Minutiae. Archiv
Bilder * Texte * Gedanken

Essays zu Wielands politischen 
und pädagogischen Texten


  • Short Cuts zur Politik
  • Zensur und Pressefreiheit bei Wieland
  • Wieland als kaiserlicher Bildungsreformer und Ghostwriter. Zu einer möglichen Beteiligung an den Schulreformen in Mainz und Wien
  • Das Mysterium um das Universitätsgutachten von 1778 – Überlegungen zu Verfasserschaft und Überlieferung 
  • Ein „kitzlicher Articel“. Überlegungen zum Autor der "Politischen Nachrichten" in den ersten Jahrgängen des Teutschen Merkur (1773-1776) 
  • Andrea Heinz: Wielands Weimarer Wege zum Publikum (unveröffentlichte Habilschrift)


 Short Cuts
Wieland zur Politik in seinen Briefen


Kein Lobredner für große Herren

Und bin, wie du wohl weißt, ein für allemal zum Lobredner großer Herren verdorben. Ich glaube, wenn ich mit einem Epigramm von vier Versen auf irgend einen dermaligen Potentaten der Christenheit, der mehr als 500 Mann ins Feld stellen kann, meine Seele retten könnte, ich müßte sie zu Grunde gehen lassen.

(an Johann Heinrich Merck, 5.11.1780; WBr7,1, S. 310)

Niemals die Vorstellungsart der Götter der Erden!

Freilich werde ich von unsern Königen und regierenden Herrn nicht gelesen, und wenn dieß auch zufälliger Weise geschähe, so weiß ich sehr wohl, daß meine Vorstellungsart niemals die Vorstellungsart dieser Götter der Erde werden kann.

(an Herzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach, 29.12.1792; WBr 11, 332)

Politische Zauberworte

Sind Sie nicht auch mit mir der Meynung, daß es besser wäre, anstatt Freyheit u GleichheitGerechtigkeit Ordnung zu den Grundpfeilern der neuen Ordnung der Dinge zu machen? Aber freylich denkt sich der große Haufe bey den letzten beyden letztern entweder gar nichts oder nichts das großen Reitz für ihn hat – da hingegen Freyheit und Gleichheit für die Sanskülotten wahre Zauberworte sind, womit man alles aus ihnen machen kann was man will.

(an Karl Leonhard Reinhold; WBr 11, 1, 317)

Aristokratischer und demokratischer Fanatismus

Mein Trost bey allem diesem ist, daß das mannichfaltige Gute, das die französische Revoluzion mitten unter den gräßlichsten Ausbrüchen des aristokratischen und demokratischen Fanatismus und aller übelthätigen Leidenschaften, in Bewegung gebracht hat, für die Menschheit nicht verloren gehen, sondern nach und nach, im Stillen, und ohne sichtbare, wenigstens ohne gewaltsame und erschütternde Bewegungen Tausendfältige Früchte tragen wird.

(an Johann Wilhelm Ludwig Gleim,12.4.1793; WBr 11,1, 395)

Unheilsschwangere Revolutionen

Ich kann mir Frankreich unter keinem andern Bilde vorstellen, als dem einer kreissenden Frau, die eine Leibesfrucht, welche dergestalt zur Geburt eingetreten ist, daß sie nun weder Vorwärts noch Rückwärts kann, zur Welt bringen soll, und nachdem sie alle ihre Kräfte vergebens angesträngt hat,endlich zugleich mit ihrem Kind unter den Händen der Geburtshelfer den Geist aufgiebt.

(an Karl Leonhard Reinhold, 29.5.-1.6.1795; WBr 12,1, 485)

Als Journalist nie zu diesem Handwerk getaugt

Und besonders regiert heut zu Tage unter unsern Herren Kollegen, den Journalisten, eine Unwahrheit oder wenigstens Gleichgültigkeit gegen die Wahrheit, eine Gewissenlosigkeit über den Punkt des Rechts oder Unrechts, eine politische Willkührlichkeit und sofistische Politik, daß ich keinen andern Beweggrund, das Journalisten Metier je bälder je lieber aufzugeben, nöthig habe. Ich habe nie zu diesem Handwerk getaugt, und bin in meinen dermahligen Jahren gänzlich dazu verdorben.

(an Karl August Böttiger, 2.10.1798; WBr14,1, 357)

Die heillosen Künste des Lesens und Schreibens

 Wiewohl Gott allein weiß, wenn der fatale Krieg seine Endschaft erreichen wird, und was, nach erfolgtem Frieden, die Kaiser Franz und Paul, und die Jesuiten, die unter einem neuen Nahmen wieder aufzustehen im Begriff sind, über Kultur Aufklärung und Litteratur beschließen werden, und ob man nicht vielleicht zur Grundlage der künftigen Verfassung Europens machen wird, alles Lesen und Schreiben, als heillose Künste die am Ende nur zu Revoluzionen führen, gänzlich abzuschaffen.

(an Georg Joachim Göschen, 5.8.1799; WBr15,1, 44f)

 Wahrer Common Sense

 Das, mein Freund, ist der wahre Common Sense, der uns armen Germanen fehlt. Aber gebt uns Englands Verfassung, Einen König, Ein Parlament in 2 Cammern, eine Habeas Corpus Acta und die Declaration of Rights, und in weniger als 50 Jahren soll man die deutschen Nation, die itz nicht einmahl eine Nation zu heissen werth ist, nicht mehr kennen.

(an Karl August Böttiger, 24.2.1804; WBr 16,1, 266)

 Der rasche und leichtfertige Geist der Zeit

 Aber überhaupt ist nur allzu wahr, was einer meiner Freunde neulich sagte, daß der Geist der Zeit so rasch und leichtfertig daherschießt, daß selbst Journale zu langsam für ihn gehen, und daß man alles, was von vielen gelesen werden soll, in Form von Wochenblättern und Daily Papers geben muß. Was wird am Ende noch aus diesem Zeitgeist und überhaupt aus unserm lieben Germanien werden?

(an Friedrich Rochlitz, 13.1.1806; WBr 17,1, 24)

 Wo reden etwas helfen konnte

 Aber ich scheine ruhig, weil ich schweige, und ich schweige, weil die Zeit vorbey ist, wo reden etwas helfen konnte, aber nichts geholfen hat, weil diejenigen nicht hören, nicht lesen, nicht denken wollten, deren Pflicht es war, für das Ganze zu sorgen und thätig zu seyn. Fragen Sie doch gelegentlich die Fürstin, ob Sie meine Gespräche unter vier Augen kennt? und unter diesen einen Traum, welche Verfassung Deutschland sich geben müßte, wenn es seinen alten Glanz u Wohlstand wieder erhalten und noch Jahrhunderte darin fortdauern sollte? – Es war ein Traum, und man ließ es einen Traum bleiben. Izt sehe ich diesen Traum Stückweise und gewisser maßen, durch eine fremde eiserne Hand realisieren - aber wie?

(an Sophie von La Roche, 1.9.1806; WBr17,1,112)

 Die deutsche Sprache ein jämmerliches Kauderwelsch

Die ganze Geschichte der Menschheit liefert kein Seitenstück zu der Epoke, in welche die zweite Hälfte unser Lebens fallen mußte. … Was wir waren – was wir sind! was wir werden sollen! Die angestammte Verfassung, in welcher und durch welche die ungleich größere Mehrzahl (wiewohl von vielen unerkannter und undankbarer Weise) so glücklich war, zertrümmert! Die Deutschen nicht länger ein Volk, nur noch Sprachgenossen! Und ach! wie lange wird uns auch nur dieses Band zusammen halten. Wie wahrscheinlich ist es, daß die Sprache, in welche ich mit so vieler Mühe die Briefe Cicero’s übertrage, in weniger als 100 Jahren selbst eine todte Sprache, oder doch ein so jämmerliches Kauderwelsch sein wird, daß kein honetter Mensch sie mehr reden oder schreiben kann!

(an Elisabeth von Solms-Laubach, 8.5.1809; WBr 17,1, 596)

Europens allgemeine Noth

 Denn was können wir uns von einem partiellen Frieden Gutes versprechen? Europens allgemeine Noth, dem Stillstand aller Gewerbe, der Hemmung aller Indüstrie, der Theurung u dem Mangel der uns unentbehrlich gewordenen Colonial-Waaren, dem Geldmangel, der Stockung aller Circulation, etc. etc. kann nur ein allgemeiner Friede abhelfen.

(an Elisabeth von Solms-Laubach, 31.7.-5.8.1809; WBr 17, 1, 641)

 Sancta Simplicitas!

 Ich, meines Orts, wüßte in der That nicht, daß ich (das Kreuz der Ehren Legion und der heiligen Sanct Anna ausgenommen!!) etwas anders als dies, beiden gewaltigen politischen Convulsionen, Eruptionen, Revolutionen und wie die onen alle heissen, die ein Einziger Sterblicher in den verfloßnen 12 Jahren bewirkt hat, gewonnen hätte. Denn, daß ich alle die schönen Moralischen, Politischen und Staatswirthschaftlichen Lehren, die sich daraus ziehen lassen, für meine Person gar nicht nöthig hatte, davon habe ich lange vor dem Jahre 1789. meine Proben schwarz auf weiß öffentlich abgelegt: auch hätten unsere Deutschen Fürsten und Gewaltshaber dieses etwas theuren und beschwerlichen cours de Politique, de Moral et d’Oeconomie p.p. sehr wohl überhoben sein können, der ihnen nicht mehr geholfen als das Bißgen Latein, so ihnen in ihren Knabenjahren, mühsam genug – für ihre Instructoren nehmlich – eingetrichtert wurde, und woraus sie nicht für einen Deut mehr gelernt haben, als sie zehnmal leichter und um ein Spottgeld aus dem Goldnen Spiegel hätten lernen können! – O! des guten goldnen Spiegels und seines ehrlichen treuherzigen, ächt Schwäbischen Verfassers, der sich in seiner sancta Simplicitas träumen ließ, daß er von den Königen, Churfürsten, Herzogen, Land- u Markgraven etc. und von allen Kron und Erbprinzen des damals noch (wiewohl etwas wackelnd) bestehenden heiligen Römischen Ex-Reichs begierig und mit großem Nutzen würde gelesen werden!! Wie wenig konnte die gute ehrliche Haut damals diese lieben Herren die sich bei den Maßnehmungen, wodurch sie uns zu Grunde richten, sowohl geschehen lassen, und sich um das, worum ihnen selbst alles gelegen ist, so wenig bekümmern als ob es sie gar nichts angienge!!!

(an Elisabeth zu Solms-Laubach,16.-24.8.1810; WBr 19,1, 169)

 Verwicklungen und Einseitigkeiten

 Und überhaupt liebe ich in Sachen die ihrer Natur nach, unendlich vielseitig und verwickelt sind, niemals einseitige VorstellungsArt und Aussprüche.

(an Johann Wilhelm von Archenholz, 7.2.1785; WBr 8,1, 407)

Home


Zensur und Pressefreiheit bei Wieland

 

Der Conflict zwischen den Autoren, welche eine
unbedingte Freyheit der Presse fordern
und den Staatsverwesern, die solche nur
mehr oder weniger zugestehen können,
dauert seit Erfindung der Buchdruckerkunst
und kann niemals aufhören.

Goethe, Gutachten zur Zensur

 

I.  Bücher und Lesen im 18. Jahrhundert – von der Selbstverständlichkeit der Zensur

 „Eine Zensur findet nicht statt“ – so heißt es einprägsam und auf den Punkt formuliert in unserem Grundgesetz, Artikel 5, der die Presse- und Meinungsfreiheit garantiert. Der Satz und das Faktum selbst sind für uns selbstverständlich geworden, was die öffentlichen Reaktionen auf aktuelle Bedrohungen der Pressefreiheit durch radikalisierte Fanatiker deutlich demonstrierten haben; und wir sind zu Recht stolz darauf. Allerdings vergessen wir dabei allzu leicht, dass die gut 2000 Jahre Vorgeschichte, die es gebraucht hat, damit wir heute auf diesen Satz stolz sein können, ganz und gar andere Zeiten waren; Zeiten, in denen es anfangs überhaupt keine gedruckten und frei handelbaren Bücher gab; Zeiten, in denen die große Mehrheit der Bevölkerung überhaupt nicht lesen konnte; Zeiten, in den es keine Massenmedien, keine politischen oder sonstigen Nachrichten schon aus der Nachbarstadt, geschweige denn aus anderen Ländern und Kontinenten gab; Zeiten, in denen von politischer Mitbestimmung oder freier Religionswahl nicht das geringste zu sehen war und das Leben für die Mehrheit der Menschen im Wesentlichen vom täglichen Kampf ums Überleben, von der Tradition ihrer Altvorderen und den Vorschriften ihrer jeweiligen Religionsgemeinschaft bestimmt war.  

