des Systemes Gebälkʼ das Glück und das Recht stützen?“; statt dessen heißt es aber: „nur des Systemes Gebälkʼ / stützen das Glück und das Recht“. Der verkreuzende Chiasmus ist deshalb sinnvoll, weil er zum einen die Aufmerksamkeit noch stärker auf die Mittelzäsur des Pentameter legt und sich die ganze Zeile so sehr anschaulich tatsächlich auf das „stützen“ stützt. Zum anderen wird aber bereits subtil angedeutet, dass „Wissenschaft“ und „System“ vielleicht doch nicht ganz parallel zu denken sind, sondern eher miteinander verschränkt werden sollten nach der Art des Chiasmus. Es folgt danach wieder ein Paralle-lismus in V. 5: „Muß ich dem Trieb mistraun […], dem Gesetze […]“; „Trieb“ und „Gesetz“ entsprechen sich damit auf die gleiche Weise wie „Meister“ und „Lehrling“, weisen also eine vergleichbare Komplementarität auf.
Der zweite Teil, die Beschwörung des verlorenen Goldenen Zeitalters, weist ebenfalls eine große Zahl von Parallelismen auf. Viermal beginnt eine Verszeile mit „Da“ (V. 18, 19, 23, 25), um eine Aufzählung von Eigenschaften einzuleiten; viermal fällt das Wort „noch“ (17, 18, 19, 21), um in paralleler Konstruktion den Verlust anzudeuten. Der Parallelismus nimmt hier die Form der Anapher an; offensichtlich ist in diesem Fall die ein-fache Form der beschwörenden Aufzählung, auch aus der Bibel als „Parallelismus membrorum“ bekannt, bezeichnend für die Einfachheit der beschworenen Zeit. Am Ende der Aufzählung findet sich wiederum ein Chiasmus: „Auf das Wahrhaftige nur / nur auf das Ewige wies?“ (V. 24) Wiederum markiert er eine enge inhaltliche Verbindung, die nicht als einfaches Nebeneinander, sondern eher als Verschränkung gedacht werden muss: Was dem Menschen wahrhaftig anmutet, ist für die Götter ewig; umgekehrt ist Ewigkeit aber keine Kategorie, die vom Menschen aufgefasst werden kann. Besonders bezeichnend jedoch ist eine Unregelmäßigkeit im Versmaß kurz vor dem „Herz“ des Gedichts: „Da war kein Profaner, kein Eingeweihter zu sehen“ (V. 25) hat einen Auftakt, der den Hexameter sprengt. Die Variation entspricht offenbar den „freieren Wellen“ der „menschlichen Brust“ (V. 22), von denen kurz zuvor die Rede war, und die sich anschicken, das „stille Gesetz“ der „Notwendigkeit“ (V. 21) zu individualisieren.
Der kurze Mittelteil, der dem Zustand der Entfremdung von „Natur“ und „Schule“ gewidmet ist, weist bezeichnenderweise keinerlei parallelen Konstruktionen auf: Es ist die Zeit der Willkür, des zerstörten Zusammenhangs, der Vereinzelung der Phänomene. Hingegen beginnt der vierte Teil, der nunmehr den Wissenschaftler beschwört, sofort wieder mit einem Parallelismus: „nie den schützenden Engel verloren / nie des frommen Instinkts liebende Warnung verwirkt“ (V. 38/39) – „Engel“ und „Instinkt“ sind ebenso komplementär wie zu Beginn „Gesetz“ und „Trieb“. Es folgen vier parallel konstruierte rhetorische Fragen, ein Spiegelbild des zweiten Teils mit seinen wiederholten parallelen Aufzählungen. Sie gipfeln, wie sonst, in einem Chiasmus: „Wird der Empfindungen Streit nie eines Richters bedürfen / Nie den hellen Verstand trüben das tückische Herz“ (V. 43/44). Verkreuzt werden hier die grundlegenden menschlichen Vermögen, die das Ge-dicht prägen: Empfindung (Herz) und Verstand; sie müssen auf verschränkte Weise, als Wechselwirkung nämlich zusammen wirken, um die Einheit des Menschen zu gewährleisten.
Besonders spannend wird es jedoch wiederum im letzten Teil. Hier gerät nämlich das Versmaß völlig aus dem Rhythmusschema des Distichons. Zeilen wie „Und an alle Ge-schlechter ergeht ein göttliches Machtwort / Was du mit heiliger Hand bildest, mit heiligem Mund / Redest, wird den erstaunten Sinn allmächtig bewegen“ (V. 49-51) gehen nicht auf im schematischen Wechsel von Hexameter und Pentameter; verstörend wirkt auch der krasse Zeilensprung vor „Redest“. Der den Sätzen unterliegende Parallelismus ist noch spürbar (das dreimalige „Was“, das zweimalige „Nicht“), aber ebenfalls syntaktisch eher verschleiert. Erst in seinem Schlussvers kehrt das Gedicht zu seinem gleichmäßigen Grundton zurück: „Einfach gehst du und still / durch die eroberte Welt“ (V. 54). was ist hier passiert, dass das Gedicht dermaßen aus dem Tritt gerät und gegen alle Distichen-Regeln der Welt verstößt?
Passiert ist, dass der titelgebende „Genius“ gefunden wurde (dem wir übrigens nach allgemeiner Auffassung den Namen „Goethe“ geben dürfen): Es gibt ihn, den unschuldigen, mit sich, der Natur und den Göttern im Einklang fühlenden Denkenden, dessen Empfindungen nie mit seinem "hellen Verstand“ streiten, die „schöne Seele“ unter den Wissenden sozusagen. Und er muss sich nicht an Regeln halten: „Dich kann die Wissenschaft nichts lehren. Sie lerne von dir!“ (V. 46) Auch das Gesetz des Versmaßes, das mit „ehrnem Stab den Sträubenden lenket“ (V. 47), gilt ihm nicht: Was er “thut“, was ihm „gefällt“, ist von sich aus „Gesetz“ (V. 48) – eben weil er sich seiner Macht über die Gemüter nicht bewusst ist, den Gott in seiner Brust nicht bemerkt, sondern „einfach“ und „still“ seinen Weg geht, auch im Versmaß, das sich der Regel mal beugt und mal eben nicht. Die Übereinstimmung wird sogar – aber das mag eine Überinterpretation im Eifer des Gefechts sein – zart angedeutet in einem versteckten Anagramm. Der Gott, der dem Genius „im Busen“ „gebeut“ (V. 52), ist parallel gesetzt zur „Gewalt“ des „Siegels“, das „alle Geister dir beuget“ (V. 53). „Beuget“ ist jedoch ein Anagramm zu „gebeut“ – was noch einmal eindrücklich die Gleichrangigkeit von Genius und Gott untermauert: Sie sind nicht nur Alliterationen, sondern sogar Anagramme voneinander. Insgesamt kann man etwas überspitzt sagen, dass das gesamte Gedicht darauf zuarbeitet, am Schluss einen Vers sagen zu können, in dem sich das (wieder) zu erreichende, ideale Verhältnis von „Natur“ und „Schule“ im Genius im Gestus äußerster Einfachheit, ja beinahe Formlosigkeit äußert: „Einfach gehst du und still / durch die eroberte Welt“ - die aber erst im Verlauf des Gedichts sozusagen wiedererobert wurde für den Genius.
Was lässt sich aus diesen Analysen und den theoretischen Vorüberlegungen nun Allgemeineres zum Charakter von Schillers Lyrik gewinnen? Prinzipiell ist es natürlich in jedem Gedicht, sei es erlebnis- oder gedankenlyrisch, eine Ballade oder ein Epigramm, ein Liebes- oder ein Trinklied, die zentrale gestalterische Aufgabe, den darzustellenden Inhalt in eine spezifische Form zu bringen; Formen sind in jedem Gedicht sprechend, nicht nur im gedankenlyrischen. Im gedankenlyrischen sind sie es jedoch auf eine besonders notwendige Art und Weise: Sie allein können dem „stummen Gedanken“, um das Titelzitat aus dem Spaziergang aufzugreifen, „Körper und Stimme“ geben können; sie erst verschaffen der (bei Schiller zwingend moralischen) „Idee“ eine sinnlich wahrnehmbare ästhetische Form und damit einen Anknüpfungspunkt für ihre emotionale Anreicherung im Leser des Gedichts (erlebnislyrische Texte hingegen müssen nicht unbedingt emotional angereichert werden, das besorgt normalerweise das Thema selbst!). Das führt bei Schiller zu relativ durchkomponierten, stark rhetorisch strukturierten und nicht unbedingt beim ersten Lesen verständlichen Gedichten, die hohe Ansprüche an die ästhetische Sensibilität und das poetische Kennertum des Lesers/Hörers stellen. Aber das gehört nun einmal zum Programm „ästhetische Erziehung“, das Schiller ja nicht nur als schöne Theorie formuliert, sondern auch praktisch erprobt: „Sentimentalische“, moderne Leser müssen genauso wie der „sentimentalische“ Dichter erst durch die „Schule“ zur „Natur“ zurückgebracht werden.
Ich habe versucht, diese gedankenlyrische Strategie an zwei Beispielen zu illustrieren. Würde der Frauen behandelt das Thema der Geschlechterpolarität. Die als solche akzeptierten Unterschiede der beiden Geschlechter werden ästhetisch umgesetzt in verschiede-ne „Redeweisen“ des Gedichts; aber ebenso werden die Notwendigkeit ihrer Verschränkung, ihrer gegenseitigen Umfassung, ihrer komplementären Zusammengehörigkeit ästhetisch demonstriert. Männer und Frauen sind, um es noch einmal in unserer etwas groben Alltagssprache des Geschlechterkrieges zu sagen, für Schiller tatsächlich von verschiedenen Planeten – aber es stellt kein Problem dar, wenn Männer nicht zuhören können und Frauen schlecht einparken, so lange klargestellt ist, dass ihre Unterschiedlichkeit keine prinzipielle Unvereinbarkeit ist und auch kein wertendes Unter- oder Überordnungsverhältnis begründet, sondern vielmehr die notwendige Voraussetzung für die in sich komplementäre Ganzheit des menschlichen Geschlechts ist, das eben, als modernes, einparken und zuhören können muss.
Im Genius hingegen geht es um das Verhältnis von „Natur“ und „Schule“, von Gefühl und Wissen, Regellosigkeit und Systemhaftigkeit: Hier liegt die entscheidende ästhetische Leistung darin zu zeigen, inwiefern beides parallel ist (oder war), woraus die verlorene Einheit resultiert, und wie beides wieder in Einklang zu bringen wäre. Dazu bedient sich das Gedicht verschiedener Techniken der Parallelisierung, Entgegensetzung, Wiederholung, Verschränkung oder Vereinzelung sowie gezielter einzelner Regelverstöße. Ein „Genius“ – wie Goethe – hätte es nicht nötig, ein solches Gedicht zu schreiben, da er intuitiv die Regeln aus sich selbst hervorbringt und niemals in Konflikt mit der „Schule“ gerät. Ein sentimentalischer, moderner Dichter hingegen – wie Schiller mit all seiner Neigung zur nicht immer kreativitätsförderlichen Reflexion - muss Gedankenlyrik schreiben, auch wenn es ihm die Leser nicht immer danken. Letztlich jedoch sollten wir auch heute froh sein über alles, was uns den bekanntlich energieaufwendigen, übungsbedürftigen und langwierigen Vorgang des Denkens ab und zu ein wenig erleichtert und vielleicht gar dann und wann mit einem unerwarteten Gefühl plötzlicher Einsicht belohnt.
Würde der Frauen
1 Ehret die Frauen! Sie flechten und weben
Himmlische Rosen ins irdische Leben,
Flechten der Liebe beglückendes Band,
Und in der Grazie züchtigem Schleier,
5 Nähren sie wachsam das ewige Feuer
Schöner Gefühle mit heiliger Hand.
Ewig aus der Wahrheit Schranken
Schweift des Mannes wilde Kraft,
Unstät treiben die Gedanken
10 Auf dem Meer der Leidenschaft.
Gierig greift er in die Ferne,
Nimmer wird sein Herz gestillt,
Rastlos durch entlegʼne Sterne
Jagt er seines Traumes Bild.
15 Aber mit zauberisch fesselndem Blicke
Winken die Frauen den Flüchtling zurücke,
Warnend zurück in der Gegenwart Spur.
In der Mutter bescheidener Hütte
Sind sie geblieben mit schaamhafter Sitte,
20 Treue Töchter der frommen Natur.
Feindlich ist des Mannes Streben,
Mit zermalmender Gewalt
Geht der wilde durch das Leben,
Ohne Rast und Aufenthalt.
25 Was er schuf, zerstört er wieder,
Nimmer ruht der Wünsche Streit,
Nimmer, wie das Haupt der Hyder,
Ewig fällt und sich erneut.
Aber, zufrieden mit stillerem Ruhme,
30 Brechen die Frauen des Augenblicks Blume,
Nähren sie sorgsam mit liebendem Fleiß,
Freier in ihrem gebundenen Wirken,
Reicher als er in des Wissens Bezirken
Und in der Dichtung unendlichem Kreis.
35 Streng und stolz sich selbst genügend,
Kennt des Mannes kalte Brust,
Herzlich an ein Herz sich schmiegend,
Nicht der Liebe Götterlust,
Kennet nicht den Tausch der Seelen,
40 Nicht in Thränen schmilzt er hin,
Selbst des Lebens Kämpfe stählen
Härter seinen harten Sinn.
Aber, wie leise vom Zephyr erschüttert
Schnell die äolische Harfe erzittert,
45 Also die fühlende Seele der Frau.
Zärtlich geängstigt vom Bilde der Qualen,
Wallet der liebende Busen, es strahlen
Perlend die Augen von himmlischem Thau.
In der Männer Herrschgebiete
50 Gilt der Stärke trotzig Recht,
Mit dem Schwert beweist der Scythe,
Und der Perser wird zum Knecht.
Es befehden sich im Grimme
Die Begierden wild und roh,
55 Und der Eris rauhe Stimme
Waltet, wo die Charis floh.
Aber mit sanft überredender Bitte
Führen die Frauen den Scepter der Sitte,
Löschen die Zwietracht, die tobend entglüht,
60 Lehren die Kräfte, die feindlich sich hassen,
Sich in der lieblichen Form zu umfassen,
Und vereinen, was ewig sich flieht.
Der Genius
1 „Glaubʼ ich“, sprichst du, „dem Wort, das der Weisheit Meister mich lehren,
„Das der Lehrlinge Schaar sicher und fertig beschwört?
„Kann die Wissenschaft nur zum wahren Frieden mich führen,
„Nur des Systemes Gebälkʼ stützen das Glück und das Recht?
5 „Muß ich dem Trieb mistraun, der leise mich warnt, dem Gesetze,
„Das du selber, Natur, mir in den Busen geprägt,
„Bis auf die ewige Schrift die Schulʼ ihr Siegel gedrücket,
„Und der Formel Gefäß bindet den flüchtigen Geist?
„Sage du mirʼs, du bist in diese Tiefen gestiegen,
10 „Aus dem modrigten Grab kamst du erhalten zurück,
„Dir ist bekannt, was die Gruft der dunklen Wörter bewahret,
„Ob der Lebenden Trost dort bey den Mumien wohnt.
„Muß ich ihn wandeln, den nächtlichen Weg? Mir graut, ich bekennʼ es!
„Wandeln will ich ihn doch, führt er zu Wahrheit und Recht.«
15 Freund, du kennst doch die goldene Zeit, es haben die Dichter
Manche Sage von ihr rührend und kindlich erzählt,
Jene Zeit, da das Heilige noch im Leben gewandelt,
Da jungfräulich und keusch noch das Gefühl sich bewahrt,
Da noch das große Gesetz, das oben im Sonnenlauf waltet
20 Und verborgen im Ey reget den hüpfenden Punkt,
Noch der Notwendigkeit stilles Gesetz, das stätige, gleiche,
Auch der menschlichen Brust freiere Wellen bewegt,
Da nicht irrend der Sinn und treu, wie der Zeiger am Uhrwerk,
Auf das Wahrhaftige nur, nur auf das Ewige wies?
25 Da war kein Profaner, kein Eingeweihter zu sehen,
Was man lebendig empfand, ward nicht bei Toten gesucht,
Gleich verständlich für jegliches Herz war die ewige Regel,
Gleich verborgen der Quell, dem sie belebend entfloß.
Aber die glückliche Zeit ist dahin! Vermessene Willkür
30 Hat der getreuen Natur göttlichen Frieden gestört.
Das entweihte Gefühl ist nicht mehr Stimme der Götter,
Und das Orakel verstummt in der entadelten Brust.
Nur in dem stilleren Selbst vernimmt es der horchende Geist noch,
Und den heiligen Sinn hütet das mystische Wort.
35 Hier beschwört es der Forscher, der reines Herzens hinabsteigt,
Und die verlorne Natur giebt ihm die Weisheit zurück.
Hast du, Glücklicher, nie den schützenden Engel verloren,
Nie des frommen Instinkts liebende Warnung verwirkt,
Mahlt in dem keuschen Auge noch treu und rein sich die Wahrheit,
40 Tönt ihr Rufen dir noch hell in der kindlichen Brust,
Schweigt noch in dem zufriednen Gemüth des Zweifels Empörung,
Wird sie, weißt duʼs gewiß, schweigen auf ewig wie heut,
Wird der Empfindungen Streit nie eines Richters bedürfen,
Nie den hellen Verstand trüben das tückische Herz –
45 O dann gehe du hin in deiner köstlichen Unschuld,
Dich kann die Wissenschaft nichts lehren. Sie lerne von dir!
Jenes Gesetz, das mit ehrnem Stab den Sträubenden lenket,
Dir nicht giltʼs. Was du thust, was dir gefällt, ist Gesetz,
Und an alle Geschlechter ergeht ein göttliches Machtwort,
50 Was du mit heiliger Hand bildest, mit heiligem Mund
Redest, wird den erstaunten Sinn allmächtig bewegen,
Du nur merkst nicht den Gott, der dir im Busen gebeut,
Nicht des Siegels Gewalt, das alle Geister dir beuget,
Einfach gehst du und still durch die eroberte Welt.
