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Wezels Leben


 1. Das »sonderbare Meteor an unserm litterarischen Lufthimmel« – Wer war Wezel? 

Im Jahr 1811 wendet sich ein gewisser August von Blumröder aus Sondershausen brieflich an Christoph Martin Wieland: Er wolle eine Biografie von Johann Karl Wezel verfassen und bitte zu diesem Zweck darum, Einsicht in den früheren Briefwechsel der beiden Autoren nehmen zu dürfen. Der 78-jährige Wieland,selbst bereits nicht mehr auf dem Höhepunkt seines Ruhms als erster deutscher Nationalautor, erinnert sich bei diesem Anlass mit gemischten Gefühlen an den jungen Schriftsteller, der in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts – in Deutschland fegte gerade mit dem Sturm und Drang die erste literarische Revolution übers Land – seine Hilfe und seinen Rat gesucht hatte:»Ich muß gestehen, daß dieses sonderbare Meteor an unserm litterarischen Lufthimmel, seitdem es im Jahr 1776 so unvermutheter Weise mit Dampf und Knall für mich verschwand, nach und nach sich auch aus dem ziemlich großen Kreise meiner Erinnerungen so gänzlich verlor, daß mir von dem, in dem kurzen Zeitraum von 1774 bis 76 zwischen ihm und mir bestandenen Verhältniß schon seit langer Zeit nur ein traumähnlicher fast ganz verloschener Schemen, und selbst von meinen Briefen an ihn sonst nichts übrig geblieben war, als ein dunkles Bewußtseyn, daß ich es redlich mit ihm meynte […]. Auch der Umstand, daß Wezel noch unter den Lebenden ist, war für mich etwas neues,und erregte den Wunsch, von dem innern und äußern Zustand dieses in so mancherley Rücksicht merkwürdigen Opfers seines ungünstigen Schicksals, und eines mit seinen äußern Umständen allzu stark contrastirenden Selbstgefühls, etwas näher unterrichtet zu seyn.«   

Ein »sonderbares Meteor« – so erscheint der zu diesem Zeitpunkt noch in seiner Heimatstadt Sondershausen lebende Johann Karl Wezel nicht nur in der Erinnerung Wielands. Dieser bezieht das Bild zunächst auf die kurze, nach einigen Briefen abrupt abgebrochene persönliche Beziehung beider Autoren, weniger auf die doch etwas längere Zeitspanne von Wezels literarischer Bekanntheit: Seitdem er 1773 mit seinem mehrbändigen Roman Tobias Knaut erfolgreich debütiert hatte, war er mit einer Vielzahl von Texten konstant im literarischen Leben der Zeitvertreten. Von 1772 bis 1785 veröffentlichte er sechs Romane,neun Erzählungen, fünfzehn Schauspiele und Opern, 25 kleinere Vers- und Prosatexte, acht Übersetzungen, 14 Rezensionen, drei Streitschriften, acht pädagogische Abhandlungen, einen Plan für eine Erziehungsanstalt sowie eine ursprünglich auf fünf Bände angelegte philosophische Grundlagenschrift, von der jedoch nur zwei Bände erschienen. Fleißige Literaturwissenschaftler haben über 10.000 Druckseiten gezählt; zu den Werken erschienen unzählige Rezensionen, teils positive, teils negative. 

Gleichwohl hat das Bild vom Meteor seine Berechtigung auch für Wezels literarische Laufbahn: So auffällig, vielseitig und meinungsstark sich Johann Karl Wezel in seiner Glanzzeit um 1780 präsentierte, so schnell und erbarmungslos war sein Abstieg in den medizinisch heute nur noch schwer zu präzisierenden ›Wahnsinn‹, der seinen kurzen Ruhm im Rückblick nicht nur für Wieland fast völlig verdunkelte. Einen »traumähnlichen fast ganz verloschenen Schemen« vermag dieser 1811 nur noch wahrzunehmen; 1799 bemerkt Johann Adam Bergk in seiner Kunst, Bücher zu schreiben, bereits: »Wetzels Schriften scheinen vergessen zu seyn, ob sie gleich dies Schicksal nicht verdienen«.   