Ein paar Zahlen nur für das 18. Jahrhundert, das Wielands konkretes Leben zum größten Teil bestimmte (wobei die Zahlen in der Fachliteratur sehr stark abweichen, da keine genauen Daten vorhanden sind): Der Alphabetisierungsgrad lag im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im Jahr 1700 um 10 %, im Jahr 1800 eher optimistischen Schätzungen zufolge dann bei 25 %. Er schwankt sehr stark zwischen Stadt- und Landbevölkerung, aber 90 % der Gesamtbevölkerung leben auf dem Land mit sehr begrenzten Bildungschancen. Wobei „Alphabetisierung“ selbst ein sehr weiter Begriff ist: Zwischen denjenigen, die beim Dorfpfarrer anhand des Katechismus mühsam buchstabieren gelernt hatten, bis zur kleinen Elite derjenigen, die ganze Bücher flüssig lesen konnten, vielleicht gar in anderen Sprachen, klafft eine weite Lücke; auch wer mühsam seinen eigenen Namen schreiben konnte, war meist nicht in der Lage, einen ganzen Brief zu schreiben. Die Zahl regelmäßiger Leser wird für das Ende des 18. Jahrhunderts auf ca. 1 bis 10 % der Gesamtbevölkerung geschätzt (zum Vergleich: heute behaupten etwa 40 % der Bundesbürger, mindestens einmal in der Woche ein Buch zu Unterhaltungszwecken in die Hand zunehmen). Immerhin hatten diese wenigen regelmäßigen Leser im Verlauf des 18. Jahrhunderts dann die Wahl auf einem sehr schnell größer werdenden Buchmarkt: Waren um 1600 noch 71 % aller Buchveröffentlichungen selbstverständlich in der Gelehrtensprache des Lateinischen, sind es um 1800 nur noch (aber immerhin!) 4%. Von den muttersprachlichen Publikationen war immer noch ein eher geringer Teil belletristisch, und ein Roman galt bereits dann als wirklicher „Bestseller“, wenn ca. 4.000 Exemplare verkauft wurden. Die Landbevölkerung besaß allenfalls (neben der Bibel und dem Katechismus natürlich) religiöse Erbauungsschriften und volkstümliche Kalenderliteratur, die wieder- und wiedergelesen wurden.  

Das alles ändert und verbessert sich im Lauf des langen und sich selbst als zunehmend aufgeklärt empfindenden 18. Jahrhunderts zwar – aber der Weg hin zu einer wirklichen breiten Lesefähigkeit und zur ökonomischen Verfügbarkeit von Büchern, Zeitschriften und Zeitungen für jeden ist insgesamt mühsamer, als wir uns das heute vorstellen können. Für die Elite der Leser jedoch sowie für die Autoren und Verlagen hatte die Bücherzensur die gleiche Selbstverständlichkeit wie für uns die Pressefreiheit: Natürlich hatte die Regierung (der Kaiser, die Kurfürsten, die Bischöfe, die Landesherren), hatten die Kirchen (vor allem die römisch-katholische), aber auch die Universitäten das Recht und die Macht, Publikationen zu kontrollieren und zu regulieren  –  auch wenn diese verschiedenen Institutionen dieses Recht zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Regionen in sehr unterschiedlichem Maß in Anspruch nahm.  

II. Was ist Zensur? – Von Bücherverbrennungen, Zensoren und Verbotslisten 

Eine Zensur fand also noch zu Wielands Zeiten ganz selbstverständlich statt. Was jedoch bedeutet das genau? Das Wort „Zensur“ leitet sich ab von dem lateinischen Verb „censere“ für schätzen, prüfen, streng beurteilen; schon im Römischen Reich gab es den einflussreichen Posten des „Censors“, der jedoch nicht in erster Linie Publikationen beurteilte, sondern – wir kennen immer noch den Begriff des „Zensus“ – für die Zählung der Bürger und die Feststellung ihres Vermögens zuständig war; im Nebenberuf, sozusagen, übte er jedoch auch die Aufsicht über die Sitten der Bürger aus und konnte sie bei moralischen Verfehlungen beispielsweise in weniger einflussreiche Wählerklassen versetzen. Eine institutionalisierte Zensur im heutigen Sinne jedoch fand weder bei den antiken Griechen (auch wenn sie Sokrates zum Tode verurteilten wegen Verführung der Jugend) noch bei den Römern (auch wenn sie Ovid wegen seiner Liebeslyrik ins Exil verbannten) statt.   


Wieland als kaiserlicher Bildungsreformer und Ghostwriter.
Zu einer möglichen Beteiligung Wielands
an den Schulreformen in Mainz und Wien

 

1.        Erster Auftrag von Groschlag an Wieland, Juni 1770

 Am 30. Juni 1770 erhält Wieland einen Brief vom Mainzer Minister Groschlag, der nicht überliefert ist. Wieland fertigt jedoch für Sophie La Roche eine Abschrift an, in der es heißt:

Je me propose, de Vous consulter aux premiers jours, Mons. sur un ouvrage essential entrepris d’un home qui est assés bon de penser avec moi, et nous serions bien aise, que Vous pensiés sur cet objet (WBr 4, 161)

Wieland wird also vermutlich um eine Art Gutachten über eine Schrift gebeten, die ihm Groschlag übersendet. Die Forschungsliteratur (z.B. WBr) geht davon aus, dass es sich um eine Programmschrift des Mainzer Schulreformers Steigentesch handelt; sie bezieht sich dabei auf eine Aufzeichnung von Wielands Erfurter Kollegen Justus Friedrich Riedel vom 6.8.1772 (also knapp zwei Jahre später), in der es heißt:

Der Großhofmeister von Groschlag schickte noch neuerlich an Wieland und mich einen weitläufigen Plan zur Verbesserung des Schulwesens in den Kurlanden, damit wir beide unser Gutachten erstatten mögen. (St I, 425; aus: Adam Wolf)

Steigentesch hatte 1771 eine Abhandlung mit dem Titel Abhandlung von Verbesserung des Unterrichtes der Jugend in den Kurfürstl. Mainzischen Staaten veröffentlicht, die die Grundlage für die in dieser Zeit energisch voran getriebene Schulreform in Mainz bildet (s.u.). Der Titel entspricht also nicht genau dem von Riedel aus der späteren Erinnerung genannten. Möglich wäre es deshalb auch, dass es sich bei den von Groschlag im Juni 1770 an Wieland übersetzten Text um einen Vortrag des Graf Pergen handelt, der in Wien für die Schulreform unter Maria Theresia verantwortlich war (s.u.). Pergen hält den ersten einer Reihe von insgesamt acht Vorträgen zu dem Thema am 26. August in Wien, er trägt den Titel Plan über die Verbesserung des Schul- und Erziehungswesens in den kaiserlichen Erblanden, entspricht also ungefähr der Riedelschen Formulierung. Pergen war seit seiner Zeit in Mainz eng mit Groschlag befreundet, sie wurden später auch Schwäger und korrespondierten regelmäßig. Aufgrund der größeren Ähnlichkeit der Titel kann vermutet werden, dass Groschlag Wieland einen Entwurf von Pergens August-Vortrag zur Stellungnahme zuschickt. Eine Antwort Wielands ist leider nicht überliefert. Ob er den Vortrag (der in Wien erhalten ist) ggfs. überarbeitet oder korrigiert hat, kann nur vermutet werden; er stimmt in vielem mit Wielands Ansichten überein, aber viele dieser Gemeinsamkeiten werden von den meisten Autoren im Rahmen der allgemeinen Bemühungen zur Schulreform vertreten, sind also Gemeingut in der Diskussion. Genauere Erkenntnisse könnte vielleicht eine Einsicht in die Pergen-Akten in Wien, in der alle Vorträge Pergens samt Unterlagen dazu erhalten sind, erbringen. 

2. Zweiter Auftrag von Groschlag/Benzel an Wieland vom Oktober 1770

Wieland bekommt jedoch etwas später noch einen zweiten mysteriösen Auftrag. Aus einem Brief an Sophie La Roche vom 30. September 1770 geht hervor, dass er im September zwei Briefe vom Minister Bentzel-Sternau erhielt, dem leitenden Kopf der Mainzer Schulreform, sowie einen weiteren Auftrag von Groschlag; er schreibt ihr: 

Je m'arrache d'un ouvrage, que Mr le Grandmaitre a bien voulû me faire tailler, et qui m'occupe depuis 12 jours uniquement.

An diesem neuen Auftrag arbeitet er spätestens seit dem 18.9. Das ergibt sich aus einem Brief an Johann Georg Jacobi, bei dem er einen Besuch geplant hatte, den er nun absagen muss; er schreibt an Jacobi:

Mein Allerliebster Jacobi, meine und Ihre Hofnung zu einer Zusammenkunft in Mühlhausen ist durch ein unvorherzusehendes Hindernis vernichtet worden: durch eine Arbeit welche mir [...] aufgetragen worden, eine Arbeit welche alle meine Aufmerksamkeit erfodert, keinen Aufschub leidet, und wobey dennoch andre angefangene Geschäfte ihren ungehinderten Fortgang haben sollten. [...] Verbrennen Sie diesen Brief, ex certis rationibus, sobald Sie ihn gelesen haben.

Der Brief ist im Jacobi-Nachlass der Universität Freiburg überliefert; aber leider hat Jacobi weisungsgemäß die Passagen des Briefes, wo sich Wieland offensichtlich abfällig über seinen unangenehmen Auftrag äußert, gründlich unlesbar gemacht. Es sind nur noch an den Rändern der Überklebung folgende Passagen lesbar:

welche mir der erste Minister xxxxxja Gxuxxfürsten/Gxuxhxxßen aufgetragen

[…]

sind gerade das Widerspiel von dem Ihrigen. Ich bin ein Sclave

xxx als freÿ zu werden, ist das höchste Glück, wornach ich

täglich zu machen. Ein/Einen nothwendigen Bedxxx ist

xxxfl./H. Ministers xxxxx bitten von dem ich eine Verbesserung meiner Umstände

hoffe und dem/den/der ich bloß aus diesem Grunde es alle mögliche Art xxxx müsse/müssen,

xxx ich/mich ihn/ihm auch nicht so sehr persönlich xttxxx wäre

Am 27.9. ist er immer noch mit dieser Arbeit beschäftigt; er schreibt an Gleim:

Ich bin mit einer Arbeit beladen worden, die ich weder ablehnen konnte, noch aufschieben kann. Ich arbeite mich hypochondrisch und kranck – aber, mein lieber Gleim, was thut nicht ein weiser Mann, wenn er – muß? Und was thut ein Vater nicht, wenn er durch seine Arbeit das Schicksal seiner Kinder zu verbessern hofft? – Ich kenne die Grossen: Danckbarkeit ist selten ihre Tugend; indessen hoft man doch immer glücklich genug zu seyn und eine Ausnahme anzutreffen. Man versucht alles. Reussiere ich, so verschaffe ich mir eine ungleich bessere Situation

Die Auftragsarbeit fällt in die Zeit, wo er sich am Mainzer Hof um eine Erhöhung seines Professorengehalts bemüht; das erklärt vielleicht die besonders zeitintensiven Bemühungen ebenso wie die Formulierungen im Brief am Gleim. Da es sich um eine Arbeit handelt, die Wieland ganze 12 Tage in Anspruch nimmt, handelt es sich entweder um ein sehr umfangreiches Gutachten oder vielleicht auch eine umfassende Korrektur im Auftrag des Mainzer Hofes. Ich vermute, dass er in dieser Zeit tatsächlich den Entwurf von Steigenteschs später veröffentlichter Abhandlung vorliegen hat. Dass der Text bereits vor seiner Veröffentlichung im Jahr 1771 existierte, beweisen Unterlagen in Mainz, die zeigen, dass er dort bei der Berufung von Steigentesch zum Leiter der neu gegründeten Schullehrerakademie (Einsetzungsurkunde vom 28.12.1770) bereits umfassend diskutiert wurde. Ein weiteres starkes Indiz für seine Mitarbeit ist, dass er in einem Auftrags-Gutachten über die Anstellung neuer Professoren, das er am 18. August 1771 einreicht, folgende Sätze schreibt:

Wahr ists, daß ein Mann von so vorzüglicher Geschicklichkeit und der die vortheilhaftesten Aussichten vor sich that, berechtiget ist, gute Bedingungen zu erwarten; und selbst der höchste Ruhm unsers Gnädigsten Kurfürsten, (da höchstdero besondere huldreicheste Gesinnung, die Aufnahme der Academien, und die Verbesserung der öffentlichen Erziehung in Höchstdero Kur-Landen und davon abhängenden Staaten nachdrücklichst zu befördern, in der Gelehrten deutschen Welt je länger je mehr ausserordentliche Eindrücke macht) scheint zu erheischen, daß durch mehr als ein Beÿspiel Gelehrten und Berühmten Männern Lust gemacht werde, sich als Mitarbeiter an dem Preißwürdigen Werck, dessen glückliche Ausführung der Regierung Emerich Josephs die unsterblichste Glorie in den deutschen Jahrbüchern verschaffen wird, gebrauchen zu lassen. Der Anfang dazu ist gemacht.

Inwiefern Wieland nun tatsächlich den Text von Steigentesch korrigierte und ergänzte, kann bisher wiederum nur vermutet werden. Für einen möglichen Vergleich zwischen den von Wieland andernorts geäußerten pädagogischen Ansichten (beispielsweise in seinen Schweizer Akademiplänen) ist der glückliche Umstand hilfreich, dass auch Steigentesch in seiner Wochenschrift Der Bürger bereits 1769 eine längere Antwort auf die Preisfrage "Welche die beste Einrichtung der unter oder Trivialschulen sey, um darinne die Jugend teils zur Erlernung der Wissenschaften in höheren Schulen …vorzubereiten" veröffentlicht hatte, die allgemein als Grundlage für die spätere Abhandlung gesehen wird. Es gibt tatsächlich eine Reihe von Parallelen, aber auch einige wichtigere Unterschiede zwischen beiden Steigentesch-Texten; vor allem einige neue Passagen der Abhandlung gegenüber der Preisfragen-Antwort zur Rolle der Philosophie in den Schulen scheinen mir starke Wielandische Züge zu zeigen. Vielleicht könnte hier eine vergleichende Stilanalyse mit anderen Gutachten von Wielands Hand Aufschluss erbringen. 