Seit Jan und Aleida Assmann in den 90er Jahren den Begriff des "kulturellen Gedächtnisses" anhand der Untersuchung ägyptischer Hochkulturen entwickelt haben , geistert dieser durch die geistes- und kulturwissenschaftlichen Debatten. Seine enorme Verbreitung hängt wohl damit zusammen, daß er so unmittelbar anschaulich ein Phänomen formuliert, das zunehmend ins Zentrum auch öffentlicher Aufmerksamkeit geraten ist, nämlich das Bedürfnis hochentwickelter Gesellschaften nach identitätsstiftender Erinnerung, gerade im Angesicht der überwältigenden Normierungstendenzen der globalisierten Weltgesellschaft. Dabei wird der Begriff meistens mehr oder weniger als eine Art Metapher benutzt: Denn wer oder was soll eigentlich das Trägermedium eines "kulturelles Gedächtnisses" sein? Offensichtlich ein Kollektiv – entweder die Menschheit in ihrer Gesamtheit, oder nationale oder historische Gruppen. Wie ein Kollektiv allerdings ein Gedächtnis im engeren Sinne haben soll – das ja gebunden ist an eine bestimmte neuronale Architektur eines physisch vorhandenen Gehirns –, ist schwer vorstellbar.
Nun könnte man sich ja auch damit abfinden, daß das "kulturelle Gedächtnis" eben eine besonders gelungene Metapher ist, die eigentlich individuelle und physisch basierte Speicher- und Abrufprozeduren von persönlicher Erinnerung auf kollektive und medial basierte Speicher- und Abrufprozeduren von kulturellem Wissen abbildet. Man stünde damit im Einklang mit so renommierten Forschern wie Niklas Luhmann, der definierte:
Kultur ist [...] das Gedächtnis sozialer Systeme, vor allem des Gesellschaftssystems,
oder eben Jan Assmann:
Das Gedächtnis ist Ursprung und Fundament der Kultur.
Ich will jedoch im folgenden versuchen, die Metapher ein wenig wörtlicher zu nehmen; und ich werde diesen Versuch an einem konkreten Beispiel aus einer kulturgeschichtlich besonders relevanten Schwellenzeit demonstrieren. Es ist in der neueren Kulturwissenschaft und -geschichte unbestritten, daß sich "um 1800" erstmals in der abendländischen Geistesgeschichte ein differenzierter und reflektierter Kulturbegriff ausgebildet hat. Gleichzeitig entsteht auch ein Bewußtsein dafür, daß diese Kultur eine Geschichte und vielfältige Überlieferungstraditionen hat. Damit liegt die Frage nahe, ob diese einschneidenden Veränderungen im kulturellen Bewußtsein nicht vielleicht auch zu entsprechenden Veränderungen im Umgang mit dem kulturellen Symbolinventar geführt haben. Solche Veränderungen seien nämlich, so auch Jan Assmann, nicht nur eine Folge von langfristigen medialen Revolutionen – also beispielsweise der Umstellung der Überlieferung von Oralität auf Literalität oder der Erfindung und Ausbreitung des Buchdrucks. Ihre tieferen Gründe seien vielmehr auch in konkreten kulturellen Konstellationen selbst zu suchen. Es gelte deshalb "diese Verhältnisse in ihrer jeweiligen historischen Konkretisation zu verdeutlichen – etwa im Griechenland des 6.-4. Jahrhunderts, im europäischen Mittelalter oder um 1800".
Diesem Hinweis folgend, will ich das "kulturelle Gedächtnis um 1800" auf eine sehr konkrete literaturhistorische Konstellation in Weimar im Jahr 1788/89 beziehen und auf ein Thema, das mit dem "kulturellen Gedächtnis" der abendländischen Hochkultur aufs engste verknüpft ist, nämlich die Beschäftigung mit der Antike. Ich will im folgenden danach fragen, was diese Auseinandersetzung mit der Antike für das "kulturelle Gedächtnis" um 1800 bedeutet; ob sich in ihrem Gefolge spezifische Veränderungen nicht nur in den semantischen Inhalten und symbolischen Formen dieses Gedächtnisses, sondern auch im Zugriff auf diese und in der Funktion des kulturellen Gedächtnisses für die Identitätsbildung nachweisen lassen. Dazu werde ich als Exempel Schillers Gedicht Die Götter Griechenlands benutzen, das direkt nach seinem Erscheinen eine heftige Debatte über den "richtigen" Umgang mit dem antiken Mythos auslöste. Ich stelle dazu das Gedicht zunächst kurz vor und gehe dann auf die Kritik der Zeitgenossen ein. Abschließend werde ich versuchen, die dabei gewonnenen Ergebnisse sowohl in Assmannschen Termini des kulturellen Gedächtnisses als auch in Bezug auf einen individuellen, neurophysiologisch basierten Gedächtnisbegriff darzustellen.
Die erste Fassung der Götter Griechenlands schrieb Schiller zu Beginn des Jahres 1788. Ein halbes Jahr zuvor hatte er sich in Weimar niedergelassen. Er war in dieser Zeit häufig Hausgast bei Wieland, der gerade an seiner Lukian-Übersetzung arbeitete. Schiller liest darin und ist begeistert; er studiert auch intensiv Homer und Euripides. Im August 1788 äußert er sogar gegenüber seinem Freund Körner den Vorsatz, in nächster Zeit nur noch klassische Autoren zu lesen; er erhoffe sich davon "wahre Simplicität – und vielleicht Classicität" für seinen Stil. Ebenfalls in dieser Zeit erscheint seine Rezension der Goetheschen Iphigenie, in der es einleitend heißt:
Man kann dieses Stück nicht lesen, ohne sich von einem gewissen Geiste des Altertums angeweht zu fühlen, der für eine bloße, auch die gelungenste Nachahmung, viel zu wahr, viel zu lebendig ist. Man findet hier die imponierende große Ruhe, die jede Antike so unerreichbar macht, die Würde, den schönen Ernst, auch in den höchsten Ausbrüchen der Leidenschaft.
Das alles ist kein Zufall. Schiller arbeitet sich intensiv und gezielt in die Literatur der griechischen Antike ein; er bemüht sich dabei sowohl um den Stil als auch um den "Geist" des Altertums. Und es geht ihm dabei nicht um gelehrte imitatio der Alten – und sei es auch die "gelungenste" –; sondern um deren "lebendige" Aneignung.
Begleitend zu diesen Studien entstehen Die Götter Griechenlands. Das Gedicht erscheint in Wielands Teutschem Merkur im März 1788. Es ist, wie die meisten gedankenlyrischen Texte Schillers, ein langes Gedicht mit 25 Strophen à acht Zeilen ; seine Grundthese exponiert Schiller bereits relativ vollständig in den ersten drei Strophen:
Da ihr noch die schöne Welt regiertet,
an der Freude leichtem Gängelband
glücklichere Menschenalter führtet,
schöne Wesen aus dem Fabelland!
Ach! da euer Wonnedienst noch glänzte,
wie ganz anders, anders war es da!
Da man deine Tempel noch bekränzte,
Venus Amathusia!
Da der Dichtkunst malerische Hülle
sich noch lieblich um die Wahrheit wand! -
Durch die Schöpfung floß da Lebensfülle,
Und, was nie empfinden wird, empfand.
An der Liebe Busen sie zu drücken,
gab man höhern Adel der Natur.
Alles wies den eingeweyhten Blicken,
alles eines Gottes Spur.
Wo jetzt nur, wie unsre Weisen sagen,
seelenlos ein Feuerball sich dreht,
lenkte damals seinen goldnen Wagen
Helios in stiller Majestät.
Diese Höhen füllten Oreaden,
eine Dryas starb mit jenem Baum,
aus den Urnen lieblicher Najaden
sprang der Ströme Silberschaum.
Die Welt des antiken Mythos wird programmatisch im ersten Vers als "schöne Welt" eingeführt. Sie wird beherrscht von "Venus Amathusia", die durch das Beiwort nicht nur als Göttin der Liebe, sondern speziell der Schönheit benannt wird. Im Hintergrund steht offensichtlich die Idee Arkadiens, des goldenen Zeitalters, in dem Mensch und Natur noch in Eintracht miteinander und den Göttern lebten. Schiller versieht diesen alten Topos jedoch mit eigenwilligen Akzenten. Zum einen ist Arkadien auch das Reich der Freude, des Glücks, der empfundenen "Lebensfülle" – also ein gefühltes Paradies, wo selbst die "fühllose" Natur zur Empfindung ihrer selbst kommt. Zum zweiten ist Arkadien derjenige Ort, in dem die "Dichtkunst" noch nicht von der "Wahrheit" getrennt war, wo die Dichter also sozusagen die Weisheit gepachtet hatten. Dies alles ist nun im Gegenbild der Gegenwart, das die dritte Strophe einführt, nicht mehr der Fall: Die Weisen (die Schulgelehrten) haben das Wissen an sich gerissen; und die Erde ist ein "seelenloser Feuerball" geworden, empfindet also nicht mehr.
Die Strophen vier bis zehn bringen weitere Beispiele für diesen arkadischen Zustand und beschwören dazu geballt mythologisches Personal herauf. Dabei werden weitere Kennzeichen des goldenen Zeitalters akzentuiert. Es war auch diejenige Zeit, in der Götter und Menschen über die Heroen eng miteinander verbunden waren:
Zwischen Menschen, Göttern und Heroen
knüpfte Amor einen schönen Bund.
Sterbliche mit Göttern und Heroen
huldigten in Amathunt.
Und es war diejenige Zeit, in der die Künstler noch göttliche Ideale gestalten konnten:
Himmlisch und unsterblich war das Feuer,
Das in Pindars stolzen Hymnen floß,
niederströmte in Arions Leier,
In den Stein des Phidias sich goß.
Das arkadische Lebensgefühl gipfelt schließlich in der zehnten Strophe in einem großen Fest, das Dionysos als "großer Freudebringer" anführt. Danach jedoch verdüstert die Gegenwart immer stärker das helle Licht Arkadiens. An die Stelle der vielen Götter der Mythologie ist nun der eine Gott des Christentums getreten:
Einen zu bereichern, unter allen,
mußte diese Götterwelt vergehn.
Dieser eine Gott ist zudem in diesem Gedicht wahrlich kein Gott der Freude. Er offenbart sich weder in der "Sinnenwelt" der Natur noch im "Ideenlande" des Geistes; er verspricht für das jenseitige Leben nur "fremde, nie verstandene Entzücken". Vor allem aber hat er das "lebenswarme Bild" der fühlenden Natur zerstört; von ihr heißt es nun:
gleich dem todten Schlag der Pendeluhr,
dient sie knechtisch dem Gesetz der Schwere
die entgötterte Natur!
Damit sind schließlich auch die Menschen keine Ebenbilder Gottes mehr und ebenso wenig wie die Künstler noch der Erhebung zum Ideal fähig:
Bürger des Olymps konnt' ich erreichen,
jenem Gotte, den sein Marmor preißt,
konnte einst der hohe Bildner gleichen;
Was ist neben Dir der höchste Geist
derer, welche Sterbliche gebahren?
Nur der Würmer Erster, Edelster.
Da die Götter menschlicher noch waren,
waren Menschen göttlicher.
Das Gedicht endet mit einer Art Ultimatum des Dichters an den christlichen Gott als "Werk und Schöpfer des Verstandes" : Entweder er soll den Dichter mit entsprechenden Mitteln ausstatten, um seiner Bildlosigkeit und Fühllosigkeit gerecht werden zu können; oder aber er soll Venus Amathusia, die Göttin der Schönheit und der Freude, zurückbringen.
Direkt nach der Veröffentlichung im Merkur erhebt sich ein öffentlicher Aufschrei. Die Kritiker stürzen sich auf diejenigen Passagen, in denen das Christentum, teilweise implizit, teilweise explizit, kritisiert wird. Den wesentlichen Angriff führt Friedrich Graf Stolberg im August im Deutschen Museum. Stolberg sieht zwar das "poetische Verdienst" des Gedichts, wendet aber ein: "der wahren Poesie lezter Zweck ist nicht sie selbst". Ihre eigentliche Bestimmung vielmehr sei "Wahrheit zu zeigen" – nämlich die der christlichen Religion im Gegensatz zu der "gröbsten Abgötterei" und dem "traurigsten Atheismus" der "griechischen Fantasie".
Die Verteidigung gegen diesen Vorwurf ist gegen Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr allzu schwer zu führen. Schiller beauftragt damit Körner, der in seiner Abhandlung Über die Freiheit des Dichters bei der Wahl seines Stoffes Schillers Umgang mit dem Mythos rechtfertigt. In ihrem Briefwechsel arbeiten Schiller und Körner jedoch in dieser Zeit gemeinsam den eigentlichen Kern ihrer Antwort aus. Der wahren Poesie letzter Zweck, so könnte man Stolbergs Formulierung aufnehmen, ist nämlich doch sie selbst; so schreibt Schiller im Dezember 1788 an Körner in einer der frühesten Formulierungen des klassischen Autonomieprogramms:
Kurz, ich bin überzeugt, daß jedes Kunstwerk nur sich selbst d.h. seiner eigenen Schönheitsregel Rechenschaft geben darf, und keiner andern Foderung unterworfen ist. Hingegen glaube ich auch festiglich, daß es gerade auf diesem Wege auch alle übrigen Foderungen mittelbar befriedigen muß, weil sich jede Schönheit doch endlich in allgemeine Wahrheit auflösen läßt.
Im Laufe der Jahre 1788 und 1789 erscheinen eine Reihe weiterer Veröffentlichungen bekannter und weniger bekannter Autoren, die auf das Gedicht explizit Bezug nehmen. Die Debatte zieht sich noch über Jahre weiter. Wilhelm von Humboldt schreibt schließlich in Über Religion:
Der Dichter wählt darin den Gesichtspunkt der Kunst, des sinnlich Schönen, und des sittlich Schönen, insofern es durch jenes ausgedrukt wird. Aus diesem Gesichtspunkt allein vergleicht er die Religion der Alten und die unsre, den Einfluß, den beide auf Sittlichkeit und Glückseligkeit haben.
Humboldt nimmt damit zum einen die eigene Rechtfertigung Schillers gegenüber den Atheismus-Vorwürfen auf. Schiller hatte nämlich beklagt, daß sich seine Darstellung ganz und gar nicht gegen das Christentum im allgemeinen richte, sondern nur gegen eine ganz bestimmte Interpretation:
Der Gott, den ich in den Göttern Griechenlands in Schatten stelle ist nicht der Gott der Philosophen, oder auch nur das wohlthätige Traumbild des großen Haufens, sondern es ist eine aus vielen gebrechlichen schiefen Vorstellungen zusammen gefloßne Mißgeburt.
Der einseitig negativen Darstellung des Christentums entspreche auf der anderen Seite auch eine einseitig positive Darstellung des griechischen Mythos, von dem er nur die "lieblichen Eigenschaften" akzentuiert habe. Es kommt also auf den Blickwinkel der Betrachtung an; und der ist, so formuliert Humboldt in einer Lieblingsmetapher des 18. Jahrhunderts, ein ästhetischer, nämlich der "Gesichtspunkt der Kunst". Doch Humboldt geht noch einen Schritt weiter: Nicht nur als autonomes Kunstwerk ist das Gedicht in sich selbst gerechtfertigt, sondern gerade durch seine sowohl ethische als auch ästhetische Dimension; es thematisiere nämlich "sittliche Schönheit", insofern sie durch "sinnliche Schönheit" ausgedrückt werden kann. Es geht also um das Bündnis von Schönheit und Wahrheit, das Schiller nicht nur in der Antike findet, sondern auch für seine eigene Dichtkunst fruchtbar zu machen versucht; es geht letztlich um die Begründung von Humanität im Medium der Dichtkunst, die wieder "vergöttlicht", wo eine allzu einseitig rational verstandene Aufklärung "entgöttlicht" hatte.
Mit dieser Idee der ästhetischen Neubegründung von Humanität aus dem Geist der Antike – und speziell der Mythologie - steht Schiller um diese Zeit nicht allein. Im Jahr 1787 hatte Herder den dritten Teil seiner Ideen einer Philosophie der Geschichte der Menschheit veröffentlicht, in dem im 13. Band die griechische Kultur behandelt wird. Und auch Herder möchte angesichts der Fülle und Lebendigkeit der Kulturzeugnisse am liebsten zum Dichter werden:
Ich möchte, wie ein Dichter, den weithinsehenden Apoll und die Töchter des Gedächtnisses, die alleswissenden Musen, anruffen; aber der Geist der Forschung sei mein Apoll und die Parteilose Wahrheit meine belehrende Muse.
Hier taucht immerhin zum ersten Mal in diesem Zusammenhang der Terminus "Gedächtnis" auf, bezeichnenderweise in enger Verbindung mit der Dichtkunst: Die Musen sind die Töchter des Gedächtnisses; in der Kunst erlangt die Überlieferung auch für Herder eine besondere Lebendigkeit. Doch auch so ist sein Lobpreis der griechischen Kultur nicht gerade "parteilos" im modernen Sinn: So preist er die griechische Mythologie als die "reichste und schönste auf der Erde". Und erwähnt in diesem Zusammenhang die gleichen Merkmale, die auch Schillers Arkadien aufweist. Zum ersten werden in der Mythologie Götter und Menschen einander angenähert:
Alles hing an der kühnen Idee, daß Götter mit ihnen verwandte, höhere Menschen und Helden niedere Götter seien; diesen Begriff aber hatten ihre Dichter gebildet.
Damit kommt – zum zweiten - den Dichtern auch hier bei der Überlieferung des Mythos eine besondere Rolle zu. So wird beispielsweise Homer bleibende zivilisatorische Bedeutung für seine Nation und die gesamte Menschheit zugesprochen, er habe selbst "die neueren Völker Europa's aus der Barbarei gezogen". Zum dritten schließlich profitiere die Überlieferung der griechischen Antike besonders von dem exzeptionellen "Genius des Schönen", der selbst ihre mageren Reste noch unübersehbar präge und ihr endgültiges Vergessen verhindere:
denn da die größesten Wunder dieser Art längst zerstört sind, bewundern und lieben wir noch ihre Trümmer und Scherben.
