Wezels Leben
1. Das »sonderbare Meteor an unserm litterarischen Lufthimmel« – Wer war Wezel?
Im Jahr 1811 wendet sich ein gewisser August von Blumröder aus Sondershausen brieflich an Christoph Martin Wieland: Er wolle eine Biografie von Johann Karl Wezel verfassen und bitte zu diesem Zweck darum, Einsicht in den früheren Briefwechsel der beiden Autoren nehmen zu dürfen. Der 78-jährige Wieland,selbst bereits nicht mehr auf dem Höhepunkt seines Ruhms als erster deutscher Nationalautor, erinnert sich bei diesem Anlass mit gemischten Gefühlen an den jungen Schriftsteller, der in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts – in Deutschland fegte gerade mit dem Sturm und Drang die erste literarische Revolution übers Land – seine Hilfe und seinen Rat gesucht hatte:»Ich muß gestehen, daß dieses sonderbare Meteor an unserm litterarischen Lufthimmel, seitdem es im Jahr 1776 so unvermutheter Weise mit Dampf und Knall für mich verschwand, nach und nach sich auch aus dem ziemlich großen Kreise meiner Erinnerungen so gänzlich verlor, daß mir von dem, in dem kurzen Zeitraum von 1774 bis 76 zwischen ihm und mir bestandenen Verhältniß schon seit langer Zeit nur ein traumähnlicher fast ganz verloschener Schemen, und selbst von meinen Briefen an ihn sonst nichts übrig geblieben war, als ein dunkles Bewußtseyn, daß ich es redlich mit ihm meynte […]. Auch der Umstand, daß Wezel noch unter den Lebenden ist, war für mich etwas neues,und erregte den Wunsch, von dem innern und äußern Zustand dieses in so mancherley Rücksicht merkwürdigen Opfers seines ungünstigen Schicksals, und eines mit seinen äußern Umständen allzu stark contrastirenden Selbstgefühls, etwas näher unterrichtet zu seyn.«
Ein »sonderbares Meteor« – so erscheint der zu diesem Zeitpunkt noch in seiner Heimatstadt Sondershausen lebende Johann Karl Wezel nicht nur in der Erinnerung Wielands. Dieser bezieht das Bild zunächst auf die kurze, nach einigen Briefen abrupt abgebrochene persönliche Beziehung beider Autoren, weniger auf die doch etwas längere Zeitspanne von Wezels literarischer Bekanntheit: Seitdem er 1773 mit seinem mehrbändigen Roman Tobias Knaut erfolgreich debütiert hatte, war er mit einer Vielzahl von Texten konstant im literarischen Leben der Zeitvertreten. Von 1772 bis 1785 veröffentlichte er sechs Romane,neun Erzählungen, fünfzehn Schauspiele und Opern, 25 kleinere Vers- und Prosatexte, acht Übersetzungen, 14 Rezensionen, drei Streitschriften, acht pädagogische Abhandlungen, einen Plan für eine Erziehungsanstalt sowie eine ursprünglich auf fünf Bände angelegte philosophische Grundlagenschrift, von der jedoch nur zwei Bände erschienen. Fleißige Literaturwissenschaftler haben über 10.000 Druckseiten gezählt; zu den Werken erschienen unzählige Rezensionen, teils positive, teils negative.
Gleichwohl hat das Bild vom Meteor seine Berechtigung auch für Wezels literarische Laufbahn: So auffällig, vielseitig und meinungsstark sich Johann Karl Wezel in seiner Glanzzeit um 1780 präsentierte, so schnell und erbarmungslos war sein Abstieg in den medizinisch heute nur noch schwer zu präzisierenden ›Wahnsinn‹, der seinen kurzen Ruhm im Rückblick nicht nur für Wieland fast völlig verdunkelte. Einen »traumähnlichen fast ganz verloschenen Schemen« vermag dieser 1811 nur noch wahrzunehmen; 1799 bemerkt Johann Adam Bergk in seiner Kunst, Bücher zu schreiben, bereits: »Wetzels Schriften scheinen vergessen zu seyn, ob sie gleich dies Schicksal nicht verdienen«.