3.        Zur Schulreform in Wien und zur Berufung Riedels 1771/72 

Steigenteschs Abhandlung ist vielfach zeitgenössisch überliefert, da die Mainzer Schulreform als vorbildlich für andere katholische Staaten angesehen wurde und insofern auch eine reiche Wirkungsgeschichte hat (Exemplare finden sich im Stadtarchiv Mainz, im HSTA Darmstadt, im Würzburger Kreisarchiv sowie im Akt Pergen, s.u.). Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Groschlag im Sommer 1771 ein Exemplar nach Wien an den Grafen Pergen schickt, der sie sofort seinem dritten Vortrag zur Schulreform vom 9. August 1771 zugrundelegt, der weitgehende Parallelen zur Abhandlung aufweist. Falls Wieland also in irgendeiner Weise an dem Steigentesch-Text beteiligt gewesen wäre, hätte das Auswirkungen bis nach Wien gehabt. Allerdings scheitert Pergen mit seinem ambitionierten Reformplänen ebenso wie Steigentesch, der nach dem Tod des Kurfürsten von der Bevölkerung in effigie gelyncht wird und die Stadt fluchtartig verlässt. Vorher allerdings werden Pergens Vorschläge im Wiener Staatsrat in den Jahren 1771 und 1772 umfangreich diskutiert, sowohl Maria Theresia wie auch Joseph II. geben mehrfach Voten ab in diesem Zusammenhang. 

Ein engerer Zusammenhang zu Wieland ergibt sich dabei durch die vorgesehene Berufung von Justus Friedrich Riedel nach Wien. Riedel wurde zunächst von dem Fürsten Kaunitz, mit dem auch Wieland korrespondiert, als Direktor für die neu zu gründende "Akademie der vereinigten bildenden Künste" vorgeschlagen; die Kaiserin billigt einen entsprechenden Antrag von Kaunitz, sagt ein Gehalt von 1.500 fl vor und lässt bereits ein Anstellungsdecret fertigen, das Riedel vom Hofsecretär von Taube am 23.11. erhält – mit der Anweisung, er solle schnell reisen, "weil in Wien das Wetter sehr unbeständig sei und sich in oft in einer Woche ganz verändere". Riedel reist tatsächlich ab, kommt aber erst im folgenden Jahr in Wien an, wo das Wetter schon längst umgeschlagen war; bereits am 21.12.1771 hatte Graf Pergen ein Papier von der Hand der Kaiserin erhalten, auf dem am Rande vier Namen einer unter den andern geschrieben waren: wieland – riedel – meisel – barth, darüber standen die Worte: „ich muß ihme avertirn das keinen von disen 4 benannten niehmals gestatten kunte hier komen zu lassen mithin seinen secretario zu avertirn und war schon einen zugeschrieben worden wäre abzusagen". Graf Pergen nimmt dazu zwei Tages später Stellung in seinem sechsten Vortrag zur Schulreform und verteidigt sich:

daß er keinen von den genannten in Vorschlag gebracht; daß er nebst einer wahren Religion die Verbesserung der Sitten zum Hauptgegenstand seines Plans genommen habe; daß ihm von Wieland, obschon er verschiedene gute Schriften verfasset, doch einige unter die Hände gefallen seien, die seinem Endzweck keineswegs förderlich sondern vielmehr hinderlich seyn müßten . […] von Riedel dagegen, der durch seine Theorie der schönen Wissenschaften sich rühmlichst bekannt gemacht, wisse er nur so viel daß Fürst Kaunitz über Befürwortung des Staatsrathes von Gebler selbst als Professor der bildenden Künste nach Wien zu berufen gedenke und, wie er vernehme, bereits die nöthigen Schritte geschehen seien. Was übrigens den Secretär von Birkenstock betreffe, so habe dieser vom Fürsten ohnedieß nur den Auftrag erhalten so sehen zu horchen zu fragen, ohne sich in eine Zusage oder was immer für eine verbindliche Andeutung einzulassen, doch habe er, Pergen, ihm noch insbesondere die Weisung rücksichtlich dieser vier zukommen zulassen 

Was war passiert? Zunächst scheint bei der Kaiserin eine Verwechslung vorzuliegen (die auch in der Forschungsliteratur einige Verwirrung ausgelöst hat): Berufen wollte sie Riedel für die Akademie der vereinigten Künste; Pergen geht es aber um die Besetzung des Oberdirektoriums für die Schulreform und um die damit verbundene Forderung nach Berufung auswärtiger Experten. Tatsächlich hatte er wohl niemals Wieland für einen solchen Posten vorgeschlagen, im Gespräch waren Basedow, Sulzer und Büsching gewesen. 

Darüber hinaus war inzwischen ein ehemaliger Erfurter Kollege, der Augustinermönch Jordan Simon, in Wien angekommen, der schon in Erfurt wiederholt gegen Wieland und Riedel intrigiert hatte. Wahrscheinlich hat er über den Beichtvater Maria Theresias, einen Augustiner namens Ignaz Müller, (nicht ganz unberechtigte) Gerüchte über Riedels unsteten Lebenswandel ausgestreut und die Erfurter insgesamt in Verruf gebrachte; er reicht sogar eine formale Anklageschrift ein, gegen die sich Riedel im August, als sie ihm endlich zugestellt wird, verteidigt, aber mehr oder weniger erfolglos. Er korrespondiert in dieser Sache im August auch mit Wieland, der sich dann direkt am 26.8. mit einem umfangreichen französischen Schreiben an den Fürsten Kaunitz wendet und seine Ehre verteidigt; er habe die Anklageschrift beim Statthalter Breidbach vorliegen gehabt. Kaunitz hatte sich überdies wohl auch schon Beginn des Jahres an Groschlag in Mainz gewandt und um einen Bericht über Jordan Simon gebeten; das Promemoria Groschlags ist wie alle anderen Dokumente in dieser Sache erhalten. 

Aber auch Pergen hatte die Sache schon Anfang des Jahres nicht auf sich beruhen lassen wollen. Er zieht er Erkundigungen über die Erfurter bei einem Mainzer Neutzeller ein, der ihm im Januar schreibt:

Die Professoren Wieland und Meusel seien Männer der sittliches Betragen über allem Tadel stehe und des ersteren zu Zeiten lustige und schwärmerische Laune verdiene den Grad etwa angedichteter Vorwürfe gegen seinen moralischen Charakter gewiß nicht.

Außerdem wird der Sekretär Birkenstock beauftragt, in Deutschland Erkundigungen über möglicherweise zu berufende Kandidaten einzuziehen, vordringlich allerdings unter den dortigen Katholiken. Zu diesem Zwecke hält sich Birkenstock im März 1772 auch mehrere Tage in Erfurt auf und spricht dort u.a. mit Riedel; ob er auch mit Wieland, der Anfang des Monats seinen ersten Besuch in Weimar gemacht hatte, sprach, ist nicht überliefert, er wird in den Berichten, die Birkenstock für Kaunitz und Pergen verfasst, auch nicht erwähnt. Die Schulreform wird schließlich nicht entsprechend den allgemein als zu radikal aufgefassten Plänen Pergens durchgeführt, sondern im Oktober 1772 in aller Stille zu den Akten gelegt. Wieland ist zu dieser Zeit längst in Weimar angestellt; aber seine bisher in der Forschung eher nebulös unterstellten Ambitionen auf einen Posten in Wien haben vor diesem Hintergrund unter Umständen eine stärkere reale Basis, als bisher ersichtlich war. 

4.        Zum pädagogischen Wieland 

Leider aber kann bisher eine konkrete Beteiligung Wielands an den unterschiedlichen schulreformerischen Bemühungen in Mainz und Wien – die ein zentraler Teil der katholischen Aufklärung im Reich waren und auch als solcher wahrgenommen wurden – nicht nachgewiesen werden. Sie würde sich jedoch außerordentlich gut in eine Linie von bildungsreformerischen Aktivitäten fügen, die in der Schweiz begannen und in dem großen Universitätsgutachten aus dem Jahr 1778 für die Erfurter Universität gipfeln; Wieland ist gerade in der Erfurter Zeit auch kontinuierlich im Gespräch für Posten an diversen deutschen Universitäten und Schulen, es gibt Hinweise darauf, dass er auch für das von Sophie La Roche in Neuwied geplante Philanthropinum einen ähnlichen Plan vorlegte.

 

Home

 


Das Mysterium um das Universitätsgutachten von 1778 –Überlegungen zu Verfasserschaft und Überlieferung

Ausgangsbefund

Im Stadtarchiv Erfurt findet sich unter dem Aktenzeichen 1-1/X B XIII, Nr. 1 eine Sammlung von Materialien zur Universitätsgeschichte von Heinrich August Erhard. Den größten Teil davon nimmt ein Gutachten zur Verbesserung der Universität Erfurt ein (S. 48-120). Die Handschrift ist, wie ein Vergleich mit dem ersten Teil der Akte zeigt, eindeutig die von Erhard; unterzeichnet ist es mit C.M. Wieland (ebenfalls in der Handschrift Erhards). Der Text weist eine Fülle von Korrekturen, Streichungen, Umstellungen bis hin zur Neustrukturierung ganzer Absätze auf (ebenfalls in der Handschrift Erhards); es handelt sich also nicht um einfache nachträgliche Verbesserungen von Fehlern oder stilistische Glättungen, sondern eindeutig um tiefgreifende Autorenkorrekturen. Auf die Existenz des Gutachtens wies erstmals 1870 der Erfurter Archivar Robert Boxberger hin.[1] 1934 wurde es von Wilhelm Stieda veröffentlicht, gemeinsam mit dem Gutachten des Statthalters Karl Theodor von Dalbergs zur Universitätsreform.[2]

Das Gutachten ist nicht datiert, kann aber aufgrund von Angaben im Text selbst ziemlich sicher auf den Herbst 1778 datiert werden.[3] Dort ist zum einen die Rede davon, dass der Verfasser vor sechs Jahren die Universität Erfurt verließ (1772 ging Wieland nach Weimar); zum anderen wird erwähnt, dass er die neuesten Lektionskataloge vor sich liegen habe, nämlich die vom Wintersemester 1777 und Sommersemester 1778. Das Gutachten bezieht sich damit auf den erneuten Reformversuch, den der Mainzer Erzbischof und Prokanzler Johann Georg Joseph von Eckart 1776 initiiert hatte; Karl Theodor von Dalberg, zu dieser Zeit Statthalter in Erfurt, leitete 1777 die Reform in die Wege, indem er von allen Professoren der Universität Erfurt Gutachten verlangte. Diese Gutachten sind ebenfalls erhalten[4] und lagen dem Verfasser des mit Wieland unterschriebenen Gutachtens nach eigenem Bekunden abschriftlich vor.[5] Zu Beginn des direkt an Dalberg gerichteten Gutachtens heißt es, der Erfurter Theologieprofessor Justus Friedrich Froriep, zu dessen Berufung Wieland durch sein damaliges Gutachten beigetragen hatte, habe die Anfrage an den Verfasser vermittelt.

Dafür, dass Wieland das Gutachten verfasst hat, sprechen (neben seiner, wenn auch nicht eigenhändigen, Unterschrift) eine ganze Reihe von Indizien (dazu unten, I-IV.), es kann jedoch nicht zweifelsfrei bewiesen werden. Äußerst mysteriös ist die Überlieferungssituation: Warum ist es in der Handschrift Erhards überliefert, und woher stammen die umfangreichen Korrekturen? Denn wenn Erhard im Rahmen der Vorbereitungen seiner Dissertationsschrift über die Geschichte der Universität Erfurt[6] ein Gutachten von Wieland gefunden hätte – das sicherlich in einer Reinschrift an Dalberg gegangen wäre –, hätte er eine einfache Abschrift verfassen können. Erhard selbst jedenfalls kann als Verfasser mit Sicherheit ausgeschlossen werden; er wurde erst 1793 als Sohn des Erlanger Medizinprofessors Johann Gottlieb Erhard geboren. Seine lateinische Dissertation zur Geschichte der Universität Erfurt reicht er 1813 ein, also in Wielands Todesjahr; er könnte also zumindest theoretisch noch in der Vorbereitungsphase mit Wieland Kontakt gehabt haben (s. dazu unten, V.).

 Soweit die bekannten Fakten. Im Folgenden sollen die Argumente und Indizien kurz zusammengetragen und bewertet werden, die für oder gegen eine Verfasserschaft Wielands sprechen.

I. Aktenzusammenhang

Der Akt, in dem das Gutachten überliefert ist, hat ein sehr schwer lesbares Titelblatt, das nicht in der Handschrift Erhards beschriftet ist. Dort steht:

Geschichte
der Universität Erfurt.
Aus denen Quellen bearbeitet
von
D r Ehrhart
nebst [seinem?] gesammelten Material
u
die Universität Erfurt
in ihrem alten Glanze mit den
Ursachen ihres Verfalls
u.
Ein 43 Bogen starker Bericht
Wie der Universität Erfurt aufzu
helfen [von/an?] D. r[?] E. [hrhard?] unter[theilen???]
an/von[?] Wieland

 Auch hier wird also der Name Wielands erwähnt; da jedoch gerade die letzten beiden Zeilen äußerst schwer lesbar sind, können hieraus keine sicheren Schlüsse gezogen werden. Die ersten ca. 30 Seiten des Bandes enthalten einen Fließtext von Erhard, der sehr komprimiert die Geschichte der Universität Erfurt darstellt und wahrscheinlich die Grundlage für seine lateinische Dissertation bildet; Wielands Berufung wird dort auf S. 28/29 sehr kurz behandelt, ebenso der erneute Reformansatz Dalbergs; die Gutachten dazu werden jedoch nicht erwähnt.