Bei Herder findet sich also der gleiche Konnex von schöner, belebter Welt – engerer Verbindung von Göttern und Menschen – und Überlieferung durch die Dichtung wie bei Schiller. Noch weiter wird dieser Zusammenhang bei Karl Philipp Moritz in seiner Götterlehre (1791) getrieben. Moritz eröffnet die Götterlehre, indem er ebenfalls einen neuen "Gesichtspunkt", eine neue Perspektive auf die antike Mythologie einführt:
Die mythologischen Dichtungen müssen als eine Sprache der Phantasie betrachtet werden. Als eine solche genommen, machen sie gleichsam eine Welt für sich aus und sind aus dem Zusammenhange der wirklichen Dinge herausgehoben.
In der Mythologie hat sich die menschliche Einbildungskraft also sowohl eine eigene Sprache als auch eine eigene Welt geschaffen. Diese ist von der Realität, dem "Zusammenhange der wirklichen Dinge", deutlich abgegrenzt; sie hat ihre eigenen Gesetze, sie ist in sich selbst autonom. Dabei weist sie die schon von Schiller und Herder vertrauten Charakteristika auf: Menschen und Götter werden einander angenähert, die gesamte Natur wird durch die Schönheit wieder belebt:
Die Einbildungskraft belebt die Quellen, Haine und Berge. Unter dem Bilde der Gottheit wird zuletzt die ganze leblose Natur geweiht, in welche der Mensch so innig sich verwebt fühlt und sich so nahe an sie schließt, daß durch dies Band die Götter- und Menschenwelt ein schönes Ganze wird.
Schließlich durchläuft die Mythologie bei Moritz auch eine genetische Bewegung, hin vom Groben, Ungeschlachten, Chaotischen, der Welt der Titanen zu immer feineren Differenzierungen und Bildungen der Götter. In diesem Zusammenhang taucht dann ein neuer Terminus auf, der wiederum ästhetische und ethische Relevanz hat:
Gerade die Vermeidung des Ungeheuren, das edle Maß, wodurch allen Bildungen ihre Grenzen vorgeschrieben wurden, ist ein Hauptzug in der schönen Kunst der Alten.
Schiller, um zu den Göttern Griechenlands zurückzukehren, hat an seinem eigenen Gedicht ähnliches geschätzt: die "gemäßigte Begeisterung" und eine "edle Anmuth mit einer Farbe von Wehmuth" schienen ihm seine Hauptverdienste; einzelne Stellen zudem seien ihm "weniger der Gedanken wegen, als wegen des Geists der sie eingab und wie ich glaube darinn athmet" wichtig. Trotzdem nimmt Schiller auch einen Teil der Kritik an dem Gedicht auf - vor allem diejenige Goethes, der es für zu lang hält - und überarbeitet es. Die zweite Fassung hat statt 25 Strophen nur noch 16; gekürzt hat Schiller vor allem in der ersten Hälfte, die die positiven Einzelbilder aus der griechischen Mythologie aneinanderreiht. Dadurch ist insgesamt die Antithetik eher schärfer ausgeprägt und der elegische Charakter stärker geworden. Hinzugekommen sind zwei neue Strophen, darunter die Schlußstrophe. Sie lautet nun:
Ja sie kehrten heim, und alles Schöne,
Alles Hohe nahmen sie mit fort,
Alle Farben, alle Lebenstöne,
Und uns blieb nur das entseelte Wort.
Aus der Zeitfluth weggerissen schweben
Sie gerettet auf des Pindus Höhn,
Was unsterblich im Gesang soll leben,
Muß im Leben untergehn.
Gegenüber dem vorwurfsvoll-anklagenden Ton der ersten Fassung ist hier ein eher resignierter Ton eingekehrt: Die antiken Götter sind unwiederbringlich verschwunden; sie haben "alles Schöne" mitgenommen und den Menschen nur das "entseelte Wort" – eine unbelebte Sprache der Vernunft, nicht der Phantasie – zurückgelassen. Damit jedoch, so unterstellt nun die vielzitierte Schlußwendung, erfüllen sie ein universelles Gesetz: "Was unsterblich im Gesang soll leben, / Muß im Leben untergehn".
An dieser Zeile haben sich die Interpreten abgearbeitet. Auf der Oberfläche könnte man sie als eine paradigmatische Formulierung der klassischen Autonomieästhetik lesen: Leben und Kunst sind unvereinbar; das Kunstwerk muß sich zum Ideal erheben, das kann es aber nur, indem es zeitlos, eben unsterblich, wird. Wolfgang Frühwald hat jedoch eine stärker textimmanente, poetologische Deutung vorgelegt, die für die hier verfolgte Fragestellung noch ertragreicher ist. Frühwald geht dabei von dem ziemlich singulären Phänomen aus, daß Schiller in seiner Ausgabe der Gedichte von 1803 beide Fassungen aufnimmt und die frühere mit einem Vermerk "für die Freunde der ersten Fassung" versieht. Damit, so Frühwald, dokumentiere Schiller gleichzeitig seinen eigenen Erkenntnisprozeß, der sich in der Umarbeitung zur zweiten Fassung vollzog, für den Leser. Die zweite Fassung müsse dabei als ästhetisch vollendeter gelten, da das Gedicht nun insgesamt eine Elegie geworden sei. Schiller habe damit im Arbeitsprozeß selbst eine elegische Erfahrung gemacht: Auch sein eigenes Gedicht mußte untergehen, weil die naive Einheit von Natur und Kunst nicht einfach wiederherstellbar ist, sondern nur noch als verloren beklagt werden kann; er mußte seinen früheren Text verloren geben, um nun im späteren unsterblich werden zu können.
Ich denke, der besondere Witz an dieser etwas spitzfindigen poetologischen Deutung für meine Fragstellung ist, daß sie die Neufunktionalisierung des kulturellen Gedächtnisses in einem konkreten Arbeitsprozeß zeigt: Es geht nicht darum, die antike Mythologie einfach wiederzubeleben oder allegorisch auszuschlachten, sondern darum, sie umzufunktionieren, einen neuen "Gesichtspunkt" für ihre Betrachtung zu finden. Das, was anfangs noch eine Art gelehrtes Inventar ist – die griechische Mythologie mit all ihren Götternamen, -bildern und -geschichten – wird dabei umgebildet zu einem ästhetischen Modellfall. Ich will im folgenden abschließend versuchen, diesen Prozeß der Neufunktionalisierung des kulturellen Gedächtnisses wie angekündigt zusammenfassend darzustellen, indem ich sie sowohl auf Assmanns Theorie des kulturellen Gedächtnisses als auch auf einen individuellen Gedächtnisbegriff beziehe.
In Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität hat Jan Assmann sechs Merkmale des kulturellen Gedächtnisses angegeben. Ich gehe diese Punkte einzeln am Beispiel Schillers durch und rekapituliere dabei das bereits Gesagte:
1) Das kulturelle Gedächtnis ist – und das ist wohl bei Assmann der wichtigste Punkt – identitätskonkret ; es dient der Stabilisierung der Identität von Gruppen nach innen und deren Abgrenzung gegen andere nach außen. Diese Identitätskonkretheit ist auch für das individuelle Gedächtnis ein wichtiger Aspekt: Wäre doch ohne Erinnerung der eigenen Lebensgeschichte im sogenannten "episodischen Gedächtnis" keine persönliche Identität denkbar.
Bezogen auf Schiller heißt das: Ich habe versucht darzustellen, wie sich durch die öffentliche Auseinandersetzung um Die Götter Griechenlands die Weimarer Klassik um das Konzept der Autonomieästhetik herum auskristallisiert und gegen ältere Poesiekonzepte – beispielsweise das christliche Stolbergs – absetzt. Die dadurch hergestellte Gruppenidentität mag relativ schwach personal besetzt sein, ist aber gleichwohl, nicht zuletzt aufgrund ihrer enormen Wirkung auf die Nachwelt, nicht irrelevant. Goethe und Schiller verfolgen mit ihrem Projekt die Etablierung neuer allgemeingültiger ästhetischer Normen und ethischer Maßstäbe von Literatur, die für viele folgende Generationen von Autoren und Lesern von Bedeutung sein sollten – sei es entweder, um sie respektvoll zu verfolgen oder sich polemisch von ihnen abzusetzen.
2) Nach Assmann verfährt das kulturelle Gedächtnis rekonstruktiv. Es schöpft selektiv aus einem immensen virtuellen Inventar symbolischer Formen, von denen nur Teile jeweils aktualisiert werden. Diese jedoch werden nicht einfach identisch wiederholt, sondern durch ihre Aktualisierung in einer konkreten historischen Konstellation neu konfiguriert. Auch dies ist eine wichtige Eigenschaft des individuellen Gedächtnisses: Authentische Erinnerung ist sozusagen ein höchst unwahrscheinlicher Grenzfall. Vielmehr setzt das Gehirn bei einer Erinnerung über verschiedene Teile des Gehirns verstreute Engramme assoziativ neu zusammen; dies ist ein hochkomplexer Prozeß, der zwangsläufig dazu führt, daß Erinnerung "verfälscht" wird.
Auch für diese Konstruktivität ist Schillers Gedicht geradezu ein Musterbeispiel, indem es bestimmte Aspekte der griechischen Mythologie selektiv hinausgreift (die "lieblichen" Gefühle, die Schönheit, die Bildhaftigkeit, die ethischen Gehalte der Mäßigung und der Idealisierung) und in einen neuen Zusammenhang bringt (die Begründung der Autonomieästhetik und der klassischen Humanitätslehre).
3) Das kulturelle Gedächtnis ist medial geformt und dadurch sozusagen haltbarer gemacht. Wie stark mediale Darstellungsformen auch unsere persönliche Erinnerung prägen, kann zwar kaum physiologisch nachgewiesen werden, ist aber sozialwissenschaftlich vielfach belegt worden. Bei Schiller könnte man mit Assmann eher von poetischer Formung sprechen: Schiller erarbeitet sich über die Götter Griechenlands ein neues Gattungskonzept der Elegie. Die Elegie ist eine prominente Gattung dessen, was man etwas altmodisch als "Gedankenlyrik" bezeichnet; eine Art poetischer Formung, die eine besonders enge Verbindung von Erkenntnis und Anschaulichkeit erstrebt. Gerade die Häufigkeit der "Geflügelten Worte", die aus Schillers gedankenlyrischen Werken entflogen ist, zeugt für das Konservierungspotential und auch die Lebensnähe dieser häufig als unpoetisch kritisierten, aber letztlich sehr wohl-geformten Texte.
4) Das kulturelle Gedächtnis ist nach Assmann organisiert und institutionalisiert. Dieser Punkt ist wohl am schwierigsten auf das individuelle Gedächtnis übertragbar; aber auch hier gibt es so etwas wie durchaus neuronal repräsentierte Erinnerungsroutinen, die durch vielfache Wiederholung eine gewisse Selbständigkeit gewonnen haben, oder soziale Erinnerungsriten (man denke nur an Familienfeiern oder Klassentreffen). Schiller, Herder und Moritz können in dieser Beziehung als "spezialisierte Träger" des kulturellen Gedächtnisses gelten; und die Auseinandersetzung um Schillers Gedicht verläuft in den institutionalisierten Formen der gelehrten Kritik im Medium der Zeitschriften.
5) Das kulturelle Gedächtnis ist nach Assmann in mehrerlei Hinsicht reflexiv: Es ist praxis-reflexiv, selbst-reflexiv und selbstbild-reflexiv. Auch dies gilt offensichtlich für das individuelle Gedächtnis, das sich selbst zumindestens in gewissem Maße beobachten kann, einzelne Erinnerungen durch wiederholten Aufruf neuronal verfestigen, andere durch gezieltes Wegschieben verdrängen und vergessen kann. Wie sehr das Gedächtnis tatsächlich gezielt betriebener Pflege bedarf, wird uns ja gerade heute erst angesichts seiner immer häufiger diagnostizierten altersbedingten Minderleistungen bewußt.
Wenn wir auch diesen Punkt bei Schiller unter den ästhetischen Blickwinkel stellen, tritt eine mehrfache Reflexivität zutage. So steht bei Schiller zum ersten die poetische Praxis in einem ständigen Austausch mit der ästhetischen Reflexion – man kann hier also von Praxis-Reflexivität sprechen. Zum zweiten arbeitet Schiller die Götter Griechenlands ja bewußt um; auch das ist ein hochreflexiver Prozeß, der sich nun direkt auf das Gedicht im Modus der Selbst-Reflexivität bezieht. Und schließlich sind die Götter Griechenlands, als genuin poetologisches Gedicht gelesen, auch selbstbild-reflexiv: Sie entwerfen ein Selbstbild der Dichter um 1800, die sich als würdige Nachfahren eines Homer begreifen wollen – aber bereits Zweifel daran haben, daß das Fortleben im kulturellen Gedächtnis der Menschheit wirklich gesichert ist.
6) Das kulturelle Gedächtnis ist nach Assmann verbindlich in Bezug auf eine Hierarchie von Werten und Normen; es ist insofern handlungsleitend-normativ wie auch erzieherisch-"formativ", indem es zivilisierend und humanisierend wirkt. In Schillers Göttern Griechenlands sowie in den vergleichbaren Schriften Herders und Moritzens wird immer wieder die besonders enge Verbindung von Ethik und Ästhetik hervorgehoben – sei es im Konzept der sinnlichen Schönheit von Wahrheit, im Mäßigungsideal, im Idealisierungsgebot. Gleichzeitig wird auch eine Umwertung ästhetischer Normen vorgenommen: Das Kunstwerk hat seinen Zweck in sich selbst und nicht in der Darstellung ewiger Religionswahrheiten; es ahmt weder die Alten noch die Wirklichkeit nach, sondern ist ein "schönes Ganze" und steht für sich selbst. Damit jedoch transportiert es letztlich auch "allgemeine Wahrheiten" der Humanität.
Vielleicht zeigt sich an dieser Stelle eine besonders bezeichnende Abweichung des kulturellen vom individuellen Gedächtnis. Denn ob das individuelle Gedächtnis "moralisch" verfährt, hängt wohl stark vom persönlichen Wert der Moralität für seinen Träger ab. Was jedoch im individuellen Gedächtnis dafür sorgt, daß bestimmte Erinnerungen gegenüber anderen privilegiert werden, ist nach den Erkenntnissen der Gehirnforschung der emotionale Gehalt einer Erinnerung : Alles das, was im Erleben mit besonders starken Gefühlen verbunden wird, haftet länger im identitätsprägenden episodischen Gedächtnis; ja, unter Umständen wird sogar eher der emotionale Gehalt eines Erlebnisses erinnert als das, was tatsächlich geschehen ist. Wenn wir die Namen und Sagen der Götter Griechenlands vielleicht längst vergessen haben, bleibt vielleicht noch das Gefühl der Freude erhalten, das in ihnen nach Schiller so unvergleichlich Ausdruck gefunden hat – und das er in seinem Gedicht mit den spezifischen Mittel literarischer Verlebendigung und ästhetischer Verbildlichung umso wirkungsvoller sowohl in das individuelle wie auch das kollektive Gedächtnis der Menschheit eingeschrieben hat.
Was ist nun durch diese Formulierung von bekannten Interpretationsergebnissen in Termini des kulturellen wie individuellen Gedächtnisses gewonnen? Ich hoffe, ein zweifacher neuer "Gesichtspunkt". Zum einen zeigt sich vielleicht deutlicher, daß die Ästhetik der Klassik weder interesselos noch praxisirrelevant ist. Sie resultiert vielmehr aus einer einschneidenden Operation am kulturellen Gedächtnis. Verändert werden dabei nicht so sehr seine Symbolbestände (es handelt sich noch nicht um eine neue Mythologie); diese werden vielmehr neu funktionalisiert für eine neue Ethik und neu geformt für eine neue Ästhetik. Zum zweiten, und umgekehrt, sollte der Testfall "um 1800" für die Theorie des kulturellen Gedächtnisses zumindest erwiesen haben, daß dessen Kriterien operational sinnvoll sind; und daß sie auch mit den Erkenntnissen der neurologischen Gedächtnisforschung am Individuum durchaus vereinbar sind. Insofern könnte die Rede vom "kulturellen Gedächtnis" der Menschheit als Kollektiv doch nicht nur eine Metapher sein, sondern letztlich einen engeren Zusammenhang zwischen naturwissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Erkenntnissen zum Gedächtnis belegen. Sie würde damit einen wesentlichen Beitrag zur Etablierung einer transdisziplinären kulturwissenschaftlichen Sprache nach dem Sündenfall disziplinärer Selbstisolation leisten – zu der, nicht zuletzt, auch die Literatur und die Wissenschaft von ihr wichtige Beiträge leisten können.
Helmut Koopmann weist zu Beginn seines Artikels über Schillers Lyrik im Schiller-Handbuch auf einen seltsamen Widerspruch hin. Zum einen seien Schillers Gedichte – der größere Teil von ihnen zumindest – ausgesprochen populär, trotz der historischen Distanz, ihrer für heutige Lesegewohnheiten altertümlichen Sprache, ihres verwirrenden mythologischen Personals. Erschwerend komme noch hinzu, daß sie gerade nicht dem seit dem Ende des 18. Jahrhunderts dominanten lyrischen Erfolgsmuster entsprächen: »Eines waren die Gedichte niemals: Erlebnislyrik«. Gleichwohl hätten sie »ihre Lebendigkeit durch Generationen hindurch« bewahrt. Koopmann führt dieses Rezeptions-Paradox unter anderem darauf zurück, daß sie die »großen Menschheitsthemen, Leben und Tod, Sterben und Freude« behandelten und daß hinter ihrer Themenvielfalt »einfache Raster« auftauchten: »Mann und Frau, Elysium und Hölle, Unsterblichkeit und Tod, Staat und die Würde des Menschen«. Insofern, so könnte man zugespitzt sagen, sind Schillers Gedichte nicht subjektiv-individuell, aber objektiv-menschlich; sie zehren nicht von eigenem Erleben, sondern von anthropologischer Typik. Daß eine solche Lyrik, sei sie auch teilweise theoretisch oder grundsätzlich, keinesfalls notwendig gefühlskalt sein muß, hat Sandra Schwarz in einem grundlegenden Aufsatz zu Schillers lyrischem Stil dargelegt: Das »Herz des Dichters« sei für Schiller von den Anfängen bis zur klassischen Phase ein entscheidendes Kriterium für die Güte eines Gedichts; nur die äußeren Formen der Darstellungen änderten sich.