Wer war dieser »seltsame Meteor« wirklich? Ein produktiver, selbstbewusster und innovativer Autor; aber der Mensch Wezel bleibt, abgesehen von den dunklen Gerüchten um seinen Geisteszustand in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens, seltsam ungreifbar. Wenig ist von seinem Leben überliefert, eine Handvoll Briefe nur, ein offiziell und steif wirkendes Gelehrtenporträt. Über seine familiäre Herkunft kursieren schon zu Lebzeiten Gerüchte; mögliche Reisen nach Petersburg, Paris und London geistern durch die Biografien, ohne dass sie jemals wirklich belegt wurden; Liebesbeziehungen sind nicht bekannt. Das Leben seines kurzzeitigen Mentors Christoph Martin Wieland haben Literaturwissenschaftler in einer dreibändigen, mehrere hundert Seiten starken Chronologie von Tag zu Tag dokumentiert; Johann Wolfgang Goethe arbeitete selbst bereits zu Lebzeiten kräftig mit an der eigenen biografischen Überlieferung – mit dem nur zwei Jahre jüngeren, alles überstrahlenden Leitgestirn seiner Generation trat Wezel im Übrigen, auffälligerweise, niemals in Kontakt. Bei Wezel klammert sich die Forschung an wenige belegte Eckdaten zwischen der Geburt im Jahr 1747 im thüringischen Sondershausen, Stammsitz des Fürstentums Schwarzburg-Sondershausen, und dem Tod ebendort im Jahr 1819. Für die Zeit dazwischen gilt wahrscheinlich für ihn, was eine seiner Lustspielfiguren, ein gewisser Herrmann, beklagt: »Man schwärmt herum, wie ein Zugvogel, der nirgends zu Hause ist, überladt den Kopf mit Fratzen, Thorheiten und Possen, die man für wichtige Kenntnisse hält, und das Herz! das Herz! – das muß fasten. Die edelsten, schönsten Triebe verwelken, wie eine unbegoßne Blume; man ist ewig das Spiel von Wünschen und mißlungnen Hoffnungen, ewig die Kurzweile vom Eigensinn des Glücks und der Menschen, man wird ewig von quälenden und unbefriedigten, vielleicht auch unersättlichen Leidenschaften herumgezerrt […] – man wird nie Freund, nie Gatte, nie Vater.« [...]
1747
Johann Karl Wezel (gelegentlich auch: Wetzel) wird am 31. Oktober in Sondershausen als Sohn des fürstlichen Reisemundkochs Johann Christoph Wezel und seiner Frau Juliane, geb. Blättermann, geboren. Die kleine thüringische Residenzstadt hat zu dieser Zeit ca. 2.300 Bürger, von denen viele in den Diensten des Fürsten Heinrich I. von Schwarzburg-Sondershausen stehen. Wezel wächst bei seinem Großvater, dem Silberdiener am Hof Johann Bartholomäus Blättermann, auf. In seinem späteren Werk finden sich Andeutungen darüber, dass er sich selbst für einen unehelichen Sohn des Fürsten hält.
Der Sondershäuser Forstsekretär Friedrich Carl Ludloff beschreibt Wezels Äußeres im Jahr 1804:
"Wezel war klein, doch fest und kraftvoll gebaut, runde muskelreiche Glieder, starke Waden und breite Brust ließen eine eiserne Konstitution mutmaßen. Er hatte einen männlichen Teint, blauen Bart, blitzendes Auge und angenehme – etwas spöttische Bildung."
In seinem Roman Belphegor (1776) entwirft Wezel selbst ein Bild seines Charakters:
"Nicht eigene Widerwärtigkeiten – denn der Pfad seines Lebens ist bisher mehr eben als holprig gewesen, nicht Hypochondrie oder Milzsucht – denn er war jederzeit ein Freund der Freude und Feind des Trübsinns –, nicht Mangel an wahren Freunden – denn er besitzt deren eine kleine Anzahl und hat auf seinen Wegen immerhin Menschen mit guten, liebreichen Herzen gefunden –, keine von diesen Widrigkeiten hat auf seine Vorstellungen, so viel er sich bewusst ist, einen schwarzen Schleier geworfen: er sah die Welt an, so weit sein Blick in gegenwärtige und vergangene Zeiten reichte, und sagt aufrichtig, was er gesehen hat."
1755
Wezel besucht das Gymnasium in Sonderhausen, das von dem Dichter Nikolaus Dietrich Giseke geleitet wird. Neben Giseke fördert ihn besonders der Konrektor und Schriftsteller Gottfried Konrad Böttiger, der Wezels Begabung früh erkennt. 1758 wird er von seinen Lehrern als "foecundissimum" (äußerst fruchtbar) gekennzeichnet. In der Abschlussklasse heißt es über ihn: "Ingenium exprimit arte" (sein Geist drückt sich in der Kunst aus). Er singt im Schulchor, spielt Violine und schreibt Gelegenheitsgedichte, gilt jedoch als Einzelgänger.