Auf den Seiten direkt vor dem Wielandschen Gutachten finden sich Auszüge eines zweiten Gutachtens, speziell zur Verbesserung der philosophischen Fakultät. Es ist im Duktus und der Art der Niederschrift dem Wielandschen Gutachten außerordentlich ähnlich, bis hin zu einzelnen Formulierungen. Die Namen der dort genannten Professoren weisen darauf hin, dass es in die 90er Jahre zu datieren ist; man könnte also vermuten, dass das frühere Gutachten hier als Grundlage diente.[7]

Nach dem umfangreichen Wielandschen Gutachten folgen noch ein älteres Akten-Repertorium für die Universitätsakten sowie ein gedrucktes Avertissement die neue Einrichtung der Universität Erfurt betreffend.[8]

II. Korrekturen

Das Wieland zugeschriebene Gutachten weist sowohl Sofortkorrekturen (Ersatz eines Wortes durch ein anderes, inline) als auch nachträgliche Korrekturen auf (Wortkorrekturen über oder neben der Zeile).

Viele Einzelkorrekturen dienen der Verbesserung des Stils: Dazu gehören die Vermeidung von Wortwiederholungen, die Straffung von Sätzen, das Ersetzen von lateinischen oder anderen fremdsprachlichen Phrasen durch deutsche Formulierungen, eine Tendenz zur Wortmodernisierung. Im Vergleich mit Wielands früheren amtlichen Gutachten (Biberacher Schulgutachten, Gutachten zur Berufung neuer Professoren aus der Erfurter Zeit) ist insgesamt ein Bemühen erkennbar, jeglichen Anflug von Kanzleistil zu vermeiden und möglichst klar und modern zu formulieren. Auch die Titularien und andere Ehrfurchtsfloskeln sind deutlich zurückgedrängt.

Einen mindestens ebenso großen Umfang an den Korrekturen haben strukturelle Veränderungen, die bis zur Streichung oder Umstellung ganzer Passagen gehen können.[9] Das Gutachten insgesamt ist sehr stark durchstrukturiert mittels Zwischenüberschriften, die mehrere Gliederungsebenen umfassen können, und einer Vielzahl von Aufzählungen und Listen. Dieses sind Merkmale, die Wielands sämtliche Gutachten kennzeichnen (und, zieht man die Gutachten der anderen Erfurter Professoren oder dasjenige von Dalberg, das eine einfache Paragraphen-Gliederung hat, zum Vergleich heran, durchaus nicht als Standard betrachtet werden können).

Stilistisch weist das Gutachten viele typische Merkmale von Wielands Schreibweise auf; Seuffert fasst zusammen:

Die übersichtliche Disposition des Stoffes, die Lebhaftigkeit und die Langathmigkeit des Ausdrucks, die Neigung zu mehrgliedriger Phrasierung der Wort- und Satzgefüge, die Gewandtheit, in der Wortwahl bei allem Formalismus der Berichterstattung zu wechseln, die Färbung der Sache durch Attribute, der gleitende Tonfall der Periode: alles kennzeichnet Wielands Schreibweise. (83) 

III. Aussagen des Verfassers über sich selbst

Eine Reihe von Selbstaussagen des Verfassers passt nicht nur gut auf Wieland, sondern nur auf Wieland. Dalberg hatte in seiner Anfrage zwei Fragen gestellt, die auch im Gutachten systematisch nacheinander abgearbeitet werden. Die erste bezieht sich konkret auf die Analyse der Missstände in der Universität Erfurt und Möglichkeiten zu deren Behebung; die zweite unterbreitet das Angebot, Wieland wieder als Philosophieprofessor in Erfurt einzustellen und ihm zusätzlich das Amt eines Universitätsdirektors zu übertragen. Der Verfasser des Gutachtens verneint, natürlich mit außerordentlichem Bedauern und Anerkennung der Ehre, die ihm zuteil wird, die zweite Frage; er sei seit sechs Jahren aus dem akademischen Leben ausgeschieden und an ein „uneingeschränktes otium literarum“ gewöhnt; er würde seine Wirksamkeit „als Schriftsteller, welche die teutsche Nation mit ihrem Beifall beehrt“, dadurch einschränken; sein „gnädigster Herzog und Herr, der mir mehr Freund als Gebieter ist“, habe ihn in die Lage versetzt, „so gut wie unabhängig, in den schönsten Umgebungen der Natur, der Wissenschaften und der Freundschaft, nur mir selbst und meinem Genius“ leben zu können. Darüber hinaus enthält das Gutachten intime Kenntnisse der Erfurter Verhältnisse sowie der Professorenschaft und zieht eine Reihe von Lehren aus den speziellen Problemen, mit denen sich Wieland während seiner Erfurter Zeit konfrontiert sah. Zusammen mit der Unterschrift ist es also klar, dass zumindest eine Verfasserschaft Wielands stichhaltig behauptet werden sollte.[10]

IV. Inhalt des Gutachtens

Grob zusammengefasst, behandelt das Gutachten folgende Themen:

Am Anfang steht in einem eher persönlich gehaltenen Teil die Ablehnung des Angebots des Direktorats. Der zweite Teil beschäftigt sich unter dem Titel „A. Von der Universität überhaupt“ mit allgemeinen Fragen zur Geschichte und Verwaltung der Universität Erfurt; der dritte Teil (B) geht nacheinander auf die einzelnen Fakultäten ein.

Der Verfasser weist anfangs darauf hin, dass ihm die Gutachten der anderen Erfurter Professoren abschriftlich vorgelegen hätten; und er erwähnt namentlich positiv die Gutachten der Professores Rumpel sen., Weißmantel, Reinhard sowie des Leibarztes Planer. Es ist noch im Einzelnen zu prüfen, wieviel er jeweils aus diesen namentlich genannten Texten direkt übernimmt, vor allem dort, wo es um Disziplinen und Fachfragen der Studiengänge geht, mit denen er nicht so vertraut ist. So sind bei Weißmantel beispielsweise umfangreiche Ausführungen zur Universitätsgeschichte zu finden; er gibt auch einen eigenen Anhang zur Juristenfakultät. Der Arzt Planer informiert ausführlich über das Studium Medicum; Reinhard weist auf viele organisatorische Mängel der Studiumsorganisation hin und gibt wertvolle Hinweise zur Bedeutung von Mathematik und Experimentalphysik.[11]

Unter „A. Von der Universität überhaupt“ gibt der Verfasser zunächst eine kompakte Darstellung der Geschichte der Erfurter Universität und reiht 12 Gründe für ihren Niedergang auf; diese Punkte werden anschließend systematisch ein zweites Mal aufgerufen und mit Verbesserungsvorschlägen versehen.

Anschließend führt er zwei neue Fragen selbst ein, nämlich als erstes: Wie soll die Universität geleitet und verwaltet werden? Hier schlägt er die Einführung eines hauptamtlichen Direktors vor, der aus der Professorenschaft ernannt werden sollte; er listet dessen Pflichten auf, bestimmt seine persönliche Qualifikation und geht auf Probleme ein, die ein solches Konstrukt mit sich bringen würde. Diese universitätspolitisch sehr heikle Passage ist besonders stark und mehrfach überarbeitet worden. Die zweite Frage beschäftigt sich mit den „persönlichen Verhältnissen der Lehrer“, listet mögliche Berufungskriterien auf, macht Ausführungen zu einer besseren Besoldung, zur Lehrverpflichtung und zu zulässigen und nicht-zulässigen Nebenämtern.

Im Weiteren geht der Verfasser auf allgemeinen Fragen zur Universität ein, die die Erfurter Professoren in ihren Gutachten aufgeworfen hatten; es geht um Einsicht der Professorenschaft in die Finanzierung und Buchführung, die Unterstützung der Studierenden durch Stiftungen und Maßnahmen, um die Studiendisziplin zu verbessern und um das Rangverhältnis der Wissenschaften untereinander.

Unter „B. Von den einzelnen Fakultäten“ werden nacheinander die Theologische Fakultät (unterteilt in die Katholischen Professoren und die Professores Theol. A.C.), die Juristische Fakultät, die Medizinische Fakultät und die Philosophische Fakultät abgehandelt. Dieser Teil nimmt insgesamt ungefähr die Hälfte des Gutachtens ein; die Fakultäten werden relativ gleichgewichtig behandelt. Der Verfasser geht dabei jeweils so vor, dass er zunächst die Fragen abhandelt, die die Vertreter der einzelnen Fakultäten in ihren Gutachten gestellt hatten, und dann jeweils noch einige hinzufügt. Er arbeitet dabei kein festes Schema ab, sondern orientiert sich an den gegebenen Verhältnissen. Dabei werden jeweils wiederum zunächst allgemeine Überlegungen zum Studienaufbau und den verschiedenen Fachgebieten der Fakultäten angestellt, bevor eine Bewertung der derzeit angestellten Professoren und ihrer Leistungen vorgenommen wird; es werden abschließend Namen für sinnvolle Neuberufungen genannt. Ein gewisser Schwerpunkt liegt dabei auf der zuletzt behandelten philosophischen Fakultät; aber das wird in der Sache dadurch begründet, dass hier der größte Reformbedarf besteht.

Über die starke strukturelle Durchdringung hinaus fällt besonders die Gründlichkeit und Umsicht der Argumentation ins Auge. Jegliche Einzelfrage wird von verschiedenen Seiten betrachtet, auf mögliche, auch entlegene Wirkungen hin untersucht. Anschließend wird sorgfältig und jeweils äußerst vorsichtig zwischen der offensichtlichen Notwendigkeit von Reformen und dem zu erwartenden Widerstand des älteren Professoren-Corpus gegen jegliche Neuerung abgewogen. Auch die heiklen Beziehungen zwischen Landesregierung und universitärer Selbstverwaltung werden mit großer Sensibilität behandelt. Dies alles sind Charakteristika, die sich auch in Wielands früheren Gutachten (vgl. vor allem das Biberacher Schulgutachten) finden. Die Übersicht über die universitäre Situation ist Deutschland ist insgesamt ebenso eindrucksvoll wie die um Gerechtigkeit bemühte, gleichwohl in Einzelfällen auch durchaus harte und deutliche Bewertung einzelner Vertreter des Kollegiums. Immer wieder wird das Kriterium der Partei- und Leidenschaftslosigkeit bemüht.[12] Auch hinsichtlich des Inhalts widerspricht das Gutachten weder im Einzelnen noch im Gesamtduktus irgend einer von Wieland Grundpositionen zum akademischen Leben oder zur Bildungs- und Erziehungspolitik, sondern reiht sie vielmehr mehr oder weniger vollständig auf; mehr noch, auch hier ist schwer vorstellbar, wer außer ihm gleichzeitig so vertraut mit der Erfurter Situation vor Ort und der akademischen Landschaft Deutschlands gewesen sein könnte.

V. Vermutungen zur Überlieferung

Trotz alledem, das Mysterium bleibt: Wieso ist ein Gutachten, das nicht nur Wielands Namen am Ende trägt, sondern eine Charakteristik des Verfassers als Wieland enthält; ein Gutachten, dem jede seiner Grundüberzeugungen eingeschrieben ist; ein Gutachten, das auch gedanklich, sprachlich und stilistisch eine Meisterleistung der Durchdringung und Darstellung komplexer Sachverhalte ist – nicht in Wielands Schrift erhalten? Endgültig zu klären wäre dies nur durch weitere Funde. Wenn man davon ausgeht, dass ein mögliches Zusammentreffen beider, Wielands und Erhards, eigentlich aufgrund des jugendlichen Alters Erhards und des Todes Wielands zu Beginn des Jahres 1813 nur 1812 stattgefunden haben könnte und dass ein weitere Vermittlungsstufe des Manuskripts äußerst unwahrscheinlich ist, ließe sich aber folgendes vermuten:

Als Wieland im Lauf des Jahres 1778, vermittelt durch Froriep, den Auftrag von Dalberg erhalten hat, wird er sicherlich eine nach seinen eigenen hohen Maßstäben auch äußerlich perfekte Reinschrift abgegeben haben. Es ist denkbar, dass der junge Erhard diese bei seinen Recherchen zur Universitätsgeschichte, also wohl im Jahr 1812, in den Erfurter Universitätsakten fand, die zu dieser Zeit wahrscheinlich noch einen geschlossenen Aktenbestand bildeten, der heute nicht mehr erhalten ist.[13] Es wäre des Weiteren denkbar, dass Erhard das Material gern benutzen oder veröffentlichen wollte, aber den alten Wieland zunächst um Erlaubnis fragen wollte. Dessen 80. Geburtstag wurde im September 1812 mit einem großen Fest in Jena begangen; Wieland hatte sich zu dieser Zeit mit seiner Familie längere Zeit bei Griesbachs in Jena aufgehalten und viele Gäste empfangen. Ein Kontakt wäre sicherlich herstellbar gewesen, da Erhards Vater ein ehemaliger Kollege Wielands in seiner Erfurter Zeit war.

Es wäre – aber hier wird es nun vollständig spekulativ – vorstellbar, dass Wieland einer Verwertung des Materials nicht abgeneigt war; es handelt sich immerhin bei dem in dem Gutachten abgehandelten Themen nicht nur um Erfurter Lokalprobleme, sondern durchaus um allgemeine und weitreichende Fragen der Universitätsorganisation, der Studiengestaltung, der fachlichen Ausdifferenzierung; ein Interesse an der „Geschichte der Gelehrtheit“ hat ihn von seinen frühen Anfängen in der Schweiz bis ans Lebensende begleitet. Er konnte jedoch bekanntlich keinen älteren Text zur Publikation freigeben, ohne ihn erneut zu überarbeiten, daran zu feilen und zu polieren – und nun gar einen Text, dessen Abfassung zu dieser Zeit über dreißig Jahre zurückgelegen hätte! Dass er zu einer grundlegenden Überarbeitung noch in der Lage war, zeigt seine kontinuierliche Arbeit an der Cicero-Übersetzung. Aber vielleicht wollte er sich die Schreibarbeit sparen; vielleicht hat er damit begonnen, Erhard anhand der alten Reinschrift eine überarbeitete Fassung zu diktieren; vielleicht hat er dabei angefangen, noch stärker an der Struktur und an der Argumentation zu arbeiten. Leider findet sich jedoch in allen Korrekturen nicht ein Indiz dafür, dass evtl. eine spätere Entwicklung, ein zusätzliches Wissen um die zukünftige Entwicklung eingeflossen wäre.

