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Eifersüchtige Türken, eifersüchtige Despoten, eifersüchtige Eheleute - zur Eifersucht bei Wezel
Die Wezel-Formel.
Zum 200jährigen Todestag von Johann Karl Wezel
Heute, vor zweihundert Jahren genau, ist Johann Karl Wezel in Sondershausen verstorben. 71 Jahre ist er alt geworden, und es war kein leichtes Leben gewesen; aber es war ein produktives, immerhin, und vielleicht ist das für jemand, der so sehr ein Autor, ein Schriftsteller, ein Dichter ist, wie es Johann Karl Wezel war, das letztendlich Entscheidende. Wie er gestorben ist, hat uns August von Blumröder überliefert, ein nicht immer ganz zuverlässiger Zeitzeuge; aber schenken wir ihm einen Moment Glauben. Ihm zufolge verweigerte Wezel Ende Januar 1819, nachdem sich sein Gesundheits- und auch sein Geisteszustand in den Jahren zuvor verbessert und stabilisiert hatte, auf einmal die Nahrungsmittelaufnahme und legt sich ins Bett. Einen Arzt lehnt er ab. Noch einige Tage nimmt er täglich seine gewohnte Portion Branntwein zu sich (das war durchaus nicht unüblich in dieser Zeit) und saugt, so ein etwas seltsames Detail bei Blumröder, „einige borsdorfer Äpfel aus“; „einige Stunden vor seinem Ende“, so Blumröder weiter, „verlor er das Bewußtsein und entschlief endlich scheinbar sanft“. Ein eher leichter Tod also, nach einem eher schweren Leben. Das Kirchenbuch verzeichnet: „Starb den 28. Januar 1819 nachts ein Viertel nach zwölf, Den 30. unter den Gottesacker, Herr Johann Karl Wezel, einer der vorzüglichsten Schriftsteller Deutschlands, […] von Krämpfen und Schwächen“ – und es folgt die lakonische, in Wahrheit aber unendlich traurige Schlussformel: „Begräbnis gratis“. Sein Grab auf dem Gottesacker ist bis heute erhalten, nicht jedoch sein Geburts- oder Sterbehaus. Wezel selbst ist immerhin in der Sicherheit gestorben, dass, wenn vielleicht schon seine Seele nicht unsterblich ist, wenigstens seine Schriften ihn überleben werden:
„Denn haben meine Schriften wahren Werth, so bin ich so gewiß, wie von meiner Existenz, überzeugt, daß ihnen alles dieses Toben und Wüten [seiner vielen Gegner] nichts abgewinnen wird“.
Offensichtlich hat er damit Recht behalten. Denn hier stehen wir heute, genau zweihundert Jahre nach seinem Tod, und seine Schriften haben also wahrlich erwiesen, dass sie „wahren Werth“ haben!
Warum jedoch haben sie das? Was macht sein Werk über die schnellen und inzwischen massiven Veränderungen der Zeit, der Menschen, des Lebens und der Überzeugungen hinweg noch heute lesenswert? Bekanntlich werden sich die Literaturkritiker und auch die Literaturwissenschaftler selten einig darüber, was nun „wahrer Wert“ bei literarischen Texten ist. Wir lassen sie streiten, es ist ihr Lebenszweck. Hingegen würde ich, nach den inzwischen gut dreißig Jahren, die ich Johann Karl Wezels Werk kenne und gelesen habe, große Teile gelesen habe (wahrscheinlich sogar alles), viele davon mehrfach, meist für die Wissenschaft, aber auch durchaus für mein Privatvergnügen; ich würde also vier Punkte nennen, die mir für Wezels „wahren Werth“ am wichtigsten erscheinen, nennen wir es: die Wezel-Formel: (1) Er war ein aufmerksamer Beobachter und unerschütterlicher Realist; (2) er kannte die Menschen, ihre guten wie ihre schlechten Seiten; (3) er hatte einen scharfen Verstand und ein solides Wissen; und (4) er hatte, um all das überhaupt ertragen zu können, Humor. Ich kann und will diese „Formel“ jetzt nicht umfangreich wissenschaftlich „beweisen“, keine Angst! Ich will im Folgenden nur noch ein wenig aus seinem Leben erzählen, vor allem im Blick auf seine Heimatstadt Sondershausen; und ich will ihnen einige kurze Passagen aus seinen Texten vorlesen, damit Sie selbst beurteilen können, ob meine Wezel-Formel stimmt (noch einmal: Realismus, Menschenkenntnis, scharfer Verstand, Humor!).
In Johann Karl Wezels Jugend war Sondershausen bekanntlich ein Duodez-Fürstentum, Sitz der Schwarzburger-Sondershäuser Fürsten. Viel zu viele gab es von ihnen in Deutschland und man machte sich gegenseitig Konkurrenz im Wettbewerb um das größte symbolische Kapital. Schlösser, Parkanlagen, Prachtkutschen wurden gebaut, aber man stritt sich durchaus bereits damals um die besten Köpfe. Heute noch ist es beeindruckend, wenn man vom Marktplatz auf die Schlossanlage schaut, die beinahe gewaltsam die Stadt überragt mit ihrem scharf sich zuspitzenden Flügeln; und wenn man den steilen Hügel von der alten Wache zum Tor hinansteigt und sich der Innenhof öffnet mit seinem Brunnen und dem Prunkportal, kann einem schon einmal kurz der Atem stocken. Auf der Gartenseite hingegen präsentiert sich das Schloss sonnig, die Arkaden überqueren luftig den Weg zum Achteckbau, und man mag sich auf einmal durchaus ein wenig Sonnenkönigs-Atmosphäre im kühlen Thüringen vorstellen (aber besser nicht über seinen realen Preis nachdenken). Und wenn man sich dann noch ausmalt, wie der Fürst sonntags mit der goldenen Prachtkutsche ausfuhr: Es muss ein Fest gewesen sein, besonders für die Jugend! Aber wir müssen es uns gar nicht vorstellen, Wezel hat es nämlich beschrieben, in seinem Erfolgsroman Herrmann und Ulrike, 1780 erschienen und allgemein gefeiert als einer der ersten deutschen wirklich realistischen Romane. Dort heißt es über den Fürsten und seine Leidenschaft für Kutschen (die heute noch im Schloss zu besichtigen ist):
„Bei seinem Vergnügen an der Pracht spielten Kutschen und Pferde keine geringe Rolle: er verschrieb sich alle mögliche Risse von Staatskarossen und den sämtlichen übrigen Arten von Wagen, und niemand durfte ihm leicht ein merkwürdiges Fuhrwerk oder Pferdegeschirr nennen, ohne daß er nicht den Auftrag bekam, eine Zeichnung davon zu schaffen. […] Schade war es nur, daß die herrlichen Gebäude allemal aus einem doppelten Grunde unbrauchbar und meist auch ziemlich abgeschmackt waren: seine Leidenschaft für die Pracht zog Schönheit und Geschmack so wenig zu Rate, daß jedes Fleckchen, von der Decke bis zur Radeschiene, von dem äußersten Ende der Deichsel bis zu der äußersten Spitze des letzten Eisens hinter dem Kasten, mit Gold beklebt werden mußte, wofern es andere Ursachen nur im mindsten zuließen: auf der andern Seite wollte sein Geiz – wovon ihm eine starke Dosis zuteil geworden war – jenen prächtigen Kunstwerken die Dauerhaftigkeit einer ägyptischen Pyramide geben und riet ihm, sie so massiv, so plump bauen zu lassen, daß selten eine Kutsche nach geendigter Schöpfung mit weniger als acht Pferden von der Stelle gebracht werden konnte. Dieselben Ursachen machten auch seine Pferdegeschirre zu wahren Meisterstücken des schlechten Geschmacks: sie waren alle so schwer, daß unter der kostbaren Last die armen Rosse ihres Lebens nicht froh wurden und meistens zwei Tage eine Entkräftung fühlten, wenn sie einmal eine Stunde lang in ihrem ganzen Schmucke an so einem vergoldeten Hause gezogen hatten“.
Es ist geradezu virtuos, wie Wezel hier eine Analyse der absolutistischen Verschwendung, ihrer Lächerlichkeit, Geschmacklosigkeit wie ihrer Rücksichtslosigkeit, mit dem Humor der Darstellung verbindet; man fühlt ordentlich mit den unter ihrem Schmuck erstickenden Pferden mit, und es ist wohl nicht zu weit gedacht, dass man hier auch an die unter den Abgaben für sinnlosen Luxus-Konsum ächzenden Untertanen mitdenken kann und soll.
Wezel wuchs in dieser Luft des Hofes auf, sein Großvater war als Silberdiener tätig, ein verantwortungsvoller Job. Ob Wezel sich damals schon für einen unehelichen Sohn des regierenden Fürsten hielt, wissen wir nicht, aber seiner regen Phantasie ist es sicherlich zuzutrauen – und wer träumt schließlich nicht davon, in seiner Kindheit, heimlich doch ein Prinz, eine Prinzessin zu sein, ganz unerkannt? Lassen wir ihm diesen Traum. Zumal auch die Stadt ihm freundlich entgegenkam: Seine Lehrer erkannten früh seine Talente und förderten ihn tatkräftig; er konnte musizieren, lateinische Gedichte schreiben und vortragen, er bekam sogar, wenn auch etwas verspätet, einen Zuschuss für sein Studium in Leipzig. Leipzig sollte neben Sondershausen sein zweiter Lebensschwerpunkt werden; eine pulsierende, wirtschaftlich prosperierende, kulturell aufgeschlossene Metropole der Zeit, geprägt vom Buchhandel und einer Unzahl von Verlagen, die Autoren und Zeitschriften anzogen; dazu ein reiches Bürgertum, eine bekannte Universität, die große Buchmesse natürlich. Wezel beschrieb die Atmosphäre sehr lebendig, ebenfalls in dem Roman Herrmann und Ulrike; und wieder erweist er sich gleichermaßen als meisterhafter Beobachter zeitgenössischer Sitten, als scharfsinniger Kenner des Menschen und als begnadeter Humorist:
„Er durchstrich an den volkreichsten Tagen und Stunden den Spaziergang ums Tor, sahe geputzte Damen und Herren, die in einem kleinen Bezirke drängend durcheinander herumkrabbelten, alle etwas suchten und zum Teil zu finden schienen. Gähnende Damengesichter, von der Langeweile auf beiden Seiten begleitet, suchten den Zeitvertreib, und rechnende Mathematiker suchten zu der Größe ihres Kopfputzes und ihrer Füße die mittlere Proportionalzahl oder suchten in den Garnierungen ihrer Kleider Parallelopipeda, Trapezia, Würfel und Kegel, schöne Mädchen und Weiber suchten Bewunderer ihrer Reize und funfzigjährige Magistri Bewunderer ihres Schmutzes; […] junge Anfängerinnen suchten die ersten Liebhaber und junge Dozenten die ersten Zuhörer, Scheinheilige suchten Sünden und Ärgernisse, um sie auszubreiten; Moralisten suchten Laster und Torheiten, um dawider zu eifern, und Kennerinnen des Putzes suchten Sünden des Anzugs, um darüber zu spotten: ein jedes suchte die Gesichter der andern, ein jedes in den Gesichtern der andern Zeitvertreib, und ein großer Teil des Geländers war mit lebendigen Personen verziert, die mit stieren Augen die übrigen alle suchten, um sich auf ihre Unkosten zu belustigen. Aus dieser suchenden Gesellschaft drängte sich Herrmann in den größern, verachteten Teil der Promenade: hier suchte ein tiefsinniger Philosoph mit gesenktem Haupte und wackelndem Schritte die Monaden mit dem Stocke im Sande, ein denkender Kaufmann suchte Geld für verfallene Wechsel, ein Almanachsdichter Gedanken für seine Reime und ein bleicher Hypochondrist das Vergnügen in der Luft; und alle suchten vergebens wie Herrmann.“
Man möchte sich das ganze Szenario gleich gemalt vorstellen, vielleicht von einem der gleichermaßen berühmten Kupferstecher der Zeit wie Daniel Chodowiecki, der auch mehrere von Wezels Romanen illustrierte. Man sieht Wezel selbst durch alle diese Figuren hindurchstolpern, wahrscheinlich in Gedanken an seinen nächsten Roman oder seine philosophische Grundlagenschrift, den Versuch über die Kenntniß des Menschen versunken, und er fiel kaum auf zwischen dem „tiefsinnigen Philosoph“, dem „Almanachdichter“ (natürlich schrieb Wezel auch Gedichte für Almanache in Leipzig!) und dem „bleichen Hypochondristen“ (seine Gesundheit war nie die Beste, und seine kontinuierliche Armut half auch nicht direkt).
Doch von Leipzig aus kam Wezel auch in die Welt hinaus. Als Hauslehrer arbeitet er in Bautzen und in Berlin; als Theaterdichter hält er sich längere Zeit in Wien auf; spätere Reisen nach London oder St. Petersburg wurden immer wieder vermutet, sind jedoch nicht mehr zu belegen. Einmal begibt er sich auch auf eine Art Deutschlandreise und besucht die literarischen Berühmtheiten seiner Zeit (nicht jedoch Goethe); und seine Eindrücke dabei fließen auch in Herrmann und Ulrike ein, wo sich beispielsweise eine Beschreibung des Hamburger Hafens findet, die in ihrem Detail-Realismus in der Zeit unerreicht ist:
„Die geräuschvolle seemännische Geschäftigkeit herrschte ringsum auf der weiten Wasserfläche: ein dichter Wald von hohen Mastbäumen mit mannichfarbigen wallenden Wipfeln stieg aus den ruhenden Schiffen auf allen Seiten empor: zwischen den weitbauchigen Gebäuden wimmelte ein Schwarm kommender und gehender Fahrzeuge herum, mit Männern und Weibern befrachtet, die in platter tönender Sprache sich ihre Verrichtungen erzählen, sich lachenden Scherz oder ernste Aufträge zuriefen […]; nervige Matrosen mit Gesichtern, aus dem Gesundheit und Gefühl ihrer Kraft sprach, mit langen Leinhosen sprangen hier leicht von Fahrzeug zu Fahrzeug, schwangen sich dort mit einem klebrigen Tau am krummen Bauche des Schiffes hinan, ließen dort schnell sich herunter, oder holten mit wüstem Geschrey das loßgerißne Boot von der Flucht zurück […] und widerlegten alle Schriftsteller, die das itzige Menschengeschlecht als einen verschrumpften entkräfteten Haufen beklagen, weil sie nicht in den Vorzimmern der Fürsten, in Gerichtshöfen, Finanzkammern und Studirstuben die Stärke der homerischen Helden und der Ritter von der Tafelrunde fanden.“
Auch hier also verbindet Wezel eines höchst lebendige, geradezu malerisch genaue Beschreibung mit einer schlagenden sozialen Analyse, einem kleinen Seitenhieb auf den berühmten Philosophen Rousseau und einer gehörigen Portion Humor: Wer die Kraftmänner der eigenen Zeit sucht, wird sie wohl kaum in Schreibstuben und Anwaltskammern finden; der Hafen jedoch ist eine andere Welt, mit anderen Regeln, Menschen, Schönheiten.
Leider jedoch bleibt Wezel der Erfolg nach Herrmann und Ulrike nicht treu. In Wien beginnt sein Abstieg; er hatte sich mit den dortigen Theatergrößen angelegt, und kaum kommt er zurück nach Leipzig, streitet er sich weiter, bekommt schließlich aus fadenscheinigen Gründen Ärger mit der Zensur. Man kann wohl sagen, dass Wezel ein problematisches Verhältnis zu Autoritäten hatte; dass muss nicht falsch sein, aber es erleichtert das Leben als Autor auch nicht direkt. Denn ein Autor muss sozial verbindlich sein, nicht nur gegenüber der Zensur, sondern gegenüber seinem Verleger, gegenüber anderen Autoren, auch gegenüber seinen Lesern – weil er, notwendigerweise, von ihnen allen abhängig ist. Wezel jedoch schließt keine Kompromisse. Er schreibt noch ein wenig weiter, darunter ein bemerkenswert heiteres und lebensweises Märchen, den Kakerlak, aber irgendwann reicht das Geld nicht mehr, und er kommt zurück, natürlich, nach Sondershausen. Er ist sehr krank, vielleicht am Leib, ganz sicher an der Seele; und er ist arm, ohne direkte Familienangehörige.