Wer war dieser »seltsame Meteor« wirklich? Ein produktiver, selbstbewusster und innovativer Autor; aber der Mensch Wezel bleibt, abgesehen von den dunklen Gerüchten um seinen Geisteszustand in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens, seltsam ungreifbar. Wenig ist von seinem Leben überliefert, eine Handvoll Briefe nur, ein offiziell und steif wirkendes Gelehrtenporträt. Über seine familiäre Herkunft kursieren schon zu Lebzeiten Gerüchte; mögliche Reisen nach Petersburg, Paris und London geistern durch die Biografien, ohne dass sie jemals wirklich belegt wurden; Liebesbeziehungen sind nicht bekannt. Das Leben seines kurzzeitigen Mentors Christoph Martin Wieland haben Literaturwissenschaftler in einer dreibändigen, mehrere hundert Seiten starken Chronologie von Tag zu Tag dokumentiert; Johann Wolfgang Goethe arbeitete selbst bereits zu Lebzeiten kräftig mit an der eigenen biografischen Überlieferung – mit dem nur zwei Jahre jüngeren, alles überstrahlenden Leitgestirn seiner Generation trat Wezel im Übrigen, auffälligerweise, niemals in Kontakt. Bei Wezel klammert sich die Forschung an wenige belegte Eckdaten zwischen der Geburt im Jahr 1747 im thüringischen Sondershausen, Stammsitz des Fürstentums Schwarzburg-Sondershausen, und dem Tod ebendort im Jahr 1819. Für die Zeit dazwischen gilt wahrscheinlich für ihn, was eine seiner Lustspielfiguren, ein gewisser Herrmann, beklagt: »Man schwärmt herum, wie ein Zugvogel, der nirgends zu Hause ist, überladt den Kopf mit Fratzen, Thorheiten und Possen, die man für wichtige Kenntnisse hält, und das Herz! das Herz! – das muß fasten. Die edelsten, schönsten Triebe verwelken, wie eine unbegoßne Blume; man ist ewig das Spiel von Wünschen und mißlungnen Hoffnungen, ewig die Kurzweile vom Eigensinn des Glücks und der Menschen, man wird ewig von quälenden und unbefriedigten, vielleicht auch unersättlichen Leidenschaften herumgezerrt […] – man wird nie Freund, nie Gatte, nie Vater.« [...] 


Die Jahreszahlen nennen jeweils die Erscheinungsjahre der Werke Wezels, da die Entstehungsdaten in den meisten Fällen nicht bekannt sind.

31.10.1747

Johann Karl Wezel in Sondershausen als Sohn des Reisemundkochs Johann Christoph Wezel und Juliane Wezel, geb. Blättermann, geboren

1755–1764

Besuch des Lyceums in Sondershausen, Unterricht bei Nikolaus Dietrich Giseke und Gottfried Konrad Böttger

1765–1769

Studium in Leipzig (Theologie, Jura, Philosophie, Philologie, Schöne Wissenschaften), Unterkunft im Haus von Christian Fürchtegott Gellert

1769–1774

Hofmeisterstelle beim Amtshauptmann Johann Wilhelm Traugott von Schönberg in Bautzen

1772

Filibert und Theodosia. Ein dramatisches Gedicht

1773–1776

Lebensgeschichte Tobias Knauts, des Weisen, sonst der Stammler genannt; Roman in vier Bänden

1774

Der Graf von Wickham; fünfaktiges Trauerspiel

1775

Epistel an die deutschen Dichter (Verssatire)

1776

Hoflehrer in Berlin beim preußischen Staats- und Justizminister Ernst Friedemann von Münchhausen

Belphegor oder die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne

Ehestandsgeschichte des Philipp Peter Marks, veröffentlicht in Wielands Zeitschrift Der Teutsche Merkur

1777–1782

freier Schriftsteller in Leipzig

1777/1778

Satirische Erzählungen; 2 Bände

1778–1780

Beiträge für die Pädagogischen Unterhandlungen für das Dessauer Philanthropinum; Rezensionen für die Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste; Gedichte im Taschenbuch für Dichter und Dichterfreunde

1778–1787

Lustspiele (4 Bände)

1778

Appellation der Vokalen

1779

Peter Marks und Die wilde Betty mit Kupferstichen von Daniel Chodowiecki

1779/1780

Robinson Krusoe. Neu bearbeitet (2 Bände) – Streit mit Joachim Heinrich Campe und Hofrat und Zensor Böhme in Leipzig

1780

Herrmann und Ulrike. Ein komischer Roman

1781

Aufenthalt bei Friedrich Wilhelm Gotter in Gotha

1781

Ueber Sprache, Wissenschaften und Geschmack der Teutschen als Antwort auf Friedrich II. De la littérature allemande verfasst

1781

Streit mit dem Leipziger Professor und Philosophen Ernst Platner, Schriften der Platner-Wezel-Kontroverse

1782–1783

Aufenthalt als Theaterdichter in Wien

1782

Wilhelmine Arend oder die Gefahren der Empfindsamkeit

1783–1793

Aufenthalt in Leipzig

1784

Kakerlak oder Geschichte eines Rosenkreuzers aus dem vorigen Jahrhunderte

1784/1785

Versuch über die Kenntniß des Menschen (2 Bde von fünf geplanten)

1785

Prinz Edmund (komische Verserzählung)

1789/1793

endgültige Rückkehr nach Sonderhausen, psychischeErkrankung

1800

Reise nach Hamburg zu Christian Friedrich Samuel Hahnemann, erfolgloser Versuch einer Therapie

28.1.1819   

Tod in Sondershausen 

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