Vielleicht nahm Erhard den überarbeiteten Entwurf mit, um ihn für eine Publikation vorzubereiten, fand dann aber nie mehr die Zeit dafür: 1813 fertigte er nicht nur seine lateinische Dissertation, sondern wurde praktischer Arzt in Erfurt; schon seit 1812 war er mit der Ordnung des Erfurter Regiments-Archivs beschäftigt, 1815 wurde er dann Oberarzt in der preußischen Armee. Bereits in seiner Dissertationsschrift hatte er den Vorsatz geäußert, einmal eine allgemeine Geschichte der wissenschaftlichen Kultur Deutschlands zu schreiben; diese erschien dann tatsächlich in drei Bänden 1827-1832, und Erhard war auch weiterhin äußerst fleißig als Archivar und Schriftsteller tätig. Wieland jedoch war Anfang 1813 verstorben und hätte insofern auch eine tatsächlich Publikation nach einer von Erhard zu fertigenden Reinschrift anhand des gemeinsam überarbeiteten Entwurfs nicht mehr autorisieren können.

Home





Ein „kitzlicher Articel“. Überlegungen zum Autor
der "Politischen Nachrichten" in den ersten
Jahrgängen des Teutschen Merkur (1773-1776)

  

Ausgangsbefund: Gescheiterte Kandidaten

In den Jahren 1773 bis 1776 erscheinen im Teutschen Merkur, wie von Wieland dem Publikum anfangs versprochen, "Politische Nachrichten". Ein Autor wird nicht angegeben, die Artikel stehen von 1773 bis Anfang 1774 (erste Phase) zu Ende des jeweiligen Vierteljahresbandes, bis sie von Ende 1775 bis Ende 1776 (zweite Phase) sogar monatlich erscheinen.[1] Sie bieten nach Ländern zusammengefasste Nacherzählungen der aktuellen politischen Nachrichten aus den "öffentlichen Blättern" (so heißt es mehrfach in den Artikeln selbst), die von lakonischen Notizen über wichtige dynastische Ereignisse oder Personalentscheidungen bis hin zu ausführlicher erzählten Episoden (Parlamentsdiskussionen, Kriegsereignisse, Anekdoten) reichen können; häufig finden sich auch wörtliche Zitate aus zeitgenössischen Dokumenten. Wer die Artikel verfasste, ist bis heute nicht geklärt; erst im Jahr 1777 zeichnet der bekannte Historiker und Statistiker Christian Wilhelm Dohm persönlich für die "Neuesten Politischen Gerüchte" verantwortlich, danach verschwindet das Ressort ganz aus dem Merkur.

Aus Wielands Briefwechsel kann in Ansätzen rekonstruiert werden, wie sich Wieland um Beiträger für dieses wichtige Ressort bemühte. Sein erster Kandidat in der ersten Phase war der Erfurter Professor für Staatsrecht Johann Christoph Erich Springer, dem Wieland selbst durch ein außerordentlich positives Gutachten die Anstellung verschafft hatte. Der Kontakt wird vermittelt über einen weiteren Erfurter Kollegen, den Philologen und Historiker Johann Georg Meusel; im Februar 1773 fragt Wieland bei ihm an:

Grüßen Sie ihn [Springer] meo nomine, und fragen: ob ich mich darauf verlassen kann, daß er den Artikel der succinten Erzählung der neuesten politischen Welthändel auf sich nehmen will. Es ist ein kitzlicher Artikel; aber wenn Springer will, so kann er etwas sehr gutes daraus machen. Der Artikel kommt zwar jederzeit nur in das letzte Stück eines jeden Bandes, und soll nur höchstens einen Bogen (aber mit kleinen Schriften, ohne Zwischenspäne) betragen: Allein längstens in fünf Wochen muß ich diesen Artikel für den Ersten Band haben, oder wehe mir![2]

Springer liefert jedoch nicht, so dass Wieland im März 1773 noch einmal nachfragt:

Sagen Sie Springero nostro, wenn sein so oft und so sancte versprochener politischer Artikel nicht binnen acht Tagen komme, so komme er zu spät.

Am Ende des März-Heftes 1773 erscheint dann unter der Überschrift "Politische Nachrichten" zunächst eine Einleitung des Herausgebers, in der er darlegt, was er für Vorstellungen über dieses Ressort hat; daran schließt sich "kurzer allgemeiner Blick auf die ganze gegenwärtige Staats-Verfassung von Europa" an, nach Ländern gegliedert. Dieser Text kann jedoch nicht von Springer geschrieben sein, obwohl dieser wohl in letzter Minute doch noch etwas eingesandt hatte, denn Wieland schreibt im April an Meusel:

Springerum nostrum herzen und küssen Sie in meinem Nahmen. Er ist der beste bravste Mann von der Welt, ein Mann von Genie und Wissenschaft, kurz, niemand kann ihn höher schätzen als ich: aber von seinem Aufsatz konnte ich unmöglich Gebrauch machen. Der Mercurius würde übel dabey gefahren seyn, an allen Höfen hätte man crucifige über ihn gerufen, und weder sein geflügelter Huth, noch seine goldne Ruthe, womit er die Seelen regiert, hätten ihm helfen können.

Offensichtlich war Springers Artikel also nicht freundlich genug mit den zeitgenössischen Monarchen umgegangen und wurde deshalb von Wieland sofort einkassiert.[3]

1773 und Anfang 1774 erscheinen weiterhin nicht namentlich gekennzeichnete "Politische Nachrichten", danach werden sie vorübergehend eingestellt. Anfang März 1775 bemüht Wieland sich wieder um einen Beiträger; zu dieser versucht Wieland erstmals das Journal entschieden zu verbessern, z.B. durch Gewinnung neuer Beiträger auch in anderen Ressorts. Friedrich Heinrich Jacobi sichert ihm in einem Brief vom März 1775 zu (die entsprechende Anfrage Wielands ist nicht überliefert):

Mit der neuen Einrichtung des Merkurs bin ich höchlich zufrieden, und Sie können sich darauf verlaßen daß ich Ihnen einen tüchtigen Mann für den politischen Artikel schaffen werde, aber keinen Deutschen, welches Ihnen auch wenig verschlagen wird.

Jacobi hält sein Versprechen und schickt Wieland einen Text; dieser jedoch ist mit dem neuen Autor genauso wenig zufrieden wie mit Springer, im Juni schreibt er an Jacobi:

Ich schicke Ihnen, liebster Bruder, die Uebersetzung des politischen Artikels und beschwöre Sie bei unserer Freundschaft und bei meiner ohnehin so häufig unterbrochenen Ruhe, nicht ungehalten auf mich zu werden, wenn ich Ihnen sage, daß, so vortrefflich die Artikel Deutschland, England, und besonders Polen, geschrieben sind, ich es doch unmöglich wagen kann, sie im Merkur auf meine augenscheinliche Gefahr zu publiciren. Mir graut und schaudert vor dem Lärmen, den eine so große Freiheit, über die Könige unserer Zeit zu philosophiren, in Berlin, Wien, Regensburg etc. erregen, und von den bösen Händeln, die ich mir dadurch zuziehen würde. Warum sagten Sie mir das nicht schon vor sechs Wochen? Werden Sie fragen. Gott weiß es, mein Liebster, warum mir damals bei dem, freilich etwas flüchtigen, Ueberlesen des Originals diese Freiheit nicht so anstößig war. Genug, bei näherer Ueberlegung finde ich, daß Ihr vortrefflicher Freund entweder einen minder freimüthigen Ton anstimmen muß, oder, daß es besser ist, es gebe sich gar nicht damit ab. Möchte der Verfasser des politischen Artikels Macchiavell selbst seyn; sobald er in Deutschland und in einem deutschen Merkur schreibt, muß er die Hörner einziehen und bloßer Annalist seyn.

Der neue Kandidat war also ebenfalls zu "freimüthig" gegenüber den Königen und Höfen der Zeit. Um wen es sich bei diesem mysteriösen Ausländer handelte, konnte bisher nicht geklärt werden. Der Jacobi-Briefwechsel hilft nicht weiter, es findet sich dort niemand aus dem Ausland, mit dem Jacobi zu dieser Zeit regelmäßig korrespondiert hätte. Es kann sich aber auch um einen (wahrscheinlich) französischsprachigen Muttersprachler aus Jacobis direktem Umfeld handeln. Demnach ist weiterhin unklar, wer nach diesem erneuten Scheitern die politischen Artikel der zweiten Phase in den Jahren 1775 und 1776 verfasst haben könnte.

 Auszuschließende Kandidaten: Johann Georg Meusel

Die nicht besonders umfangreiche Forschung hat bisher wenig Energie darauf verwendet, den Autor ausfindig zu machen. Zum Teil wird einfach davon ausgegangen, dass der Herausgeber selbst der Autor war.[4] Ein weiterer Kandidat ist Wielands oben erwähnter ehemaliger Erfurter Kollege Meusel, der Springer als Autor vermittelt hatte. Mit Meusel wechselt Wieland in den Jahren 1773 und 1775 mehrfach Briefe, in denen von Beiträgen für den Merkur die Rede ist; die Kommentare zum Wieland-Briefwechsel verweisen an dieser Stelle regelmäßig auf die "Politischen Nachrichten". Dagegen sprechen jedoch mehrere Argumente. Zum ersten verwendet Wieland gegenüber Meusel konsequent die Formulierung "historischer Artikel". So präzisiert er in einem Brief vom 14.4.1773: Er wünscht sich einen kritischen Artikel darüber, "wie es pro tempore in der historischen Provinz des gelehrten Deutschlands aussieht, und was darin von 1773 an ferner sich ereignen und zutragen wird". Mit "historischer Artikel" ist also ganz konkret die Berichterstattung über die gelehrte historische Literatur gemeint (analog zum literarischen Artikel oder dem theatralischen). Ein unscharfer Begriffsgebrauch, der keinen Unterschied zwischen "historisch" und "politisch" machen würde, wäre äußerst untypisch für Wieland. Zudem fordert Wieland im gleichen Brief vom April 1773, in dem er Meusel beauftragt, Springer zu sagen, dass er dessen politischen Artikel nicht drucken kann, von Meusel den "historischen Beitrag" an – aber er tut dies erst am Ende des Briefes und nicht im Zusammenhang mit der Absage an Springer! Schon die reine Logik würde es erfordern, dass beide Sachverhalte, wenn sie sich denn auf den gleichen Beitrag bezögen, unmittelbar nacheinander abgehandelt würde, Wieland also schreiben würde: Ich kann Springers Beitrag beim besten Willen nicht drucken, können Sie selbst nicht einen Ersatz liefern?

Zum zweiten liefert Meusel tatsächlich im zweiten Vierteljahresband 1773 einen explizit historischen Beitrag, nämlich das Schreiben an einen Freund in London über den gegenwärtigen Zustand der historischen Litteratur in Teutschland, ein in Briefform gehaltener Rundumschlag über die Situation der historischen Forschung in Deutschland mit expliziter Behandlung einzelner Autoren. Kurz nach der Veröffentlichung dieses historischen Beitrags treffen sich Wieland und Meusel anlässlich einer Theateraufführung in Weimar; offensichtlich wird bei diesem Anlass auch über Meusels Artikel gesprochen, denn Wieland schreibt im nächsten Brief vom 2. August 1773 an ihn:

Kehren Sie sich an kein Naserümpfen, und fahren Sie mit Ihrem Artikel in den Merkur fort. Man kann nicht allen alles zu danke thun. Die Göttinger wollen daß man von ihnen nur mit gebognen Knien, wie von Göttern sprechen soll; und sind also unmuthig, daß Sie von ihnen als von sterblichen sündigen Menschen gesprochen haben.

Lt. Kommentar zum Briefwechsel soll sich diese Aufforderung zur Fortsetzung wiederum auf die politischen Nachrichten beziehen. Aus der Briefstelle geht allerdings ziemlich eindeutig hervor, dass Wieland von dem oben erwähnten historischen Beitrag spricht, denn er bezieht sich auf Meusels dort vorgetragene Position zu den Göttinger Historikern – von denen natürlich in keinem der politischen Artikeln die Rede ist, aber ausführlich im Schreiben an einen Freund in London.

Schließlich datiert die letzte Aufforderung Wielands an Meusel, endlich wieder einen "gleichmäßigen historischen Artikel" zu liefern, der ab Februar 1776 zweimonatlich in den Merkur eingerückt werden könnte, vom 16. November 1775. Zu diesem Zeitpunkt sind aber bereits die ersten "Politischen Nachrichten" nach einer längeren Pause wieder erschienen, und ihre Reihe wird im einmonatlichen Erscheinungsrhythmus fortgesetzt. Es ist damit insgesamt eher unwahrscheinlich, dass der Verfasser der späteren "Politischen Nachrichten" Meusel ist, wie der Briefwechsel-Kommentar (weiterhin ohne jeden Beleg) behauptet.