Wer so zurück in die Heimat kommt, hat es nicht leicht, selbst wenn er ein großer Autor ist – und das wussten die ehrlicheren und gerechteren der Kollegen durchaus schon, dass Wezel ein Großer war, einer, der sehr aufmerksam hingeschaut hatte, der eine scharfe Zunge und eine spitze Feder hatte, aber durchaus auch ein weiches Herz; nicht zuletzt einer, der von seinen eigenen Geschichten überwältigt werden konnte, weil er sie so gut erzählte. Hatte er nicht seine letzte Romanheldin, die hypersensible und bipolare (so würde man heute sagen, die Zeitgenossen sagten: eine Melancholikerin), hatte er nicht seine Wilhelmine Arend, in Sondershausen zur Ruhe kommen und sterben lassen, nachdem er sie einer psychologischen Analyse unterzogen hatte, die heute noch in jedem Psychologie-Lehrbuch stehen könnte? Und Wilhelmine Arend – eine weibliche Romanheldin, wie es sie zu Wezels Zeit noch gar nicht so oft gibt – findet sogar temporär ihren Seelenfrieden wieder, in und durch Sondershausen. Einer Freundin beschreibt sie in einem Brief die besonders friedvolle Atmosphäre in den um die Stadt an den Berghängen gelegenen Gärten:
„Stelle Dir ein Stückchen von einem Berge vor, der sich an einem schmalen Thale über eine halbe Stunde lang in mannichfaltigen Krümmungen hindehnt, und Du hast eine Vorstellung von unserm Garten: der aufwärts steigende Berg ist ein grüner Teppich von Gras, mit Obstbäumen so unordentlich bepflanzt, als wenn der Zufall sie dahingesetzt hätte. Ein Pfad, mit einzeln unbewachsenen Fußstapfen nur angedeutet, führt die Höhe hinan zu einem hölzernen Häuschen, das so einsam, so umschattet zwischen drey Bäumen dasteht, als wenn es Nachdenken und Melancholie zu ihrer Wohnung erbaut hätten. […] Das Weltalter der Unschuld scheint noch in diesem stillen Thale zu herrschen. Kein Zaun, kein Schloß! Jeder Garten wird von dem andern durch einen streifen Gebüsch, oft nicht einmal durch einen Stein abgesondert, als wenn man weder Diebstahl noch Muthwillen kennte: gleichwohl kennt und fühlt man beides oft.“
Wezel selbst soll in seinen letzten Jahren in Sondershausen oft durch die Wälder der Gegend gestreift sein; und er kennt und fühlt den boshaften „Mutwillen“ seiner Zeit ebenso wie seine eigene „Melancholie“. Er soll auch weiterhin musiziert haben, für sich allein; Gedichtfetzen wurden dann und wann gefunden, Pläne für eine Buchhandlung oder eine Bank, aber die Welt der Literatur war so tot für Wezel wie er für die Literatur seiner Zeit. Er lebte in seiner eigenen Welt, und man könnte sich vorstellen, dass es eine Erleichterung war, wenigstens durch die bekannten Gassen und Wälder seiner Kindheit streifen zu können; ein Rest von Vertrauen, von Sicherheit, gelegentlich tauchen vielleicht Erinnerungen auf, an die Prachtkutsche, an seinen eigenen Roman Herrmann und Ulrike, und an ein vergangenes Jahrhundert, das sich das aufklärerische genannt hatte und zu dessen kritischer Selbstbeleuchtung Wezel einen bis heute nicht hinreichend gewürdigten, wichtigen Teil beigetragen hatte. Man muss ein wenig lächeln, wenn man liest, was er einmal geschrieben hat über den Nachruhm des Autors, aber es ist ein bitteres Lächeln, wie so oft bei Wezel:
Es müsste ein komisches Büchelchen werden, wenn jemand die Geschichte der Autorschaft schriebe. Sie hat gewöhnlich drei Grade, durch welche man zur höchsten Stelle hinaufsteigen muss: Erst wird man ein Stümper, alsdann ein mittelmäßiger Kopf, und endlich ein schlechter Mensch oder ein Freigeist. Jetzt hat man mir den Kopf abgeschlagen, über das Jahr reißt man mir gewiss das Herz aus dem Leibe: man äußert ohnehin schon großes Bedenken, dass ein Mensch, der den Menschen bisher mehr von der lächerlichen und schwachen Seite schilderte, wohl nicht an die Tugend glauben könne: der geradeste Weg zur Unsterblichkeit! Denn länger als zwei Jahre kann es nun nicht mehr dauern, so steh’ ich in der Kirchenhistorie als Synkretist Indifferentist Atheist Naturalist [die schlimmsten moralischen Verfehlungen, die man sich damals vorstellen konnte!] und wer einmal dort einen Platz erlangt hat, dem ist geholfen; denn die Schulburschen müssen seinen Namen in der Schule auswendig lernen.
Ich hoffe sehr, dass die Schulkinder in Sondershausen zukünftig nicht nur in eine Schule gehen, die Wezels Namen trägt, oder seine Bücher entleihen in der Stadtbibliothek, die nach ihm benannt ist; sondern dass sie seine Bücher auch lesen und dabei ein wenig verstehen lernen, wie anders die Welt und die Menschen damals waren – und wie ähnlich doch auch in vielerlei Hinsicht. Unbetrüglicher Realismus jedoch, analytischer Scharfsinn und solide Menschenkenntnis, gepaart mit einem reichlichen Schuss Humor – können sowieso nie aus der Mode kommen!
Wezel in Sondershausen
Es ist etwas Besonderes um Autoren und ihre Geburtsstädte, und wer meint, das sei doch alles nur Getue und Imagekampagne und nichts von Substanz, der hat ein wichtiges Element der menschlichen Erinnerung nicht verstanden: Unsere Erinnerung heftet sich an Räume, sie heftet sich vor allem an die Räume unserer Kindheit: Sie bilden eine Art Anker, an den wir unsere Erinnerungen andocken können, gute wie schlechte, der Unterschied ist so groß häufig gar nicht. Und das Gleiche gilt natürlich für Autoren, Schriftsteller, Dichter, vielleicht gilt es sogar noch im verschärftem Maße: Denn Dichter sind Menschen, die meist schon als Kind ihre Welt mit anderen Augen betrachten: mit aufmerksameren Augen, sensibel, aufnahmebereit für alles und jedes, häufig verletzlich. Aber auch Autoren haben natürlich gute und schlechte Erinnerungen an ihre Heimatstadt, ihre Mitmenschen; und man könnte leicht den Eindruck gewinnen, die schlechten überwögen: Wie viele der großen österreichischen Autoren hassen und verfluchen ihr Land, bis heute, das vermeintlich spieß- und kleinbürgerliche Österreich mit seiner großen, nicht ganz bewältigten Vielvölker-KuK-Tradition und seinen idyllischen Bergtälern, in die die Sonne niemals so ganz scheint. Thomas Mann hat lange gehadert mit seiner Geburtsstadt Lübeck, und als sie ihm den Ehrendoktortitel verliehen, schrieb er einen wunderbaren Essay "Lübeck als geistige Lebensform". Goethe schließlich – er ist in der Freien Reichsstadt Frankfurt am Main geboren, in seiner Jugend konnte er die Krönung des neuen Kaisers des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation beobachten, er war dabei, und es hat ihn sein Leben lang mit gelindem Stolz erfüllt, ein Frankfurter zu sein. Und auch Weimar, seine zweite Heimat – ist sie nicht heute mit seinem Namen geradezu verschmolzen, ist er nicht der beste Werbeträger schlechthin und steht zu Recht mit Schiller, dem zweiten großen Weimarer Einwanderer, auf dem Podest und schaut wohlwollend auf die Touristen aus aller Herren Länder (herab)?
Johann Karl Wezel kam bekanntlich aus dem Weimar-Sachsen benachbarten Fürstentum, und es ist gar nicht so weit von der Weimarer Residenz zum Sitz der Schwarzenburger-Sondershausener Fürsten. Duodezfürstentümer waren beide, wie man das damals nannte; viel zu viele gab es von ihnen in Deutschland und man machte sich gegenseitig Konkurrenz im Wettbewerb um das größte symbolische Kapital. Schlösser, Parkanlagen, Prachtkutschen wurden gebaut, aber man stritt sich durchaus bereits damals um die besten Köpfe. Heute noch ist es beeindruckend, wenn man vom Marktplatz auf die Schlossanlage schaut, die beinahe gewaltsam die Stadt überragt mit ihrem scharf sich zuspitzenden Flügeln; und wenn man den steilen Hügel von der alten Wache zum Tor hinansteigt und sich der Innenhöf öffnet mit seinem Brunnen und dem Prunkportal, kann einem schon einmal kurz der Atem stocken. Auf der Gartenseite hingegen präsentiert sich das Schloss sonnig, die Arkaden überqueren luftig den Weg zum Achteckbau, und man mag sich auf einmal durchaus ein wenig Sonnenkönigs-Atmosphäre im kühlen Thüringen vorstellen (aber besser nicht über seinen realen Preis nachdenken). Und wenn sich dann noch ausmalt, wie der Fürst sonntags mit der goldenen Prachtkutsche ausfuhr: Es muss ein Fest gewesen sein für die städtische Jugend!
Unter den Knaben stand um die Jahrhundertmitte des 18. Jahrhunderts auch, wahrscheinlich etwas vereinzelt, einer, der besonders aufmerksam hinschaute. Er war ein wenig zu sensibel für sein eigenes Glück, aber scharfsichtig und aufnahmebereit für alles und jedes. Er wuchs in der Luft des Hofes auf, sein Großvater war als Silberdiener tätig, was eine verantwortungsvolle Tätigkeit war. Ob er sich damals schon für einen unehelichen Sohn des regierenden Fürsten hielt, wissen wir nicht, aber seiner regen Phantasie ist es sicherlich zuzutrauen – und wer träumt schließlich nicht davon, in seiner Kindheit, heimlich doch ein Prinz, eine Prinzessin zu sein, ganz unerkannt? Lassen wir ihm diesen Traum. Zumal auch die Stadt ihm freundlich entgegenkam: Seine Lehrer erkannten früh seine Talente und förderten ihn tatkräftig; er konnte musizieren, lateinische Gedichte schreiben und vortragen, er bekam sogar, wenn auch etwas verspätet, einen Zuschuss für sein Studium in Leipzig. Allerdings war er nach allem, was Klassenkameraden später, als Wezel schon berühmt war, berichteten, ein wenig einzelgängerisch; ein Sonderling eben, so hieß das damals, heute würden wir ihn einen „Außenseiter“ nennen, aber Sonderling – das passte zu gut zu Sondershausen, und irgendwie würde Wezel das niemals loswerden, beides zusammen, sein Image, sein Markenzeichen: der Sonderling aus Sondershausen. Aber war er nicht auch, von Anfang an, etwas Besonderes, und was war schlecht daran, etwas Besonderes zu sein?
Sehen wir es also positiv; wie gesagt, alle Autoren hadern mit ihrer Herkunft, und am Ende kehren nicht wenige von ihnen dorthin zurück, woher sie kamen – wie es auch Wezel getan hat, gegen Ende des Jahrhunderts. Ob freiwillig oder nicht, ob gern oder nicht, darüber schweigen die Quellen, aber es gab wohl keine Alternative: Er war krank, vielleicht am Leib, ganz sicher an der Seele; und er war arm, ohne direkte Familienangehörige. Seine wenigen Freunde hatten sich von seinen Sonderlichkeiten abgewandt und er sah sich verfolgt, von der Zensur, verraten von den erfolgreichen Kollegen, allein. Wer so zurück in die Heimat kommt, hat es nicht leicht, selbst wenn er ein großer Autor ist – und das wussten die ehrlicheren und gerechteren der Kollegen durchaus schon, dass Wezel ein Großer war, einer, der bei aller Sonderlichkeit sehr aufmerksam hingeschaut hatte, der eine scharfe Zunge und eine spitze Feder hatte, aber durchaus auch ein weiches Herz; nicht zuletzt einer, der von seinen eigenen Geschichten überwältigt werden konnte, weil er sie so gut erzählte. Hatte er nicht seine letzte Romanheldin, die hypersensible und bipolare (so würde man heute sagen, die Zeitgenossen sagten: eine Melancholikerin), hatte er nicht Wilhelmine Arend, in Sondershausen zur Ruhe kommen und sterben lassen, nachdem er sie einer psychologischen Analyse unterzogen hatte, die heute noch in jedem Psychologie-Lehrbuch stehen könnte? Ihr eigenes Grab hatte sie sich gegraben, hier in Sonderhausen, und es ist eine Szene, die man nicht leicht vergisst in ihrer stillen Eindrücklichkeit.
Und Sondershausen nahm Wezel auf und brachte ihn unter; natürlich in ärmlichen Verhältnissen, gehänselt von der erbarmungslosen Dorfjugend, ganz sicher ein Gegenstand des lokalen Klatsches, leider ohne jegliche medizinische Behandlung – aber wo wäre das damals nicht so gewesen? Man brachte ihn unter und versorgte ihn mit dem Lebensnotwendigsten, und das ist immerhin etwas in einer Zeit, die keine Sozialsysteme kannte, sondern nur die Unterstützung durch die Familie (die Wezel nicht mehr hatte oder nicht mehr kannte) oder gelegentliche Almosen wohlmeinender Mitmenschen. Er soll weiterhin musiziert haben, für sich allein; Gedichtfetzen wurden dann und wann gefunden, Pläne für eine Buchhandlung oder eine Bank, aber die Welt der Literatur war so tot für Wezel wie er für die Literatur seiner Zeit. Er lebte in seiner eigenen Welt, und man könnte sich vorstellen, dass es eine Erleichterung war, wenigstens durch die bekannten Gassen und Wälder seiner Kindheit streifen zu können; ein Rest von Vertrauen, von Sicherheit, von gelegentlich auftauchenden Resten von Erinnerung vielleicht, an die Prachtkutsche, an seinen eigenen Roman Herrmann und Ulrike, an ein vergangenes Jahrhundert, das sich das aufklärerische genannt hatte und zu dessen kritischer Selbstbeleuchtung auch er seinen Teil beigetragen hatte.
Heute eröffnen wir nun einen Ort, an dem Wezel, dessen Geburts- und Sterbehaus längst nicht mehr stehen, zukünftig in Sondershausen zuhause sein wird; in der Bibliothek, die seinen Namen trägt, in einer Straße, die seinen Namen trägt, und in einer Stadt, die sein Andenken ehren will. Seine Werke werden weiterhin gedruckt, gelegentlich, hoffentlich, auch gelesen; und man muss ein wenig lächeln, wenn man liest, was er einmal geschrieben hat:
Es müsste ein komisches Büchelchen werden, wenn jemand die Geschichte der Autorschaft schriebe. Sie hat gewöhnlich drei Grade, durch welche man zur höchsten Stelle hinaufsteigen muss: Erst wird man ein Stümper, alsdann ein mittelmäßiger Kopf, und endlich ein schlechter Mensch oder ein Freigeist. Jetzt hat man mir den Kopf abgeschlagen, über das Jahr reißt man mir gewiss das Herz aus dem Leibe: man äußert ohnehin schon großes Bedenken, dass ein Mensch, der den Menschen bisher mehr von der lächerlichen und schwachen Seite schilderte, wohl nicht an die Tugend glauben könne: der geradeste Weg zur Unsterblichkeit! Denn länger als zwei Jahre kann es nun nicht mehr dauern, so steh’ ich in der Kirchenhistorie als Synkretist , Indifferentist , Atheist , Naturalist ; und wer einmal dort einen Platz erlangt hat, dem ist geholfen; denn die Schulburschen müssen seinen Namen in der Schule auswendig lernen.
Ich gratuliere Sonderhausen zu diesem Sonderling und freue mich über die Entscheidung des Stadtrates, ihm diesen Schauraum einzurichten. Ich wünsche ihm aufmerksame BesucherInnen und LeserInnen, und wenn dann die Schulburschen (aber auch die Schulmädels) in Sondershausen seinen Namen in der Schule auswendig lernen müssen – können sie vielleicht auch noch eine Geschichte, ein Gesicht, einen Ort hinzufügen (denn das braucht unser Gedächtnis).
Am 28. Januar 2019 jährte sich der Tod des aufklärerischen Dichters und Schriftstellers Johann Karl Wezel zum zweihundertsten Mal. Wie immer setzen solche Gedenktage eine gewisse kulturelle Erinnerungsdynamik in Gang; auch ein Bedürfnis des Messens, Vergleichens, vielleicht sogar: Evaluierens stellt sich ein. Wezel ist ein mehr oder weniger vergessener Autor; Goethe hingegen lebt, davon zeugt nicht nur die akademische Forschung, die anhaltende Flut an Publikationen, sondern auch das Fortbestehen der Goethe-Gesellschaften in einer Zeit, die sich zunehmend vom Öffentlich-Geselligen ins Privat-Digitale verabschiedet zeigt das an. Warum ist das so? Kann man beide Autoren überhaupt vergleichen? Immerhin sind beide im Abstand von nur zwei Jahren geboren; beide haben sogar entfernt verwandte Vorfahren im thüringischen Berka! Aber ihr Leben, ihr Werk, ihre Wirkung in der Welt – all das hat sich so unterschiedlich entwickelt, dass man den Sonderling aus Sondershausen geradezu als einen dunklen Bruder des anderen, des Sonnenkindes des Schicksals, des Weltkindes Goethe sehen könnte. Und doch sind sie, wie eine nähere Betrachtung zeigt, so verschieden gar nicht.
Von Goethes Geburt, Kindheit und Jugend in der freien Reichstadt Frankfurt hat er uns umfänglich selbst unterrichtet. Von Wezels Jugendjahren hingegen wissen wir nicht viel. Er wurde zwei Jahre vor Goethe im thüringischen Sondershausen geboren, das zu dieser Zeit die Residenz der Fürsten von Schwarzburg-Sondershausen war. Seine Eltern und Großeltern waren für den Hof tätig, und er wuchs nach dem frühen Tod des Vaters bei seinem Großvater, dem Hof-Silberdiener Blättermann auf. Das höfische Milieu prägte seine Kindheit durch und durch, und er selbst imaginierte sich als unehelichen Sohn des regierenden Fürsten Heinrich. Während Goethe mit Cornelia zusammen vom Vater und insgesamt acht Hauslehrern unterrichtet wurde, alle gängigen lebenden und toten Sprachen seiner Zeit lernte, Klavier- und Cellospielen, Reiten, Fechten, Tanzen und sogar ein wenig Naturwissenschaften, besuchte Wezel die Stadt- und Lateinschule, die im Übrigen einen guten Ruf hatte. Zudem erkannten seine Lehrer bald die Begabungen des Jungen und förderten seine frühen dichterischen Versuche.
Man kann jedoch sicherlich davon ausgehen, dass Wezel und Goethe sehr unterschiedlich privilegiert waren, als sie sich – vielleicht? – in Leipzig trafen. Immerhin begannen nämlich beide 1765 dort ihr Studium, Goethe ein juristisches, Wezel ein theologisches. Beide ignorierten sogleich souverän ihr mehr oder weniger aufgezwungenes Studienfach, sondern gingen lieber zu Christian Fürchtegott Gellert, dem Lieblingsdichter des ganzen empfindsamen Deutschlands. Wezel wohnte sogar, vermittelt durch seinen Schulrektor, bei Gellert im Haushalt, er zeigte ihm auch, so ist es in Briefen überliefert, seine ersten dichterischen Versuche. Goethe hingegen schreibt an seine Vertraute Cornelia: „„Seit dem November habe ich höchstens 15 Gedichte gemacht, die alle nicht sonderlich groß und wichtig sind, und von denen ich nicht eins Gellerten zeigen darf, denn ich kenne seine jetzigen Sentiments über die Poesie“. Aber leider ist ein persönliches Treffen von Wezel und Goethe nicht überliefert. Und nicht nur das: Während Wezel immerhin gelegentlich ein Wort über den so viel berühmteren Kollegen fallen lässt, lässt sich bei Goethe nicht eine einzige Äußerung zu Wezel finden.