Im folgenden soll es darum gehen, dem Koopmannschen Paradox nicht-subjektiver Lebendigkeit nachzuspüren, indem die Rolle der Gefühle in und für Schillers Lyrik sowie ihre unterschiedlichen Gestaltung an mehreren Beispielen untersucht werden. Wie ist es möglich, daß ein Gedicht in lebendiger Weise von menschlichen Gefühlen spricht, ohne diese in einem konkreten individuellen Erleben zu verwurzeln? Wie sprechen diese Texte zum Herzen, wenn sie nicht direkt aus dem Herzen sprechen? Und wo ist schließlich dann der Ort dieser Gefühle im Leben des Dichters?
Schiller selbst hat dazu eine aufschlußreiche Bemerkung gemacht. In einem Brief an Körner vom 25.5.1792 – er arbeitet zu dieser Zeit gerade an seiner Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, hat bereits mit dem Kant-Studium begonnen und sehnt sich nach poetischer Produktion – reflektiert er sein eigenes, von ihm selbst als ungewöhnlich betrachtetes künstlerisches Vorgehen:
Man sagt gewöhnlich, daß der Dichter seines Gegenstandes voll sein müsse, wenn er schreibe. Mich kann oft eine einzige, und nicht immer eine wichtige, Seite des Gegenstandes einladen, ihn zu bearbeiten [...]. Wie ist es aber nun möglich, daß bei einem so unpoetischen Verfahren doch etwas vortreffliches entsteht? Ich glaube, es ist nicht immer die lebhafte Vorstellung seines Stoffes, sondern oft nur ein Bedürfniß nach Stoff, ein unbestimmter Drang, nach Ergießung strebende Gefühle, was Werke der Begeisterung erzeugt.
Hier wird eine geläufige produktionsästhetische Vorstellung geradezu in ihr Gegenteil verkehrt: Der Dichter schreibt nicht deshalb ein Gedicht, weil ihm das Herz in einer bestimmten Situation – sei es auch im schönsten Mai und angesichts der lieblichsten Schönheit – überläuft und mit Macht nach sprachlichem Ausdruck verlangt (so etwas tut nur ein Dilettant). Vielmehr verspürt der wahre Dichter einen durchaus »unbestimmten Drang« zur schöpferischen Tätigkeit um ihrer selbst willen aufgrund eines »nach Ergießung strebenden Gefühls«; er ist der begeisterte, besser: der begeisterungsfähige Mensch schlechthin, und welchem Stoff diese Begeisterung dann schließlich eingeschrieben wird, ist letztlich eine Frage geschickter Wirkungskalkulation.
Insofern ist es also durchaus nötig und wichtig, daß der Dichter – und gerade der lyrische Dichter, der es in besonderem Maße mit menschlichen Gefühlen zu tun hat – ein empfindender und empfindlicher Mensch ist, daß er selbst in seinem eigenen Leben Gefühle erlebt, und daß er diese auch in einem gestaltenden Akt zum Ausdruck bringen will. An die Schwestern Charlotte und Caroline von Lengefeld schreibt Schiller am 14. Februar 1790:
Wenn ich glücklich bleiben soll, so muß ich zum Gefühl meiner Kräfte gelangen, ich muß mich der Glückseligkeit würdig fühlen, die mir wird – und dieses kann nur geschehen, wenn ich mich in einem Kunstwerk beschaue.
Das klingt nach Narzißmus, und das ist es, wie bei aller Kunstübung, auch in gewissem Maße. Entscheidend ist jedoch die gedankliche Figur, mit der Schiller hier diese Neigung zur Selbstentäußerung rechtfertigt: Die Selbstbespiegelung im Kunstwerk allein mag zwar für den Augenblick befriedigen; auf Dauer jedoch muß dieser Narzißmus auch moralisch gerechtfertigt werden. Er wird es, indem die Dichtung als primäre Lebensäußerung, als exemplarische Ausdrucksform von lebendigen »Kräften« verstanden wird; und als solche soll sie eine dauerhafte Befriedigung verschaffen, soll gewährleisten, daß der Dichter – mit Kant gesprochen – nicht nur glücklich, sondern auch seiner »Glückseligkeit würdig« ist. Dazu jedoch gehört – komplementär zur narzißtischen Bespiegelung – die Selbstentäußerung, die Distanznahme: Das Werk ist nicht nur gestaltetes Leben, es ist auch neues und für den Schöpfer selbst letztendlich fremdes Leben.
Deshalb sind Schillers Gedichte nicht trivial-biographisch zu lesen. Zweifellos jedoch sind sie von seinem Leben auch nicht zu trennen. Die neuere Schiller-Forschung hat mit Recht hervorgehoben, daß sich das Schillersche Werk in zentralen Zügen nicht zuletzt aus der allgegenwärtigen Lebenserfahrung der Krankheit speist. Mir geht es im folgenden darum zu zeigen, wie vor allem die Lyrik aus den mit seinen zwischenmenschlichen Beziehungen verbundenen Lebens- und Gefühlserfahrungen hervorwächst; wie sich mit der lebensgeschichtlichen Entwicklung seiner Gefühle auch seine Lyrik verändert. Es ist bezeichnend, daß Schiller Gedichte nur zu bestimmten Zeiten seiner literarischen Produktivität schreibt; und daß er selbst immer wieder reflektiert, welche unterschiedlichen Triebe und Motive gerade hinter seiner lyrischen Produktion stecken.
Der ganz junge Schiller ist zunächst noch ein typischer Dilettant, der durchaus des äußeren Anstoßes für seine Dichtung bedarf und deshalb ein wenig verkrampft auf die Suche nach hinreichend anregenden Erlebnis-Gehalten geht. Diese findet er vor allem in enthusiastisch verklärten Freundschaften. Schon seine Jugendfreunde werfen ihm allerdings mit einigem Recht vor, daß er die in seinen Briefen so wortmächtig vorgetragenen Freundschaftsschwüre nur um des lyrischen Effekts willen vorspiele. Vor allem im Briefwechsel mit seinem späteren Schwager Reinwald aus dem Jahr 1783, während seiner beinahe völligen Vereinsamung in Bauerbach, ist das Versiegen solcher äußeren Empfindungsquellen ein ständiges Thema. Im Februar beklagt Schiller sich, »daß das Genie wo nicht unterdrükt, doch entsezlich zurückwachsen, zusammenschrumpfen kann, wenn ihm der Stoß von aussen« fehle. In einem Brief vom Juni ist von in seinem Kopfe schlafenden »Ideen« die Rede, die durch eine »Magnetnadel«, durch die »Friction« an anderen Seelen, herausgezogen werden müßten; in einem Brief an Dalberg, den damaligen Intendanten des Mannheimer Nationaltheaters, wird er ein Jahr später davon sprechen, daß auch der »feurigsten Phantasie« und der »thätigsten Schöpffungskraft« »eine elastische Feder nöthig« sei; und »die Maschine wird noch erwartet, die sich ewig fort selbst treibt, ohne aufgezogen zu werden«.
Die Häufung der mechanistischen Metaphern ist auffällig: Schiller denkt zu dieser Zeit durchaus noch in den spätaufklärerisch-anthropologischen Bahnen seiner Philosophie der Physiologie. Ein Perpetuum mobile als Motor der Dichtung – nicht mehr und nicht weniger sucht der junge Lyriker; und so lange er dieses noch nicht gefunden hat, verwendet er als Antrieb der Dichtungs-Maschine vorläufig die Freundschaftsempfindung. Mit den Bildern vom Magneten, der gespannten Feder und des äußeren Anstoßes verbindet sich gleichzeitig eine besondere Freundschaftsauffassung. Sie ist zunächst ein zutiefst natürliches, ja naturgesetzliches menschliches Bedürfnis – das zeigen die zitierten Vergleiche aus dem Bereich der Naturwissenschaften. Und sie ist darüber hinaus darauf angewiesen, um im Bilde zu bleiben, daß der Magnet tatsächlich anzieht und abstößt, die Feder sich spannt und entspannt, der Anstoß wirklich etwas Ruhendes in Bewegung setzt. Im Umgang mit dem Freund muß der Geist Funken schlagen können; erst durch die Erfahrung eines Austauschs auf gleichem geistigen Niveau entstehen die emotionale und geistige Belebung sowie die daraus resultierende gehobene dichterische »Stimmung«, die Schiller im anfangs bereits zitierten Brief an Reinwald als eigentliche Voraussetzung des schöpferischen Prozesses bezeichnet:
Mühsam, und wirklich oft wider allen Dank muß ich eine Laune eine dichterische Stimmung hervorarbeiten, die mich in zehen Minuten bei einem guten denkenden Freunde sonst anwandelt. Oft auch bei einem vortreflichen Buch oder im offenen Himmel. Es scheint Gedanken laßen sich nur durch Gedanken loken – und unsre Geisteskräfte müssen wie die Saiten eines Instruments durch Geister gespielt werden.
Aus seiner geistigen und emotionalen Isolation in Bauerbach wird Schiller aus heiterem Himmel durch die Unterstützung des Dresdner Freundeskreises um Christian Gottfried Körner erlöst. Im April 1785 reist er nach Sachsen und findet dort zunächst genau die so heftig ersehnte Art von Freundschaft und geistiger Anregung. In einem Brief an Körner vom Mai 1785 weitet er, noch im Hochgefühl der neuen Erfahrung, das enthusiastische Freundschaftsgefühl als Prinzip sogleich auf die ganze Menschheit aus:
Ich fühl es jezt an uns wirklich gemacht, was ich als Dichter nur ahndete – Verbrüderung der Geister ist der unfehlbarste Schlüßel zur Weisheit. Einzeln können wir nichts. [...] Diß lag aufgedeckt vor dem großen Meister der Natur, darum knüpfte er die denkenden Wesen durch die allmächtige Magnetkraft der Geselligkeit aneinander.
Dieses Verbrüderungsgefühl – das hier immer noch mit der Naturkraft des Magnetismus verglichen wird – hat seinen stärksten Ausdruck wohl in einem Gedicht gefunden, dessen Entstehung denn auch genau in diese Zeit Mitte 1785 fällt. Die Rede ist natürlich von An die Freude – einem der populärsten Texte Schillers, der heute zumindestens als ›Europa-Hymne‹ in der Vertonung Ludwig van Beethovens in aller Ohren ist. Formal steht der Text sowohl in der hohen gattungspoetischen Tradition der aufklärerischen Odendichtung als auch in der etwas niedrigeren geselligen Tradition zeitgenössischer Freimaurerlieder. Auch inhaltlich bedient sich das Gedicht eines verbreiteten Motivschatzes zum Thema Freude; die dazugehörigen Naturbilder wurden bereits in der Antike geprägt und im 18. Jahrhundert vor allem in den Werken der Anakreontiker und Klopstocks aufgegriffen. Schiller selbst betont in einem Brief an Friedrich Kunze (ein weiteres Mitglied des Körnerschen Freundeskreises) vom Dezember des Jahres etwas übertrieben burschikos den Aspekt des geselligen Trinkliedes:
Ich wußte, daß euch mein Lied an die Freude Vergnügen machen würde, denn wir sind, soviel ich weiß, über den Punkt so ziemlich auf einen Ton gestimmt, und überdieß kömmt der Dichter immerhin ganz erträglich weg, wenn ihm das Herz seines Lesers das Urtheil spricht. Guter Humor, Freundschaft, und ein Glas alten Rheinweins werden schon noch zuweilen einen Funken Begeisterung aus mir schlagen. Es sollte übrigens ein Gesez gemacht werden, daß jeder Leser für den angenehmen Augenblik den ihm ein Gedicht macht, befugt wäre dem Dichter eine Bouteille zu dediciren, wenn das Gedicht auf den Wein ist, und die Mädchen, ihn zu küssen, wenn das Gedicht von der Liebe handelt. Wo Henker soll man sonst zulezt sein Feuer herhohlen?
Der letzte Satz macht noch einmal unverhohlen darauf aufmerksam, daß der Dichter einen äußeren Anstoß, einen zündenden Funken Begeisterung für seine lyrische Tätigkeit braucht, den er ebenso wie aus der Freundschaft von Wein und Weib erhalten kann, und der sich bei der Lektüre auf den Leser überträgt – jedenfalls so lange dessen »Herz« das Urteil spricht, der Leser als getreues Spiegelbild des begeisterten Autors das Gedicht also ausschließlich auf sein eigenes Gefühl wirken läßt.
Ich werde im folgenden nicht detailliert auf das gesamte Gedicht eingehen, sondern nur einige grobe Grundzüge skizzieren. Zunächst ist in formaler Hinsicht auffällig, daß es sich um einen dialogischen Wechselgesang handelt: Auf neun jeweils achtzeilige Strophen aus kreuzgereimten, vierhebigen Trochäen respondieren neun vierzeilige, ebenfalls vierhebig trochäische Chor-Strophen mit einem umarmenden Reim. Selten einmal ist bereits ein einfaches Formmerkmal so sprechend: Den kreuzgereimten längeren Strophen des Vorsingers entsprechen häufig auch inhaltliche Antithesen – »Deine Zauber binden wieder / was der Mode Schwerd geteilt« (V. 1). Die Chorverse hingegen betonen in ihrem Umarmungsgestus – »Seid umschlungen Millionen!« (V. 9) – die Gemeinsamkeit, die durch die allumfassende Erfahrung von Freude hergestellt wird, und berufen sich in immer gleichem Vokabular, Erhebungsgestus und Tonfall auf die letzte Einheit aller Menschen in Gott.
Was nun jedoch macht die Freude eigentlich zu einem solch hymnisch angesungenen Götterfunken? Die neun Strophen geben neun verschiedene Antworten auf diese Frage, die zugleich eine gewisse Systematik in ihrer Aufeinanderfolge aufweisen – also Ansätze einer Argumentationsstruktur, die über der traditionellen Sprunghaftigkeit und ›schönen Unordnung‹ der aufklärerischen Ode gar nicht so leicht zu erkennen ist. Die grundlegendsten Eigenschaften der Freude exponiert die allbekannte erste Strophe: Sie ist ein »Götterfunken« (V. 1) – also ein Geschenk der Götter an die Menschen, ein Zeichen ihrer Gegenwart, darin dem ›Enthusiasmus‹ verwandt; sie macht wie dieser »feuertrunken« (V. 3), berauscht und begeistert die Menschen also zu etwas Höherem; sie wirkt verbindend (s. umarmender Reim), und zwar durch ihren »Zauber« (V. 5), der alle menschlichen, zeitgebundenen »Moden« (V. 6) überdauert.
In den folgenden Strophen werden weitere Gründe zur Freude aufgezählt. An erster Stelle steht, natürlich, die Freundschaft, nur knapp nachgeordnet folgt die Liebe. Wer sich hingegen völlig unfähig im Aufbau menschlicher Beziehungen erwiesen hat, die in der Chorstrophe unter dem zeitgenössischen Titel der »Simpathie« (V. 22) subsumiert werden, möge sich »weinend« aus dem Bruderbunde der Menschheit »stehlen« (V. 19f.). Die etwas hochfahrende Erbarmungslosigkeit dieser Stelle wird häufig kritisiert, ergibt sich aber nur logisch aus der Überhöhung des Freundschaftskonzepts: Die Unfähigkeit zur Sympathie ist die Ursünde schlechthin. An zweiter Stelle folgt die mütterliche Natur, die dem Menschen nicht nur Rosen, Küsse und Reben, sondern auch wiederum die Freundschaft gegeben hat; ihr entspricht im Chorgesang Gott als Schöpfer der Welt. Freude ist jedoch, zum dritten, nicht nur eine Wirkung der schönen Natur, sondern auch eine Triebfeder der »ewigen Natur« (V. 38) in einem durchaus naturwissenschaftlichen Sinn; sie hält sowohl den Mikrokosmos (die »Blumen« aus den »Keimen«, V. 41) wie auch den Makrokosmos (die »Sonnen« und »Sphären«, V. 42f.) in Bewegung.
Die nächsten Strophen verlassen die physische Welt, um sich in die moralische zu begeben: Freude belohnt den Forscher wie den Märtyrer; sie ermöglicht Versöhnung und Verzeihung selbst zwischen Todfeinden; sie begeistert durch das »goldne Blut« (V. 74) der Trauben; sie verleiht Standhaftigkeit im Unglück und Solidarität in der Verzweiflung; ja, sie erleichtert schließlich sogar den Tod und gibt dem Menschen eine fröhliche Aussicht auf das Jenseits. Das Gedicht schließt:
Auch die Toden sollen leben!
Brüder trinkt und stimmet ein,
Allen Sündern soll vergeben,
Und die Hölle nicht mehr seyn.
Chor
Eine heitre Abschiedsstunde!
süßen Schlaf im Leichentuch!
Brüder – einen sanften Spruch
Aus des Todtenrichters Munde! (V. 101-108)
Tatsächlich sind die verschiedenen Funktionen wie Wirkungen, die der Freude hier zugeschrieben werden, jedoch einigermaßen unterschiedlich: Kann man denn wirklich den Jubel eines Wissenschaftlers über eine neue Erkenntnis mit den euphorisierten Rauschzuständen einer geselligen Runde vergleichen, die versöhnliche Stimmung eines angeheiterten Trinkers mit der Aussicht auf die generelle und endgültige Abschaffung der Hölle? Was bildet den gemeinsamen Nenner all dieser einigermaßen disparaten Elemente? Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang ein fragmentarischer Text Schillers aus dem Nachlaß, der Furcht und Freude gegenüberstellt. Dort heißt es:
1. Menschliche Thätigkeit. Ihre Triebfedern und ihre daraus folgenden Gränzen.
a) Furcht.
b) Freude.
Furcht zielt auf Stillstand. (Krais der sinnlichen Existenz)
Freude auf Fortschreitung. (Wachsthum der Thätigkeit)
Das Ideal der Furcht ist die verlängerte Gegenwart.