Graf Görtz als Verfasser in der ersten Phase der 'Politischen Nachrichten'

Letztendlich aber muss irgendjemand diese Artikel geschrieben haben; und schon Wahl weist in seiner Merkur-Monographie darauf hin, dass der mögliche Mitarbeiterkreis zu dieser Zeit sehr übersichtlich ist:

Woher aber solle Wieland die besten Köpfe bekommen? Blieben ihm doch eigentlich außer den Jacobis nur seine alten Freunde, seine Erfurter Kollegen und vielleicht neue Weimarer Bekannte.[5]

Tatsächlich stammt der Mitarbeiter aus Wielands direktem Weimarer Umfeld: Es ist nämlich sein Kollege als Prinzenerzieher, Johann Eustach von Görtz, der seine Beförderung von Erfurt nach Weimar befürwortet hatte und mit dem ihn in der ersten Zeit in Weimar eine enge Freundschaft verbindet. Dass Görtz der Verfasser der politischen Nachrichten ist, geht aus den Briefen hervor, die er seiner Frau Caroline regelmäßig ins benachbarte Gotha schrieb. So erzählt er ihr am 5. Mai 1773:

Vorgestern Abend ließ die Herzogin W. sagen, er solle wegen des Statthalters zum Abendessen bleiben. Es war die Rede vom Merkur. Sie kam auf den politischen Artikel zu sprechen und lobte sehr, dass er so gut geschrieben sei, wobei sie zum Statthalter sagte, sie glaube, W. habe ihn geschrieben. Er antwortete, das glaube er nicht. Daraufhin fragte sie Wieland: Sie nicht? Er sagte, nein. Dann meinte sie, aufgrund des Stils würde sie es gewiss vermuten, er sei ungemein gut. Gestern hat W. ihr gesagt, dass ich es sei, und man hat es gut aufgenommen.

Der Brief belegt zudem, dass zumindest Wielands Arbeitgeberin, die Fürstin Anna Amalia, die politischen Nachrichten im Merkur nicht nur las, sondern sogar schätzte. Görtz arbeitet auch in den nächsten Monaten weiter am politischen Artikel; in Briefen vom 6. Juni und vom 10. Juni berichtet er Caroline, dass er wieder an einem Beitrag sitze, in dem er "Katharina und Asseburg" loben werde, wahrscheinlich zum Unwillen seines Bruders. Warum er dann im Jahr 1774 keine weiteren Beiträge mehr verfasste, ist nicht klar; seine Kavalierstour mit den beiden Weimarer Prinzen beginnt erst am Ende des Jahres.

Damit ist aber noch nicht geklärt, wer in der zweiten Phase ab Ende 1775 die politischen Nachrichten verfasste; Graf Görtz war zu dieser Zeit nicht mehr in Weimar, wo er nach seiner Rückkehr von der Kavalierstour unter etwas unklaren Umständen gekündigt worden war, und auch mit Wieland hatte er sich überworfen. Wieland engster Mitarbeiter in dieser Phase ist Johann Heinrich Merck, der beinahe alle Rezension sowie einige eigene Beiträge verfasst. Die Zusammenarbeit ist insgesamt gut dokumentiert, auch im Briefwechsel von Merck und Wieland. Falls Merck auch die politischen Nachrichten verfasst hätte (was inhaltlich durchaus möglich ist), ist es doch äußerst unwahrscheinlich, dass das keinerlei Spuren im ausgiebigen Briefwechsel beider hinterlassen hätte.

 Eine mögliche Schlussfolgerung, die ich im Folgenden versuchsweise vortragen will, lautet: Der Herausgeber selbst, der bekanntlich gerade am Anfang aus schierer Not sein fleißigster Beiträger war, hat die "Politischen Nachrichten" in der zweiten Phase verfasst; es handelt sich um Originaltexte Wielands.[6]

 Anonymität im 'Merkur' – ein "kitzlicher Artikel"

Wenn aber Wieland selbst der spätere Autor war, warum hat er die politischen Artikel dann nicht namentlich gekennzeichnet? Wahrscheinlich deshalb, weil er sich von Anfang an bewusst war, dass es sich bei diesem Ressort um einen "kitzlichen Artikel" (so im zitierten Brief an Meusel) handelte (was ja auch die zweifachen Zurückweisungen illustrieren); zwar würde er als Herausgeber sowieso in einem gewissen Maße für den Inhalt verantwortlich gemacht werden. Aber es wäre auf jeden Fall eine sinnvolle Sicherheitsmaßnahme gewesen, sich zumindest die Möglichkeit offen zu halten, bei Angriffen gegen den Artikel die Autorschaft ableugnen zu können. Aus dem gleichen Grund erschienen in den ersten Jahrgängen des Merkur auch die Rezensionen anonym.[7] Schließlich war sowohl in den gelehrten Zeitungen und Zeitschriften der Zeit wie auch in den politischen Anonymität der Beiträger durchaus üblich und nicht ungewöhnlich.

Wie heikel allzu freizügige Äußerungen in politischen Artikeln waren, demonstriert ein zeitlich paralleles Beispiel aus Wielands engstem Bekanntenkreis: Wilhelm Heinse, sein problematischer Student aus Erfurt, schrieb für Friedrich Heinrich Jacobis Frauenzeitschrift Iris im Jahr 1775 vier Artikel unter dem Titel "Politik", in denen er unter anderem deutlich für die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung Partei ergriff oder Sympathien für den russischen Aufrührer Pugatschew zeigte; worauf Jacobi Ende 1775 den Artikel durch ein Machtwort des Herausgebers beendete und sich bei seinen Leserinnen entschuldigte, dass er seinen Mitarbeiter nicht genug überwacht habe; er habe ursprünglich nur einen politischen Artikel veröffentlichen wollen, der zu unbedeutend sei, um von "Staatsklugen Männern" wahrgenommen zu werden, aber habe sich darin offensichtlich getäuscht.[8]

  Konzept der "Politischen Nachrichten" – eine "succinte Erzählung" in moralischer Absicht

Welche genauen Vorstellungen Wieland mit seinen "Politischen Nachrichten" verband, machen sowohl die Briefäußerungen als auch der einleitende Passus des ersten Artikels im Merkur ansatzweise deutlich. An die Briefpartner schreibt er, in einer wiederkehrenden Formulierung, er brauche keine Abhandlung, sondern eine "fortlauffende, gründl. Unpartheyisch, und succint fortlaufende Erzählung".[9] Der Standpunkt der Unparteilichkeit entspricht dabei zum einen Wielands (nicht nur) politischer Grundhaltung, ist aber zum anderen in den meisten politischen Blättern der Zeit die allgemeine Norm.[10] "Fortlaufend" sind die abgedruckten politischen Nachrichten tatsächlich, da konsequent bestimmte Themenkomplexe aufgegriffen, verfolgt und abgeschlossen werden. Die angestrebte Gründlichkeit und Prägnanz ist darüber hinaus schon durch die Rahmenbedingungen der äußersten Kürze eine Notwendigkeit.[11] Einen kleinen, aber nicht unwesentlichen Hinweis darauf, wie Wieland sich die Schreibart im Einzelnen vorstellt, gibt Wieland in einem Herausgeber-Kommentar zum ersten Artikel von Dohm, wo er vermerkt:

(Kann künftig von Zeit zu Zeit fortgesezt werden, wenn es die Leser wollen; welche auch ersucht werden, die Wörter: - es scheint – soll – etc. an allen Stellen dieser Sammlung zu suppliren, wo sie ihnen noch zu fehlen scheinen)

Der ideale Beiträger soll also auch explizit darauf aufmerksam machen, dass die politische Berichterstattung der Zeit auf problematische und unsichere Quellen und Gerüchte angewiesen ist.

Da der Platz für die "Politischen Nachrichten" knapp ist, muss eine strenge Auswahl aus den aktuellen politischen Nachrichten getroffen werden. Mögliche Selektionskriterien werden in der Einleitung zum ersten politischen Artikel genannt, der von der Forschung bisher ziemlich einhellig Wieland selbst zugeschrieben wird – allerdings nur die Einleitung und der Schlusssatz, so beispielsweise Seuffert. Allerdings ist auch hier nicht mit letzter Sicherheit bisher nicht geklärt, ob Wieland der Verfasser von Einleitung und Schluss oder des ganzen Artikels ist; vom Inhalt her entspricht er zwar ziemlich genau dem, was der Herausgeber mit seiner Zeitschrift programmatisch verfolgte. Die betont emphatische Redeweise, vor allem in der Schlussapostrophe, wirkt eher allerdings wenig bezeichnend für Wieland. Typisch für Wieland erscheint andererseits in der Schlusswendung die volitive Konjunktivformulierung: "Und möchte doch". Sie wird von Wieland sehr häufig verwendet ("möge doch" hingegen findet sich kaum):

Der deutsche Merkur hat sich anheischig gemacht am Ende eines jeden Theils die neuesten politischen Nachrichten mitzutheilen. Der wenige Raum welcher dem Verfasser dieser Nachrichten dazu übrig bleibt, wird einen jeden zuvor vermuthen lassen, daß blos die wichtigsten, der Menschheit am meisten intereßirenden Neuigkeiten angemerket werden können – Beyspiele von Großmuth, von Gerechtigkeit, von Wohlthätigkeit, von Menschenliebe der Großen dieser Erde, ihrer Rathgeber, aber auch eines jeden tugendhaften Weltbürgers wird der Verfasser am liebsten bemerken. Und möchte er doch mit jedem Schluß des Jahres seine Leser überzeugen können, daß die einzige wahre Grundfeste der Glückseligkeit der Staaten, die Moralität der Menschen um ein merkliches sich verbessert habe! – Ihr Fürsten des Erdbodens! Verschaffet Euch, verschaffet der Welt diese göttlichste der Freuden!

Unabhängig von der Autorschaft wird aber hier ein relativ klarer Schwerpunkt gesetzt: Es geht nicht nur einfach um aktuelle politische Berichterstattung im Interesse der "Menschheit", sondern mindestens gleichwertig um deren moralische Relevanz: Großmut, Gerechtigkeit, Wohltätigkeit, Menschenliebe – vorbildliche, exemplarische politische Handlungen sollen deshalb in den Vordergrund gerückt werden sollen. Und dieses gilt, auch hier muss man auf die Feinheiten der Formulierung achten, in dieser Reihenfolge für die "Großen" (also die Fürsten), deren "Ratgeber" und einen jeden "Weltbürger". Die aufklärerische Ausrichtung des Artikels im Sinne einer politischen Fürstenerziehung, wie sie Wielands Tätigkeit in dieser Zeit prägt, macht die Schlussformel noch einmal ganz deutlich, die sich an die "Fürsten des Erdbodens" richtet.

 Zu den Quellen: Zeitungen, Zeitschriften, Abrisse

Johann Georg Meusel skizziert in einer Rezension der Neuesten Staatsbegebenheiten ziemlich genau die journalistische Landschaft der Zeit im Blick auf die politische Berichterstattung:

Wenn neben der ungeheuren Menge politischer Zeitungen noch viele Monatschriften, die das, was in jenen zerstreuet erzählet worden, in einen gewissen, freylich oft kläglichen Zusammenhang bringen, in Deutschland sich viele Jahre hindurch erhalten; wenn die hinkenden Staatsboten, genealogisch-historische Nachrichten, unterhaltenden Schauspiele nach den neuesten Begebenheiten, das Eckardtische Tagebuch, die neueste Geschichte der Welt, und mehrere Kompilationen ähnlichen Gelichters, noch immer ihre Leser finden, und zu langen Reihen von Bänden auswachsen -

dann hat offenbar auch Wielands Teutscher Merkur einen Platz in dieser Aufzählung: Er zählt zu den Monatsschriften, die die tagesaktuelleren politischen Zeitungen exzerpieren und summieren.[12] Neben den Zeitungen und Zeitschriften mit politischen Ressorts gibt es aber auch die von Meusel erwähnten genealogischen Nachrichten, die sich auf dynastische Neuigkeiten konzentrieren; es gibt mehr oder weniger literarische Verarbeitungen von politischen Neuigkeiten, es gibt Abrisse, Kompendien, Kompilationen ohne Ende. Dazu kommt noch die internationale Presse, speziell aus Frankreich und England, von der wir ziemlich sicher wissen, dass sie Wieland zur Kenntnis genommen hat[13]; leider ist demgegenüber bisher nicht sicher bekannt, welche deutschen Zeitungen er gelesen hat.[14] Stichproben bezüglich der in den politischen Artikeln im Merkur genannten nachprüfbaren Fakten (Namen, Zahlen, beispielsweise von Truppenstärken oder Staatsausgaben) haben bisher noch keine besonders konsistenten Ergebnisse erbracht.[15] Es ist aber sicher davon auszugehen, dass über weite Strecken die "Politischen Nachrichten" tatsächlich von solchen Publikationen zehren; sie sind jedoch keinesfalls einfach "abgeschrieben", da schon die Kürze eine gezielte Auswahl und Zuspitzung fordert und vielfach Bewertungen und Einschätzungen nachweisbar sind, die eine sehr persönliche Handschrift zeigen und zudem häufig von verbreiteten öffentlichen Bewertungen abweichen.

Darüber hinaus dürften Wieland aber auch einige Informationen aus seinem weitgestreuten Korrespondenten-Kreis zugeflossen sein. So berichtet z.B. Johann Heinrich Merck, der zur Vermählung der Prinzessin von Hessen-Darmstadt mit dem russischen Großfürsten mit nach Russland gereist war, Wieland in Briefen vertraulich davon; das Thema taucht danach in den "Politischen Nachrichten" auf. Ein auffällige zeitliche Koinzidenz ist auch, dass Wieland im September mit dem Ex-Jesuiten Anton von Klein korrespondiert; in den "Politischen Nachrichten" des gleichen Monats heißt es dann: "Wir können sogar das Publikum aus einer Quelle, deren völlige Zuverläßigkeit uns bekannt ist, versichern, daß noch niemals die Rede von der Wiederherstellung des Jesuitischen Instituts gewesen ist, wie man zeither ausgestreut hat".