Folgen wir den Lebenswegen noch ein wenig. Goethe wird nach Leipzig, krank, verliebt sich, promoviert sich, wirkt ein wenig als Advokat in Frankfurt und geht dann, für immer, nach Weimar, um Minister zu werden. Wezel hingegen wird Hofmeister, also Hauslehrer, wie all die armen Studenten. Immerhin jedoch hat er durchaus ein aufklärungstypisches pädagogisches Interesse, und er wird sich später beim Reforminstitut des Philanthropin in Halle bewerben (erfolglos), ein eigenes Erziehungsinstitut ausschreiben (erfolglos) und einige durchaus beachtete Artikel in der Zeitschrift des Philanthropin, den Pädagogischen Unterhandlungen schreiben. Da ist er schon nach Leipzig zurückgekehrt, seinem Lebensmittelpunkt für die nächsten Jahre; und er versucht sich, mühsam, fleißig, mit immer neuen Rückschlägen als freier Autor. Immerhin kann er nun, im Gegensatz zu Goethe, der sich in seinen Amtsgeschäften auffressen lässt, endlich schreiben. Als 1780 sein viel gepriesener vierbändiger Roman Herrmann und Ulrike erscheint (Wieland schreibt: „der beste deutsche Roman, der mir jemals unter die Augen gekommen ist!“; von Goethe kein Wort), 1780 also reist Goethe gerade durch die Schweiz und tritt der Freimaurerloge in Weimar bei; 1782 wird er sein Adelsdiplom erhalten. Da ist Wezel immerhin auch unterwegs: Er versucht sich in Wien als Theaterdichter, aber wiederum mit sehr begrenztem Erfolg.
Nach der Rückkehr aus Wien siedelt sich Wezel wieder in Leipzig an; leider bekommt er nun Probleme mit der Zensur. Goethe hingegen sitzt auch hier auf der anderen Seite des Tisches. Vorerst jedoch war dieser bekanntlich nach Italien geflohen; als er, ein neuer Mensch, wenn wir ihm glauben dürfen, nach Weimar zurückkommt, verlässt Wezel, verarmt, sozial isoliert, verbittert, psychisch krank, gerade Leipzig für immer, um in seine Heimatstadt Sondershausen als Pflegefall zurückzukehren, da ist er gerade gut 40 Jahre alt. Vorher hat er immerhin noch die ersten zwei Bände seines Versuch über die Kenntniß des Menschen veröffentlicht, seines philosophisch-anthropologisches Hauptwerkes. Und vielleicht kann man die Unterschiedlichkeit der jenseits des literarischen Gebietes gelegenen Interessen beider nicht besser vergleichen, als indem man dem Versuch über die Kenntniß des Menschen Goethes 1790 erschienenen Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären an die Seite stellt; beide Textes sind sicherlich Herzens- und Lebenswerke, gehören aber nicht gerade zu den meistgelesenen der beiden Autoren.
Wezels literarisches Leben ist damit beendet. In seiner letzten Lebensphase wird er ein Gegenstand des Mitleids der Kollegen, die Sammlungen für ihn veranstalten und ihn zur Therapie zu Samuel Hahnemann, dem Begründer der Homöopathie, nach Hamburg bringen lassen (die Therapie scheitert aber). Am 28. Januar 1819 stirbt Wezel schließlich in Sondershausen; im Kirchenbuch ist notiert: „Starb den 28. Januar 1819 nachts ein Viertel nach Zwölf / Den 30. unter den Gottesacker, /Herr Johann Karl Wezel, / einer der vorzüglichsten Schriftsteller Deutschlands, […] Vom Krämpfen und Schwächen. Begräbnis gratis“. Goethe schreibt am gleichen Tag an Carl Friedrich Zelter: „Das junge Volk ist munter und wohl und ich halte mich diesen Winter so ziemlich auf den Füßen, und so sehen wir denn, mit einiger Behaglichkeit, der wieder herankommenden Sonne entgegen und somit allen guten Geistern empfohlen“.
Das ist durchaus ohne Ressentiment zitiert; es ist einfach nur der Punkt, an dem die beiden Lebenslinien sich endgültig am weitesten auseinander bewegt haben. Aber immerhin hat auch Wezel trotz erheblich kürzerer Schaffensphase ein Werk unter sehr viel schwierigeren äußeren Umständen zustande gebracht, das ihn zum Vollbild eines Autors werden lässt. In ihm findet sich jede literarische Gattung von einiger Bedeutung, von den kleinen bis zu den großen – Gedichte, Versepen, Erzählungen, Satiren, Lustspiele, eine Tragödie, ein Monodram, eine Oper, Romane. Wezel hat sich darüber hinaus als Übersetzer, als Literaturkritiker, als Pädagoge, als Philosoph betätigt; er hat sich lebhaft für bildende Kunst interessiert und für Musik er hat die wichtigsten zeitgenössischen Philosophen und Historiker ebenso gelesen wie grundlegende physiologische Werke. Wezel wie Goethe waren in gewisser Weise noch Universalisten. Beide haben immer wieder energisch den Wert von Welt- und Lebenserfahrung betont; beide waren eigenwillig, keine Nachtreter und scheuten den Konflikt nicht; beide hatten eine sorgsam versteckte empfindsame Seite, die gelegentlich von einem mutwilligen satirischen oder polemischen Talent verdeckt wurde. Beide hatten, mehr oder weniger, ein durchaus realistisches Bild des Dichters; und beide schrieben schließlich einige Werke, die sogar eine ähnliche Thematik und Intention. verfolgten. Jeweils zwei von ihnen sollen im Folgenden gegenübergestellt werden, nämlich Wezels Roman Herrmann und Ulrike und Goethes Hermann und Dorothea sowie die beiden Faust-Dichtungen.
Der doppelte Herrmann
Schon 1772 beschwor Goethe in einer seiner Rezensionen für die Frankfurter Gelehrten Anzeigen eine Identifikationsfigur für das literarische Deutschland: „Laß, o Genius unsers Vaterlands, bald einen Jüngling aufblühen, der, voller Jugendkraft und Munterkeit, zuerst für seinen Kreis der beste Gesellschafter wäre, das artigste Spiel angäbe, das freudigste Liedchen sänge, im Rundgesange den Chor belebte […] Wenn ihn heiligere Gefühle aus dem Geschwirre der Gesellschaft in die Einsamkeit leiten, laß ihn auf seiner Wallfahrt ein Mädchen entdecken, deren Seele, ganz Güte, zugleich mit einer Gestalt ganz Anmut, sich in stillem Familienkreis häuslicher tätiger Liebe glücklich entfaltet hat […]. Wahrheit wird in seinen Liedern sein, und lebendige Schönheit, nicht bunte Seifenblasenideale, wie sie in hundert deutschen Gesängen herumwallen.“ Dass Werther diese nationale Identifikationsfigur nicht ist (zu viel Seifenblasenideale), auch nicht Wilhelm Meister (dito), sondern erst Hermann, der seine Dorothea findet, 25 Jahre nach dieser jugendlichen Vision, ist wohl kaum zu bestreiten. Und noch der alternde Goethe wird im Rückblick auf sein Hexameter-Epos, das die Stabilität des bürgerlichen Lebens im Zeitalter der alles umstürzenden Revolution pries, sagen, es sei „fast das einzige [seiner] größern Gedichte“, das ihm noch Freude mache, vor allem, wenn er es in der lateinischen Übersetzung lese.
Wezels Herrmann hingegen hat ein ganz anderes Schicksal. Herrmann und Ulrike erscheint 1780 und schildert in vier Bänden die Lebensläufe der beiden Protagonisten, der adligen Komtesse Ulrike und des bürgerlichen Herrmann. Die Handlung ist verwickelt und länglich, nach einer Reihe von Trennungen und Wiedervereinigungen, dem Tod eines unehelichen Kindes und vielfachen Intrigen endet das Werk jedoch mit einem happy end und der Beschwörung der Liebe als Himmelsmacht: „Die Liebe schwebt mit ausgebreiteten Fittigen über ihren Häuptern und strömt aus dem nie erschöpften Füllhorne den Lohn der Treue und Beständigkeit herab.“ Wezel hat seinen längsten und erfolgreichsten Roman in einem romantheoretisch sehr wirkungsreichen Vorwort als eine „bürgerliche Epopee“ bezeichnet, und schon sind wir wieder, mit einem kleinen Sprung, bei Goethes Hermann gelandet! Denn diese Idee, dass es nun das Bürgertum ist, das die tragende Schicht für das Epos wird, dass in diesem Milieu wieder eine gesellschaftliche Verbindlichkeit durch Dichtung hergestellt werden kann, diese durchaus fremdartige, etwas übermütige und sicherlich zu optimistische Hoffnung teilen die beiden Herrmanns. Natürlich spielt das eine in vorrevolutionären Zeiten und das andere vor dem dunklen Hintergrund der Französischen Revolution in ihrer Spätphase. Aber der Charakter, die „Moral“ der beiden Helden und ihrer im Übrigen nicht weniger heldenhaften Mitheldinnen Ulrike und Dorothea – sie sind Zeugen einer gemeinsamen Intention, und das ist die, den Deutschen endlich einen würdigen Nationalhelden zu verschaffen, ein Vorbild, eine Inspiration. Und man sollte nicht übersehen, dass beide Herrmanns keine Künstler sind, keine Träumer, keine Schwärmer – Männer der Tat, das sind sie.
Zweierlei Faust
Was man nun wiederum von Faust nicht sagen kann, der aber zweifellos die andere große deutsche Nationalgestalt ist. Goethes lebenslange Beschäftigung mit dem Stoff, vom Puppentheater bis hin zur Nicht-Veröffentlichung von Faust II, ist hinlänglich bekannt. Wezels Faust-Dichtung mit dem seltsamen Titel Kakerlak oder Geschichte eines Rosenkreuzers aus dem vorigen Jahrhunderte erschien als vorletztes seiner Werke 1784 und damit weit vor Goethes erstem veröffentlichten Faust; ein Einfluss, in welche Richtung auch immer, kann ziemlich sicher ausgeschlossen werden. Beide Autoren beschäftigen sich auf Basis der ursprünglichen Faust-Legende durchaus eigenständig mit der Problematik des Dr. Faustus, die man vielleicht, etwas modernisiert unter dem Schlagwort „Abstraktheit der Intellektuellen-Existenz“ komprimieren kann; und sie kommen dabei zu bemerkenswert ähnlichen Schlüssen. Man vergleiche nur die beiden Anfangspassagen! Bei Goethe lauten sie:
„Habe nun, ach! Philosophie,
Juristerei und Medizin
Und leider auch Theologie
Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.
Da steh' ich nun, ich armer Tor,
Und bin so klug als wie zuvor!“
Goethe, Faust I.
Nun Wezel:
„Hinweg mit euch, ihr sogenannten Weisen!
Ihr wollt mit dreistem Flug der Spekulation
Von Welt zu Welt bis zu des Chaos Thron,
Bis ins Gebiet des Nichts und wohl noch weiter reisen,
Mit euerm Maulwurfsblick das Rädchen auszuspähn,
Durch dessen Trieb sich unsre Sterne drehn.
Ihr wollt bis in die Werkstatt dringen,
Wo die Natur mit nie erschöpfter Kraft
Den Dingen Form, den Geistern Leiber schafft.
Ihr wollt mit schweren Gänseschwingen
Bis über Sonn und Mond ins Reich der Wahrheit dringen,
Und fragt man euch: »Was habt ihr dort gesehn?«,
Dann wißt ihr ebendas zu sagen,
Als die der Dummheit Los ganz philosophisch tragen
Und keinen Schritt nach eurer Wahrheit gehn.“
Man hat also studiert und studiert, geforscht und geforscht, und was hat es am Ende genützt? Nichts kann man wissen, wenig kann man hoffen, und mit dem Glauben hat man schon lange aufgehört. Vielleicht, wenn man es wenigstens mit der Magie versucht? Doch hier beginnen sich die Wege zu trennen. Denn während Goethes Faust die bekannte Wette mit Mephistopheles schließt und damit in einem sehr großen metaphysische Rahmen aufgehängt wird, nimmt sich des Weisen Kakerlak nur eine ausgestoßene Fee an – allerdings mit dem gleichen Ziel: Sie selbst wird erst erlöst werden, wenn sie einen Mann findet, „den nie der Überdruß beschwert“. Damit beginnt bei Wezel eine turbulente magische Reise durch insgesamt fünf Bücher: Kakerlak wird Tyrann und Herrscher, Lüstling und Säufer, Antiquitätensammler und Kunstkenner. Wahrhaft glücklich wird er aber erst, als am Schluss eher zufällig er seine Bücherstube zurückerhält und die moralische Quintessenz seiner Abenteuer resümiert: "Der Mensch soll nicht wissen, sondern nur vermuten, nicht genießen, sondern nur Genuß hoffen und träumen, nicht glücklich sein, sondern sich glücklich dünken". Nur wenn der Mensch das Leben als Spiel auffasst und sich auf die unschuldigen "Freuden der Natur" sowie die "Vergnügen des Geistes" anstelle der oberflächlichen sinnlichen Lüste der Zivilisation beschränkt; nur wenn er schließlich die menschliche Sterblichkeit anerkennt und alle metaphysischen Ansprüche auf ewige Dauer aufgibt, nur dann kann er darauf hoffen, sein Leben halbwegs erträglich und relativ autonom zu gestalten.
Das unterscheidet sich nun nicht wenig vom Ende der beiden Goetheschen Fauste, und es macht durchaus Sinn, der Tragödie zweiten Teil hier hinzuziehen: Tatsächlich hat Kakerlaks bizarre Reise eine gewisse Ähnlichkeit mit den Zeit- und Raumsprüngen und dem teils exotischen, teils phantastischen Ambiente des Faust II, und die Kakerlakschen Feen würden sich recht gut mit der bunten Geisterwelt des zweiten Teils vertragen. Auch die Anfangssituation ist, wie gesagt, sehr vergleichbar – der Schluss hingegen offenbar nicht: Kakerlak wird nicht erlöst, von wem sollte er auch? Eine metaphysische Ebene wird konsequent abgestritten, das Lebensglück auf die Imagination und eine diätetisch anmutende Mischung aus Lektüre und Naturgenuss beschränkt. Aber andererseits, wenn man nun wieder von Wezel her einen verfremdeten Blick auf die Schlussszenen von Goethes Faust wirft: Ist nicht auch dieser Faust glücklich am Ende nur – in einer Illusion? Blind geworden meint er „auf freiem Grund mit freiem Volk zu stehn“, wo nur noch die Spuren einer von ihm ausgelösten ökologischen Katastrophe zu sehen sind. Freilich hat Kakerlak ihm voraus, den Blendungscharakter dieser Illusion erkannt zu haben. Aber der Chorus Mysticus, immerhin, ist schon einen Schritt weiter, wenn er singt: „Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis“. Menschliches vergängliches Leben ist Illusion, Gleichnis, Spiel; und was jenseits davon liegt (oder nicht liegt) ist für Wezel und Goethe, beide Realisten und Empiriker auf ihre Art, auf jeden Fall eines: unbeschreiblich.
Im Jahr 2005 feierte Deutschland — neben dem 100. Geburtstag von Albert Einsteins 'Wunderjahr" — unübersehbar wieder einmal ein Schillerjahr. Allenthalben gab es Schiller-Aufführungen, Schiller-Ausstellungen, Schiller-Tagungen, Schiller-Lesungen, Schiller-Konzerte, Schiller-Wettbewerbe, Schiller-Comics, Schiller für den Manager und Schiller für Kinder, Schillerlocken und Schillerwein, Schiller und die Frauen, Schiller und Goethe natürlich, Schiller und kein Ende. Was es bisher (meines Wissens) allerdings nicht gegeben hat, ist — Schiller und Wezel.'
Das hat einen guten Grund. Wezel und Schiller sind sich nämlich, das kann man wohl mit einiger Sicherheit sagen, niemals persönlich begegnet. Sie haben auch nicht miteinander korrespondiert, ja, sie haben sich, soweit bekannt, nicht einmal gegenseitig erwähnt. Aber warum ist es eigentlich zu keiner Begegnung gekommen? Zwar hat die Nachwelt dem Dichter Schiller ungleich mehr und größere Kränze geflochten als dem Schriftsteller Wezel; trotzdem war diese unterschiedliche Wertung für die Zeitgenossen, zumindestens vor Schillers Bündnis mit dem Heros Goethe, noch keinesfalls absehbar. Zu Beginn der 80er Jahre macht Schiller gerade erst als jugendlicher Revolutionär mit seinen Räubern von sich reden, und keiner weiß, was aus diesem schwäbischen Feuerkopf noch werden soll. Wezel hingegen — dessen Jugendwerke, vor allem der Belphegor, ebenfalls für einiges Aufsehen in der literarischen Welt gesorgt hatten — hat zu diesem Zeitpunkt gerade mit seinem Roman Herrmann und Ulrike nach Wielands Urteil den »besten teutschen Roman der mir jemals vor Augen gekommen«, vorgelegt. Zudem suchen beide durchaus die Nähe ihrer schreibenden Kollegen, verkehren brieflich und persönlich mit einer Vielzahl von weiteren Dichtern, reisen kreuz und quer durch Deutschland und äußern sich auch in Rezensionen über literarische Neuerscheinungen. Trotz alledem und noch einmal: Es gibt keinen Beweis einer persönlichen Begegnung; es gibt keinen Brief, keine Besprechung oder nur eine Erwähnung der Werke des jeweiligen anderen; noch nicht einmal eine spitze Xenie ist der Dichter Wezel dem Polemiker Schiller wert gewesen, noch nicht einmal einen polemischen Seitenblick der Autor Schiller dem Literaturkritiker Wezel. Immerhin, in Schillers Bibliothek soll sich ein Exemplar von Herrmann und Ulrike befunden haben. Aber warum diese öffentliche, auffällige und gezielte Nichtwahrnehmung?