Der Schulleiter Giseke schreibt in einem Brief über Wezels frühe literarische Aktivitäten:
"Eben der junge Menschen, der das Gedicht auf den Frieden gemacht hat, hat neulich im Examen ein Gedicht ‚Die Religion’ abgelesen, welches nicht weniger schön war, und noch eine vortreffliche lateinische Ode auf den Virgil übergeben."
1765
Wezel immatrikuliert sich am 8. Mai an der Universität Leipzig. Von der fürstlichen Kammer in Sondershausen erhält er nach einiger zeitlichen Verzögerung ein Stipendium von jährlich dreißig Reichstalern. Er studiert zunächst Theologie, wendet sich aber bald der Rechtswissenschaft sowie Philosophie und Philologie zu. Im Leipzig bezieht er eine Stube bei dem berühmten Dichter und Literaturprofessor Christian Fürchtegott Gellert.
1769
Wezel verlässt die Universität Leipzig ohne formalen Abschluss und übernimmt auf Empfehlung von Gellert eine Stelle als Hauslehrer bei dem Bautzener Amtshauptmann Johann Wilhelm Traugott von Schönberg. Er ist dort für die Erziehung der beiden Kinder, eines neun- und eines dreizehnjährigen Knaben, verantwortlich, die den Vorstellungen des Vaters zufolge nach dem Vorbild von Jean-Jacques Rousseaus Erziehungsroman Emile geschehen soll. Die Erfahrungen in Bautzen bilden die Grundlage für seine späteren pädagogischen Schriften.
1773
Der erste Band von Wezels ersten Roman Die Lebensgeschichte Tobias Knauts, des Weisen, sonst der Stammler genannt erscheint anonym; bis 1776 folgen drei weitere Bände.
1774
Wezel gibt seine Hofmeisterstelle auf. Er sendet sein erstes Trauerspiel, Der Graf von Wickham, an den etablierten Weimarer Autor Christoph Martin Wieland. Wieland urteilt hart über Wezels ersten theatralischen Versuch:
"Die große Welt scheint Ihnen, so wie den meisten deutschen Dichtern, ganz unbekannt zu sein, denn ein paar Dutzend Junker und gnädige Frauen von +++ machen nur eine sehr kleine Welt. (…) Bleiben Sie immer in dem Fache, wofür die Natur Sie bestimmt zu haben scheint – die Menschheit in den niedrigeren Klassen gibt Ihnen den reichsten und gewiss interessantesten Stoff in unerschöpflichem Überfluss – und suchen Sie es in der komischen, witzig-launenhaften Schreibart zur Vollkommenheit zu bringen."
Wezel bleibt jedoch im Kontakt mit Wieland und schickt ihm auch unterhaltsame Gedichte, die Wieland in seine Zeitschrift Der Teutsche Merkur aufnimmt.
1776
Wezels Ehestandsgeschichte des Herrn Philipp Peter Marks, von ihm selbst abgefaßt, erscheint ebenfalls in Wielands Teutschem Merkur und findet großen Anklang beim Publikum. Er siedelt sich vorübergehend wieder in Leipzig an. Sein neuer Roman, Belphegor oder die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne, zeigt nach dem Muster von Voltaires Candide oder der Optimismus die Geschichte der Menschheit als brutalen Kampf um Macht und Herrschaft.
Im Sommer nimmt er noch einmal eine Hofmeisterstelle bei dem preußischen Staats- und Justizminister Ernst Friedemann von Münchhausen in Berlin an. Er wird Mitarbeiter an einer der bekanntesten Zeitschriften der Zeit, der in Berlin erscheinenden Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, wo er literaturkritische und literaturtheoretische Abhandlungen veröffentlicht. In den folgenden Jahren wird er in vielen führenden Zeitschriften der Aufklärung publizieren.
1777
Wahrscheinlich im Frühjahr gibt Wezel seine Berliner Hofmeisterstelle wegen Krankheit auf und kehrt nach Leipzig zurück. Er bewirbt sich bei dem bekanntesten pädagogischen Reforminstitut der Zeit, dem Dessauer Philanthropin; eine Anstellung kommt aber nicht zustande. Georg Joachim Zollikofer und Christian Felix Weiße, die Wezel aus Leipzig kennen, empfehlen ihn dem Schulleiter des Philanthropins:
"Er hat vorzügliche Geistesgaben, große Kenntnisse u. viel Gelehrsamkeit. Als Schriftsteller arbeitet er leicht und gut. Er hat sich auch schon mit Erziehung junger Leute beschäftigt. Nur zu einem ganz blinden Gehorsam würde er sich wohl nicht schicken."