  Thematische Schwerpunkte – Fürstenlob und Freiheitskritik

Im Folgenden werde ich kurz die gesamten "Politischen Nachrichten" in den Jahrgängen 1773 bis 1776 durchgehen und auf inhaltliche Schwerpunkte sowie Auffälligkeiten in Darstellung und Bewertung hinweisen. Für die erste Phase steht zwar Görtz als Autor fest; es erscheint jedoch sinnvoll, die Entwicklung der Berichterstattung über die gesamte Phase hinweg zu verfolgen, um Kontinuitäten und Unterschiede feststellen zu können. Zudem ist es denkbar, dass Wieland Görtz' Beiträge überarbeitet hat; immerhin hatte Görtz in einem der Briefe an seine Gattin selbst Zweifel geäußert: "Ich werde nun diese Woche den politischen Artikel für den Merkur schreiben, vorausgesetzt, er gelingt mir".

1773

Wielands einleitende Überlegungen zu Beginn der Artikel-Serie wurden oben bereits dargelegt. An sie schließt sich eine überblicksartige Darstellung der "ganzen gegenwärtigen Staats-Verfassung von Europa" an, bei der nacheinander der russisch-türkische Krieg, die nordischen Länder, England (vor allem im Blick auf die Kolonien in Amerika), die Niederlande, Frankreich und Spanien, Portugal, Italien, die Schweiz und abschließend Deutschland behandelt werden. Inhaltlich lassen sich vielfach Bezüge zu Parallelstellen in Wielands früher Einleitung in die Kenntniß der itzigen Staaten in Europa darstellen (deren Quellen ebenfalls im Einzelnen noch nicht geklärt sind). So entspricht beispielsweise die Darstellung der Situation in Deutschland Wielands politischen Ansichten zum Reich im Allgemeinen:

Die deutschen Reichs-Fürsten können durch eine kluge Staats- und häußliche Wirthschaft und durch eine patriotische Zusammenstimmung für das Wohl des gesamten Reichs, sich Ruhm und Ehre erwerben. [...] Viele dieser Reichs-Fürsten beyder Religionen beeyfern sich durch Einrichtungen, welche auf die Verbesserung der Moralität abzielen, das Wohl ihrer Unterthanen zu befördern. Der Aberglaube wird vermindert, an vielen Orten vertilgt, das öffentliche Erziehungswesen verbessert, und auf mehrfaltige Art dafür gesorgt, die niedern Classen zu Menschen, Bürgern und Christen zu bilden. Ueberhaupt scheint es, daß für Deutschland das achtzehnde Jahrhundert mit Recht das aufgeklärte zu nennen sey.

Als Beispiel wird eigens die Reform des Cammergerichts-Visitations-Wesens aufgezählt, die in den folgenden Jahrgängen dann immer wieder zur Sprache gebracht wird.[16]

Im zweiten "Politischen Artikel" sind drei einander korrespondierende Beispiele von Fürstenlob auffällig: Zunächst wird Katharina die Große dafür gelobt, dass sie besonderes Augenmerk auf die Erziehung ihres Sohnes lege – und zudem um gute Ratgeber bemüht sei, was auch eines der Standardthemen bleiben wird, das zudem schon in der Einleitung angesprochen wurde.[17] Beinahe direkt danach wird berichtet, dass der preußische König durch seine Lande reise und "Verfügungen zu besseren Einrichtungen" treffe; das gleiche trifft auf Joseph II, zu, wo es dann explizit zu diesen Reisen im eigenen Regierungsbereich heißt, sie seien

ein vortrefliches Mittel eines Monarchen sein eignes Reich kennen zu lernen, sich die Liebe seiner Unterthanen zu erwerben, und seine Unterbedienten aufmerksam zu machen.

Da alle drei Fälle nicht direkt sensationellen Aktualitätswert haben, liegt ihr Sinn wahrscheinlich darin, dem Leser vor Augen zu führen, dass der ideale aufgeklärte Monarch, konkret in Gestalt von Katharina, Friedrich und Joseph, tatsächlich um das Wohl seiner Untertanen besorgt ist; das Reisemotiv erinnert zudem an ähnliche Stellen in Wielands Goldnen Spiegel, wo Tifan genau zum gleichen Zweck eine Reise macht. Zudem enthält der zweite "Politische Artikel" eines der angekündigten Beispiele für menschlichen Großmut, indem das "lobenswürdige Beyspiel einer ächten Freundschaft" in einer Erbschaftssache erzählt wird. Auch die vorbildliche Finanzpolitik des Großherzogs Leopold von Toskana (dem Bruder Kaiser Josephs II.), der infolgedessen ein blühendes Land regiere, wird lobend hervorgehoben.

Der dritte "Politische Artikel" im Jahrgang 1773 erwähnt nun den polnischen König als Beispiel dafür, dass man "wahre Menschenliebe auch unter dem Purpur" finde; zudem wird pauschal berichtet, dass Joseph II. seine Reisen fortgesetzt habe, was seine "väterliche Sorgfalt" demonstriere. Fortgesetzt werden auch die Berichte über russisch-türkischen Krieg und die Cammergerichts-Visitation. Einen neuen Akzent setzen zwei kurze Notizen über zeitgenössische Erziehungsreformen. Erstmals findet sich eine Episode über Frankreich, in der ziemlich gezielt die höfische Prachtentfaltung mit der öffentlichen Armut kontrastiert wird; es beginnt zudem die Berichterstattung über den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. Eine spezifisch Wielandisch anmutende Anspielung auf Merciers L'an 2044 findet sich in einem Bericht über das Breve des Papstes zur Aufhebung des Jesuitenordens (ebenfalls ein Standardthema in den folgenden Artikeln), wo es heißt:

Diese Vernichtung einer Gesellschaft, welche noch vor kurzem Königen furchtbar war, gehört unstreitig unter die größten Denkwürdigkeiten unsres an politischen Wundern so fruchtbaren Zeitalters. Wir, unter deren Augen sie sich zutrug, haben Mühe unsern Augen zu glauben; aber im Jahr 2240 wird man vermuthlich noch viel seltsamer finden, daß eine Zeit gewesen sey, in der die Aufhebung eines Ordens von Religiosen eine Staatssache von der ersten Wichtigkeit gewesen.[18]

Im dritten Artikel findet sich auch die einzige Herausgeberanmerkung zu dem gesamten Komplex der "Politischen Artikel". Zu der Nachricht, dass Joseph II. die neuen Provinzen bereise und eine Beurteilung getroffen haben, dass aus ihnen 500.000 neue Rekruten gewonnen werden könne, merkt Wieland an: "Ein Umstand, über den sich viel philosophieren liesse, wenn man vorerst gewiß wäre, dass er wahr ist". Die Betonung der Notwendigkeit zuverlässiger Quellen gerade für heikle politische Bewertungen zieht sich kontinuierlich durch alle politischen Artikel.

Der vierte "Politische Artikel" ist eher kurz und setzt die Berichterstattung zu bereits erwähnten Themen fort. Auffällig ist hier, dass nun direkt auf die Mainzer Erziehungsreform verwiesen wird, an der Wieland möglicherweise selbst beteiligt war:

Unter denen teutschen Reichsfürsten ist der Churfürst von Mainz derjenige gewesen, welcher zuerst die dazu dienlichen Maaßregeln ergriffen. Durch die von dem Orden in denen meisten Catholischen Reichen und Landen besessenen großen Reichthümer, erwächst den Landes-Herren ein beträchtlicher Zuwachs von Einkünften, wodurch ihre Macht ansehnlich vermehret wird, und durch die nun von den Landes-Herren getroffenen bessern Einrichtungen, der Erziehungs- und Unterweisungs-Anstalten, sind nicht geringe Vortheile für das gemeine Beste zu hoffen.

 1774

Der einzige politische Artikel im gesamten Jahrgang 1774 steht zu Ende des ersten Vierteljahresheftes. Er setzt die bekannten Themen fort (russisch-türkischer Krieg; Verhandlungen um Holstein; Cammergerichts-Visitation; Stellengeschacher am frz. Hof; Streit im englischen Parlament angesichts der Boston Tea Party; Verbot des Jesuitenordens, s.o.). Wieder finden sich Beispiele von gezieltem Fürstenlob (diesmal am Beispiel von Gustav III. von Schweden, es wird wörtlich aus einem seiner Briefe zitiert); es wird darauf hingewiesen, dass jetzt auch in Würzburg eine Erziehungsreform nach Mainzer Vorbild stattgefunden hat. Der Artikel ist diesmal ziemlich gedrängt, offenbar aus Platznot.

 1775

Nach einer längeren Pause erscheinen erst im vierten Vierteljahr (also nach über anderthalb Jahren) 1775 wieder "Politische Nachrichten", die von nun aber relativ durchgehend monatlich fortgesetzt werden. Inzwischen war die Suche nach einem neuen Beiträger über Jacobi im März 1775 gescheitert; Wieland selbst war nach dem Regierungsantritt von Carl August im September von seinen Erzieherpflichten befreit, konnte sich also mit vermehrter Energie dem Merkur zuwenden.[19] Der Artikel erscheint jetzt durch explizite Länder-Überschriften (die Gliederung war bisher nur implizit) stärker gegliedert und übersichtlicher. Auffällig ist, dass nun einzelne Länder-Abschnitte von einem nicht näher spezifizierten "wir" präsentiert werden, also in einem Artikel über England beispielsweise von "unserem Parlament" (als dem englischen) die Rede ist. Offensichtlich soll damit unterstellt sein, dass es sich um Korrespondentenberichte handelt, die vor Ort verfasst wurden; mir scheint es jedoch, dass es sich hier um eine Art zusätzliche Maske handelt, die der anonyme Verfasser benutzt (weiteres dazu s.u.).

Im ersten "Politischen Artikel" 1775 gibt es einen ausführlicheren Bericht vom französischen Hof, in dem zum ersten Mal ein deutlich satirischer Ton zu spüren ist; so heißt es am Ende, nachdem kurz zuvor die Streitigkeiten der "Prinzen von Geblüte" über Nachfolge-Fragen referiert wurden:

Allein auf die Gegenvorstellungen, die man ihnen gemacht hat, haben sie ihren Irrthum erkannt. Demzufolge wird man nicht die beyden Thurflügel öfnen, wenn sie ihn besuchen, und sie werden keinen Armesessel bey ihm haben; dagegen werde beyde Thurflügel geöfnet, wenn er zu dem Könige getragen wird.

Das erinnert sehr an die Darstellung ähnlich sinnloser Parteien-Streitigkeiten in Wielands Romanen. Ausführliche Erzählungen von zeremoniellen Vorgängen am frz. Hof enthielt der Mercure de France regelmäßig; es ist auch gut vorstellbar, dass sich Wieland über diese zunehmend anachronistisch werdende Form der Hofberichterstattung lustig macht. Ähnlich satirisch endet ein weiterer Bericht vom französischen Hof zwei Hefte später:

Der König fährt fort, sich im Cabinet stark mit den Ministern zu beschäftigen, während daß die Königin alles anwendet um ihm durch die Lebhaftigkeit und Munterkeit ihres Geistes, und die Anmuth, die alles was sie thut begleitet, die Sorgen des Thrones zu versüßen. Da diese junge Fürstin, in allem was Anzug und Putz betrift, viel Geschmack hat, so beeyfert sich Hof und Stadt sie darinn zum Muster zu nehmen. Sogar die Farbe ihrer Haare ist zur Mode geworden, und Ihre Maj. haben kürzlich eine Locke von Ihren Haaren nach Lyon geschickt, um Winter-Seidenzeuge verfertigen zu lassen, die vollkommen die Farbe derselben (eine Art von lebhaften Nußbraun) haben sollen. Man zweifelt nicht, daß die gefälligen Ausländer, die so lange gewohnt sind, uns in allem was Geschmack und Auszierung betrift, (auf ihre Kosten, wie billig), zum Muster zu nehmen, sich auch bald in diese neue Farbe verlieben werden.

Genau in diesem Bericht wird nun der oben erwähnte "Korrespondenten"-Ton erstmals verwendet; man könnte vermuten, dass Wieland hier in der Ausmalung der Szene in satirischer Absicht zum ersten Mal die Idee gekommen ist, durch das "uns" eine fiktive Erzählerfigur einzuschieben (und damit das eher dröge Geschäft auch für ihn als Autor etwas interessanter zu machen…). Überhaupt tendiert die Berichterstattung von nun an immer mehr zum Anekdotischen und zum Ausmalen einzelner Szenen.

Ein Thema, das in den folgenden "Politischen Artikeln" ebenfalls an Gewicht gewinnt, ist die Berichterstattung vom Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. Die in diesem Zusammenhang vorgenommenen Bewertungen zeigen ein geschultes politisches Urteilsvermögen – das wird auch in der Forschungsliteratur immer wieder hervorgehoben[20] – und bemühen sich zwar um Unparteilichkeit, haben jedoch gleichzeitig deutliche Sympathien für die Amerikaner. So heißt es anlässlich der Declaration of Taking Up Arms, die passagenweise abgedruckt wird:

Die Amerikaner auf ihrer Seite sind standhaft und scheinen entschloßen zu seyn, das was sie ihre Freyheit nennen, mit Kosten ihres Vermögens und Lebens zu behaupten; wobey es dann freylich stark genug in die Augen fällt, daß sie nichts geringers als eine gänzliche Unabhängigkeit von Großbrittanien zur Absicht haben. Unlängst haben sie eine Deklaration oder Manifest an alle Nationen bekannt gemacht, worinne sie die Gründe, die sie zur Ergreifung der Waffen bewogen haben, auseinander setzen. In jeder Zeile dieser Schrift spricht Patriotismus und Liebe zur Freyheit, und sie verdient würklich den schönsten Reden des Demosthenes und Cicero an die Seite gesezt zu werden. Sie ist ein Beweiß, daß die schönen Künste und die Beredsamkeit in den Englischen Colonien von Amerika nicht weniger als bey uns blühen, und daß die Amerikaner die Feder so gut zu führen wissen, als diesen Degen.