Das Ideal der Freude die vermehrte Gegenwart.
Furcht existirt in den Gränzen deßen was da ist.
Freude schaft was nicht da ist.
Beherschung durch Furcht macht Knechtische Resignation
Fähigkeit zur Freude Begeisterung im weiten Verstande, oder Verwegenen Anspruch
Die Freude ist also, neben der Furcht, nach Schiller die wichtigste Antriebskraft für jegliche menschliche Tätigkeit schlechthin – wofür An die Freude eine Vielzahl von Beispielen liefert. Verbunden wird der Begriff der »Tätigkeit« dabei mit den Kategorien von Wachstum, Vermehrung, Grenzüberschreitung, Neuschöpfung. Im Gedicht hieß das, unter Benutzung der bekannten mechanistischen Metaphorik:
Freude heißt die starke Feder
In der ewigen Natur.
Freude, Freude treibt die Räder
In der großen Weltenuhr. (V. 37-40)
Die eigentliche Antriebskraft der Uhrenräder ist jedoch auch im Fragment Furcht und Freude der mit der Freude untrennbar verbundene Enthusiasmus als ›Be-geisterung‹ im wörtlichen Sinn : In der Freude äußert sich das Bewußtsein, daß Göttliches oder Gottgleiches in uns selbst erlebt, erfahren und gestaltet werden kann; Freude ist, sozusagen, die Ausdrucksform des Enthusiasmus in der Erscheinung.
Doch auch die zweite hier postulierte Triebkraft des Menschen, die Furcht, kommt in Schillers vorklassischer Lyrik zu ihrem Recht. An die Freude wird in der Thalia gemeinsam mit einem wohl kurz zuvor entstandenen Seitenstück veröffentlicht. Dieses trägt den ebenso kategorischen Titel Resignation. Eine Phantasie; im oben zitierten Fragment hieß es: Furcht macht »knechtische Resignation«; die Furcht ist, komplementär zur Freude, also die Ausdrucksform der melancholischen Resignation in der Erscheinung. Das Gedicht stellt die Abrechnung eines frustrierten lyrischen Ich mit der »Geistermutter [...] Ewigkeit« (V. 12) dar, das »seiner Jugend Freuden« (V. 35) einschließlich der Geliebten Laura der christlichen »Weisung auf das andre Leben« (V. 34) geopfert hatte; in einer besonders drastischen Formulierung heißt es: »All meine Freuden hab ich dir geschlachtet« (V. 81). Nun jedoch sieht es sich bitter enttäuscht: »Zwei Blumen«, so belehrt ihn ein unsichtbarer Genius am Ende, blühten den Menschen: »sie heißen Hofnung und Genuß« (V. 89f.):
Wer dieser Blumen eine brach, begehre
die andre Schwester nicht.
Genieße wer nicht glauben kann. Die Lehre
ist ewig wie die Welt. Wer glauben kann, entbehre.
Die Weltgeschichte ist das Weltgericht.
Du hast gehoft, dein Lohn ist abgetragen,
dein Glaube war dein zugewognes Glük.
Du konntest deine Weisen fragen,
Was man von der Minute ausgeschlagen
gibt keine Ewigkeit zurück. (V. 91-100)
Die Freude an der erfüllten Gegenwart, die doch auch dem lyrischen Ich von Resignation als göttlich-natürliches Erbe zugebilligt worden war – »Auch ich war in Arkadien geboren / auch mir hat die Natur / an meiner Wiege Freude zugeschworen« (V. 1-3) , heißt es zu Beginn des Gedichts –, diese Freude wird hier gerade nicht als große Vereinigungs- und Verbrüderungserfahrung verklärt: Sie kann nicht gleichzeitig mit dem christlichen Glauben und der Hoffnung auf ein besseres Leben nach dem Tode bestehen.
Welchem Schiller glauben wir nun? Dem weinberauschten, millionenumschlingenden, sogar den Tod überwindenden hymnischen Dichter von An die Freude, oder dem verbitterten, von der Welt verhöhnten, auf eine leere Hoffnung verwiesenen lyrischen Ich von Resignation? Wer Schiller, seine zwiespältige Natur und seine Neigung zu Antithesen kennt, wird natürlich vermuten: beiden. Und das liegt nicht nur darin begründet, daß es sich in beiden Gedichten letztlich um Rollenlyrik handelt, sondern eben auch darin, daß Schiller beides, den enthusiastischen Aufschwung und den resignierten Abschwung, aus eigenem Erleben kennt. Schon bald nach dem kurzen Sommer der Freundschaft im Jahr 1785 muß er nämlich erfahren, daß diese eben kein Perpetuum Mobile ist, daß die »Empfänglichkeit für die Freude« durch widrige Umstände »erstickt« werden kann , und daß die Exaltation auf Dauer Schwindel bereitet. Schon Ende 1785 heißt es in einem Brief an Ferdinand Huber mit einem bemerkenswerten neuen Bild, das nun nicht mehr rein mechanisch, sondern in ersten Ansätzen bereits ästhetisch gedacht wird:
Das Knabenjahr unseres Geistes wird jezo aus seyn, wie ich mir einbilde, so auch die Flitterwoche unserer Freundschaft. [...] Enthousiasmus und Ideale, mein theuerster, sind unglaublich tief in meinen Augen gesunken. [...] Ich lobe die Begeisterung, und liebe die schöne ätherische Kraft, sich in eine große Entschliessung entzünden zu können. Sie gehört zu dem beßern Manne, aber sie vollendet ihn nicht. Enthousiasmus ist der kühne, kräftige Stoß, der die Kugel in die Luft wirft, aber derjenige hieße ja ein Thor, der von dieser Kugel erwarten wollte, daß sie ewig in dieser Richtung und ewig mit dieser Geschwindigkeit, auslaufen sollte. Die Kugel macht einen Bogen; denn ihre Gewalt bricht sich in der Luft. [...] Ueberblättre diese Allegorie nicht, mein bester, sie ist gewiß mehr, als eine poëtische Beleuchtung, und wenn Du aufmerksam darüber nachgedacht hast, so wirst Du das Schiksal aller menschlichen Plane gleichsam in einem Symbol darinn angedeutet finden. Alle steigen und zielen nach dem Zenith empor wie die Rakete, aber alle beschreiben diesen Bogen, und fallen rükwärts zu der mütterlichen Erde. Doch auch dieser Bogen ist ja so schön!!
Zu Beginn des Jahres 1788 gibt Schiller sogar zu, daß er sich, in Ermangelung natürlicher Triebkräfte – wie der Freundschaft und der damit verbundenen enthusiastischen Erfahrung von Freude – einer Art Dopings bedient hat, um überhaupt weiter poetisch tätig zu sein. Ebenfalls an Huber schreibt er im Januar:
Alle die Triebfedern die mir seit vorigen Jahren Thätigkeit gegeben, sind ganz durchaus unwirksam geworden. [...] Was ist jezt mein Zustand oder was war er, seitdem Du mich kennst? Eine fatale fortgesetzte Kette von Spannung und Ermattung, Opiumschlummer und Champagnerrausch.
Aber er verordnet sich auch bereits selbst ein Heilmittel: Eine Frau muß her, eine solide bürgerliche »Häuslichkeit«,
eine ununterbrochene sanfte Uebung in geselligen Freuden die einen so schönen Boden und gleichsam die Grundfarbe des Lebens machen und einem Menschen, bei dem Kopf und Herz ständig beschäftigt seyn müssen, heilsam und unentbehrlich sind.
Schiller weiß offensichtlich nicht nur, wie man die körperlichen Gebrechen durch Chinarinde, sondern auch, wie man die seelischen Leiden sowohl durch Leben als auch durch Schreiben therapiert: nämlich durch Beschäftigung, und zwar keine einseitige, sondern eine ausgeglichene (von »Kopf und Herz«), und keine einsamen, sondern »gesellige Freuden«. Für das Herz stellen sich dann auch erfreulicherweise gleich zwei Kandidatinnen ein, nämlich die Schwestern Charlotte und Caroline von Lengefeld; und für den Kopf eröffnet er zu Beginn der 90er Jahre die »philosophische Bude« der mehrjährigen Kant-Lektüre. Als er dann ab 1795 wieder beginnt, sich lyrisch zu betätigen, entsteht neben den großen philosophischen Gedichten auch eine kleine Dithyrambe, die sich als Gegenstück zur jugendlichen Ode An die Freude lesen läßt.
Das antiken Mustern verpflichtete Chorlied zu Ehren des Gottes Bacchus geht wiederum auf einen konkreten, geselligen Anlaß zurück: Der Erfurter Koadjutor Karl Theodor Dalberg hatte ihm als Dank für den übersandten Musenalmanach 1796 zwölf Flaschen Rheinwein geschickt. Wie in An die Freude verwendet Schiller einen Wechselgesang. Das Gedicht insgesamt ist jedoch ungleich lebendiger, lyrisch virtuoser und inhaltlich konzentrierter geworden. Die Gestaltung lebt von dem rhythmischen Wohlklang eines hüpfenden Daktylus in kurzen und langen Verszeilen, von der spielerischen Wiederholung einzelner Schlüsselwörter , den Parallelismen und lautmalerischen Wiederholungen. Genau im Zentrum der drei Strophen und Gegenstrophen steht die Freude, die nun jedoch explizit allein den Göttern zugeschrieben wird (»sie wohnt nur in Jupiters Saale«, V. 13). Der Dichter kann nur an ihr teilhaben, wenn er, von göttlichem Nektar berauscht, die eigene Sterblichkeit aus den Augen verliert (»den Styx, den verhaßten«, nicht mehr schaut; V. 18) und sich selbst ein Gott dünkt. Der Effekt jedoch ist keinesfalls mehr der begeisternd-berauschende, den die Ode An die Freude so vielfältig verherrlicht hatte; vielmehr wird der »Busen« »ruhig« und das »Auge« »helle« (V. 21). Beruhigung und Besänftigung bewirkt die Teilnahme am göttlichen Freudenrausch; statt dionysischer Trunkenheit gewinnt der Dichter also apollinische Hellsichtigkeit. Ein solcher Poet, und sei er auch noch so sehr von der Freude geküßt, wird nicht mehr enthusiastische Oden, sondern gedankenschwere Elegien und von epischer Distanz geprägte Balladen verfassen. Im gleichen Jahr notiert Schiller, inzwischen gesetzter Ehemann und Vater sowie kollegialer Freund Goethes und Wilhelm von Humboldts in einem Brief an letzteren mit lakonischen Worten eine – gleichwohl wahre – Trivialität:
Es ist erstaunlich, wieviel realistisches schon die zunehmenden Jahre mit sich bringen.
Als Schiller seine Gedichte für eine neue Gedichtausgabe überarbeitet, gerät ihm auch An die Freude wieder unter die Finger. An Körner, den treuen Jugendfreund, schreibt er:
Die Freude hingegen ist nach meinem jetzigen Gefühl durchaus fehlerhaft, und ob sie sich gleich durch ein gewißes Feuer der Empfindung empfiehlt, so ist sie doch ein schlechtes Gedicht und bezeichnet eine Stufe der Bildung, die ich durchaus hinter mir lassen mußte um etwas ordentliches hervorzubringen.
Versteckt sich in diesem Zitat mehr als die unter Dichtern häufig genug peinlich berührte spätere Ablehnung des eigenen Jugendwerks? Die poetischen Maßstäbe haben sich verschoben, das ist zunächst klar; An die Freude ist vom Standpunkt der klassischen Ästhetik aus ein schlechtes Gedicht, weil es in typisch dilettantischer Weise von subjektiven Empfindungen zehrt, einem veralteten Formideal huldigt und allegorische Bilder mehr oder weniger unverbunden aneinanderreiht: Es soll eben nur »zum Herzen« sprechen, und das tut es – aber auch nicht mehr, so meint Schiller. Aber was ist nun an die Stelle der jugendlichen Triebkraft, des Feuers des Enthusiasmus, getreten? Warum überhaupt noch Lyrik im Realismus der »zunehmenden Jahre«?
Eine Art Bilanzierung des eigenen Lebenswegs als Dichter findet sich bezeichnenderweise in dem ersten Gedicht überhaupt, das Schiller 1795 nach Schließung der »philosophischen Bude« und Wiedereröffnung des poetischen Ideenhandels verfaßte. Es trägt den Titel Die Ideale und hat, vergleichbar der frühen Resignation, einen zutiefst desillusionierten Charakter. In sehr einfacher, regelmäßiger Formgestaltung und mit zurückhaltend eingesetzter Bildlichkeit schildert es die zunehmende Verfinsterung des Lebenswegs von der »goldnen Zeit« (V. 6) der Jugend mit ihren »heitern Sonnen« (V. 9) bis hin zum »finstern Haus« (V. 92) des Todes. Der Schluß jedoch nimmt noch einmal einen Aufschwung und verzeichnet dasjenige, was die erbarmungslose Destruktion der Ideale durch die rauhe Lebenswirklichkeit überlebt hat.
Von all dem rauschenden Geleite,
Wer harrte liebend bei mir aus?
Wer steht mir tröstend noch zur Seite
Und folgt mir bis zum finstern Haus?
Du, die du alle Wunden heilest,
Der Freundschaft leise, zarte Hand,
Des Lebens Bürden liebend theilest,
Du, die ich frühe sucht' und fand,
Und du, die gern sich mit ihr gattet,
Wie sie, der Seele Sturm beschwört,
Beschäftigung, die nie ermattet,
Die langsam schaft, doch nie zerstört,
Die zu dem Bau der Ewigkeiten
Zwar Sandkorn nur für Sandkorn reicht,
Doch von der großen Schuld der Zeiten
Minuten, Tage, Jahre streicht. (V. 89-104)
Und hier finden wir zwei alte Bekannte. Die Freundschaft hat sich als beständiges Lebensprinzip erwiesen. Es handelt sich dabei jedoch, beispielsweise im Falle Goethes und Humboldts, aber auch in der Beziehung zu seiner Frau, um durchaus andere Freundschaftsmodelle als die enthusiastisch eingefärbten Geistesverwandtschaften der Jugend. Das beweist die genannte zweite überlebende Triebkraft, die mit dieser Art von Freundschaft explizit verbunden wird, sich gar mit ihr »gattet«, und die sich Schiller schon früh als Arbeits- und Lebenstherapie verschrieben hatte: die »Beschäftigung« (V. 99) nämlich. Sie bildet das nunmehr endlich gefundene Perpetuum mobile von Schillers Dichtung, und zwar durch die belebende Wirkung der Gestaltungskraft selbst, die »langsam schafft, doch nie zerstört«.
Das lyrische Ich erklärt sich damit letztlich für autonom auch in schöpferischer Hinsicht. Es benötigt weder Freude noch Enthusiasmus, die miteinander gekoppelten Antriebskräfte im vorklassischen Modell – über die Freude kann der gereifte Dichter nicht verfügen, sie muß ihm von den Göttern geschenkt werden; der Enthusiasmus der Jugend mutiert auf ganz natürlichem Wege zum Realismus des zunehmenden Alters und absorbiert dabei im übrigen auch die Furcht als negative Triebkraft. Die Freundschaft besteht zwar die Prüfung der Zeit; sie begeistert jedoch nicht mehr zur Dichtung, sondern beruhigt die Seele vielmehr und gibt ihr die »Grundfarbe des Lebens«. Die »nie ermattende« Beschäftigung jedoch, so prosaisch wie der ganze Terminus selbst schon in seinem Klang , erschöpft sich nicht in ihrem Vollzug.
Das bedarf einiger Erläuterung: Warum eigentlich ermattet die Beschäftigung nie? Offensichtlich hängt das mit einer privilegierten Eigenschaft schöpferischen Tuns zusammen; es »schafft« zwar nur »langsam«, »zerstört« aber niemals. Das logische missing link an dieser Stelle ist der zentrale Terminus von Schillers Ästhetik, der des Spiels. Die kreative »Beschäftigung« muß sich natürlich spielerisch vollziehen; es geht nicht um sinn- und gedankenlosen Zeitvertreib oder gar hektische Betriebsamkeit. Beim Spielen – und nur dort, wie Schiller apodiktisch in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen behauptet – kommt der Mensch in einen ausgeglichenen und lustvollen Zustand zeitloser und gleichzeitig zeiterfüllter Beschäftigung. Eine originelle anthropologische Begründung für diese besonders belebende Wirkung von spielerisch erlebter Affektivität – speziell in der Kunst, aber nicht nur dort – gibt bereits Kant in seiner Kritik der Urteilskraft, die bekanntlich eine der wesentlichen Quellen für Schillers klassische Ästhetik ist. Dort heißt es in der Anmerkung zu § 53 Vergleichung des ästhetischen Werts der schönen Künste untereinander zu den verschiedenen Arten des Spiels:
Alles wechselnde freie Spiel der Empfindungen (die keine Absicht zum Grunde haben) vergnügt, weil es das Gefühl der Gesundheit befördert: wir mögen nun in der Vernunftbeurteilung an seinem Gegenstande und selbst an diesem Vergnügen ein Wohlgefallen haben oder nicht; und dieses Vergnügen kann bis zum Affekt steigen, obgleich wir an dem Gegenstande selbst kein Interesse, wenigstens kein solches nehmen, was dem Grad des letztern proportioniert wäre. [...]
Wie vergnügend die Spiele sein müssen, ohne daß man nötig hätte, interessierte Absicht dabei zum Grunde zu legen, zeigen alle unsere Abendgesellschaften; denn ohne Spiel kann sich beinahe keine unterhalten. Aber die Affekten der Hoffnung, der Furcht, der Freude, des Zorns, des Hohns spielen dabei, indem sie jeden Augenblick ihre Rolle wechseln, und sind so lebhaft, daß dadurch, als eine innere Motion, das ganze Lebensgeschäft im Körper befördert zu sein scheint, wie eine dadurch erzeugte Munterkeit des Gemüts es beweist, obgleich weder etwas gewonnen noch gelernt worden.
Nach Kant kann der Mensch also in den Spielen der Kunst wie der Gesellschaft auf vorzügliche Weise seine physische und geistige Gesundheit erfahren: Die spielerischen Bewegungen selbst, die durch Affekte im Körper und im Geist ausgelöst werden, erzeugen »Munterkeit« und Lebhaftigkeit – und damit ein befördertes Lebensgefühl selbst.