Wer so laut nicht miteinander spricht, muß einen guten Grund für sein Schweigen haben. Zunächst könnte man über mehrere praktische Hindernisse spekulieren. Die Lebenswege beginnen zeitversetzt — Schiller ist zwölf Jahre jünger als Wezel — und an entgegengesetzten Ecken Deutschlands: Schiller kommt aus der schwäbischen Provinz, Wezel aus der thüringischen (aber immerhin: aus Provinzfürstentümern kommen sie beide!). Nur ein einziges Mal hätten sich die Bahnen geographisch kreuzen können: Im April 1785 reist Schiller nach Leipzig, um sich mit seinen neuen Freunden und Förderern um Christian Gottfried Körner zu treffen. Wezel ist zu dieser Zeit bereits von seinem kurzen Wiener Intermezzo nach Leipzig zurückgekehrt. Doch bald trennen sich die Lebenswege wieder, um von da an umso unterschiedlichere Richtungen einzuschlagen: Bereits im September zieht Schiller weiter nach Dresden, bevor er sich für den Rest seines Lebens zunächst in Jena, dann in Weimar niederläßt und zum klassischen Nationalautor wird; er stirbt, betrauert von der kulturellen Elite Deutschlands, bereits 1805. Wezel verbringt noch einige Jahre in Leipzig unter äußerst ärmlichen Umständen, bevor er schwerkrank in seine Heimatstadt Sondershausen zurückkehrt; aber er publiziert kaum noch, stirbt nach langem Dahinsiechen erst 1819 an Altersschwäche und ist schon zu Lebzeiten beinahe völlig in Vergessenheit geraten.
Keine Parallelbiographie also, sondern eher das Gegenteil davon? Und doch, ein Gedankenspiel wäre es wert: Worüber hätten die beiden so verschiedenen Dichter wohl gesprochen, wenn sie sich im Sommer 1785, vielleicht in »Richters Kaffeehaus“, einem beliebten Treffpunkt der literarischen Welt von Klein-Paris, getroffen hätten? Vielleicht über ihre Jugenderfahrungen als hochbegabte Kinder in eher ärmlichen, künstlerischen Ambitionen nicht gerade freundlich gesonnenen Verhältnissen. Beide Väter standen den jeweiligen Fürstenhöfen nahe, Vater Wezel als Reisemundkoch des Fürsten Heinrich I. von Schwarzburg-Sondershausen, Vater Schiller als Intendant der herzoglichen Hofgärtnerei auf der Solitude. Wezel imaginiert sich daraus in Herrmann und Ulrike ironisch eine Lebens-Legende als unehelicher Fürstensproß; Schiller hingegen hat genug damit zu tun, sich den württembergischen Herzog Carl Eugen vom Leibe zu halten, der als wirklicher Vaterersatz seiner Militär-Eleven in der Karlsschule auftritt und absolute Unterwerfung fordert. Doch beide sind in ihrer Situation auf geistige wie materielle Förderung und Unterstützung durch Mäzene von Jugend an angewiesen; Wezel wird durch den Sondershausener Lehrer und späteren Prinzenerzieher Gottfried Konrad Böttger in den alten Sprachen unterrichtet, Schiller erhält Lateinunterricht beim Pfarrer Philipp Ulrich Moser in Lorch (später wird er ihm in den Räubern ein Denkmal setzen). Und früh werden auch beide literarisch tätig; Wezel versucht sich in Homer-Übersetzungen, Schiller in Dankesversen auf die hohen Gönner an der Karlsschule.
Eine weitere, wenn auch marginale Parallele: Beide dürfen nach Schulabschluß ihrem eigentlichen Studienwunsch nicht folgen, sondern müssen sich zunächst ausgerechnet für Jura inskribieren — das prosaische Fach für bürgerliche Aufsteiger schlechthin. Schiller, der ursprünglich Theologie studieren wollte, wechselt 1775 zur Medizin, vertieft sich aber weiterhin in der kargen Freizeit am liebsten in philosophische und poetische Schriften; und Wezel läßt die Jurisprudenz ebenfalls sehr schnell zugunsten von Philosophie, Philologie und schönen Wissenschaften in Leipzig links liegen. Auch der Studienerfolg will sich bei beiden nicht so recht einstellen. Zwar ist Wezel Hausgast bei Christian Fürchtegott Gellert und wird von dem Altphilologen Johann August Ernesti wohlwollend gefördert; zu einem formalen Abschluß bringt er es jedoch nicht. Und Schiller erwirbt sich in der Karlsschule zwar bald die besondere Gunst des Philosophielehrers Jakob Friedrich Abel, der ihn mit Shakespeare in der Übersetzung Wielands bekanntmacht. Für die Promotion zum Doktor der Medizin benötigt er allerdings drei Anläufe; erst der Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen bringt 1780 den Erfolg.
An dieser Stelle ergibt sich eine der wenigen Koinzidenzen nicht der Lebens-, sondern der Schaffensbereiche. Während nämlich Schil1er Ende der 70er Jahre etwas lieblos an seiner Promotion bastelt, beginnt Wezel mit den Vorarbeiten zu seinem eigenen Versuch über die Kenntniß des Menschen. Nun wäre es reichlich unfair, die frühreife akademische Qualifikationsschrift Schillers mit der Summa des Schriftstellers und Denkers Wezel zu vergleichen. Aber immerhin partizipieren hier beide einmal am gleichen Diskurs — nämlich dem der zeitgenössischen Ärzte-Anthropologie mit ihren mehr physiologischen denn metaphysischen Denk- und Erklärungsmustern. Beide nehmen ihren Ausgang dabei beim »tierischen« Teil des Menschen — seiner organischen und physiologischen Ausstattung — und betrachten den menschlichen Körper als »Maschine«. Dabei berufen sie sich auf die neuesten medizinischen Erkenntnisse zur Empfindlichkeit der Nerven und Reizbarkeit dee Muskeln, steigen von dort aufzu den Empfindungen und postulieren insgesamt einen engen Zusammenhang zwischen Leib und Seele. Beide wollen programmatisch nur empirische Wirkungen untersuchen, keine metaphysischen Ursachen; beide analysieren nicht nur die Entwicklung des einzelnen Menschen, sondern werfen auch einen geschichtsphilosophisch inspirierten Blick auf die Entwicklung des Menschengeschlechts. Dieses typisch spätaufklärerische anthropologische Denken prägt nicht nur Wezels Romane, sondern zumindestens auch das dramatische Frühwerk Schillers; das zeigt sich schon daran, daß Schiller in seinem Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen direkt aus seinen Räubern zitiert. Für ihn ist die anthropologische Phase jedoch nur ein Übergangsstadium; seine philosophischen Überzeugungen werden durch die intensive Kant-Lektüre in den 90er Jahren neu ausgerichtet. Wezel hingegen wird lebenslang ein Anhänger des Lockeschen Empirismus bleiben, dessen Lektüre in seiner Leipziger Studienzeit, seinem vielzitierten Bekenntnis gemäß, sein »ganzes philosophisches System« geprägt habe; all seine Romane beziehen ihre Originalität und ihre Konsistenz über weite Strecken aus der anthropologischen Fundierung, die auch seine Ästhetik prägt.
Ich bin jedoch, zumindestens in bezug auf Wezel, der Zeit vorausgeeilt. Vorerst müssen sich beide Autoren nach ihrem Studien-Abschluß (bzw. —nichtabschluß) durchschlagen, wie es eben geht. Aber es geht schlecht: Wezel wird, wie so viele seiner Zeitgenossen, verschiedene Hofmeisterstellen antreten, um sich danach als freier Autor im Zeitschriftenwesen zu verdingen. Schiller versucht es zunächst als Theaterdichter in Mannheim; auch er experimentiert mit dem Journalismus und gründet die Zeitschrift Die Rheinische Thalia. All diesen Projekten ist kein großer Erfolg beschieden; weiterhin bleibt es das wichtigste für beide, Freunde, Förderer und Mäzene zu finden. Aber nun zeichnet sich ab, daß Fortuna dem einen kontinuierlich wohlgesonnen ist, dem anderen hingegen höchstens dann und wann einmal einen kleinen freundlichen Seitenblick schenkt. Wezel, der mit Christoph Martin Wieland 1773 brieflich Kontakt aufgenommen hatte und ihn 1775 in Weimar besuchte, erhält zwar freundliche Ratschläge; einiges von ihm wird auch in Wielands Teutschen Merkur aufgenommen, aber das Verhältnis bleibt distanziert. Als Schiller hingegen genau zwölf Jahre später in Weimar bei Wieland vorspricht, wird er beinahe sofort zum Vertrauten und kurzzeitig zum Schoßkind des ganzen Hauses; Wieland erwägt sogar, ihn zum Mitherausgeber des Merkur zu machen. Darüber hinaus versucht Wezel in der zweiten Hälfte der 70er Jahre, teils brieflich, teils durch persönliche Besuche die literarischen Autoritäten Friedrich Nicolai, Karl Wilhelm Ramler und Heinrich Christian Boie dazu zu bewegen, ihn bei seiner literarischen Tätigkeit zu unterstützen; es sind diejenigen Autoren, die Schiller in einem Brief an Goethe später höhnisch als Vertreter der »Leipziger Geschmacksherberge« und Beispiele einer überkommenen, aufklärerisch-didaktischen Literaturauffassung abkanzeln wird. Außer Freundschaftsbekundungen und der Möglichkeit zur Publikation in ihren Zeitschriften (wie dem Deutschen Museum Boies, wo Wezel zeitweise zu einer Art Hausautor wird) können sie Wezel jedoch nichts bieten. Schiller hingegen Fällt 1784 zum ersten Mal — das wird sich wiederholen — das Glück in den Schoß: Aus Dresden meldet sich die oben schon erwähnte Gruppe junger Verehrer, die dem berühmt-berüchtigten Autor der Räuber mit Briefen und Geschenken huldigt. Zu dem Initiator Christian Gottfried Körner wird sich eine lebenslange Freundschaft entwickeln; die neuen Freunde werden ihn zudem ermutigen, sich trotz der verzweiflungsvollen finanziellen Lage ganz der Dichtung zu widmen, und ihn bei seinem Besuch in Leipzig mit Krediten und Bürgschaften bei seinem Zeitschriftenprojekt unterstützen.
Damit sind wir glücklich wieder in Leipzig im Jahr 1785, dem einzigen Schnittpunkt der (Nicht-)Parallelbiographien und bei Schiller und Wezel im Richterschen Kaffeehause in Leipzig angelangt. Das nächstliegende Gesprächsthema wäre zu dieser Zeit übrigens gewesen, sich über die noch frischen Erlebnisse als Theaterdichter auszutauschen. Schiller hatte gerade am Mannheimer Nationaltheater einige recht bittere Erfahrungen über die Vorlieben des Publikums für leichte, unterhaltsame Stücke, die Grenzen der Aufführbarkeit seiner eigenen Dramen, die ständigen Intrigen des Theaterbetriebs und die begrenzten Fähigkeiten der Schauspieler machen können; in seinem Lustspiel Die Komödianten hatte Wezel eben diese Probleme parodistisch dargestellt. Schiller hätte in Mannheim auch eines der Wezelschen Lustspiele sehen können: Der Eintakter Ertappt! Ertappt! wurde 1783 im dortigen Nationaltheater auf die Bühne gebracht. Über Wezels Wiener Theaterdichter-Zeit hingegen ist wenig bekannt. Offensichtlich war sie jedoch ebenfalls kein durchschlagender Erfolg; seine Werke wurden nicht auf dem renommierten Burgtheater aufgeführt, sondern in den Wiener Vorstadttheatern, und auch dort war die Resonanz eher durchwachsen.
In der Vorrede zum ersten Band seiner Lustspiele, der 1779 erschien, hatte Wezel bereits darüber spekuliert, warum sich die deutschen Bühnen der Zeit gerade mit den Lustspielen deutscher Autoren so schwer täten. Zum einen sei die »komische Muse« insgesamt die »sprödeste« der musischen Gattungen; sie hasse allen Zwang außer dem der »Blumenketten des Geschmacks und einer wohlverstandnen Anständigkeit«. Die deutsche kleinstädtische Wirklichkeit sei jedoch von solchen Zwängen durchgängig geprägt, die »Sitten, Lebensart, Gebräuche« »zu steif und abgezirkelt«, die »Leidenschaften, Thorheiten, Laster und Tugenden zu matt«, die »Begriffe von Sittsamkeit und Moral zu eng, zu blödsichtig«. Der deutschen Provinz und ihren Kleinbürgern fehle eben das »große Theater des Lebens«, das eine Voraussetzung für ein wirklich freies Lustspiel sei.
So weit hätte Schiller sicherlich zugestimmt. Auch er beschwert sich in Ueber das gegenwärtige teutsche Theater drei Jahre später über die allgemeine Unbildung von Dichter, Publikum und Schauspielern. Über den Begriff eines idealen Schauspieles hätte man sich vielleicht noch einigen können: Für Wezel ist es ein »Gemälde des menschlichen Lebens in seinem ganzen Umfange« und beruht auf der »Menschenkenntniß« des Dichters; Schiller sieht in ihm einen »offenen Spiegel des menschlichen Lebens«. Komischerweise jedoch ergeben sich daraus bei beiden durchaus verschiedene Konsequenzen. Wezel nämlich verwirft, sozusagen in Vorwegnahme klassischer Konzepte zur Kunstautonomie, jegliche Verpflichtung dieses dramatischen Gemäldes auf moralische Erziehungszwecke. Der dramatische Dichter als »Maler der Sitten« liefere eben keine »dramatisierte Moral«, keinen »Tugendspiegel«, sondern lediglich ein »schönes Werk«, das auch, wenn es unschöne Gegenstände zeige, schön gezeichnet sein müsse, um »zu gefallen und zu ergötzen«. Für Schiller hingegen ist die Schaubühne bereits zu einer »Schwester« der »Moral« und — nur »furchtsam wagt« er »die Vergleichung« — sogar der Religion avanciert. Einen expliziten Bildungsauftrag wird er ihm dann in der 1784 in Mannheim gehaltenen Vorlesung mit dem Titel Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? zuschreiben: »Die Schaubühne ist die Stiftung, wo sich Vergnügen mit Unterricht, Ruhe mit Anstrengung, Kurzweil mit Bildung gattet«? Tatsächlich ist Wezel natürlich kein Vertreter einer Kunstautonomie im daß das menschliche Leben eben nicht ausschließlich durch die Brille der Moral betrachtet werden muß, sondern die grundlegende Frage auch für den dramatischen Dichter ist, »welche Seite der Welt“ er seinen Zuschauern zeigen will. Und Schiller bleibt bis in seine späteren ästhetischen Theorien der moralischen Verpflichtung der Kunst treu; ihre ethische Wirkung ergibt sich dort allerdings nur vermittelt über die »ästhetische Erziehung des Menschen« und nicht über Moralpredigten in den künstlerischen Werken selbst.
Doch auch im dramatischen Fach — dem einzigen, in dem sich die literarische Tätigkeit des Hauptberufs-Epikers Wezel mit dem des auf Lyrik und Dramatik spezialisierten Schiller überschneidet — sollten sich die beiden gescheiterten Theaterdichter schnell voneinander entfernen. Wezels erstes und einziges Trauerspiel, der Graf von Wickham aus dem Jahr 1774, zehrte immerhin noch ebenso wie zehn Jahre später Schillers Kabale und Liebe (1784) von der Lessingschen Tradition des bürgerlichen Trauerspiels. Doch seine von 1778 bis 1787 veröffentlichten Lustspiele haben kaum etwas mit den Geschichtsdramen Schillers gemein, die ab 1799 Schlag auf Schlag erscheinen. Auch hier machen sich neben den großen Persönlichkeitsunterschieden die zwölf Jahre Differenz in der literarischen Entwicklung Deutschlands und den damit verbundenen ästhetischen Maßstäben bemerkbar. Werls Komödien bleiben, wie sein Erfolgswerk Herrmann und Ulrike, trotz aller zitierten Klagen auf deutschem Boden, in der deutschen Provinz; sie zeigen Familienkonflikte, realistische Gestalten, alltägliche Situationen. Schiller hingegen, kurzzeitig inzwischen zum Professor für Geschichte in Jena avanciert, begibt sich in die Vergangenheit, sucht die heroischen Gestalten, die großen tragischen Konflikte, das zugespitzte historische Ereignis; die nach diesen Kriterien ausgewählten Stoffe entsprechen ungleich besser der gemeinsam mit Goethe entwickelten klassischen Poetik der Idealisierung.
Wezel, das sahen schon die Zeitgenossen so, blieb also nicht nur Realist, sondern tendierte sogar häufig zur Karikatur und zur Satire. Immerhin hätte er Schiller damit als Modell für seine Theorie des satirischen Dichters dienen können, wie dieser sie in Über naive und sentimentalische Dichtung (1795) entwickelt. Satirisch sei der Dichter, so heißt es dort, »wenn er die Entfernung von der Natur und den Widerspruch der Wirklichkeit mit dem Ideale zu seinem Gegenstande macht«. Dies könne er sowohl ernsthaft wie auch komisch betreiben; dadurch entstehe im ersten Fall die »strafende«, im zweiten die »scherzhafte« Satire. Als nachahmenswerte Beispiele für die strafende Satire nennt Schiller Juvenal, Swift (da hätte ihm Wezel wohl zugestimmt), Rousseau und Haller; die scherzende Satire finde sich schön ausgeprägt bei Cervantes, Fielding und Wieland (auch hier wäre Einigkeit zu erzielen gewesen). Als Satiriker abzulehnen hingegen, so Schiller, sei Voltaire: Bei ihm sei unter all dem Spott — den er als witziger Kopf virtuos beherrsche — leider überhaupt kein Ernst mehr zu finden; und, was noch schlimmer sei, auch kein Gefühl. Nicht etwa das Leiden am Ideal, sondern die »Armut des Herzens« hätten ihn zum Satiriker gemacht.