1778
Eine Phase hoher literarischer Produktivität beginnt für Wezel. Der zweite Band seiner Satirischen Erzählungen erscheint, ebenso der erste Band seiner Lustspiele. Als Pendant zu der Ehestandsgeschichte von Peter Marks schildert nun die Die wilde Betty das Eheproblem aus weiblicher Sicht. Beide Ehestandsgeschichten werden reich bebildert vom erfolgreichsten Illustrator der Zeit, Daniel Chodowiecki.
1779
Wezel unternimmt eine Reise durch Deutschland, bei der er Göttingen, Braunschweig, Hamburg, Hannover, Halberstadt und Kassel besucht und Kontakte zu anderen Literaten der Zeit knüpft. Er veröffentlicht den ersten Band seiner Bearbeitung von Daniel Defoes Robinson Krusoe. Der zweite Band der Robinson-Bearbeitung, in dem die Entwicklung von Robinsons Insel in wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Hinsicht nun völlig unabhängig von Defoe beschrieben wird, erscheint 1780.
1780
Wezel steht auf dem Höhepunkt seines literarischen Ruhms. Sein vierbändiger Roman Herrmann und Ulrike erscheint, und Wieland lobt ihn überschwänglich als "den besten deutschen Roman, der mir jemals vor Augen gekommen ist". Ebenfalls in diesem Jahr kündigt Wezel in verschiedenen Zeitschriften ein neues Projekt an, nämlich die Gründung einer "Privatanstalt für den Unterricht und die Erziehung junger Leute zwischen zwölf und achtzehn Jahren". Es finden sich aber nicht genug Familien, die bereit sind, für die Internatserziehung ihrer Zöglinge ein jährliches Schulgeld von 440 Reichstalern zu bezahlen. Wezel hatte für seine Schule geworben:
"Ich verspreche aus einem jeden, der mir anvertraut wird, so sehr seine natürlichen Anlagen es zulassen, einen brauchbaren, tätigen Mann zu machen, der Beschwerlichkeit und Arbeit ertragen kann, ohne ungesund zu werden; der die Kunst versteht, seine wirklichen und eingebildeten Leiden standhaft zu ertragen, wenn er sie nicht mindern kann; der Fröhlichkeit, Vergnügen und Freude allenthalben, selbst in und bei der Arbeit findet; der endlich entweder wirklich tugendhaft, liebreich, wohlwollend, nachgebend ist oder doch so tut, wenigstens gern und verträglich mit und unter Menschen lebt (…), mit einem Worte: der die Kunst zu leben in ihrem ganzen Umfange besitzt."
1781
Wezel bemüht sich weiter um eine regelmäßige Anstellung, scheitert jedoch auch mit seiner Bewerbung als herzoglicher Bibliothekar in Wolfenbüttel nach dem Tod Gotthold Ephraim Lessings. Er lebt weiterhin allein in Leipzig und hat wenig soziale Kontakte. In der Figur des Hofmeisters Schwinger in Herrmann und Ulrike beklagt Wezel wohl auch sein eigenes Schicksal:
"Immer ein Fremder in der Welt, irr' ich von Ort zu Ort, von Projekt zu Projekt, lebe ewig nur in der Zukunft, nie für das gegenwärtige Vergnügen, sehe rings um mich Freuden des Vaters, des Gatten, Freuden des häuslichen, natürlichen Lebens genießen, fühle sie in andern, und nie, nie in mir selbst!"
Nachdem Wezel schon mehrfach Probleme mit der Leipziger Zensur gehabt hatte, lässt er sich nun in einen langwierigen Streit mit dem Leipziger Philosophen und Universitätsprofessor Ernst Platner ein. Die Ursache war: Wezel hatte in einer Abhandlung den Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz verspottet, und der Leibniz-Anhänger Platner hatte daraufhin in einer Vorlesung Wezel demonstrativ kritisiert. Wezel fordert öffentlich Rechenschaft, und es entspinnt sich ein publizistisches Duell, in dem beinahe im Wochentakt neue Publikationen der beiden Kontrahenten sowie ihrer jeweiligen Parteigänger erscheinen.