Schiller stellt in seiner ästhetischen Theorie weniger auf die körperlichen Wirkungen des Spieles ab, obgleich auch diese nicht völlig aus dem Blick geraten. Wichtig ist für ihn vor allem, daß beim ästhetischen Spiel kein Affekt so stark wird, daß er die Freiheit des Geistes einschränkt. In Über Bürgers Gedichte (1791) führt er seine nunmehr klassische Poetologie des Gefühls im Gedicht aus und verlangt in diesem Zusammenhang vom Idealdichter:
Aus der sanftern und fernenden Erinnerung mag er dichten, und dann desto besser für ihn, je mehr er an sich erfahren hat, was er besingt; aber ja niemals unter der gegenwärtigen Herrschaft des Affekts, den er uns schön versinnlichen soll. Selbst in Gedichten, von denen man zu sagen pflegt, daß die Liebe, die Freundschaft u. s. w. selbst dem Dichter den Pinsel dabei geführt habe, hatte er damit anfangen müssen, sich selbst fremd zu werden, den Gegenstand seiner Begeisterung von seiner Individualität loszuwickeln, seine Leidenschaft aus einer mildernden Ferne anzuschauen. Das Idealschöne wird schlechterdings nur durch eine Freiheit des Geistes, durch eine Selbsttätigkeit möglich, welche die Übermacht der Leidenschaft aufhebt.
Ideale Tätigkeit, höhere und höchste Beschäftigung sozusagen, ist für Schiller letztlich »Selbsttätigkeit«; und diese kommt in absoluter Form nur dem freien Geist, der durch nichts Sinnliches eingeschränkten Vernunft zu. Von dieser Position aus ist es klar, warum Die Ideale ein geradezu ›ideales‹ Gedicht über die menschlichen Gefühle sein können: Sie sprechen aus der von Schiller geforderten »sanftern und fernern Erinnerung«; und sie sprechen zwar tatsächlich über etwas, das Schiller »an sich erfahren hat«, aber die Erfahrung und die mit ihr verbundenen, ursprünglich ja durchaus starken Gefühle von Frustration und Desillusionierung haben keine »gegenwärtige Herrschaft« mehr über ihn. Eigens erwähnt werden auch hier wieder die starken lyrischen Triebkräfte von »Liebe« und »Freundschaft«; doch auch sie müssen nun »sich selbst fremd« geworden sein, wenn der Dichter den Pinsel ergreift. Hier findet sich das anfangs erwähnte Koopmannsche Rezeptions-Paradox der entsubjektivierten Lebendigkeit, der erlebten Typik in schönster Ausformulierung.
Der Preis, den der Dichter dafür zahlen muß, ist logischerweise eine Entindividualisierung. Das thematisiert Schiller auch in Über Matthissons Gedichte:
Nun ist aber in den Beschaffenheiten eines Subjekts nichts notwendig als der Charakter der Gattung; der Dichter kann also nur insofern unsere Empfindungen bestimmen, als er sie der Gattung in uns, nicht unserm spezifisch verschiedenen Selbst, abfodert. Um aber versichert zu sein, daß er sich auch wirklich an die reine Gattung in den Individuen wende, muß er selbst zuvor das Individuum in sich ausgelöscht und zur Gattung gesteigert haben. Nur alsdann, wenn er nicht als der oder der bestimmte Mensch (in welchem der Begriff der Gattung immer beschränkt sein würde), sondern wenn er als Mensch überhaupt empfindet, ist er gewiß, daß die ganze Gattung ihm nachempfinden werde.
Was er jedoch auf der anderen Seite gewinnen soll, ist die umfassende Erfahrung reiner Menschheit, die sich nach Schillers ästhetischer Theorie am stärksten in der maximalen Entfaltung von freier Selbsttätigkeit des Gemüts äußert. Die prosaische »Beschäftigung« ist insofern wohl mit Recht als das lebensweltliche Äquivalent des philosophischen Fachterminus zu betrachten; sie ist der Ausdruck der Selbsttätigkeit in der Erscheinung. Aber dabei kommt schließlich auch die Freude wieder zu ihrem Recht. Sie steht nun aber nicht mehr am Beginn des schöpferischen Prozesses, sie bringt das Gedicht nicht mehr als Schmiermittel in Gang. Vielmehr ist sie nun das letzte Wirkungsziel aller Kunst und statt an den göttlichen Enthusiasmus eng an das menschlichere Konzept der geistigen Selbsttätigkeit gekoppelt.
Bei aller möglichen Kritik an diesem heroischen Konzept von entindividualisierter Gattungs-Individualität und einer sozusagen objektiven Emotionalität sollte man nicht übersehen, daß damit auch eine Art stillschweigender Säkularisierung einhergeht: Die Freude ist nicht mehr ein Privileg schwärmerischer Jugendlichkeit noch ein unverfügbares Geschenk der Götter an einige ihrer Lieblinge, sondern im Leben – nämlich in der Kunst – machbar. Und man muß dafür auch kein Idealdichter sein, sondern es genügt, ein idealer, sprich: schöpferisch selbsttätiger, Leser zu sein; Schillers Ästhetik ist in all ihren Aspekten immer gleichzeitig Produktions- und Rezeptionsästhetik. In Ueber den Gebrauch des Chors in der Tragödie werden deshalb noch einmal die zentralen hier exponierten Termini – Freude, Freiheit und tätiges Spiel – zusammengeführt:
Alle Kunst ist der Freude gewidmet, und es gibt keine höhere und keine ernsthaftere Aufgabe, als die Menschen zu beglücken. Die rechte Kunst ist nur diese, welche den höchsten Genuß verschafft. Der höchste Genuß aber ist die Freiheit des Gemüths in dem lebendigen Spiel aller seiner Kräfte.
Es sei erlaubt, sich Goethe und damit dem eigentlichen Thema auf einem Umweg zu nähern. Denn im folgenden soll es nicht um Goethe als Rezipient von Weltkultur oder als prominenten Kulturschaffenden, sondern um Goethe als Kulturtheoretiker gehen - eine etwas ungewohnte Vorstellung, ist doch Schiller derjenige, der im arbeitsteiligen Freundesbund sowohl für theoretische Konzepte im allgemeinen wie auch für Äußerungen zum Begriff Kultur im speziellen zuständig ist. Und Schiller ist es auch, der kulturtheoretische Vorstellungen seiner Zeit häufig in poetischen Werken verarbeitet; eines der bekanntesten Beispiele ist seine 1795 entstandene Elegie ‘Der Spaziergang’. Damit liegt der Rückweg zu Goethe jedoch schon ganz nahe: Wo Schiller spazierengeht, läßt Goethe wandern - in gewisser Hinsicht könnte der Gegensatz zwischen den beiden Weimarer Größen kaum genauer bezeichnet werden. Der Spaziergang war ein prominenter Topos des späten 18. Jahrhunderts für die vielseitigen Bildungsmöglichkeiten des menschlichen Geistes im Einklang mit seinem Körper; Goethes Wanderer hingegen suchen zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht nach Aufklärung über sich selbst oder ästhetischer Erfahrung, sondern nach Wissen über die Welt und ihren Gestaltungsmöglichkeiten in dieser. Während das Spazierengehen noch weitgehend philosophisch-ästhetisch verstanden werden konnte, wird das Wandern zu einer ethisch-praktischen Anstrengung, die nicht im Weg selbst ihr Ziel sieht, sondern ganz konkrete Ziele tatsächlich erreichen will. Kurz: Spazierengehen ist schönes Spiel, Wandern ist harte Arbeit.
Ausgehend von dieser Topologie der menschlichen Fortbewegung will ich im folgenden verschiedene Kulturkonzepte untersuchen, die sich in literarischen Texten Goethes und Schillers finden. Unter “Kulturkonzepten” verstehe ich hier eine Vermittlungsform zwischen einer begrifflich ausformulierten Kulturtheorie - wie sie beispielsweise in Schillers Abhandlung ‘Über die ästhetische Erziehung des Menschen’ zu finden wäre - und einer rein deskriptiven oder erzählerischen Darstellung kultureller Phänomene und Praktiken. Ein “Kulturkonzept” in diesem Sinne stellt Kultur als symbolischen, menschengeschaffenen Kosmos zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt und unter bestimmten räumlichen Bedingungen sowie mit einem Mindestmaß an Komplexität der Beziehungen dar; es kann einen literarischen Text strukturieren, indem es den zentralen Bezugspunkt all seiner fiktiven wie nicht-fiktiven Elemente bildet. Dazu habe ich zwei recht unterschiedliche Beispiele, sowohl von Umfang, Gattung wie auch Anspruch her, gewählt: Schillers bereits erwähnte Elegie ‘Der Spaziergang’ und Goethes Roman ‘Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden’. Dabei soll die eher kursorische Beschäftigung mit dem Schillerschen Gedicht - betrachtet sozusagen als kulturtheoretischer Normaltext für die Zeit um 1800 - vor allem als Folie dafür dienen, das Neue und weit ins 19. Jahrhundert Vorausweisende an Goethes Kulturvorstellungen in seinem Roman zu demonstrieren.
I. “Und die Sonne Homers, siehe! sie lächelt auch uns” - ein Spaziergang von der antiken polis zur französischen Revolution
Beginnen wir mit dem Angenehmen und begeben uns zunächst mit Schillers Spaziergänger schlendernd hinaus aus “des Zimmers Gefängnis” und “engem Gespräch” (V. 7f.) in eine idyllische Flußlandschaft mit Weitblick: “Sei mir gegrüßt, mein Berg mit dem rötlich strahlenden Gipfel, / Sei mir, Sonne, gegrüßt, die ihn so lieblich bescheint!” (V. 1f.). Die erste Fassung des 100 Distichen umfassenden Gedichts entstand 1795 im unmittelbaren Entstehungskontext der Schrift ‘Über naive und sentimentalische Dichtung’ und erhielt den poetologisch-programmatischen Titel ‘Elegie’; die überarbeitete Fassung von 1799 wurde unter dem Titel ‘Der Spaziergang’ veröffentlicht und sowohl von Schiller selbst wie von seinen Zeitgenossen außerordentlich hochgeschätzt. Es sei nur Herders Reaktion zitiert, der das Gedicht bereits als Kulturgeschichte in nuce liest: Der Text enthalte “eine Welt von Scenen, ein fortgehendes, geordnetes Gemählde aller Scenen der Welt und Menschheit”. Ich werde dieses “Gemählde” im folgenden kurz darzustellen und zu untergliedern versuchen, bevor ich auf seinen kulturtheoretischen Gehalt eingehe.
Das Gedicht besteht aus drei inhaltlich deutlich zu unterscheidenden Teilen - was vor dem Hintergrund des triadischen Geschichtsmodells in den gleichzeitig entstehenden theoretischen Schriften eine Trivialität ist. Die Verse 1-58 schildern den Beginn des Spaziergangs eines lyrischen Ich in einer konkreten Umgebung; der Weg verläuft von einer sommerlich blühenden Flußaue durch einen Buchenwald den Berg hinauf bis zu einem Aussichtspunkt, der offensichtlich an einem schroffen Felsabhang gelegen ist. Der Blick geht von dort weit über das Flußtal mit seinen Flößen, die bebauten Äcker und die Dörfer auf ein in der Ferne liegendes Gebirge. Die geschilderte Landschaft ist offensichtlich idyllisch im Sinne von Schillers in ‘Über naive und sentimentalische Dichtung’ entworfenen Konzept: Mensch und Natur leben in Einklang, ja geradezu in einer Art Liebesverhältnis miteinander -
Nachbarlich wohnet der Mensch noch mit dem Acker zusammen,
Seine Felder umruhn friedlich sein ländliches Dach,
Traulich rankt sich die Reb empor an dem niedrigen Fenster,
einen umarmenden Zweig schlingt um die Hütte der Baum (V. 51-54).
Die Gesetze der Natur gelten auch für den Menschen, die Zeit vollzieht sich in regelmäßigen Zyklen:
Glückliches Volk der Gefilde! noch nicht zur Freiheit erwachet,
Teilst du mit deiner Flur fröhlich das enge Gesetz,
Deine Wünsche beschränkt der Ernten ruhiger Kreislauf,
Wie dein Tagewerk, gleich, windet dein Leben sich ab (V. 55-58).
Es ist kein reiner Naturzustand, der hier gezeigt wird. Die Äcker sind bebaut, die Wiesen werden von Schafen beweidet, “muntre Dörfer” (V. 49) sind entstanden - die Kultivierung der Natur im ursprünglichen, agrarischen Sinne hat bereits begonnen. Und schon folgen ihr die ersten geistigen Entwicklungsprozesse: Ein Eigentumsbegriff entsteht, der zunächst noch als von den Göttern selbst hervorgebracht und als Äquivalent zu einem Naturgesetz dargestellt wird:
Jene Linien, sieh! die das Landmanns Eigentum scheiden,
In den Teppich der Flur hat sie Demeter gewirkt,
Freundliche Schrift des Gesetzes, des menschenerhaltenden Gottes (V. 39-42).
Neben das Trennende der Grenzen treten gleichzeitig erste Verbindungen zwischen den Menschen, die das in sich geschlossene Bild des mit seinem Acker und seiner Hütte verwachsenen Landmannes aufzulösen beginnen: Flöße gleiten über den Strom, in “freieren Schlangen” zieht sich die “Länder verknüpfende Straße” (V. 42ff.) dahin. Und spiegelbildlich profitiert auch der Weg des Spaziergängers selbst von einer Kultivierungsleistung:
Aber zwischen der ewigen Höh und der ewigen Tiefe
Trägt ein geländerter Steig sicher den Wandrer dahin (V. 35f.).
Mit einem unübersehbaren Einschnitt, gekennzeichnet durch ein geradezu atemberaubendes Enjambement und einen für diesen Textteil typischen Komparativ, beginnt der zweite, umfangreichste Abschnitt des Gedichts, seine Kulturgeschichte im engeren Sinne:
Aber wer raubt mir auf einmal den lieblichen Anblick? Ein fremder
Geist verbreitet sich schnell über die fremdere Flur! (V. 59f.)
Vor dem Leser vollzieht sich im folgenden im Zeitraffer die kulturelle Entwicklung der Menschheit, geschildert in positiven wie negativen Aspekten. Erste Städte entstehen aus der Ansammlung von Menschen; sie werden durch gemeinsame Gefühle (Patriotismus, Ahnenverehrung, Enthusiasmus) zusammengehalten und nach außen durch Feindschaften abgetrennt; es entsteht, nun historisch konkret, die antike polis mit ihrem mythologischen Götterhimmel. Die Götter sind weiterhin Statthalter der Natur, werden aber auch als Ehrenbürger der polis eingemeindet und verhindern dadurch zunächst die Entfremdung des Menschen von seinen eigenen Ursprüngen:
Nieder stiegen vom Himmel die seligen Götter, und nehmen
In dem geweihten Bezirk festliche Wohnungen ein (V. 79f.).
Symbolisiert wird die innere Geschlossenheit der polis darüber hinaus durch die sie umgebenden Stadtmauern: Sie umfassen die Gemeinschaft wie im ersten Teil der Baum die Hütte des Landmannes. An diese Konzentrationsphase schließt sich jedoch wiederum eine Phase der Expansion an, die Stadtmauer öffnet sich und wird zum Ausgangspunkt weiterer Kultivierungsbemühungen, die bezeichnenderweise immer noch im Bildfeld des agrarischen Kulturbegriffs geschildert werden können:
Heilige Steine! Aus euch ergossen sich Pflanzer der Menschheit,
Fernen Inseln des Meers sandtet ihr Sitten und Kunst (V. 87f.).
Immer schneller vollziehen sich von nun an technische und wirtschaftliche Veränderungen: Die Natur wird industriell ausgebeutet, die Götter dadurch vertrieben - “Zischend fliegt in den Baum die Axt, es erseufzt die Dryade” (V. 103). Handel und Gewerbe als materielle Basis kultureller Kontakte wachsen und blühen und lassen die Welt zusammenrücken. Gesichert durch diesen Fortschritt bei der primären Bedürfnisbefriedigung entwickeln sich auch Künste und Wissenschaften freier; die Überlieferung durch Schrift gewährleistet kulturelle Kontinuität nun auch über größere Zeiträume und Entfernungen hinweg.
Mit einem großzügigen Schritt übergeht die Vision an dieser Stelle das Mittelalter, um unmittelbar in der eigenen Zeit, der der Aufklärung, anzukommen:
Da zerrinnt vor dem wundernden Blick der Nebel des Wahnes,
Und die Gebilde der Nacht weichen dem tagenden Licht (V. 137f.).
Gleichzeitig schlägt jedoch der von der Darstellung der Antike getragene Kulturoptimismus in eine rousseauistisch geprägte Kulturkritik um:
Seine Fesseln zerbricht der Mensch. Der Beglückte! Zerriß er
Mit den Fesseln der Furcht nur nicht den Zügel der Schaam! (V. 139f.)
Die nun hervortretenden Gefahren der kulturellen Entwicklung sind vor allem in einer Selbstüberschätzung des forschenden Geistes begründet, und zwar auf Kosten des natürlichen Gefühls, der Stimme des Enthusiasmus im Menschen: “es irrt selbst in dem Busen der Gott” (V. 148) ist die topologische Formel dafür. Die sich steigernde Krisis gipfelt im Bild der Revolution, die sich als mächtiger Drang zurück zur Natur äußert und in den kraftvollsten Bildern des Textes geschildert wird:
Einer Tigerinn gleich, die das eiserne Gitter durchbrochen
Und des numidischen Wald’s plötzlich und schrecklich gedenkt,
Aufsteht mit des Verbrechens Wuth und des Elends die Menschheit (V. 167-169).
Die Mauern der Stadt, das textinterne Symbol des zweiten Teils für den menschengeschaffenen kulturellen Zusammenhalt, werden geschleift, und der befreite Mensch kehrt zurück auf die “verlassene Flur” (V. 172) - das im ersten Teil etablierte Symbol der ursprünglichen Einheit von Mensch und Natur.