An dieser Stelle wäre nun höchstwahrscheinlich wieder ein Streit ausgebrochen. Wezel hat immer wieder versucht, Voltaire gegen die Invektiven deutscher Autoren, besonders des Sturm und Drang, zu verteidigen: »Warum bedenken sie nicht, daß keiner unter ihnen Voltärens Fehler begehen kann? Er begehe sie; und er wird unserer Nation Ehre machen«, heißt es polemisch zugespitzt in einer seiner Rezensionen für das Deutsche Museum. Und vielleicht hatte Wezel ja den Schiller der Räuber vor Augen, als er im zweiten Teil des Versuch über die Kenntniß des Menschen die Theorie aufstellte, daß für das ästhetische Wohlgefallen nicht etwa abstrakte Gesetze oder objektivierbare Gründe ausschlaggebend seien, sondern die subjektive Disposition und momentane Verfassung desjenigen, der ein ästhetisches Urteil fällt. Sein Beispiel dafür ist nichts anderes als Voltaires La Pucelle d'Orleans; ein satirisches Versepos, in dem die uneheliche Tochter eines Gastwirts als Jungfrau von Orleans figuriert: »Die Pucelle von Voltaire gefällt keinem ernsthaften Manne von schlichtem Menschenverstande, keinem empfindsamen Frauenzimmer; weil ihr Geist keine ähnliche Stimmung hat, weil die Ideen der Liebe mit ganz andern Empfindungen bey ihnen verbunden sind«. Das letztere war zweifellos bei Schiller, dem späteren Autor einer eigenen, so ganz anderen Jungfrau von Orleans, der Fall. Voltaire, so hätte Wezel wohl argumentiert, war einfach ein anderer Charakter als Schiller, aber deshalb doch kein schlechterer Dichter!
Allerdings steht zu vermuten, daß Schiller über Wezel ähnlich wie über Voltaire geurteilt hätte. Schlimmer noch, er hätte ihn auch als Beispiel des »gemeinen Satirikers« verwenden können, dem die geballte Verachtung des Idealdichters Schillers in Über naive und sentimentalische Dichtung gilt. Der »gemeine Satiriker« nämlich verspotte die Wirklichkeit nicht aus einem unbefriedigten glühenden »Trieb für das Ideal« — nach Schiller der Voraussetzung für sämtliche sentimentalische und damit moderne Dichtung überhaupt sondern aus verletztem Selbstgefühl, aus Verbitterung, aus Ressentiment. Aus diesem nur subjektiven Widerstreit der persönlichen Neigungen und Bedürfnisse mit dem objektiven Lauf der Welt in der Satire erwachse jedoch ein »unreines und materielles Pathos« sowie eine »peinliche Befangenheit des Gemüts«.
Ob Wezel darin sich — oder einige seiner satirischen Gestalten — wohl wiedererkannt hätte? Tatsächlich hat es seiner Rezeption wahrscheinlich geschadet, daß er so gar nicht "fürs Herz« geschrieben hat, und daß er auch über sein eigenes Gefühls- und Liebesleben so konsequent Stillschweigen bewahrt hat; nicht eine einzige Affäre, noch nicht einmal eine Schwärmerei für eine berühmte Schauspielerin oder auch nur eine Hauptmannswitwe sind der Nachwelt überliefert. Im Jahr 1782, als Schiller eine ebensolche Hauptmannswitwe zum Vorbild seiner schwärmerischen Laura-Gedichte macht, erscheint Wezels Wilhelmine Arend, eine gnadenlose Abrechnung mit dem empfindsam-übersteigerten Liebesideal der Zeit. Gut vorstellbar wäre es, daß einer von Wilhelmines dümmlichen Anbetern die Anfangsverse von Schillers Jugendgedicht Die seligen Augenblicke rezitierte: »Laura, über diese Welt zu flüchten / Wähn ich — mich in Himmelmaienglanz zu lichten, / Wenn dein Blick in meine Blicke flimmt, / Ätherlüfte träum ich einzusaugen / Wenn mein Bild in deiner sanften Augen / Himmelblauem Spiegel schwimmt«. Schiller hingegen hat die Herzen des Publikums bereits seit seiner reichlich theatralisch-abenteuerlichen Flucht von Stuttgart nach Mannheim auf seiner Seite. Auch seine schwere, schmerzhafte und langwierige Krankheit macht ihn letztlich sympathischer als Wezels diffuser und umstrittener Wahnsinn — der in diesem Falle noch nicht einmal, wie bei Hölderlin, zur Verklärung als wahnsinnigem Genie beitrug. Der Grund dafür ist offensichtlich psychologischer Natur: Während Wezels Wahnsinn für die ungnädige Nachwelt nur die sozusagen verdiente Konsequenz seiner vorgeblich menschenfeindlichen und aus Verbitterung erwachsenen Werke war, beglaubigte er im Falle Hölderlins umgekehrt gerade die idealistisch-weltfernen Tendenzen des literarischen Werks — der eine ein wahnsinniges Genie, der andere nur ein armer Irrer.
Resümieren wir. Trotz einiger zeittypischer Parallelen in den Lebensläufen und eines großen Unterschiedes in der wankelmütigen Gunst der Fortuna ist es wohl eine Art grundlegender ästhetischer Aversion, die eine Kontaktaufnahme oder auch nur eine gegenseitige Wahrnehmung als Dichter verhindert. Diese Abneigung ist zum einen ein Resultat der zeitlichen Phasenverschiebung — Wezel bleibt in den Grund Zügen seiner Philosophie und seiner Literaturauffassung der Aufklärung verschworen, Schiller hingegen orientiert sich zunehmend an den neuen Theorien des philosophischen Idealismus und entwickelt daraus seine eigene klassische Ästhetik. Dieser dient die aufklärerische Dichtungsauffassung zwar in einigem durchaus noch als Feindbild (siehe die Kritik des »gemeinen Satirikers«) —, insgesamt jedoch versucht man, sie für nicht mehr satisfaktionsfähig zu erklären. Wezel hingegen ist ein strenger Kritiker der neuen Dichtungsauffassung des Sturm und Drang; die idealistische Wende Schillers kann er schon nicht mehr verfolgen.
Viel spricht allerdings dafür, daß er sie verurteilt hätte. Das deutet sich schon in der prinzipiellen Unterscheidung des Idealisten und des Realisten in der Dichtung an, die Wezel in seiner Oberon-Rezension in der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste ausführt. Idealisten, so Wezel, würden sich so gern als »kleine Schöpfer« aufführen, da sie sich für kategorisch nicht durch die Naturgesetze gebunden erklärt hätten. Deshalb jedoch müßten ihre Charaktere allerdings »Giganten im Guten und im Bösen seyn; denn auf einem Schauplatze, wo alles unnatürlich zugeht, machten natürliche Menschen eine sehr schlechte Figur«. Wezel schreibt dies im Jahr 1781; Schillers Räuber, in denen er in den Brüdern Karl und Franz Moor das Laster »in seiner kolossalischen Größe« »vor das Auge der Menschheit« gestellt hat (so Schiller selbst in der Vorrede), ist im gleichen Jahr im Selbstverlag erschienen. Die Realisten hingegen, so Wezel weiter, richteten sich zwar »bey der Verknüpfung der Ursachen und Wirkungen ganz nach dem Gange des menschlichen Lebens«. Gleichwohl seien sie nicht weniger Schöpfer, da sie die Wirklichkeit nur als Modell benutzten, das sie im Hinblick auf größere »poetische Wirkung« natürlich zuspitzen und poetisch gestalten müßten. Hier gibt Wezel ganz offensichtlich ein Selbstbild von sich als Schriftsteller; und es sollte nicht überlesen werden, daß er dabei nicht nur auf die Wirklichkeitsnähe realistischer Dichtung, sondern ebenso auf die Notwendigkeit poetischer Gestaltungskraft verweist. Im 19. Jahrhundert wird dieses Realismus-Konzept unter dem Titel des »poetischen Realismus“ als literarisch innovativ von berühmten Autoren vertreten werden.
Die gleiche Unterscheidung von Idealisten und Realisten verwendet, 14 Jahre später, Schiller in seiner Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung; und es ist typisch für die (Nicht-)Parallelbiographie, daß er, und nicht Wezel, gemeinhin als Begründer dieser Dichotomie in ästhetischer Hinsicht gilt. Schiller allerdings verbindet mit dem Idealisten nicht mehr den Feendichter und Freund des Wunderbaren, der Wezel mit Wieland vor Augen schwebt; vielmehr ist der Idealist bei ihm, streng nach Kant, derjenige, der sich nur der absoluten Gesetzlichkeit der Vernunft unterwirft und deshalb moralisch frei von allen sinnlichen Beschränkungen denkt und handelt. In der Literatur entspricht ihm der sentimentalische Dichter in seiner Reinform; sein übertriebenes Extrem ist der »Phantast«, der nur den Launen seiner Einbildungskraft gehorcht (und der damit schon eher Wezels Idealisten entsprechen würde). Der Schillersche Realist hingegen anerkennt nur die Notwendigkeit der Natur und die daraus resultierende strenge Kausalität von Ursache und Wirkung; in der Poesie entspricht ihm, wiederum in der Reinform, der naive Dichter. Die Abform ist hier der »gemeine Empiriker« (offensichtlich ein Verwandter des »gemeinen Satirikers“), der sich bedingungslos der Natur unterwirft. Es wäre ein tröstlicher Gedanke, daß Schiller Wezel bei etwas eingehenderer Betrachtung des Gesamtwerks, unter Einschluß der philosophischen und pädagogischen Werke, wenigstens als Realisten (und nicht als »gemeinen Empiriker«) hätte durchgehen lassen. Aber da der Idealtypus des wahren Realisten für Schiller schon mit Goethe in nicht mehr überbietbarer Weise besetzt war, wäre wohl Wezel wieder nur der Platz der »Karikatur« des Ideals beschieden gewesen.
Daß bereits die Zeitgenossen damit begonnen haben, Schiller und Wezel in zwei unterschiedliche Schubladen mit den Aufschriften »Idealisten« und »Realisten« zu packen, möge ein Rezeptionszeugnis belegen. In Johann Adam Bergks Die Kunst Bücher zu lesen aus dem Jahr 1799 heißt es im Kapitel »Bemerkungen über einige Romanenschriftsteller« zunächst über Schiller (allerdings nur über sein nicht gerade üppiges Romanschaffen; aber das Urteil kann wohl auch als Gesamturteil durchgehen): »Sein Geist ist ein gewaltiger und unbeschränkter Herr seiner Stoffe. Er dringt gebieterisch in das Reich der Gedanken ein, und eröfnet hier und da neue Aussichten. Er arbeitet stets nach Idealen, ringt und kämpft mit den Hindernissen, die ihrer Erreichung im Wege stehen; aber der Sieg krönt allenthalben sein Unternehmen; er herrscht, wo er den Fuß hinsezt. Schillers Räsonnements sind scharfsinnig und oft originell, seine Darstellung ist lebendig und geistreich, seine Charaktere sind kraftvoll und richtig gezeichnet. Allenthalben charakterisirt seine Werke Energie und Reichthum an Gedanken, wenn er auch diese manchmal ins Dunkele verhüllt. Er ist ernst und feierlich; er hängt nicht an Begriffen, sondern schwingt sich auf den Flügeln von Ideen gen Himmel empor, und sein Geist trägt daher mehr den Charakter des Erhabenen, als des Schönen«. Über Wezel weiß Bergk hingegen zu berichten: »Wezels Schriften scheinen vergessen zu seyn, ob sie gleich dies Schicksal nicht verdienen. Er ist gedankenreich, lebhaft, und oft originell in seinen Darstellungen. Er gießt eine bittere Lauge über die Thorheiten und Laster der Menschen aus, und erquickt dadurch das Herz, das Tugend liebt. Er kennt den Menschen, ob er ihn gleich oft nur in seinen Abweichungen vom Pfade der Natur schildert, und er ist in dem Gewirre des menschlichen Lebens bewandert. Er züchtigt die Affengesichter, die stolz auf Einbildungen sind, und die sich von Narrheiten und lächerlichem Dünkel nähren«. Während Schiller also »nach Idealen« arbeitet und sich auf den »Flügeln von Ideen gen Himmel« erhebt, bleibt Wezel am Boden und folgt den real existierenden »Thorheiten und Lastern« der Menschen. Deshalb wirkt Schiller erhaben, Wezel hingegen satirisch. Immerhin gesteht Bergk seiner Satire hier jedoch zu, nicht nur 'gemeine Satire« im Schillerschen Sinne zu sein, sondern gerade durch seine Verbitterung zu einem Herzen, »das Tugend liebt«, sprechen zu können.
Seltsamerweise jedoch finden sich in Bergks Charakteristik auch eine ganze Reihe Gemeinsamkeiten: Gedankenreich und originell sind sie beide, der Idealist Schiller wie der Realist Wezel; Schillers Darstellung ist »lebendig«, die Wezels »lebhaft«; Schillers Charaktere sind »richtig gezeichnet«, Wezel »kennt den Menschen«. Diese Übereinstimmungen, trotz aller ästhetischen Differenzen, zeigen ein letztes Mal, wo denn doch das Verbindende der (Nicht-)Parallelbiographien in bezug auf das literarische und sonstige Schaffen liegen könnte. Schiller und Wezel sind in hohem Maße selbständige Denker und selbständige Dichter, in hohem Maße auch Autodidakten. Beide haben sich nicht auf das Feld der schönen Literatur beschränkt, sondern nach vielen Richtungen darüber hinausgeblickt: auf die Geschichte und die Philosophie, die Pädagogik und die Ästhetik der Zeit. Und beide durchaus innovativ in ihren poetischen Schöpfungen: Weder das Schillersche Geschichtsdrama noch die »bürgerliche Epopee« von Herrmann und Ulrike haben ein unmittelbares Vorbild; weder Schillers philosophische Gedichte noch Wezels Kakerlak lassen sich eindeutig in eine Gattungstradition stellen. Und sie haben ihre einmal erreichten Positionen auch mit Verve verteidigt und den Streit durchaus nicht gescheut; das zeigen Wezels wiederholte publizistische Fehden ebenso wie Schillers früher Affront der literarischen Welt in den Räubern und der gemeinsame Literatur-Krieg mit Goethe in den Xenien.
Letztlich ging es Wezel und Schiller — und insofern sind sie ihren anthropologischen Interessen treu geblieben — immer wieder aufs neue um den Menschen, seine Entwicklungs- und Erziehungsmöglichkeiten vor allem; und Wezels pädagogisches Projekt der Geschmacksbildung ist zumindestens in der Intention gar nicht so weit von Schillers Programm ästhetischer Erziehung entfernt. Das zeigt eine letzte weitere, wenn auch winzige Parallele. In Wezels letztem Roman, dem vielfach verschlüsselten und anspielungsreichen Kakerlak bricht die faustisch inspirierte Titelfigur nach abenteuerlichen Reisen durch die sichtbare und unsichtbare Welt und ebenso abenteuerlichen Experimenten mit der eigenen Seele am Schluß eine Lanze für die ganz und gar unfaustische Beschränkung. Kakerlak zieht sich zurück in die Welt seiner Bibliothek, zu seinen geliebten Büchern; und er verteidigt sich mit folgenden Worten: »ihr [die Bücher] seid zwar auch nur Spiele mit Gedanken, wie andere mit Würfeln oder gemalten Blättern spielen, aber doch edlere Spiele des Geistes. Das ganze Leben ist ein Spiel. Das Kind spielt mit Puppen oder Trommeln, der Jüngling mit Hunden und Pferden, das Mädchen mit der Liebe, mit Stoffen und Bändern, die Großen mit Soldaten, Sternen, Stammbäumen, Ordensbändern, die Kleinen mit Titeln, Männer und Weiber mit Karten, Würfeln und Kegeln, der Weise mit Gedanken und Empfindungen. Wenn alles spielt, warum sollt ich allein es nicht Wenn er nur ein paar Jahre gewartet hätte, hätte er auch einen der berühmtesten Sätze Schillers zitieren können: »Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt«, wird es in Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795) heißen.
Zwei gegnerische Spieler also, die sich aber doch zuweilen für ein gemeinsames Match auf dem fiktiven Spielfeld der Literatur treffen? Vielleicht trifft ja doch die Charakterisierung, die Schiller dem Idealisten und dem Realisten in bezug auf ihr Verhältnis zum Menschen und zur Menschheit insgesamt angedeihen läßt, auch ein wenig die Gemeinsamkeit und den Unterschied zwischen ihm und Wezel: »Jener [der Realist] beweist sich als Menschenfreund, ohne eben einen sehr großen Begriff von den Menschen und der Menschheit zu haben; dieser [der Idealist] denkt von der Menschheit so groß, daß er darüber in Gefahr kommt, die Menschen zu verachten«. Letztlich kann jedoch Lektüre beider Autoren, in ihren jeweiligen Stärken und Schwächen das ganze Bild des Menschen und seiner Menschheit ergeben.
Eifersüchtige Türken, eifersüchtige Despoten,
eifersüchtige Eheleute -
zum Problem der Eifersucht bei Wezel
Beginnen wir mit dem nächsten Verwandten der Eifersucht, beginnen wir: mit dem Neid. Denn für Johann Karl Wezel beginnt beinahe alles auf der Welt, jedenfalls sofern es den Menschen in Gesellschaft betrifft, mit dem Neid:
Nach des Verfassers Theorie sind Neid und Vorzugssucht die zu allen Zeiten, an allen Orten, in allen Ständen der Menschheit und Gesellschaft, bey allen Charakteren allgemeinsten Triebfedern der menschlichen Natur und die Urheberinnen alles Guten und Bösen auf unserm Erdballe.
So schreibt Wezel bereits 1776 in seinem Roman Belphegor, der die Welt definitiv von der schlechtestmöglichen Seite zeigt und dabei beweist, welche Verwüstungen der Neid anrichten kann. Allerdings, und das ist Wezels genuin eigener Beitrag zur Neid-Debatte des späten 18. Jahrhunderts, sieht er den Neid nicht vollständig negativ; vielmehr schreibt er in seiner großen, unvollendeten Grundlagenschrift, dem Versuch über die Kenntniß des Menschen, knapp zehn Jahre später:
An allen großen und kleinen Veränderungen der Welt hatte der Neid Anteil, und die Tätigkeit auf unserm Planeten würde sich sehr vermindern, wenn wir nicht bei den Vorzügen anderer einen kleinen Ärger empfänden.