Nicht nur die Bewertung scheint mir konsistent mit Wielands sonstigen politischen Ansichten; auch der spontan ja eher verblüffende Vergleich mit Cicero und Demosthenes und überhaupt die ganze Idee, eine rhetorische Beurteilung des Manifestes vorzunehmen und daraus einen anthropologischen Schluss zu ziehen, scheinen mir stark auf Wieland als Verfasser hinzuweisen. Wenig später heißt es zu diesem Thema, ebenfalls mit einem spürbaren Bemühen um Abwägung:

Wenn man die Amerikaner nicht entschuldigen kann, daß sie sich wider ihren Mutter-Staat aufgelehnt haben; so muß man doch auch gestehen, daß sie ihren Widerstand mit den scheinbarsten Bewegungsgründen und mit solchen Ausflüchten zu beschönigen wissen, die gar leicht Alles auf ihre Seite bringen könnten. Auch ist nicht zu läugnen, daß es ihnen weder an Muth noch an Einsichten fehlt, ihre Empörung durchzusetzen. Alle ihre bisherigen Unternehmungen geben den größten Begriff von ihrer Kenntniß in Kriegssachen.

Aber auch bei anderen Themen werden nun immer mehr und immer unbefangener Bewertungen vorgenommen als in den ersten Jahrgängen. So heißt es zum Thema der Frondienste (ebenfalls ein wiederkehrendes Thema in verschiedenen Länderartikeln) in Böhmen:

Eine neue Probe, daß die Menschen überhaupt von Natur aus nicht böse, und gewiß nie muthwilliger Weise und zum Vergnügen Rebellen sind; sondern daß sie manchmal genöthiget werden, ihre natürliche Güte und Gedult aufzuopfern, um sich durch eingewurzelte Mißbräuche und üble Gesetze nicht gänzlich zu Boden treten zu lassen 

-was ziemlich genau Wielands Vorstellungen über den Naturzustand entspricht. Das Fürstenlob gilt nunmehr Kaiserin Maria Theresia:

Man muß gestehen, daß diese wegen ihrer sanften und klugen Regierung so geliebte und verehrte Monarchin, durch dieses Reglement so viel als möglich war, die Rechte der Menschheit gegen Gewohnheiten, die das graueste Alterthum geheiligt hat, zu vertheidigen und in Schutz zu nehmen gesucht hat.

Als hingegen kurz von einer neuen von Friedrich II. entwickelten Taktik für seine Soldaten die Rede ist, heißt es abschließend – und das scheint mir wiederum eine typische Wielandsche Schlusspointe zu sein:

1776

Der Jahrgang 1776 bringt bis auf eine kurze Auslassung im Sommer regelmäßige monatliche politische Nachrichten. Relativ umfangreich wird über die Installierung des neuen Kriegsministers St. Germain und vor allem über die Tätigkeit von Turgot als Finanzinspekteur in Frankreich berichtet; die Bewertungen sind dabei durchgehend sehr wohlwollend und stimmen auch mit Wielands späterer Hochschätzung Turgots überein. Als Tenor durchzieht diese Beiträge die Überzeugung, dass der französische Hof, um das Schlimmste für die Zukunft zu vermeiden, seine Kosten unter Kontrolle bringen muss; was einigermaßen scharfsichtig gesehen ist und Wielands spätere Voraussagen der frz. Revolution nur untermauert. Als Turgot dann, eben wegen des möglichen Erfolgs seiner ungeliebten Maßnahmen, bei Hof in Ungnade fällt, kommentiert der Berichterstatter dies als ein typisches Beispiel für ein Schicksal guter Ratgeber; und er endet damit, dass er den Aufstieg eines neuen Favoriten ironisch beschreibt:

Der König setzt in diesen Mentor ein Zutrauen ohne Schranken; er bringt beynah alle Abende bey ihm zu, und erweist der Frau von Maurepas die Ehre, Piquet mit ihr zu spielen, den Fisch zu zehn Stüber (Sols; welches den Höflingen – doch was geht das uns andre an?

Immer wieder werden, vor allem in Bezug auf neue Rüstungsmaßnahmen der Flotten in Spanien, Portugal und in Frankreich, Spekulationen über neue Kriegsgefahren angestellt, auch im Blick auf eine Einmischung weiterer europäischer Mächte in die amerikanischen Auseinandersetzungen; dabei weist der amerikanische Forscher Ellis Shookman zu Recht darauf hin, dass der untergründige Tenor all dieser Beiträge eine entschiedene Bevorzugung des Friedens ist, die auch Wielands spätere Beiträge zu der Frz. Revolution prägen wird. Auch in der weitergehenden Frankreich-Berichterstattung sind einige alte Bekannte zu entdecken: Ludwig XVI. gilt nun ein energisches Fürstenlob angesichts seiner neuen Gesetzgebungsversuche:

Die Vorberichte zu diesen neuen Gesetzen sind Meisterstücke von Gesetzgebung, und allein genug, den hellen Verstand und die Weisheit Ludewig des 16ten und der Minister, die ihn umgeben, unsterblich zu machen. Alles athmet da Liebe der Unterthanen, Achtung für die Menschheit, die so oft von den gewöhnlichen oder von tyrannischen Gesetzgebern gemißhandelt und unterdrückt worden. Man entdeckt da philosophische Grundsätze, erhabene weite Absichten, und es herrscht eine Sprache, die vielleicht bis jetzt noch unbekannt bei den Thronen war.

Und der Beitrag schließt wiederum mit einer satirischen Wendung gegen eine undifferenzierte "allgemeine Freyheit":

Unterdessen hat die Regierung in dem Land Ger schon einen kleinen Versuch gemacht von der Würkung, die die allgemeine Freyheit hervorbringen würde, die sie im ganzen Königreich einzuführen sich vorsetzt; und das Vergnügen gehabt, zu erfahren, daß die Einwohner dieses Cantons darüber entzückt gewesen sind, daß verschiedene Tage lang lauter Feste waren. Ergötzlichkeiten, und ein immerwährendes Geschrey von: "Es lebe der König! es lebe der Herr Turgot! es leben die Freyheit."

Ein weiterer, sehr bezeichnender und ausführlich behandelter Themenkomplex in den letzten "Politischen Artikeln" schließlich ist der Reichstag in Polen, den Wieland – im Unterschied zur Bewertung in einigen anderen politischen Medien[21] – mit außerordentlich großen Sympathien verfolgt, die mir im Wesentlichen aus seinen Sympathien für das Alte Reich zu zehren scheinen und die viele seiner Argumente pro und vor allem contra die Frz. Revolution vorwegnehmen. Die Berichterstattung beginnt wie gewohnt mit einem Fürstenlob:

Und es ist der allgemeine Wunsch, daß dieses Vorhaben gelingen, und ein Prinz, der ein Freund der Menschen, des Guten, der Wissenschaften und Künste ist, endlich von Seiten seiner Unterthanen die Gerechtigkeit erhalten möge, die man ihm schuldig ist, und die er schon längst in jedem andern Lande würde erhalten haben.

Im weiteren Verlauf heißt es dann (und man beachte die geballten Superlative, mit denen die "Politischen Nachrichten" übrigens insgesamt nicht gerade sparsam umgehen!):

Wir haben endlich einmahl einen Reichstag, wo die Beständigkeit, Ordnung und Eintracht herrschen; und dessen Glieder sich einander genug schätzen, um das gemeinschaftliche Interesse nicht ihrem eignen aufzuopfern, wie diejenigen der vorigen Reichstage gethan haben [...]. Man verspricht sich die glücklichsten Folgen von den zusammenstimmenden Bemühungen der tugendhaftesten und erleuchtetsten Männer der Nation, die an ihrer Spitze einen Monarchen haben, der nur das Wohl der leztern will.

Und schließlich wird besonders die Konstitution hervorgehoben:

Diese Constitutionen, die bis hieher bey ihm durchgegangen sind, sind alle mit dem Stempel der Weisheit bezeichnet, alle auf das gemeine Beste gerichtet; und werden diese Versammlung um so weit über die vorhergehende setzen, als ein Rath von Weisen über eine Rotte Räuber erhaben ist, die sich vereinigen, ihre Mitbürger zu plündern.

Bezeichnenderweise ist einer der letzten Sätze im letzten "Politischen Artikel", bevor Dohm im Jahr 1777 übernimmt, dem Ende des polnischen Reichstags gewidmet: Zwar gebe es noch einigen Widerstand –

allein dieß würde ohne Zweifel die letzte Wehre der überwältigten Anarchie seyn, die von nun an zu den Füssen der den Gesetzen gehorchenden Freyheit gefesselt liegt.

Zudem werden die Magnaten namentlich genannt, denen der Verfasser die Absicht unterstellt, durch ein Komplott gegen die heilbringenden Beschlüsse und Gesetze des polnischen Reichstags zu wühlen und Polen in Anarchie stürzen zu wollen, um ihre eigenen Interessen – im Kontrast zu denen der Allgemeinheit – zu befördern. Das entspricht einem bei Wieland verbreiteten Vorwurf seit seiner Zeit in Biberach, wo er immer wieder Beispiele dafür sieht, dass einzelne aus egoistischen Motiven das Gemeinwesen ins Chaos zu stürzen drohen.

Zusammenfassend kann man festhalten, dass folgende Themen in den "Politischen Artikeln" durchgängig behandelt werden und eine eigenwillige Bewertung erhalten: die absolute Hochschätzung des Friedens gegenüber dem Krieg (angesichts der diversen bewaffneten Konflikte); die Wertschätzung verschiedener aufgeklärter Monarchen (Katharina II., Friedrich II,, Maria Theresia, Joseph II, Gustav III. von Schweden, Stanislaus II. von Polen); das Interesse für die Tätigkeit und das Schicksal politischer Berater; die Betonung der Notwendigkeit guter Prinzenerziehung im Besonderen und von Erziehungsreformen nach Mainzer Vorbild im Allgemeinen; die Minderung des Einflusses von religiösen Organisationen (am Beispiel der Jesuiten); Fragen städtischer Unabhängigkeit (am Beispiel der Stadt Danzig); Fragen guter Verwaltung und verantworteter Finanzen (vor allem in Frankreich); Lob von Gesetzesinitiativen und Konstitutionen (Frankreich und Polen); vorsichtiger Umgang mit "Freiheit" und "Unabhängigkeit" bei prinzipieller Anklage von Menschenrechtsverletzungen, beispielsweise in Frondiensten oder Sklaverei (Unabhängigkeitskrieg); ein "soft spot" für fürstliche Frauen und Geburten in fürstlichen Häusern (den Wieland selbst in Weimar reichlich auslebt).

Stilistisches: Distanz, Satire, gedämpfte Superlative vs. ungelenke Kanzleisprache

Einige Eigenheiten seien hervorgehoben, die möglicherweise auf Wieland als Autor deuten könnten.

1)        So ist die Formel "es scheint", die er in seiner Herausgeberanmerkung zu Dohms erstem Artikel einfordert (s.o.), in allen "Politischen Nachrichten" allgegenwärtig. Sie prägt auch Wielands spätere Artikel, beispielsweise zur Frz. Revolution.[22]

2)        Es gibt gelegentlich eine alemannische Sprachfärbung, z.B. in der Verwendung von "Bauren" oder "Gedult".

3)        Die diversen ironischen Schlusswendungen einiger Artikel der zweiten Phase zeugen von einem souveränen und in satirischen Absichten nicht unerfahrenen Verfasser.

4)        Der Autor der zweiten Phase zitiert gern wörtlich aus politischen Dokumenten und malt anekdotische Szenen aus.

Hingegen spricht stilistisch auch Einiges gegen Wieland als Verfasser. Insgesamt ist der Ton häufig sehr emphatisch; manchmal finden sich auch Passagen, die eher an einen Sturm-und-Drang-Gestus erinnern ("Dies ist nicht die harte und verwickelte Sprache der Gesetze, die offenbar gemacht sind, damit das Joch der Tyranney der Menschen drückender werde"; "Der Himmel gebe, daß zwey Monate nachher dieses nämliche Land nicht eine ungeheure Wüste sey mit Ruinen und Asche bedeckt, und von dem Blute seiner Bewohner gefärbt").

Zusammenfassend: Zum Profil des "politischen Artikels"

Die Themenauswahl und -behandlung der Artikel beider Phasen entspricht außerordentlich genau den im ersten Artikel einleitend geäußerten programmatischen Vorstellungen, die letztlich dem Herausgeber zugerechnet werden müssen, auch wenn er sie nicht selbst verfasst haben sollte. Dass er in grundlegenden Fragen mit Görtz, dem Verfasser der 'politischen Nachrichten' in der ersten Phase, übereinstimmte, zeigt auch der engagierte Briefwechsel zu Beginn ihrer Bekanntschaft; bei der Prinzenerziehung mussten sie sowieso eng zusammen arbeiten. Die über beide Phasen hinweg ausgewählten Themen entsprechen darüber hinaus Wielands generellen politischen Interessen, ihre Bewertung ist konsistent zu seinen späteren politischen Bewertungen im Rahmen der Frz. Revolution, einiges erscheint hier sogar schon vorweggenommen. Die Autoren beider Phasen urteilen souverän und treffen wiederholt richtige Voraussagen (z.B. im Blick auf die amerikanische Unabhängigkeit). Das beinahe übertrieben erscheinende Fürstenlob variiert für die verschiedenen Herrscherpersönlichkeiten der Zeit, ist aber im direkten Interesse von Wielands allgemeiner Herausgeber- und Verlagspolitik.