Die im Mittelteil geschilderte kulturelle Entwicklung läßt sich damit am besten am Leitfaden des Verhältnisses des Menschen zur Natur darstellen. Bildete die Natur anfangs noch die Grundlage sowohl des physischen wie des geistigen Lebens, wird sie im Laufe der kulturellen Entwicklung zunehmend instrumentalisierend in Gebrauch genommen und dadurch auf ihre materiellen Aspekte reduziert: rücksichtslos ausgebeutet durch Handel und Industrie, bis in die letzten Geheimnisse erforscht durch die Wissenschaft, schließlich völlig entseelt durch Verstellung und Berechnung in den menschlichen Beziehungen:
Deiner heiligen Zeichen, o Wahrheit, hat der Betrug sich
Angemaßt, der Natur köstlichste Stimmen entweiht (V. 157f.).
Damit einher geht die Verdrängung der Götter, der ursprünglichen Repräsentanten des Zusammenhangs von Mensch und Natur, und zwar sowohl in der äußeren Religionsform wie auch bis ins Innere der Menschen hinein. Damit einher geht des weiteren ein Verlust des ursprünglichen emotionalen Zusammenhalts unter den Menschen, der von den gesellschaftlichen Organisationsformen bis in die intimsten Verhältnisse hineinreicht:
Aus dem Gespräche schwindet die Wahrheit, Glauben und Treue /
Aus dem Leben, es lügt selbst auf der Lippe der Schwur (V. 149f.).
Dies alles kann und soll im Kontext des Gedichts vor allem als Abweichung von der Natur verstanden werden: Der Mensch wird nicht nur der natürlichen Umwelt, sondern auch seiner eigenen Natur untreu, indem er den Verstand zum einzigen Gott und Richter erhebt und seine Gefühle, die Stimme der Natur in ihm selbst, verdrängt. Am Schluß ist alles, was einmal die Verbindung zwischen den Menschen herstellte, zerstört: die Götter, das Vertrauen, die Gesetze - “bleibend ist nichts mehr” (V. 148).
“Aber wo bin ich?” (V. 173) fragt sich das lyrische Ich entsetzt am apokalyptischen Schlußpunkt seiner Vision - ein Ausruf, der sich offenbar sowohl auf die Konsequenzen seiner Gedanken wie auch auf seine konkrete räumliche Situation bezieht. Mit ihm kehren wir von der Vogelperspektive der Kulturgeschichte wieder zur Nahperspektive des Spaziergangs zurück; an die Stelle der Bewegung durch die Zeit tritt im dritten Teil des Textes wieder der konkrete Raum, die Umwelt. Doch auch diese ist nun durch Trostlosigkeit und Hoffnungslosigkeit gekennzeichnet: kein geländerter Steg, keine freundlichen Fernblicke mehr - der Weg führt nicht weiter, Abgründe öffnen sich nach allen Seiten, ein Wasserfall stürzt ins Tal hinunter, ein einsamer Adler kreist über der Szenerie. Nach einer kurzen Besinnung wird das lyrische Ich jedoch gewahr, daß sich diese vermeintliche Ausweglosigkeit nur auf die Abwesenheit menschlich-kultureller Zeichen erstreckt; die Natur selbst hingegen weist ihm den Ausweg aus der gedanklichen Sackgasse, in die er mit seiner phantastischen Vision geraten ist, und bewirkt eine geradezu kathartische Läuterung:
ach! und es war nur ein Traum,
Der mich schaudernd ergriff, mit des Lebens furchtbarem Bilde,
Mit dem stürzenden Thal stürzte der finstre hinab (V. 186-188).
Dem mechanischen Wechsel unterworfen sind nur die menschlichen Dinge; diese Einsicht formuliert das lyrische Ich in geradezu mechanisch hämmernden, gleichmäßig alternierenden Versen: “Ewig wechselt der Wille den Zweck und die Regel, in ewig / Wiederhohlter Gestalt wälzen die Thaten sich um” (V. 191f.). Beständig hingegen bleibt die Natur, die “jugendlich immer, in immer veränderter Schöne” (V. 193) dem Menschen gegenübertritt. Und mit einer freundlichen Vision endet der kulturgeschichtliche Ausflug, der so vielversprechend begonnen hatte und so traurig zu enden schien:
Unter demselben Blau, über dem nehmlichen Grün
Wandeln die nahen und wandeln vereint die fernen Geschlechter,
und die Sonne Homers, siehe! sie lächelt auch uns (V. 198-200.).
Nun ist es wohl kaum ein Zufall zu nennen, daß die Sonne - als Stellvertreterin der freundlichen, allumfassenden Natur - von Homer - also einem Dichter, noch dazu der gepriesenen goldenen Zeit menschlicher Kultur - flankiert wird. Offensichtlich ist es die spezielle Aufgabe des Dichters, gegenüber einem fortgeschrittenen Kulturzustand, der im Text durch Kennzeichen wie Gleichheit, ewige Wiederholung und Beliebigkeit der Bedeutungszuweisungen geprägt ist - “Regel wird alles, und alles wird Wahl und alles Bedeutung” (V. 65) - ein Bewußtsein für eine Einheit von Mensch und Natur wachzuhalten, die nicht nur rückblickend als naive Idylle oder im Blick auf die Gegenwart als sentimentalische Verlusteinsicht dargestellt werden kann. Diese noch zu erringende, utopische Einheit wäre gegenüber der ursprünglichen naiven Einheit zusätzlich durch eine spezifische kulturelle Errungenschaft gekennzeichnet, nämlich die Vielfalt, die aus den menschlichen Bemühungen um Verbindung, Kommunikation und Austausch gewonnen wurde. Die Darstellung dieser Vielfalt (aber nicht deren Herstellung) - bei gleichzeitiger Rückbindung an die unveränderlichen Gesetze der Natur und die durch sie demonstrierte Einheit von Mensch und Natur - ist das ureigene Werk des Dichters; weshalb das Gedicht Schiller selbst wohl nicht ohne Grund als “dichterischstes seiner Produkte” erschien, in dem “der Gedanke selbst so poetisch gewesen und geblieben” sei. Sie vollzieht sich als “Spaziergang” durch die Räume und die Zeiten, als spezifisch ästhetische Erfahrung.
Schillers Kulturkonzept beruht damit grundlegend auf der Polarität von Natur und Kultur - sowohl im Menschen selbst wie in seiner von ihm gestalteten Umgebung. Das Verhältnis beider ist einem stetigen Wandel unterworfen, der sich gleichermaßen als geschichtsphilosophischer, anthropologischer und realgeschichtlicher Prozeß mit einer gewissen Teleologie vollzieht. Das Individuum entwickelt sich in diesem Prozeß parallel zu seiner Gattung, dem “Menschengeschlecht”; deshalb kann das lyrische Ich auch pars pro toto die gesamte Kulturgeschichte der Menschheit imaginieren. Da der Einzelne immer nur einen kurzen Abschnitt dieser Entwicklung selbst erleben kann, bewahrt die Kunst für ihn die Erfahrungen der Vergangenheit - als goldenes Zeitalter einer naiven Einheit von Natur und Kultur - und weist ihm den Weg in die Zukunft - als Entwurf einer Synthese von natürlicher Einfalt und kultureller Vielfalt.
II. “Wo wir uns der Sonne freuen, sind wir jede Sorgen los” - eine Wanderung von Europa nach Amerika und zurück
Die Wanderer in den ‘Wanderjahren’ hingegen sind nicht mehr interessiert an ästhetischer Erfahrung, geschichtsphilosophischem Trost oder fernen goldenen Zeitaltern, sondern am tätigen Aufbau der Kultur selbst; in Goethes Altersroman wird Kultur weniger dar- als vielmehr hergestellt. Nun steht das “Wandern” im Text mit mehreren Problemkreisen im Zusammenhang; ich werde mich im folgenden auf die Auswanderungsthematik im engeren Sinn und die mit ihr verbundene Europa-Amerika-Kontroverse konzentrieren. Dabei werde ich mich nicht mit den konkreten Quellen und Vorlagen für Goethes Amerikabild auseinandersetzen - was ein sehr gut erschlossenes Forschungsterrain ist ; es ist wohl nur allgemein in Erinnerung zu rufen, daß Goethes persönliches Interesse an Amerika sich stärker auf Naturgeschichte und Geologie als auf politische und gesellschaftliche Aspekte erstreckte. Dieses spezielle reale Interesse an Amerika findet jedoch kaum ein Echo im Roman: Hier steht der Amerika-Komplex ganz im Zeichen gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Überlegungen. Amerika dient eher als eine Chiffre für eine “neue Welt” im allgemeinen, der die “alte Welt” in Europa - ebenfalls programmatisch zugespitzt - entgegengesetzt wird.
Von Amerika ist in den ‘Wanderjahren’ in drei unterschiedlichen Kontexten und auf jeweils sehr verschiedene Art und Weise die Rede: Von den Amerikaerfahrungen des Oheims berichtet uns der Redaktor in seiner üblichen pedantischen Art und Weise (1. Teil, Kap. 7); Lenardo präsentiert das Auswanderungsprojekt des Bundes in einer höchst elaborierten Ansprache an die Auswanderungswilligen (3. Teil, Kap. 9 und 11); und zwischen beiden sind die Lieder angesiedelt, mit der die Mitglieder des Bundes selbst ihr Hin- und Hergerissensein zwischen Gehen und Bleiben ausdrücken (3. Teil, Kap. 1). Ich werde nacheinander auf diese Stellen eingehen und sie analysieren. Insgesamt zeigt schon diese für den Roman charakteristische Vielfalt von Sicht- und Ausdrucksweisen (mit all ihrer Problematik für sein nicht-organisches Formkonzept, die hier nicht erläutert werden kann) für sich genommen, daß es kein sinnvolles Vorgehen sein kann, nach der Stimme des Autors Goethe selbst zu suchen und deren Wertung auf die Spur zu kommen; vielmehr ist die Alternative zwischen Wandern und Bleiben, Amerika und Europa dadurch entschärft, daß es keinen eindeutigen Vorzug und keine Patentregel gibt, die für alle gleichermaßen gelten würde.
Das Amerika-Thema wird im ersten Teil des Romans im Zusammenhang mit der Biographie des Oheims eingeführt. Dessen Großvater war wegen religiöser Verfolgung in der Heimat nach Amerika ausgewandert und rühmte sich, “beigetragen zu haben, daß eine allgemeine freiere Religionsausübung in den Kolonien stattfand” (S. 314). Damit ist sogleich ein Leitmotiv aufgerufen: Untrennbar verbunden mit der neuen Welt ist die größere Freiheit sowohl in religiösen wie in politischen Fragen wie auch eine besondere ökonomische Liberalität. Offensichtlich waren jedoch diese Vorteile für den Oheim selbst kein hinreichender Grund zum Bleiben in der neuen Heimat: Seine Rückwanderung nach Europa begründet er mit dessen “unschätzbarer Kultur”, die ihm “ganz andere Begriffe gab, wohin die Menschheit gelangen kann” (ebd.).
Leider schweigt sich der Oheim geradezu gezielt darüber aus, worin diese unschätzbare Kultur nun eigentlich genauer besteht; es könnte jedoch aus seiner Gestaltung des Bezirks abgeleitet werden, den er um sich herum geschaffen hat - ein “mäßiges Gebiet” “innerhalb der kultivierten Welt” (S. 315), ein Mesokosmos, eine Utopie mittlerer Reichweite. Diese ist besonders durch eine ausgewogene Verteilung zwischen individuellen und Gemeinschaftsrechten und -pflichten gekennzeichnet, die eine Art Kompromiß zwischen Regeln der alten und neuen Welt darstellt: Es herrscht Religionsfreiheit als erstes und wichtigstes Grundgesetz; aber in der besonderen Variante, daß der öffentliche Kultus gemeinsam ist, der Inhalt des eigentlichen Bekenntnisses hingegen Privatsache. Die politische Infrastruktur stellt Gemeinschaftszentren für alle Akte des öffentlichen Lebens zur Verfügung; daneben steht der Sonntag als besonders hervorgehobener Tag für den Einzelnen, “wo alles was den Menschen drückt, in religioser, sittlicher, geselliger, ökonomischer Beziehung zur Sprache kommen muß” (S. 316). Diese säkularisierte Beichte dient nicht nur der seelischen Hygiene, sondern genauso den Gemeinschaftsinteressen: Denn nur ein Mensch, der mit seiner Vergangenheit im reinen ist und keine unerfüllbaren Wünsche in die Zukunft projiziert, kann sich vollständig auf die Gegenwart konzentrieren und dort die produktive Tätigkeit entfalten, die in den gesamten ‘Wanderjahren’ das verbindliche Ethos schlechthin ist.
Das Kulturmodell des Oheims ist ein rückwärtsgewandtes, im Kern noch patriarchalisches Modell für Alt-Europa, das nur einige Ideen der neuen Zeit für die eigenen Zwecke adaptiert. Seine Grundlage ist das Eigentum - aber, wohlverstanden, als Produktiveigentum, das den Eigentümer verpflichtet:
Jede Art von Besitz soll der Mensch festhalten, er soll sich zum Mittelpunkt machen, von dem das Gemeingut ausgehen kann (302)
Daraus erklärt sich auch die Sammelleidenschaft des Oheims wie sein Verhältnis zur Kunst insgesamt: Wertvoll ist ihm nur, was die konkreten Spuren einer persönlich erlebten Vergangenheit eines bestimmten Charakters trägt - das Porträt, die Handschrift, die Reliquie gar. In diesen Formen wird ihm die Vergangenheit als “vollständige Gegenwart” (S. 312) eines bedeutenden Individuums lebendig. Dieses Individuum prägte seine Umgebung als Mittelpunkt, wie es der Oheim auch tut: Er teilt mit von seinem Besitz, er schafft für andere die Möglichkeit der Teilnahme - nicht jedoch der gleichberechtigten Entwicklung. Neu ist demgegenüber der anti-ideologische Charakter des Modells: Es gibt keinerlei inhaltliche Vorgaben für die Gesellschaft oder den Einzelnen, seien sie nun politischer, religiöser oder moralischer Natur. Die öffentlichen Einrichtungen haben rein formalen Charakter, sie geben nur einen Rahmen ab - und ob unter der Dorflinde nun Hochzeiten oder Beerdigungen begangen werden, ist im Grunde genauso egal wie der Name des angerufenen Gottes im gemeinsamen Gottesdienst.
Das Konzept des Auswandererbundes dagegen ist ein Massenprojekt, das auf das aktuelle Problem der Überbevölkerung bestimmter Gebiete reagiert. Wilhelm Meister wird im Text stufenweise an die damit verbundene Problematik herangeführt. Zunächst begegnet er, ohne zu wissen, um wen es sich handelt, einer Gemeinschaft von Handwerkern in einem Gasthof im Gebirge. Diese treten ihm singend entgegen und entlocken auch Wilhelm - als bekennendem Wanderer - sogleich sein persönliches Wanderlied:
Von dem Berge zu den Hügeln,
Niederab das Tal entlang,
Da erklingt es wie von Flügeln,
Da bewegt sich’s wie Gesang;
Auch dem unbedingten Triebe
Folget Freude, folget Rat;
Und dein Streben, sei’s in Liebe,
Und dein Leben sei die Tat. (S. 543)
Das so harmlos beginnende Liedchen entwickelt in seiner zweiten Hälfte eine Ideologie des Wanderns, die zentrale Begriffe des Romans aufnimmt und von der individuellen Bergwanderung zur kollektiven Massenauswanderung überleitet : Der “unbedingte Trieb” kann sowohl die Wanderlust wie auch die Sehnsucht nach uranfänglichen Zuständen sein, die den Auswanderer Lenardo hinaustreibt; “Freude” und “Liebe” als individuelle Motivationen für die Wanderaktivität werden verbunden mit Rat und Tat, also allgemeinen Kennzeichen gemeinsamer produktiver Tätigkeit.
Besonders bezeichnend ist jedoch die Aufnahme, die das Lied sogleich findet: Zwei Handwerksburschen tragen es zunächst im Duett vor; weitere fallen ein, variieren es - offensichtlich ist also Wilhelms persönliches Wandererempfinden breiter Aneignung fähig. Bei einer Gemeinschaftsveranstaltung des “Bandes” - unter diesem sprechenden Titel wird der Auswandererbund uns nun vorgestellt - erfährt es sogar eine Fortsetzung:
Denn die Bande sind zerrissen,
Das Vertrauen ist verletzt;
Kann ich sagen, kann ich wissen,
Welchem Zufall ausgesetzt
Ich nun scheiden, ich nun wandern,
Wie die Witwe trauervoll,
Statt dem Einen, mit dem Andern
Fort und fort mich wenden soll! (S. 548)
Das positive Erlebnis des Wanderns als Streben und Tätigkeit wird durch die bedrohliche Erfahrung des erzwungenen Fortgehens aus der Not heraus ergänzt, das im Bild der Witwe sogar mit der des Todes assoziiert wird: Wandern ist nun eine Reaktion auf einen Verlust grundlegender Sicherheiten (die zerrissenen Bande, das verletzte Vertrauen, die Herrschaft des Zufalls). Diese Variante des Liedes wird in einem allgemeinem Chorgesang vorgetragen, der alsbald eine bedrohliche Eigendynamik entwickelt: “die wundersamsten Wiederholungen, das öftere Wiederaufleben eines beinahe ermattenden Gesanges schien zuletzt dem Bande selbst gefährlich” (S. 548). Das bisher als gemeinschaftsstiftend erfahrene Element des Gesanges zeigt plötzlich seine negativen, gefährlichen Potenzen, die vor allem aus einer zugespitzten Künstlichkeit resultieren: Gegenüber dem vorwärtstragenden Rhythmus des Wandererschrittes in Wilhelms ursprünglichem Lied sind die “fugenhaften” Wiederholungen des elaborierten hymnischen Chorgesangs eine Versuchung zu kollektiver Flucht und Selbstaufgabe. Dringend muß an dieser Stelle Lenardo als Vorsitzender einschreiten und die sich ausbreitende Melancholie eindämmen. Das darauf folgende Lied beschwört deshalb vor allem das, was der Wandernde wiederum positiv an Festem gewinnen kann:
Bleibe nicht am Boden heften,
Frisch gewagt und frisch hinaus!