Die Formulierung ist exakt die gleiche, die im 18. Jahrhundert zur Rechtfertigung des guten Enthusiasmus (im Gegensatz zur schädlichen Schwärmerei, dessen nächster Verwandten) verwendet wird: Nichts Großes auf der Welt geschähe ohne ihn. Der Neid ist also eine Art negative Antriebskraft, die tief im menschlichen Wesen verwurzelt ist und zweifellos großen Schaden anrichtet; aber ohne ihn bliebe der Mensch eine träge Masse, unbewegt von Leidenschaften und Begierden. Deshalb schränkt Wezel ein:
Aber eine solche Empfindung [des Neides] muss mit dem wahren Wert des beneideten Gegenstandes und mit der Möglichkeit, ihn zu erlangen, in genauem Verhältnisse stehen.
Demgegenüber bleibt die Eifersucht vor allem theoretisch unterbelichtet. Häufig tritt sie mit dem Neid unspezifisch vergemeinschaftet in Aufzählungen auf; im Versuch über die Kenntniß des Menschen, in dem der "Neid" eines der Hauptkapitel in der Affektenlehre ist, bekommt sie kaum ein paar Seiten (dazu später). Gleichwohl durchziehen Eifersuchts-Motive und Handlungen aus Eifersucht sein gesamtes Genre und präsentieren dabei durchaus eine gewisse Spannweite des Begriffs und Phänomens, vor allem in Bezug auf sein Objekt, aber auch im Blick auf seine psychologischen Ursachen, Verlaufsformen und Probleme. Ich werde im Folgenden deshalb zunächst ausgehend von Wezels Romanerstling Tobias Knaut einige Grundzüge von Wezels Theorie der Eifersucht in Verbindung mit dem Neid behandeln (I). Anschließend werde ich kurz auf die kulturgeschichtlich-klimatheoretische Variante eingehen, wie sie sich im Versuch über die Kenntniß des Menschen findet (II). Im dritten Teil geht es um die Eifersucht im kulturellen und wissenschaftlichen Bereich; im vierten die erotische Eifersucht als Intrigenmotiv im Roman. Der Schwerpunkt wird jedoch auf einer genaueren psychologischen Analyse der Eifersucht in seinem späten Roman Wilhelmine Arend sowie einem seiner Lustspiele, bei dem die Eifersucht im Zentrum steht, nämlich Ertappt! Ertappt!, liegen.
I. Neid und Eifersucht als vis obtrectatoria im Tobias Knaut
In Wezels erstem Roman, der vierteiligen Lebensgeschichte Tobias Knauts des Weisen, sonst der Stammler genannt, findet sich im ersten Band eine sehr originelle und etwas verzwickt-satirische Definition von "dieser Eifersucht, dieser Neid, oder wie man es nennen will": Der Autor rechnet sie
beiläufig zu sagen, unter die physischen Kräfte der Seele […] wovon das wißbegierige Publikum in der nächsten Ausgabe meiner Pneumatologie gleich nach der vis inertiae der menschlichen Seelen ein eignes lesenswürdiges Kapitel mit der Aufschrift: vis obtrectatoria, und darinnen eine Erklärung finden wird, ohngefähr auf den Schlag, wie Cartesius die magnetischen Kräfte erklärt.
Neid und Eifersucht werden hier also nicht genau abgegrenzt, aber beide als "physische" Seelenkräfte kategorisiert; diese Auffassung wird noch unterstrichen dadurch, dass sie mit der von Newton entdeckten Trägheitskraft (vis inertiae) sowie Descartes' Theorie des Erdmagnetismus (in Prinzipien der Philosophie) verglichen werden. Eifersucht bzw. Neid werden dabei als vis obtrectatoria verstanden – ein Kunstwort, das man als "schmälernde, verunglimpfende Kraft" übersetzen könnte –, also als aktive Kräfte, die die "Lungen und Zungen" der schmälernden Personen in Bewegung setzen und dadurch der Trägheit entgegenarbeiten. Allerdings wird dieser physikalische Bezug dadurch satirisch unterlaufen, dass der Vergleich mit Descartes eine durchaus zweifelhafte Ehre ist: Descartes Lehre vom Erdmagnetismus ist hochspekulativ (und sachlich falsch); Descartes selbst rechtfertigt sich am Ende des langen Kapitels mit bemerkenswerter Spitzfindigkeit:
Deshalb werden Die, welche bemerken, wie Vieles hier über den Magneten, das Feuer, die ganze Einrichtung der Welt aus wenigen Prinzipien hergeleitet worden, selbst wenn sie meinen, dass ich diese Prinzipien nur auf das Gerathewohl und ohne Grund angenommen hätte, doch vielleicht anerkennen, dass doch kaum so Vieles so zusammenstimmen könnte, wenn es falsch wäre.
Ebenso ist die herbeizitierte Pneumatologie weit davon entfernt, eine harte Naturwissenschaft zu sein; behandelt sie doch als theologische Wissenschaft vom Heiligen Geist ein ebenfalls hochspekulatives Thema, von dem "physisch" wenig wissbar ist! Insgesamt changiert die Passage damit zwischen anthropologischem Universalanspruch – Neid und Eifersucht sind Grundkräfte der menschlichen Seele und wahrscheinlich physisch, im Sinne von: körperlich, erklärbar; wer jedoch daraus eine exakte Wissenschaft machen will, wird enden wie die Pneumatologen.
II. Der eifersüchtige Türke
Ebenfalls bereits im Tobias Knaut taucht die Formulierung auf, ein Ehemann sei "eifersüchtiger […] als ein Türke". Im Versuch über die Kenntniß des Menschen wird die Eifersucht vor allem unter diesem mentalitätsgeschichtlichen und klimatheoretischen Gesichtspunkt betrachtet; es heißt dort im Kapitel über die Scham:
Im den heißen Morgenlande erzeugte nächst andern Ursachen auch der Ungestüm des Affekts die Vielweiberey, beides die Eifersucht, und alles dieses zusammen die Einsperrung der Weiber: der eifersüchtige Despot gönnte Andern nicht einmal den Anblick des Gegenstandes, den er liebte.
Beide Formulierungen, die vom eifersüchtigen Türken und vom eifersüchtigen Despoten, sind im 18. Jahrhundert und auch noch später sprichwörtlich. Beide eint, dass sie von hitzigen Affekten getrieben werden, die ihr klimatheoretisches Äquivalent in der Hitze des Orients finden; und so, wie der Despot eifersüchtig über seine Alleinherrschaft im Staat wacht, behütet der Ehemann eifersüchtig seine private Herrschaft über seinen Serail. In beiden Fällen kann man insofern auch nicht von Neid sprechen; die Grundlage der Eifersucht ist hier vielmehr ein habituell gewordener Argwohn, verbunden mit einem starken ideologisch verfestigten Eigentumsanspruch und einer mangelnden Affektkontrolle, und ihre negativste Ausformung schlechthin der Despotismus.
III. Die Eifersucht der schönen Geister
Ein anderes, nunmehr eher positiv besetztes Objekt der Eifersucht scheint kurz in einigen Essays Wezels und in seiner Gelehrtensatire Silvans Bibliothek auf. In der Satire beschreibt Wezel zunächst die wissenschaftliche Konkurrenz generell als Tummelplatz von "Verachtung, Neid, Eifersucht und Zänkerei"; also auch auf diesem Bereich haben Neid und Eifersucht eher negative Konsequenzen. Demgegenüber kann die Eifersucht hier aber auch Gutes wirken, nämlich wiederum als Antriebskraft. In Über Sprache, Wissenschaft und Geschmack der Teutschen beschreibt Wezel den Rückstand der deutschen Nation gegenüber der Leitkultur Frankreich mit folgenden Worten:
wir waren damals noch zu schwach, um ihnen zu folgen, und itzt im Jünglingsalter der Nation hätte uns ihr ermunterndes Beispiel und die Eifersucht gegen sie gefehlt, die beide nüzliche Dienste thun.
Und ganz ähnlich heißt es über Leibniz in einer Rezension:
aber ein großer Kopf nützt meist mehr durch die Begriffe, die er veranlaßt, als die er lehrt, und noch mehr durch sein Beyspiel, durch den Neid, die Eifersucht, die Nacheiferung, die Nachahmungsbegierde, die er durch seine Größe und seinen Ruhm aufweckt.
Hier wird damit eher der positive Aspekt des "Eifers" aktiviert: Gute Beispiele können nicht nur Neid auslösen, sondern auch zur Nach-"eiferung" aktivieren; in diesem Fall stehen also die Empfindung von Neid oder Eifersucht mit dem "wahren Wert" des Gegenstandes im richtigen Verhältnis.
IV. Eifersucht als Motor der Intrige
Als klassischen Intrigenmotor verwendet Wezel die Eifersucht vor allem in seinen Romanen. Im Belphegor ist besonders auffällig, dass die Eifersucht sogar Freunde entzweit. Sowohl in seinen politischen Unternehmungen wie auch als Liebhaber von Akanthe konkurriert Belphegor mit Fromal. Und Fromal gesteht Belphegor ganz am Ende ein:
ICH war es – ich gestehe dieß, Freund – ICH war es, der Akanten antrieb, Dich aus ihrer Liebe und ihrem Gesichte, obgleich nicht mit der gebrauchten Härte, zu verbannen: allein die Liebe riß mich hin; sie überwältigte meine Freundschaft für Dich so ganz, daß ich Dich unmöglich ohne Neid in ihren Umarmungen die süßeste Wohllust genießen sehen konnte: die Freundschaft kämpfte wider die Eifersucht, und ich war blos ihr Tummelplatz.
In der politischen Idealkonkurrenz von Belphegor und Fromal wirkt ein dritter Herrscher als typischer Intrigant mit, der "Belphegors gährende Eifersucht" mit Gerüchten, Lügen und inszenierten Zwischenfällen anfeuert. In Belphegor kämpfen dabei "Neid, Eifersucht, Zorn, Ehrbegierde, Rechtschaffenheit" in bunter Mischung miteinander, bevor schließlich die Eifersucht obsiegt; seine ausgeprägte Einbildungskraft tut das übrige, so dass Belphegor schließlich gegen den Freund zu Felde zieht.
Eine Fülle weiterer Liebesintrigen findet sich auch in Wezels erfolgreichstem Roman, Herrmann und Ulrike. In ihm tritt mit Vignali auch eine klassische weibliche Intrigantin auf, die bezeichnenderweise von Adel ist. Ihr Versuch, die beiden Titelhelden auseinanderzubringen, scheitert aber letztlich an deren wahrer – und am Ende eminent bürgerlicher – Liebe und bewirkt sogar das Gegenteil, indem sie die Hochzeit befördert.
In all diesen Fällen führt Wezel relativ offen vor, wie Intrigen wirken: Erst muss ein vielleicht schon schlafender Argwohn geweckt werden, der dann durch ein Gespinst aus Lügen, Halbwahrheiten und geschickten Inszenierungen geschürt wird (die Feuer-Metaphorik ist hier meist dominant); dazu erscheinen höfische Protagonisten besonders geeignet. Die psychologische Dimension bleibt in den früheren Romanen jedoch meist eher schwach belichtet.
V. Eifersucht als gestörte Kommunikation und Vertrauensverlust
Genauer mit der Eifersucht als "physischer" Leidenschaft befasst sich Wezel dann in seinem letzten Roman, Wilhelmine Arend oder die Gefahren der Empfindsamkeit. Der empfindsamkeitskritische zweibändige Roman zeichnet ein einfühlsames Porträt seiner Titelheldin, der zu einer krankhaften Melancholie neigenden Wilhelmine Arend, die sich am Ende derart in ihre Empfindsamkeit hineinsteigert, dass sie jeden Kontakt zur Außenwelt verliert und sich selbst zu Tode hungert. Wilhelmine Arend ist jedoch nicht nur übertrieben, ja krankhaft hypersensibel, sondern ein wesentlicher Faktor ihrer Krankheitsgeschichte ist ihr ebenso starke Einbildungskraft; und beides wirkt auch auf fatale Weise zusammen, um sie in eine ebenso krankhafte Eifersucht hineinzutreiben. Nun gilt diese im Roman nicht ihrem Ehemann (der sie tatsächlich offen und schamlos betrügt), sondern ihrem empfindsamen Freund und späteren zweiten Ehemann Webson. Als sie diesen verdächtigt, einer anderen Frau zugeneigt zu sein (er hatte ihr aber nur eine anti-empfindsame Predigt gehalten), steigert sie sich in einen auch körperlich bedrohlichen Zustand hinein, den Wezel genau beschreibt:
Ihre Einbildungskraft schuf sich ein Fantom von dieser verhaßten Andern, die ihr den Abgott ihres Herzens rauben wollte; sie sah das eingebildete Gespenst vor Freude grinzen, hohnlacheln und über die gelungene Eroberung triumfiren; sie erblickte in seinem Gesichte alle Bewegungen der Schadenfreude und des Neides, der das tückische Geschöpf angetrieben hatte, ihre und Webson’s Freundschaft durch Ohrenbläsereyen, Anschwärzungen und Lügen zu stören; sie sahe diesen Treulosen schon an der Seite seiner neuen Freundin, seine Arme um ihren Hals geschlungen; sie horte die Küsse, die er auf ihre Lippen drückte, die zärtlichen Worte, die Seufzer und Thränen, die den beiden Glücklichen von ihrer überwallenden Empfindung ausgepreßt wurden. Die Frau, die bisher von Jedermann Gutes dachte und alle Beleidigungen mit der größten Friedfertigkeit vergab, verwandelte sich durch die Eifersucht so plözlich, daß sie Argwohn auf Argwohn häufte und in Webson’s kleinsten Handlungen schon lange vor dem heutigen Vorfalle Anzeigen von einer geheimen Neigung zum Freundschaftsbruche fand: der Unwille über eine so ausgezeichnete Treulosigkeit benahm ihr alle Kräfte und verfinsterte ihre Sinne: ein Schwindel drehte alles vor ihren Augen im Wirbel herum und erfüllte ihre Ohren mit einem dumpfen Brausen: sie schwankte mit anklammernden Händen von Stuhl zu Stuhl, von Wand zu Wand nach dem Bette hin: eine unaussprechliche Angst klemmte ihre Brust zusammen, in den Adern glühte Feuer, und alle Glieder zitterten vor Frost: ihre Traurigkeit und ihr Unwille hatten weder Thränen noch Worte; nicht Einen Laut vermochte ihre Zunge aufzubringen.
Die erotische Eifersucht wird hier als übermächtige Leidenschaft beschrieben, die nicht nur für alle Argumente der Vernunft unzugänglich macht, sondern gar persönlichkeitsverändernd wirkt; das alles wird noch verstärkt durch die starken körperlichen Begleitsymptome, die den Betroffenen aller Sinne berauben und ihn eine psychische Extremsituation versetzen. Die Eifersucht findet in Wilhelmine Arend zudem ein williges Opfer, da sie sich gleichermaßen nährt von dem Argwohn der ichschwachen Persönlichkeit und der überbordenden Phantasie der Schwärmerin:
meine Gesellschaft ist weder unterhaltend noch lebhaft, das fühl' ich selbst; und gleichwohl kan ich ihn unmöglich in andere Gesellschaft gehen lassen oder sie mit ihm besuchen. Wenn ihm nun eine Andere gefiele, die mehr Schönheit und Anmuth besizt als ich?
Dadurch entwickelt sich die Eifersucht auch hier zur Despotin: Wilhelmine verbietet ihrem Mann jegliche Besuche und verlässt selbst das Haus nicht mehr; was letztlich das beste Mittel ist, um den Umgang beider völlig zu zerstören und immer neue Phantasmen zu erzeugen. Die Eifersucht verbündet sich dann unzertrennlich mit Wilhelmines Melancholie, und beide zusammen bringen sie ins Grab.
Demgegenüber zeigt Wezels einaktiges Lustspiel Ertappt! Ertappt! (1778) eine gelungene Eifersuchtskur. Die Handlung ist schnell skizziert: Herr von Spark ist ein eifersüchtiger Ehemann (der leicht Feuer fängt); er hat seine junge Frau gezielt danach ausgesucht, dass sie eine Unschuld vom Lande ist, von Bildung unberührt und ihm selbst in allem unterlegen und deshalb gehorsam. Um ihre Unschuld nicht in Versuchung zu führen, hat er sogar ausschließlich ältere und körperlich eingeschränkte Männer als Dienstpersonal eingestellt. Im Haushalt lebt zudem eine schwatzhafte Tante, Frau von Tatter, die der jungen Ehefrau als Vertraute dient. Die Handlung kommt nun dadurch in Gang, dass Frau von Spark seit einiger Zeit verdächtige Besuche eines jungen Schönlings, des Herrn von Torst, empfängt, und zwar in Abwesenheit ihres Gatten; nun hat er sogar im Haushalt genächtigt! Am nächsten Morgen nimmt sich Herr von Spark deshalb vor, beide in einer verfänglichen Situation zu – ertappen; er schützt deshalb vor, die militärische Übung eines alten Freundes und Vertrauten von ihm, des Herrn von Feuer, besichtigen zu wollen und plant, später unerwartet in sein Haus zurückzukehren. Es stellt sich jedoch nach einigen Verwicklungen heraus, dass seine Eifersucht völlig unbegründet war; seine Ehefrau hatte den Gast nur empfangen, weil er die Verbindung zu einer unehelichen Tochter ihres Ehegatten hergestellt hatte, die sie nun durch eine Heirat versorgen will. Am Ende ist sie es, die ihren Ehegatten ertappt hat: Er hatte nämlich in seiner wilden Jugend, ebenso wie der Herr von Feuer, kurzzeitig eine "philosophische Ehe" ohne Trauschein praktiziert; aus beiden Verbindungen waren Kinder hervorgegangen, mit denen Frau von Spark nun ihren Ehegatten und seinen Freund konfrontiert – sie ist es also, die ihren Ehemann auf einer Untreue ertappt hat, und dazu auf einer viel schwerwiegenderen als dem von ihm ihr unterstellten Liebesverhältnis! Die Komödie endet jedoch mit dem wiederhergestellten Frieden der Eheleute; der Ehemann ist von seiner Eifersucht kuriert, die Ehefrau hat ihre Vertrauenswürdigkeit eindrucksvoll unter Beweis gestellt, und die beiden jungen Leute dürfen heiraten.