1782
Wezel geht nach Wien und versucht eine Karriere als Theaterdichter aufzubauen. Auch dort wird er jedoch wieder in Streitigkeiten verwickelt: Nachdem er in einem anonym veröffentlichten Lustspiel Die Komödianten die Wiener Theaterverhältnisse kritisiert hatte, fällt er in Ungnade, und seine Stücke werden im Nationaltheater nicht mehr aufgeführt. Immerhin aber haben einige seiner Lustspiele Erfolg in den Wiener Vorstadttheatern, und auch in deutschen Theatern stehen in den nächsten Jahren häufig Lustspiele von Wezel auf dem Spielplan. Wezels letzter Roman, Wilhelmine Arend, oder Die Gefahren der Empfindsamkeit, erscheint nach seiner Rückkehr nach Deutschland.
1783
Wezel quartiert sich zurück in Leipzig beim Bäcker Böhme auf der Petersstraße im vierten Stockwerk ein. Er vereinsamt und verelendet zusehends.
1784
Wezels philosophisches Hauptwerk, der Versuch über die Kenntniß des Menschen, erscheint. Das ursprünglich auf vier Bände angelegte Projekt enthält eine auf der Basis aktueller physiologischer und medizinischer Erkenntnisse formulierte Anthropologie, die ein vollständiges Bild des Menschen im Zusammenspiel von Geist und Körper entwerfen soll. Es erscheinen jedoch nur zwei Bände. Der Entwurf des dritten Bandes, der Wezel noch einmal Probleme mit der Zensur einbrachte, ist bis heute verschollen. Seinen miserablen Lebensumständen zum Trotz verfasst Wezel noch ein launig-satirisches Märchen mit Verseinlagen: Kakerlak, oder Geschichte eines Rosenkreuzers aus dem vorigen Jahrhundert.
1785
Wezel veröffentlicht den zweiten Band seines Versuch über die Kenntniß des Menschen und ein weiteres Versepos, Prinz Edmund, sein letztes literarisches Werk. Besucher Wezels in Leipzig äußern sich besorgt über seinen angespannten psychischen Zustand.
"Man hatte uns zwar gesagt, dass der arme Mann höchst hypochondrisch sei, aber so arg hatten wir es uns doch nicht vorgestellt, als wir ihn fanden. Denn als wir uns bei ihm melden ließen, nahm er uns zwar an, unterhielt sich auch eine Zeitlang mit uns, stand aber alle Augenblicke auf und sah starr und angstvoll in einen Winkel seines Zimmers."
1788
Wezel versucht aufgrund seiner akuten finanziellen Notlage noch einmal eine Anstellung am Philanthropin in Dessau zu erhalten. Nachdem auch dieser letzte Versuch scheitert, kehrt Wezel nach Sondershausen zurück und lebt dort zunächst im Hause des Silberdieners David Bär an der Hauptstraße. Er leidet wahrscheinlich an schweren Depressionen sowie Zwangsvorstellungen und zieht sich völlig von der Welt zurück. Ab 1794 wird er durch eine Subvention des Sondershäuser Hofes unterstützt. Es entstehen noch einzelne Gedichte; zeitweise plant Wezel auch die Einrichtung einer Bank, eines Erziehungsinstituts für junge Damen oder einer Buchhandlung, keines dieser Projekte wird jedoch realisiert.
1799
Nachdem mehrfach Besucher öffentlich von dem elenden Zustand und seinen erbärmlichen Lebensbedingungen berichtet haben, erscheinen Spendenaufrufe für den notleidenden Wezel in mehreren zeitgenössischen Zeitschriften. Mit dem gesammelten Geld sowie einem Beitrag des Sondershäuser Hofes wird Wezel im Sommer 1800 dem renommierten Homöopathen Samuel Hahnemann in Altona zur Behandlung überstellt. Hahnemann gibt zwar bald auf; er hält Wezel jedoch prinzipiell für heilbar.
Der Kaiserlich-Privilegirte Reichs-Anzeiger aus Gotha berichtet über Wezel im Jahr 1799:
"Vor einiger Zeit machte er sich dem Publikum durch auffallende Handlungen mehr bemerklich als jetzt. Er ging damals ohne Strümpfe oft spazieren, sang in seiner Stube kunstmäßig, spielte die Violine und blies öfters auf der Trompete zum Fenster heraus. Jetzt ist er ganz stille, isst, trinkt und schläft, und sein Äußerliches hat gegen voriges Jahr gewonnen. Auffallend ist es, dass er im strengsten Winter seine Stube nie hat heizen lassen. In der Stube hat er selten Kleidungsstücke an, sondern geht bloß im Pelze und Socken."