Kopf und Arm mit heitern Kräften
Überall sind sie zu Haus:
Wo wir uns der Sonne freuen,
Sind wir jede Sorgen los:
Daß wir uns in ihr zerstreuen,
Darum ist die Welt so groß. (S. 549)
Wie bei Schiller ist auch hier die Sonne das Bleibende gegenüber der Wechselhaftigkeit menschlichen Schicksale; der Wechsel selbst jedoch, die Zerstreuung, wird nun eindeutig als positiv gewertet, ja geradezu in einer Umkehrung des Babel-Topos teleologisch verstanden.
Wozu dient nun dieser Sängerwettstreit mit seinen verschiedenen Liedern, die zwar wackere Wanderlieder sein mögen, aber vielleicht doch nicht zu den poetischen Höhepunkten Goethescher Lyrik gehören? Zunächst bieten sie eine Möglichkeit, das Wandererthema als kollektives Phänomen in den Blick zu nehmen. Die Form bietet hier ein genaues Äquivalent zu der inhaltlichen Ausweitung der Wanderthematik zu einem Massenphänomen: Einer kann reden - wie Lenardo in seiner großen Auswanderungsapologetik -, viele müssen singen. Daneben ist damit - stellvertretend durch die Musik - auch die Rolle der Kunst im Auswanderungsbund (von der fortan nicht mehr die Rede sein wird) aufs genauste bezeichnet: Sie erfüllt vor allem gemeinschaftsstiftende und erzieherische Funktionen; wo sie zu stark eigengesetzlich wird, wie im fugenhaften Gesang, muß sie unterdrückt werden. Ein bevorzugter Kulturträger wie bei Schiller hingegen ist sie mit Sicherheit nicht.
Lenardos große Einwanderungsrede mehrere Kapitel später läßt sich in drei Blöcke gliedern: Zunächst gibt der Redner eine Art kulturphilosophischer Grundlegung, die vor allem auf den Wert von Grundbesitz und Arbeit abhebt; im zweiten Teil wird das Wandern als allgemeine “Weltbewegung” anhand einer Fülle von Beispielen dargestellt; und im dritten Teil gibt es einige - recht allgemeine - Hinweise zu den ideologischen Richtlinien des Auswandererbundes.
Auf Besitz beruhte, wie gezeigt, noch das traditionellere Kulturmodell des Oheims; des “Eigentums froh” waren ja auch Landmann und Gewerbetreibende in Schillers ‘Spaziergang’. Sichergestellt wurde dessen Verteilung dort jedoch nicht durch eine naturrechtliche Erstinbesitznahme, sondern durch die freundlichen Götter. Lenardo bezieht sich ebenfalls zunächst noch emphatisch auf den “hohen Wert des Grundbesitzes” als anthropologische Konstante; aber im nächsten Atemzug werden diese “schönsten Bande” zwischen dem Menschen und seiner Scholle schon wieder gelockert: “Wenn das was der Mensch besitzt von großem Wert ist, so muß man demjenigen was er tut und leistet noch einen größern zuschreiben” (S. 643). Bewegliche Güter im “bewegten Leben” sind die neue Grundlage des Kulturkonzepts der neuen Welt; an die Stelle des Wertes des Eigentums tritt der Wert der menschlichen Arbeit ; das Bleiben wird durch das Wandern ersetzt. Gleichzeitig versucht Lenardo zu beweisen, daß die damit verbundene Mobilität und Flexibilisierung schon immer die unterschiedlichsten Berufs- und Personengruppen ausgezeichnet hatte. Ausgehend vom Turmbau zu Babel - der hier nun direkt angesprochen und in der schon angedeuteten Weise gedeutet wird, nämlich als Auftrag an die Menschen und als Segen für die Menschheit - vollziehen sich vor den Augen der Zuhörer zunächst die großen Wanderbewegungen der Kulturgeschichte, von den Nomaden bis hin zur Völkerwanderung. Danach geht es hinab auf eine individuelle Ebene: Wandern bildet, zunächst die Jugend, aber auch den Naturforscher oder den vornehmen Reisenden à la Yorick; Wandern verschafft bestimmten Berufsgruppen den Lebensunterhalt, sei es als Handwerker, Händler oder herumziehender Künstler. Darauf folgen die Reisen zu gesellschaftlich-politischen Zwecken: in missionarischer Absicht als Lehrer, Missionar oder Pilger; in offizieller Funktion als Beamter, Soldat oder Geschäftsmann; oder schließlich gar, als Krönung, das Wandern als Welteroberung der großen Fürsten und Staatsmänner.
An dieser Exempelkette ist mehrerlei bemerkenswert. Zum einen heroisiert sie das Wandern nicht vollständig, wie man es in einer Apologie ja eigentlich erwarten könnte; vielmehr gibt es auch lächerliche empfindsame Reisende, schnöde auf den Geldbeutel zielende Marketender, selbsternannte Missionare und größenwahnsinnige Weltherrscher. Zum anderen wird der Zuhörer im Leser den Verdacht nicht los, unter so viel angestrengter Rhetorik müßte vielleicht doch ein Pferdefuß verborgen sein; der über den gesamten ‘Wanderjahren’ schwebende Ironieverdacht ist also auch hier immer mitzubedenken und wird noch dadurch verstärkt, daß die recht autoritären ideologischen Grundlagen des Auswanderungsbundes im folgenden gerade von Friedrich vorgetragen werden - der alte Bruder Leichtfuß aus den ‘Lehrjahren’ wird nun zum Prediger des autoritären Staates. Unabhängig davon jedoch erfüllt die Beispielreihung für die Argumentation eine wichtige Funktion: Sie legt schlüssig dar, daß das Wandern eine “Weltbewegung” ist, der anthropologisch unbedingte Trieb also ein Äquivalent in einer objektiven Struktur der äußeren Welt selbst findet. Wandern in diesem Sinne ist nicht individueller Eigensinn, sondern geradezu eine objektive Notwendigkeit im Umgang mit der beweglichen Erde.
Die Koordination all dieser vielfältigen Wanderbewegungen ist die selbstgewählte Aufgabe des Auswanderungsbundes, der sich nun auch explizit als “Weltbund” (S. 619) bezeichnet. Heute würden wir vielleicht von einer international operierenden Nicht-Regierungs-Organisation sprechen: Dort werden Daten über die verschiedenen Länder, deren Besonderheiten und speziellen Erfordernisse gesammelt und die Wandererströme kanalisiert:
Die Zeit ist vorüber wo man abenteuerlich in die weite Welt rannte; durch die Bemühungen wissenschaftlicher, weislich beschreibender, künstlerisch nachbildender Weltumreiser sind wir überall bekannt genug, daß wir ungefähr wissen was zu erwarten sei (S. 619).
Auf dieser Basis werden nun die Auswanderungswilligen beraten:
Doch kann zu einer vollkommenen Klarheit der Einzelne nicht gelangen. [...] uns wechselseitig einen Überblick der bewohnten und bewohnbaren Welt zu geben, ist die angenehmste, höchst belohnende Unterhaltung (ebd.).
Die Welt wird als bekannt und erforscht vorausgesetzt; der Einzelne darf nicht mehr drauflos schlendern, sondern wird seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen entsprechend wie in einem Puzzle an den passenden Platz gestellt. Der damit verbundene Verlust an Selbstbestimmung wird aufgewogen durch die Integration in eine Gemeinschaft, die die Entwurzelten wieder verwurzelt und die verlorenen “Bande” wieder knüpft: “Gesellschaft bleibt eines wackern Mannes höchstes Bedürfnis” (ebd.), heißt es ein- für allemal. Wo die natürliche Verbindung zwischen den Menschen - das Ur-Vertrauen sozusagen - einmal verlorengegangen ist, wird der Zusammenhalt künstlich und auf institutionelle Weise wieder hergestellt; allein der Blick auf die Sonne Homers würde den Auswanderern in einer neuen Welt nicht mehr helfen.
Der dazugehörige ideologische Überbau des Weltbundes ist vielfach als vage und inhaltsleer kritisiert worden; er muß es jedoch notwendig sein im Kontext dieses Kulturkonzepts. So, wie jeder einzelne Mensch es lernen muß, “sich ohne dauernden äußeren Bezug zu denken” und das “Folgerechte nicht an den Umständen, sondern in sich selbst” zu finden (ebd.), sind auch religiöse und politische Systeme nur beliebige und austauschbare äußere Formen für einen Organismus, der sein eigenes Entwicklungsgesetz in sich trägt - sei es nun als lebendige Gemeinschaft oder als Individuum. Deshalb ist dem Bund jeder Gottesdienst recht - beruhen sie doch alle auf dem Glauben als anthropologischer Konstante -, genauso jedes Staatssystem - ermöglichen doch alle als äußerer Rahmen die “zweckmäßige Tätigkeit” des Menschen (S. 620). Damit einher geht eine “rein tätige” Sittenlehre (S. 633), die ebenfalls keine Gesetze vorgibt, sondern nur eine Maxime, nämlich
Mäßigung im Willkürlichen, Emsigkeit im Notwendigen. Nun mag ein jeder diese lakonischen Worte nach seiner Art im Lebensgange benutzen, und er hat einen ergiebigen Text zu grenzenloser Ausführung (ebd.).
Allein auf diese individuelle “Ausführung” im Leben allein kommt es an, auf die Umsetzung in Taten, auf die Verwirklichung von Zielen - nicht jedoch auf gedankliche Systeme, ethische Theorien, Staatskonstrukte, religiöse Dogmen. Hier ist der Abstand zu dem ständig theoriegestützten Kulturkonzept in Schillers ‘Spaziergang’ maximal.
Als Folge dieser Theoriefeindlichkeit durchzieht die Abneigung gegen jeden Meinungsstreit überhaupt die Auswanderungsthematik wie den Roman insgesamt. “Einheit” in den “Grundsätzen” (S. 619) ist die Operationsbasis des Bundes - diese Grundsätze sind jedoch eher als formale Richtlinien ähnlich dem Kategorischen Imperativ zu verstehen. Die Enthaltsamkeit in Meinungsdingen geht so weit, daß bei Streitigkeiten in der Gemeinschaft die Polizei durch Los entscheiden darf, “weil man überzeugt ist, daß bei gegeneinander stehenden Meinungen es immer gleichgültig ist, welche befolgt wird” (S. 634). Abschließend dekretiert Friedrich (im wohl meistzitierten Kultur-Zitat des Textes):
Die Hauptsache bleibt nur immer daß wir die Vorteile der Kultur mit hinüber nehmen und die Nachteile zurücklassen. Branntweinschenken und Lesebibliotheken werden bei uns nicht geduldet; wie wir uns aber gegen Flaschen und Bücher verhalten will ich lieber nicht eröffnen; dergleichen Dinge wollen getan sein, wenn man sie beurteilen soll (S. 636).
Auch der autoritäre Grundzug dieser Maßnahmen ist zum Kulturkonzept als Ganzem stimmig: Eine Gemeinschaft, die auf Tätigkeit und Brauchbarkeit des Einzelnen für das Ganze aufbaut, kann keinerlei individuelle Fluchthandlungen dulden - sei es nun in den Rausch oder in die Lektüre; beide entziehen dem gesellschaftlichen Organismus schleichend sein produktives Potential und damit die Existenzgrundlage.
Es ist offensichtlich, daß gegenüber dem Modell des Oheims hier endgültig das Kollektiv die Überhand gegenüber den Interessen des Individuums gewonnen hat. Während der Besitz als Grundlage der Gemeinschaft individualistisch gedacht ist, ist Arbeit automatisch mit gesellschaftlichen Fragen wie Arbeitsteilung und Arbeitsorganisation verbunden. Dieses Übergewicht der Gemeinschaftsinteressen dokumentiert auch die politische Verfassung des Auswandererstaates: Im großen und ganzen liberal, um dem Einzelnen die bestmögliche Entfaltung seiner Fähigkeiten zu ermöglichen, enthält sie im einzelnen starke Schutzgesetze, um mögliche Ausreißer aus der Gemeinschaft der Tüchtigen zu sanktionieren und damit die Gruppe zusammenzuhalten. Schließlich spielen die äußeren Umstände eine große Rolle für das Kulturmodell: Es ist nicht auf die gesicherten Verhältnisse des alten Europa, sondern die gefahrvolle Umwelt in der neuen Welt hin ausgelegt. Prinzipiell sind jedoch beide Konzepte unter dem übergreifenden Gesichtspunkt der maximalen Produktivität und Praxistauglichkeit gleichwertig; Wandern und Bleiben erweisen sich nicht als Alternativen, sondern als Pendelbewegungen, als grundlegende Polarität im gesellschaftlichen Organismus. Und so heißt es im letzten Wanderlied des Textes denn auch:
Bleiben, Gehen, Gehen, Bleiben,
Sei fortan dem Tücht’gen gleich,
Wo wir Nützliches betreiben,
Ist der werteste Bereich. (S. 641)
III. Kultur als geschichtsphilosophischer Höhenweg - Kultur als Metamorphose des Menschlichen
In der Gemeinschaft der Ausgewanderten hätte damit die Sonne Homers wahrscheinlich keinen Platz gefunden - zunächst als fiktionales Werk der Dichtung, darüber hinaus jedoch auch als unproduktives Relikt der Vergangenheit. Zwar werden deren Erkenntnisse und Erfindungen nicht völlig abgelehnt - man will immerhin die Vorteile der Kultur mit nach Amerika hinübernehmen, die ja offensichtlich ein Werk der Tradition sind -; ihre Zweckmäßigkeit müssen sie jedoch in der konkreten Anwendung erweisen. Genausowenig sind Prognosen für die Zukunft möglich; Entwicklungen können zwar erahnt werden - wie die wahrscheinliche Entstehung von Hauptstädten -, werden aber weder gezielt gefördert noch bekämpft. Während Schillers Kulturkonzept im ‘Spaziergang’ durch eine zeitliche Perspektive dominiert ist, zeichnen die ‘Wanderjahre’ primär Bezirke und Räume. Deren zeitlicher Modus ist, ungeachtet des utopischen Charakters, die Gegenwart. Die Vergangenheit, sofern sie nicht unmittelbar praxisrelevant ist, fällt dem Vergessen anheim; die Zukunft ist nicht vorhersehbar, deshalb können aus ihr keine handlungsleitenden Kategorien entwickelt werden.
Die Bezugsgröße kultureller Entwicklung ist nun nicht mehr wie bei Schiller die Natur als Gegenüber - der Natur-Raum wird ganz selbstverständlich in Besitz genommen, die menschliche Natur als vorgängig sozial und nicht als individuell definiert -, sondern das Verhältnis von Einzelinteressen und kollektiven Interessen in der menschlichen Gemeinschaft. Das notwendige verbindende Element ist dabei nicht so sehr die vielbeschworene “Einheit” in den Grundsätzen - die ja sowieso, wie gezeigt, inhaltlich nur marginal ausformuliert sind und eher allgemeine Verhaltensgrundsätze angeben -, sondern das gemeinsame Tun; der Kern der Gemeinschaft besteht nicht in Gedanken, sondern in Handlungen. Sie entwickelt sich nach den gleichen Gesetzen und Mustern wie das Leben selbst: durch Aneignung dessen, was ihm nutzbar und fruchtbar ist, und durch Abstoßung von allem Widerstrebendem und Unproduktivem. Kultur in diesem Sinne ist, so könnte man vielleicht sagen, eine Art Metamorphose der menschlichen Gemeinschaft, die nur bedingt steuer- und kontrollierbar ist: Vielmehr entwickelt sie sich unter bestimmten Ausgangsbedingungen - räumlichen Vorgaben, ideologischen Rahmenkonzepten - mit einer gewissen Eigendynamik.
Die kulturelle Vielfalt, die Schillers eine Weltkultur in ihrem eigenen Inneren gefunden hatte, wird bei Goethe nun in die äußere Vielfalt verschiedener Kulturmodelle verlegt. Das Individuum kann nur noch Teilbereiche seiner eigenen Kultursphäre erfahren und zu diesen beitragen; eine Gesamtperspektive ist ihm in der “Zeit der Einseitigkeiten” (S. 270) versperrt. Es kann sich auch nicht mehr an äußeren Werten orientieren - wie Besitz oder Überlieferung - noch an moralischen Wertsystemen: Religionsfreiheit wie auch politische Freiheit sind zwar eine Befreiung von alten Zwängen, aber gleichzeitig der Verlust alter Sicherheiten. Die seelische Stabilität des Einzelnen wie auch seine Integration in die Gesellschaft werden allein durch seine nützliche Tätigkeit für die Gemeinschaft gewährleistet. Die daraus zu gewinnende Befriedigung jedoch - und darin liegt letztendlich ein, wenn auch versteckteres, Trostpotential - ist jedem gleichermaßen zugänglich und nicht nur dem durch Besitz oder Bildung Privilegierten; es ist der positive Sinn der “Entsagung”, die dem Roman schon im Titel eingeschrieben ist:
Der geringste Mensch kann complet sein, wenn er sich innerhalb der Grenzen seiner Fähigkeiten und Fertigkeiten bewegt; aber selbst schöne Vorzüge werden verdunkelt, aufgehoben und vernichtet, wenn jenes unerläßlich geforderte Ebenmaß abgeht (S. 518)
Deshalb ist auch der Künstler, sofern er nicht als unproduktiv ganz ausgeschlossen wird, nicht mehr der Vermittler der Kultur per se, sondern nur noch ein Handwerker neben vielen. Und deshalb, zu allerletzt, sind die ‘Wanderjahre’ keine Elegie - die ja traditionsgemäß eine der höchstgeschätzten poetischen Formen ist -, sondern ein äußerlich formloser, in sich selbst uneinheitlicher Romankosmos. In ihm singt nicht ein Dichter von der einen, zwar verlorenen, aber wiederzugewinnenden Kultur der Menschheit, sondern viele Erzähler - mit sehr unterschiedlichen handwerklichen Qualitäten - arbeiten an vielen Kulturentwürfen für die Gegenwart mit. Eine nicht so sehr ästhetische, als vielmehr anstrengende Erfahrung - wie die meisten Leser des Romans es wohl bestätigen können; aber Kultur gedeiht bekanntlich nicht ohne Arbeit.