Das Besondere und bisher wenig Gewürdigte an Wezels Einakter ist die durchgehende, konsequente Thematisierung von ungleichen Geschlechterverhältnissen. Schon das Figurenverzeichnis verzeichnet "Mannsfiguren" und "Frauenzimmer" getrennt; und die erste Szene wird eingeleitet von dem wiederholten Stoßseufzer "Ach, die Weiber! die Weiber!" Herr von Spark pflegt anfangs eine Art Generalverdacht gegen alle Frauen: Sie hätten alle "die verdammte List mit der Muttermilch" eingesaugt. Am meisten aber hat er es auf die gebildeten Frauen abgesehen, die vor allem durch die Lektüre von "Romane, Komödien, Poesien und solchen Plunder" vollständig verdorben seien. Seine Ehegattin hingegen wird spiegelbildlich mit dem Stoßseufzer "Ach die Männer! die Männer" eingeführt; sie beklagt vor allem deren Launenhaftigkeit, die sie ständig an ihren Ehefrauen ausließen. Tante von Tatter bestärkt sie darin:
"Weil sie ein bischen mehr Verstand haben, als wir, so bilden sie sich ein, sie sinds: immer wollen wir Unrecht behalten: wir sollen gar keine Leidenschaften haben, immer lachen, immer freundlich sehen und warten, ob die gnädigen Herren etwas zu befehlen haben; und warum sind sie denn beständig wie meines seligen Vaters Wetterglas? … es sind keine häßlichern Thiere in der Welt, als die Männer. … Die Männer sind die Bären, und wir Weiber sind die Bärenhüter. Immer brummen sie."
Und sie steigert sich sogar bis zu der grundemanzipatorischen Forderung:
Was dem Manne Recht ist, ist der Frau billig. Glauben Sie mirs, Engelchen! es ist kein Mann auf der Welt, der seiner Frau treu bleibt.
Die Entwicklung der Eifersucht wird im Folgenden, passend zu den sprechenden Namen der Mannspersonen, durchgehend mit einer militärischen Metaphorik beschrieben. Herr von Feuer hält dem Baron von Spark gleich anfangs seine eigene dunkle Vergangenheit vor:
"Baron! Baron! es trifft doch allemal ein: wer jung hurt, wird mit den Jahren eifersüchtig. Sie sind auch einmal so ein ausstudirter Sünder gewesen; Sie haben selber Minen angelegt: Sie wissen, wie viel Pfund Pulver dazu gehören, wenn man eine sprengen will".
Sein Argwohn gegenüber seiner Frau gründet sich also vor allem auf das mangelnde Vertrauen in seine eigene Sittenfestigkeit; er will sich um jeden Preis "sicher stellen" und erkundigt sich gar bei seinem militärischen Freund:
Lieber Hauptmann, giebt es wohl eine Festung, die noch niemals eingenommen worden ist, oder die niemals eingenommen werden kann?
– worauf der Freund sich sehr zu Recht über ihn lustig macht: "eine fortificirte Frau!", das sei nun schlechthin unmöglich. Den Beweis dafür liefert spätestens das Scheitern seiner an diesem Tag ausgeführten militärischen Übung, der "Zitadelle": Sie ist in Flammen aufgegangen nicht etwa durch den Angriff von außen, sondern eine Schwäche im eigenen Inneren:
Die Höllenbrände haben Feuer in das Pulver kommen lassen, das in meinem Citadellchen stand: - pump! fährt die ganze Pastete in die Luft!
Die Lehre liegt auf der Hand: Wer sich wahrhaft gegen Untreue versichern will, muss mit dem eigenen Inneren beginnen!
Die Ehefrau hingegen, als sie die Eifersucht ihres Ehemannes mit Unterstützung von Tante von Tatter erkennt, fühlt sich vor allem wegen des Vertrauensbruches verletzt:
alles dieses sind mir schon längst Anzeichen von einem Misstrauen gewesen, das mich äußerst kränkt. Ich merke, daß er meine Treue nicht meiner Tugend, sondern seiner Wachsamkeit verdanken will.
Ihre eigene Situation schildert sie ebenfalls in einer durchgängig verwendeten Metaphorik:
"Ich habe bis hieher den Druck geduldig erlitten: aber wenn der Druck mich zu stark zusammenpreßt, (heftig) so will ich ihm auch zeigen, daß ich Spannkraft habe".
Wenig später heißt es:
"Es giebt Grashalme, die desto stärker wieder aufspringen, je stärker der Druck ist, der nie niederbeugte“.
Und nachdem der Ehemann ertappt worden ist, triumphiert sie schließlich:
"Siehst du, mein Männchen? man braucht die Feder nur zu drücken, wenn sie aufspringen soll".
So wie die Eifersucht als militärischer Belagerungszustand geschildert wird, wird die Reaktion des Opfers als physikalisch notwendige Reaktion geschildert: Der entstehende Druck kann nur vermindert werden, indem ein Gegendruck erzeugt wird; der Eifersüchtige muss selbst einer Treulosigkeit überführt werden, um am eigenen Leibe zu erkennen, welche Folgen sein Argwohn als Vertrauensbruch für die Beziehung hat – es ist letztlich eine Eifersuchtskur nach dem Muster der Schwärmerkur, die die Symmetrie in der Beziehung wieder herstellt. Dass das allein durch Reden nicht gelingen kann, zeigt die zunehmende missverständliche Kommunikation der beiden Ehepartner, die Wezel geradezu genussvoll in den Dialogen vorführt: Jeder Satz bekommt einen Hintersinn, jede Wendung des Gesprächs löst einen neuen Verdacht aus, jedes Wort wird doppelsinnig für den Argwöhnischen. Erst der Gegendruck bringt die Mine im eigenen Inneren zum Springen!
Etwas rätselhaft erscheint in diesem Zusammenhang zunächst die negative Fixierung des Herrn von Spark auf "Frauenzimmer von Verstand" als Wurzel allen Übels. Zwar beruft er sich dabei auf entsprechende Erfahrungen in seiner Jugend, aber die im Nachhinein aufgedeckte Jugendsünde, die zu den beiden unehelichen Kindern führte, wurde wohl kaum von den beteiligten Frauen herbeigeführt. Denn Herrn von Feuer erläutert:
"Das war nun so eine jugendliche Fantasie, so eine aufbrausende Idee, die wir jungen Leute damals hatten. --- Ihr Männchen hat sie uns eigentlich in den Kopf gesetzt. --- Wir sagten: alle die Formalitäten, die die Gesetze zur Ehe verlangen, sind unnütze leere Ceremonien, die der Eigensinn der Gesetzgeber vorgeschrieben hat. Wir wollen den Gesetzen der Natur folgen: wenn zwey Herzen und vier Augen sich gefallen, das ist die Ehe der Natur; und so beschlossen wir alle, zeitlebens nicht anders als in einer philosophischen Ehe zu leben. … Unsere philosophischen Weiberchen kamen am schlimmsten dabey zurechte. Eine wurde lüderlich, und starb im Bordelle die andere ist vor Kummer gestorben".
Es waren also die Frauen, die damals schon den Preis für die philosophische Extravaganz zweier junger Schwärmer zahlen mussten, die ihren Triebstau und ihre unausgegorenen Ideen philosophisch verpackt präsentierten; und die einzige Lehre, die Herr von Spark daraus hätte ziehen müssen, wäre ein gesteigerter Argwohn gegenüber der eigenen Sophisterei und Verführbarkeit gewesen. Lieber aber überträgt er diese "argwöhnischen Maximen" auf die Frauen als ewige Verführerinnen, die noch dazu durch zu viel Lektüre und das Stadtleben gänzlich verdorben seien. Die Eifersucht ist letztlich nur eine gesellschaftlich akzeptierte Ausrede für ein sehr gerechtfertigtes Misstrauen in die eigene Steuerungsfähigkeit in Liebesdingen und eine sehr zuhandenkommende Waffe im Geschlechterkampf. Sie liefert den nötigen Sprengstoff, wirkt aber letztlich, wenn nicht kuriert, zerstörerisch nach allen Seiten.
Vertrauensverlust und Ichschwäche – Zur Zusammenfassung
Die Eifersucht nimmt zwar bei Johann Karl Wezel keine so dominante Rolle ein wie der allgegenwärtige Neid (mit sie zudem schwer trennbar verbunden ist), erfüllt aber in verschiedenen Kontexten und Genres eine Fülle von Funktionen und tritt dabei ausgerichtet auf unterschiedliche Objekte und in unterschiedlichen Schweregraden auf. So gut wie unheilbar ist ihre mentalitätsgeschichtliche, despotische Variante: Wenn man ihr die Herrschaft über sein Leben überlässt, wie der "eifersüchtige Türke" oder der "eifersüchtige Despot", hat man die Herrschaft über sein Leben schon verloren. Bezieht sie sich jedoch auf Objekte von anerkanntem Wert, wie Bildung oder kultureller Fortschritt, kann sie schlummernde Motivationskräfte entwickeln und zum Nach-Eifern anstacheln. Psychologisch erklärt werden kann sie durch eine Mischung unterschiedlicher Faktoren: Eine womöglich vorhandene Neigung beruht wahrscheinlich auf einem schwachen Selbstbewusstsein, einem mangelnden Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten oder Vorzüge, die den Angriffspunkt bilden. Sie wird verstärkt durch starke Emotionen (entweder die melancholische Disposition bei Wilhelmine Arend, oder, als eher männliche Variante, die ungesteuerten Triebkräfte der Jugend) und geschürt durch eine lebhafte Einbildungskraft (das vereint sie mit der Schwärmerei, die sich ebenfalls auf Phantome bezieht, die durch sie mit Leben ausgestattet werden). Hat sie sich einmal eingenistet, neigt sie dazu, eine Eigendynamik zu entwickeln: Wie alle Verschwörungstheorien stabilisiert sie sich selbst, da kein äußeres Korrektiv mehr zugelassen wird; wie jede Schwärmerei macht sie einsam und verhindert eine gelingende Kommunikation; wie jeder ungesteuerte Affekt tendiert sie zur Maßlosigkeit. Sie muss deshalb tatsächlich durch Erfahrung geheilt werden, da sie rationalen Argumenten nicht mehr zugänglich ist, bevor sie eine endgültige persönlichkeitsverändernde Wirkung entfaltet und die Despotie als Endstadium eintritt.
Ich denke, das ist Wezels besonderer Beitrag zur Geschichte der Eifersucht: die genaue Entwicklung ihrer psychologischen Ursachen, die präzise Nachzeichnung ihres Verlaufs und vor allem die Freilegung des sozialen Sprengpotentials, sowohl in persönlichen Beziehungen wie auch in politischen Verhältnissen: Der Eifersüchtige wird letztlich der Unfreie; und das Vertrauen, als notwendiger sozialer Kitt, wird durch den Argwohn zerstört. Kurz gesagt: Man kann eine Frau nicht so fortifiziren, dass sie niemals erobert werden kann; und eine Gesellschaft letztendlich auch nicht (die wahren Gefahren aber drohen im eigenen Inneren).
Jeder kennt Robinson Krusoe. Der englische Abenteurer, der auf einer Südseeinsel strandet und sich dort aus mühsam geretteten Überbleibseln des Schiffbruchs ein neues Leben zusammenzimmert, bevölkert mit seinem Genossen Freitag in unzähligen Varianten bis heute die Kinder- und Abenteuerbücher. Die wenigsten geben dabei den Originaltext wieder, so wie ihn der englische Autor Daniel Defoe 1719 erstmals veröffentlichte, und zwar unter einem wahrhaft barocken Titel: The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe of York, Mariner: Who lived Eight and Twenty Years, all alone in an un-inhabited Islandon the Coast of America, near the Mouth of the Great River of Oroonoque; Having been cast on Shore by Shipwreck, wherein all the Men perished but himself. With An Account how he was at last as strangely deliver'd by Pirates. Written by Himself. („Das Leben und die seltsamen überraschenden Abenteuer des Robinson Crusoe aus York, Seemann, der 28 Jahre allein auf einer unbewohnten Insel an der Küste von Amerika lebte, in der Nähe der Mündung des großen Flusses Oroonoque; durch einen Schiffbruch an Land gespült, bei dem alle außer ihm ums Leben kamen. Mit einer Aufzeichnung, wie er endlich seltsam durch Piraten befreit wurde. Geschrieben von ihm selbst“). Neuere Fassungen sind meist Auszüge, Zusammenfassungen, freie Bearbeitungen des Defoeschen Originals für verschiedene Altersstufen und Zwecke, die die Höhepunkte von Robinsons Inselkarriere wiedergeben und dabei das Abenteuerliche und Exotische in den Vordergrund rücken.
Natürlich ist der Stoff auch vielfach verfilmt worden. Die ersten Versionen waren noch Stummfilme zu Beginn des 20. Jahrhunderts; es folgten Trickfilme, Komödien, Verfilmungen in verschiedenen Sprachen und Kulturen bis hin zu einer neuen 3D-Fassung; dazu eine Fülle von Brett- und Computerspielen, die sich von dem erfinderischen Schiffbrüchigen inspirieren ließen. Robinson Krusoe ist ein All-time-hero, und jede Generation erfindet ihn neu. Ich werde im Folgenden zunächst ganz kurz das Original und seine Entstehungsgeschichte vorstellen. Danach präsentiere ich den Wezelschen Robinson, und zwar ebenfalls zunächst seine Entstehung und die (für Wezel typischen) Skandale, die sich um die Veröffentlichung der beiden Bände rankten. Im dritten Teil gehe ich dann auf die beiden Bände nacheinander ein und stelle vor allem ausführlich den Schluss vor.
I. Daniel Defoes Robinson Crusoe of York, Mariner
Daniel Defoe wurde 1660 in London als Sohn eines streng presbyterianisch gesinnten Kerzenhändlers geboren. Gegen den Willen seines Vaters, der seinen Sohn gern zum Geistlichen machen wollte, wurde er Kaufmann. In politisch wirren Zeiten handelte er mit Wein, Tabak und Lebensmitteln und unternahm dabei ausgedehnte Reisen nach Frankreich, Holland, Italien und Spanien. Eigentlich sah Defoe sich selbst jedoch eher als Intellektuellen und Schriftsteller. Als er kurzzeitig Bankrott anmelden musste, nutzte er die Zeit, um sich intensiv mit gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fragen der Zeit auseinanderzusetzen und politische Essays zu verfassen; er gab zeitweise auch eine Zeitschrift heraus. Erst im gesetzten Alter von 59 Jahren veröffentlichte er mit dem Robinson Crusoe den Roman, der ihm europaweite Berühmtheit verschaffen sollte (reich wurde von dem Erfolg im Übrigen, da hat sich heute wohl nicht viel geändert, nur sein Verleger).
Defoe hat sich die Geschichte von Robinson Crusoe aber nicht einfach ausgedacht. Sie beruht vielmehr auf den Erlebnissen des schottischen Seemanns Alexander Selkirk, der 1704 mit einem englischen Kaperschiff auf dem heutigen Juan-Fernandez-Archipel (einer pazifischen Inselgruppe bei Chile) landete. Das Schiff war stark beschädigt, und Selkirk entschloss sich, lieber auf der Insel zu bleiben als das Risiko einer Weiterreise auf sich zu nehmen. Als er erkannte, dass er mit seiner Meinung alleine stand, soll er einer Anekdote zufolge im letzten Moment ausgerufen haben: „Ich habe es mir anders überlegt“. „Ich aber nicht“, erwiderte der Kapitän kühl und ließ sich zum Schiff zurückrudern. Wie sich herausstellte, hatte Selkirk jedoch die richtige Wahl getroffen: Das Schiff sank wenig später und fast die gesamte Mannschaft mit ihm. Selkirk hingegen lebte über vier Jahre auf der Insel, richtete sich dort ein und wurde 1709 von einem britischen Schiff gefunden und wieder in die Heimat zurückgebracht. Der irische Schriftsteller Richard Steele zeichnete seine spektakuläre Geschichte zuerst auf und veröffentlichte sie 1713 in seiner vielgelesenen Zeitschrift The Englishman – und zu den Lesern gehörte offensichtlich auch der Kaufmann und Intellektuelle Daniel Defoe.
Der Robinson Crusoe wurde sofort ein Bestseller; noch im Jahr seines Erscheinens folgten vier weitere Auflagen. Der geschäftstüchtige Defoe ließ dem Erstlingserfolg zwei Fortsetzungen auf dem Fuße folgen, noch im gleichen Jahr die Farther Adventures of Robinson Crusoe und 1720 die Serious Reflections during the Life and Surprising Adventures of Robinson Crusoe, with his Vision of the Angelick World. Written by himself (dt. als Die ernsthaften Reflexionen von Robinson Crusoe während seines Lebens und seiner erstaunlichen Abenteuer, mit seiner Vision von der Welt der Engel). Der zweite und dritte Band sind allerdings weit weniger bekannt geworden; in ihnen tritt nämlich immer mehr das in den Vordergrund, was Defoe mit seinem Roman eigentlich beabsichtigte: Eine ernsthafte, nur in das abenteuerliche Gewand einer Fabel gekleidete Analyse und Kritik der zeitgenössischen Politik, Gesellschaft und Wirtschaft Englands vor dem Hintergrund eines streng religiös geprägten Weltbildes und eines durch keinerlei Anfechtungen erschütterbaren Glaubens an das gute Werk der Vorsehung (aber das war und ist nicht das Material, aus dem Bestseller gemacht sind …).