1804
Inzwischen erscheinen mehrfach Skandalwerke anderer Autoren unter dem Namen Wezels, die von seinem früheren Ruhm und den Gerüchten um seinen zerrütteten Geisteszustand zu profitieren versuchen, beispielsweise Gott Wezels Zuchtruthe des Menschengeschlechtes oder Werke des Wahnsinns, von Wezel, dem Gott-Menschen (wahrscheinlich von Gustav Teubner).
1811
Wezels Zustand bessert sich nach einem Umzug zu Beginn des Jahres zum Hofcourier Schmidt deutlich. Er zeigt sich wieder in Gesellschaft und bei Konzerten und schreibt sogar einige Gedichte in lateinischer Sprache. Der Sondershäuser Assessor Günther von Ziegeler, der sich für Wezel engagiert, berichtet:
"Was man zuweilen während seiner Abwesenheit findet, sind kleine Geschichten, Schauspielszenen, Fragmente von Gedichten, die allen grammatikalischen, ja sogar einigen logischen Zusammenhang, aber freilich keinen ästhetischen Wert haben."
Wahrscheinlich zu dieser Zeit fertigt der junge Maler Johannes Andreas Benjamin Nottnagel, der Wezel bei einem Besuch in Sonderhausen durch ein Guckloch an der Tür beobachtet hatte, eine eindrucksvolle Bleistiftskizze von ihm an.
1819
Am 28. Januar stirbt Johann Karl Wezel in Sondershausen. Er hinterlässt ein Werk im Umfang von ca. 10.000 Druckseiten, darunter sechs Romane, vier Bände Lustspiele, ein musikalisches Singspiel, Erzählungen, Satiren sowie kleinere Vers- und Prosatexte, Streitschriften, pädagogische, philosophische und literaturtheoretische Abhandlungen, Übersetzungen, Rezensionen und eine umfangreiche philosophische Grundlagenschrift. Sein Werk gerät für mehr als anderthalb Jahrhunderte in weitgehende Vergessenheit.
Die Eintragung im Sondershäuser Kirchenbuch verzeichnet:
Starb den 28. Januar 1819 nachts ein Viertel nach Zwölf, den 30. unter den Gottesacker, Herr Johann Karl Wezel, einer der vorzüglichsten Schriftsteller Deutschlands, geboren den 31. Oktober 1747. Alter: 71 Jahre 3 Monate weniger 2 Tage, Eltern: Herrn Johann Christoph Wezels, gewesener Fürstlicher Mundkoch, einziger Sohn, ledigen Standes. Von Krämpfen und Schwächen. Begräbnis gratis.
Werke
Die Jahreszahlen nennen jeweils die Erscheinungsjahre der Werke Wezels, da die Entstehungsdaten in den meisten Fällen nicht bekannt sind.
1772
Filibert und Theodosia. Ein dramatisches Gedicht
1773–1776
Lebensgeschichte Tobias Knauts, des Weisen, sonst der Stammler genannt; Roman in vier Bänden
1774
Der Graf von Wickham; fünfaktiges Trauerspiel
1775
Epistel an die deutschen Dichter (Verssatire)
Belphegor oder die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne
Ehestandsgeschichte des Philipp Peter Marks, veröffentlicht in Wielands Zeitschrift Der Teutsche Merkur
1777/1778
Satirische Erzählungen; 2 Bände
1778–1780
Beiträge für die Pädagogischen Unterhandlungen für das Dessauer Philanthropinum; Rezensionen für die Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste; Gedichte im Taschenbuch für Dichter und Dichterfreunde
1778–1787
Lustspiele (4 Bände)
1778
Appellation der Vokalen
1779
Peter Marks und Die wilde Betty mit Kupferstichen von Daniel Chodowiecki
1779/1780
Robinson Krusoe. Neu bearbeitet (2 Bände)
1780
Herrmann und Ulrike. Ein komischer Roman
1781
Ueber Sprache, Wissenschaften und Geschmack der Teutschen als Antwort auf Friedrich II. De la littérature allemande verfasst
1781
Streit mit dem Leipziger Professor und Philosophen Ernst Platner, Schriften der Platner-Wezel-Kontroverse
1782
Wilhelmine Arend oder die Gefahren der Empfindsamkeit
1784
Kakerlak oder Geschichte eines Rosenkreuzers aus dem vorigen Jahrhunderte
1784/1785
Versuch über die Kenntniß des Menschen (2 Bde von fünf geplanten)
1785
Prinz Edmund (komische Verserzählung)