Bis heute gilt Robinson Crusoe als einer der ersten englischen Romane überhaupt (die Gattung war im 18. Jahrhundert noch nicht so verbreitet und angesehen wie heute, sondern eher verrufen; auch Defoe wurde vor allem von religiöser Seite sehr hart dafür angegriffen, dass er überhaupt ein solch gottloses Werk geschrieben hatte). Die erste deutsche Übersetzung der beiden ersten Teile kam bereits 1721 unter dem Titel: Das Leben und die gantz ungemein merckwürdigen Begebenheiten des Robinson Crusoe, von ihm selbst beschrieben, und um seiner Fürtrefflichkeit willen, aus dem Engl. und Franz. ins Teutsche übers.; sowie Anderer Theil, Welcher dessen Rück-Reise nach seiner Insul, und seine aufs neue gethane Reisen, [...] in sich hält auf den Markt und erlebte ebenfalls sehr schnell eine Reihe weiterer Auflagen; auch die Übersetzungen in andere europäische Sprachen folgten mit Rekordtempo. Darüber hinaus inspirierte Defoes Roman eine erstaunliche Reihe von Nachfolger-Projekten, die sogenannten "Robinsonaden" nämlich: Noch im 18. Jahrhundert erschienen u.a. ein "jüdischer", ein "persianischer", ein "amerikanischer", ein "sächsischer", ein "geistlicher", ein "moralischer" und ein "weiblicher" Robinson (und noch viele, viele weitere). 1806 schließlich veröffentlichte ein Autor namens Johann Christian Ludwig Haken eine ganze Bibliothek der Robinsone in Auszügen in mehreren Bänden; im vierten Band findet sich auch ein umfangreicher Auszug aus Wezels Robinson-Bearbeitung, der wir uns damit langsam nähern (aber vorher machen wir noch einen kleinen Umweg nach Frankreich).
II. Rousseaus Robinson Crusoe
Wie jedoch kommt Wezel überhaupt auf die Idee, noch einen weiteren Robinson Krusoe zu schreiben, der keine reine Übersetzung des englischen Originals ist, sondern eine Bearbeitung? Im Vorwort zu dessen zweitem Teil hat er die Geschichte selbst so erzählt:
"Unter den Beiträgen, die ich den philanthropischen Unterhandlungen des Dessauer Instituts versprochen hatte, mußten auch unterhaltende Aufsätze seyn, die nach dem von mir vorgeschlagenen Plane ein besonderes Lesebuch für die Jugend ausmachen sollten. Indem ich über die Wahl der Gegenstände mit mir zu Rathe gieng, schien mir’s vorzüglich nützlich zu seyn, die jungen Leser mit der Geschichte des Menschen bekannt zu machen, und ich entwarf deswegen Plane zu kleinen Dramen, die den Menschen in seinen verschiedenen Lebensarten darstellen sollten; allein wegen der allzu großen Mannichfaltigkeit des Gegenstandes hielt ichs für vortheilhafter, eine zusammenhängende Erzählung daraus zu machen, die alle hauptsächlichsten Veränderungen in dem Zustande des menschlichen Geschlechts umfaßte. Plözlich fährt mir Robinson durch den Kopf, den ich in meinen jüngern Jahren gelesen hatte, und woraus ich gerade nur die beiden Umstände noch wußte, die Rousseau behalten haben mochte: die Lebhaftigkeit, womit ich meine eignen Ideen dachte, theilte sich der Vorstellung von diesem Buche mit, und die Erleichterung, die ich mir für die Ausführung meines Plans davon versprach, brachte mich sogleich auf den Entschluß, den einsamen Aufenthalt des Abentheurers auf einer Insel in Rücksicht auf meinen Zweck umzuarbeiten".
Tatsächlich erschlägt Wezel in seiner Robinson-Bearbeitung ziemlich geschickt mehrere Fliegen mit einer Klappe. Die erste ist seine Verpflichtung gegenüber dem Dessauischen Philanthropin. Wezel schrieb seit 1778 Beiträge für die Zeitschrift der berühmten reformpädagogischen Einrichtung, die Pädagogischen Unterhandlungen, darunter auch Kinderdramen für das Beiheft, das Lesebuch für die Jugend und ihre Freunde. Wezel musste also regelmäßig liefern – und was ist dafür besser als ein Fortsetzungsroman, den man sich noch nicht einmal selbst ausdenken muss?
Zu diesem sehr pragmatischen kommt ein zweiter inhaltlicher und gewichtigerer Aspekt: Es geht Wezel bekanntlich in all seinen Schriften, seien sie journalistischer, philosophischer oder literarischer Natur, darum, Beiträge zur "Geschichte des Menschen" (wie es auch in der oben zitierten Vorrede heißt) zu liefern. Darunter versteht er grob gesagt, und das wird auch den Robinson prägen, sowohl die Anthropologie im engeren Sinn (also die Auseinandersetzung mit der physischen Natur des einzelnen Menschen und ihrer Interaktion mit seinen geistigen Fähigkeiten) als auch die Geschichtsphilosophie (also die Beschäftigung mit der historischen Entwicklung des Menschengeschlechts insgesamt, spezieller das, was wir heute als Ethnologie bezeichnen würden). Und für beides bietet ihm der Robinson eine ideale Plattform: Erzählt er doch die Geschichte eines Menschen, der aus der Zivilisation gerissen und auf seinen "Naturzustand" zurückgeworfen ist, zeigt die Entwicklung seiner Fähigkeiten, seiner Probleme, seiner Bedürfnisse, und das alles in eine spannende "zusammenhängende Erzählung" gebracht und damit sogar schon leserwirksam aufbereitet!
Dazu kommt schließlich ein dritter prominenter Faktor, und der heißt Jean-Jacques Rousseau. Wezel ist nämlich nicht der erste, der auf die Idee gekommen ist, dass Defoes eigentlich religiös erbaulich und sozialanalytisch gemeinter Roman eine perfekte Kinderlektüre ist. Rousseau hatte in seinem 1762 erschienenen Erziehungsroman Emile zunächst kategorisch befunden, dass die verfrühte Lektüre generell eine "Geißel der Kindheit" sei und unermesslichen Schaden anrichte. Die einzige Ausnahme von dieser Regel bildet für ihn der deshalb geradezu enthusiastisch empfohlene Robinson: "Dieses Buch wird das erste sein, das mein Emile zu lesen bekommt. Es wird für lange Zeit das einzige sein, woraus seine ganze Bibliothek besteht". Die Gründe dafür liegen in der offensichtlichen Nähe des Romanthemas zu Rousseaus eigener Philosophie wie Pädagogik: Das Robinsonsche Inselleben bietet ein reales Modell für ein Leben fernab der schädlichen gesellschaftlichen Wirkungen der menschlichen Zivilisation und Gesellschaft, die Rousseau bekanntlich immer wieder kritisiert hat: Robinson ist wirklich und wahrhaftig in den Naturzustand zurückversetzt worden; er entwickelt daraufhin eine weitgehend autonome Lebensweise, indem er seine Erfindungsgabe einsetzt, genau wie das auch Rousseau in seinen Schriften propagiert.
Zudem legt der Text für Rousseau eine besondere Form der Lektüre nahe: So soll Rousseaus idealisierter Zögling Emil sich nicht nur von der Geschichte faszinieren lassen, sondern das Gelesene sogleich praktisch umsetzen:
"Ich will, daß er nichts anderes im Kopf hat, daß er sich ununterbrochen mit seiner Burg, seinen Ziegen und Pflanzungen beschäftigt; […] So sieht das wahre Luftschloß dieses glücklichen Lebensalters aus, in dem man kein anderes Glück kennt, als ein Leben in Einfachheit und Freiheit".
Im Gegensatz zu den gefährlichen Liebesromanen verführt der Robinson die Jugendlichen also nicht zu weltferner Schwärmerei und allzu frühzeitiger Bekanntschaft mit den Tücken der Liebe, sondern beschäftigt seine Phantasie mit praktischen Dingen und schult seine Urteilskraft. Rousseau resümiert im Emile:
"Das sicherste Mittel, sich über Vorurteile zu erheben und seine Urteile nach den wahren Verhältnissen der Dinge zu ordnen, ist, sich in die Situation eines völlig isolierten Menschen zu versetzen und über alles so zu urteilen, wie dieser Mensch mit Rücksicht auf seinen eigenen Nutzen urteilen muß".
Robinson ist also insgesamt das ideale Rollenmodell für heranwachsende Jünglinge!
III. Campes Robinson der Jüngere
Wezel ist jedoch nicht der einzige, der sich von Rousseau und seinen pädagogischen Interessen und Verpflichtungen dazu inspirieren lässt, eine Robinson-Bearbeitung speziell für die Jugend vorzulegen – aber wahrscheinlich ist er der erste, der diese Idee hatte, und auf diese Feststellung legt er großen Wert. Seit 1778 veröffentlicht er bereits, wie geplant, seine Robinson-Bearbeitung in den Pädagogischen Unterhandlungen, als er 1779 plötzlich aus einer weit verbreiteten Zeitschrift der Zeit, dem Deutschen Museum, erfährt, dass der bekannte Pädagoge und Schriftsteller Joachim Heinrich Campe aus Hamburg ebenfalls eine Robinsonbearbeitung speziell für Kinder unter dem Titel Robinson der Jüngere plant. Wezel ist entsetzt, und er verteidigt sein Erstgeburtsrecht an der Idee, wie gewohnt, mit Zähnen und Klauen. Daraufhin entwickelt sich eine der polemischen Literaturstreitigkeiten, die Wezel in den folgenden Jahren praktisch zu seinem Markenzeichen machen wird.
Als erstes beeilt sich Wezel, in der gleichen Zeitschrift wie Campe sein Projekt nunmehr als Buch anzukündigen und dabei mit dem Titel Ankündigung des alten Robinsons süffisant auf seine geistigen Rechte an der Idee anzuspielen. Die Ankündigung erscheint jedoch zu spät; Campe bleibt bei seinem Vorhaben und versichert öffentlich, er sei allein durch Rousseau auf die Idee gebracht worden, von Wezels Plan habe er erst später erfahren. Wezel lässt die Auseinandersetzung jedoch gezielt weiter eskalieren. Als erste eher negative Rezensionen von Wezels inzwischen in Buchform veröffentlichtem ersten Teil des Robinson erscheinen, schreibt er sie (wohl fälschlicherweise) Campe als Autor zu. Zudem lässt er ebenfalls noch 1779 anonym den Briefwechsel über einige Recensionen der neuesten Wezelischen Schriften drucken, in dem er selbst einleitend als "Herausgeber" verkleidet die Situation folgendermaßen darstellt:
"Herr Wezel gerieth vor einiger Zeit mit Herrn Campen in eine Kollision, die nach seiner Meinung ohne allen Zwist und alle Uneinigkeit abgethan werden sollte, weil er die Ehre, ein ekelhaft langweiliges Buch, wie der alte Robinson, lesbar gemacht zu haben, nicht für wichtig genug hielt, um sich darüber mit irgendeinem Menschen auf der Welt zu entzweyen. Er that also weiter nichts, als daß er über das Groteske in der Campischen Ankündigung eines jüngern Robinsons lächelte und durch die beschleunigte Herausgabe seines Manuskripts sein älteres Recht der ersten Besiznehmung behauptete. Nunmehr konnte Herr Campe alle drey Messen des Jahres, so lang er lebte, mit Robinsons männlichen und weiblichen Geschlechts hervortreten und sich auf die vorzügliche Güte, die er seiner Arbeit beylegte, ganz allein verlassen, daß das Publikum in Osten und Westen sogleich die Wezelische Umarbeitung ins Feuer werfen und die Messieurs und Demoiselles Robinson alle nach der Reihe kaufen werde".
Das Publikum warf Wezels Bearbeitung nicht ins Feuer, obwohl nun kurioserweise tatsächlich parallel zwei Robinson-Bearbeitungen für die Jugend auf den Buchmarkt kamen: Campes Robinson der Jüngere, zur angenehmen und nützlichen Unterhaltung für Kinder erscheint in zwei Teilen in den Jahren 1779 und 1780, genauso wie Wezels zweiteiliger Robinson Krusoe. Neu bearbeitet. Der zweite Teil von Wezels Robinson wird 1795 von Wezels Verleger Dyk noch einmal neu aufgelegt unter dem Titel Robinson's Kolonie oder: Die Welt im Kleinen; Wezel hat sich zu diesem Zeitpunkt bereits nach Sondershausen zurückgezogen, er ist psychisch erkrankt und weiß höchstwahrscheinlich nichts von dieser eigenmächtigen Wiederauflage. Im Übrigen erscheinen bis heute noch Neuauflagen der beiden konkurrierenden Robinsone, auch wenn Campes Version kurzfristig sehr viel erfolgreicher war; wohl im Wesentlichen deshalb, weil beide tatsächlich ein unterschiedliches Programm verfolgen, unterschiedliche Altersgruppen ansprechen und unterschiedliche Vorzüge wie Fehler haben. Wezel selbst hatte in seiner ersten Anzeige gegen Campe schon darauf hingewiesen, dass er sich, im Gegensatz zu Campe, der für Kinder schreibe, an "junge Leute, doch ohne die Erwachsenen irgend eines Alters bis zum lezten Stufenjahre des menschlichen Lebens davon auszuschliessen" wende. Und während Campe die Kinder "unterrichten" wolle und dazu eine "Menge Elementarkenntnisse" eingearbeitet habe, wolle er "vergnügen" und "eine Erholung vom Unterrichte verschaffen"- nur so könne man gerade bei jungen Menschen die Lust an der Lektüre erhalten und ihnen die "Liebe für Alltagssprache" beibringen.
Von heute gesehen wirkt Wezels jugendliterarisches Konzept also deutlich moderner: Keine altmodischen Predigten, sondern Erziehung zum Selbstdenken und Berücksichtigung des jugendlichen Unterhaltungsbedürfnisses. Demgegenüber bleibt Campe in einigen Punkten deutlich näher an den ursprünglichen Intentionen von Defoe. Besonderen Wert legte Campe nämlich, ganz im Unterschied zu Wezel und auch Rousseau, auf die moralische und religiöse Unterweisung der Kinder bei der Lektüre; er habe sich bemüht, "die Umstände und Begebenheiten so zu stellen, daß recht viele Gelegenheiten zu moralischen, dem Verstande und dem Herzen der Kinder angemessenen Anmerkungen und recht viele natürliche Anlässe zu frommen, gottesfürchtigen Empfindungen dadurch hervorwüchsen". Dazu trägt auch seine formale Gestaltung des Stoffes bei: Ein Familienvater erzählt seinen Kindern an dreißig Abenden die Geschichte Robinsons; anschließend wird der moralische und praktische Wert des Erzählten in Dialogen erörtert. Die Moral des ganzen schließlich wird am Ende noch einmal explizit formuliert:
"Eltern, wenn ihr eure Kinder liebt, so gewöhnt sie ja frühzeitig zu einem frommen, mäßigen und arbeitsamen Leben! und waren Kinder dabei: so gab er ihnen allemahl die goldne Regel mit: lieben Kinder seid gehorsam euren Eltern und Vorgesezten; lernt fleißig alles, was ihr zu lernen nur immer Gelegenheit habt; fürchtet Gott, und hütet euch – o hütet euch – vor Müßiggang, aus welchem nichts, als Böses komt!".
Nichts hätte Wezel ferner gelegen als eine solche Nutzanwendung; in seiner Vorrede zum zweiten Teil hat er wenig später vielmehr seinen ersten Teil nüchtern so zusammengefasst:
"Der erste Theil der gegenwärtigen Bearbeitung gab während Robinson's Aufenthalt auf seiner Insel Beispiele von den Veränderungen, die die vier Haupturheber der menschlichen Erfindungen, Noth, Zufall, Leidenschaft, Witz, in dem Zustande des Menschen hervorgebracht".
Diese erstaunliche Mischung muss man sich genau betrachten: Not, Zufall, Leidenschaft, Witz (im zeitgenössischen Sinn von Erfindungsreichtum) sind es, die Robinsons Schicksal bestimmen, nicht seine Ergebenheit in Gott, sein zielgerichtetes rationales Verhalten, seine ethischen Prinzipien oder sein genialer Geist. Es geht Wezel um Anthropologie, nicht um Moral, und an die Stelle der gütigen und allwissenden Vorsehung bei Defoe und Campe ist der prosaische und unberechenbare Zufall getreten.
IV. Wezels Robinson Krusoe, neubearbeitet (erster Teil)
Im 1779 erschienenen ersten Teil seines Robinson Krusoe bleibt Wezel bezüglich der Handlung recht dicht bei dem Original; er kürzt vor allem die Vorgeschichte und das wieder in Europa spielende Ende. Aber auch er formt den Stoff in der Darstellung grundlegend um. Den Ich-Erzähler Defoes, der seine eigene Geschichte erzählt, ersetzt er durch einen auktorialen Erzähler, der Robinsons Handlungen kommentiert und bewertet, gelegentlich auch durchaus ironisch, auf jeden Fall aber mit Distanz zur Figur und ihren Schicksalen. Damit verändert er auch die Wirkung des Romans auf den Leser erheblich: Statt zur Identifikation mit der Hauptfigur, wie bei Defoe, regt Wezel zur kritischen Auseinandersetzung mit und zur Reflexion über Robinsons Handeln und Denken an. Das ist nicht nur gutes aufklärerisches Grundprogramm, sondern entspricht auch Wezels neuem Konzept von Kinder- und Jugendliteratur, das er im schon von den zeitgenössischen Rezensionen vielgelobten Vorwort programmatisch zugespitzt darstellt:
"Es ist eine durchaus falsche Maxime, die sich auf eine eben so falsche Beobachtung gründet, wenn man behauptet, daß man für Kinder anders schreiben soll, als für Erwachsene, auch in der Erzählung, und nicht blos bey Sachen des Verstandes. Man muß für alle Alter deutlich und mit Geschmack schreiben, und ich begreife nicht, warum ein kraftloser, wäßrichter, schlechter Stil, voll ekelhafter Wiederholungen und tätschelnder Ausdrücke dem Kinderverstande angemessener seyn soll. Bey den meisten Kinderbüchern sollte man glauben, daß sie von Kindern und nicht für Kinder geschrieben wären: wir tödten den guten Geschmack im Keime, gewöhnen sie an das Schlechte und verderben sie durch solche elende Sprache so sehr, als durch den vorgekauten Brey, womit wir sie von den Ammen stopfen lassen. Der Knabe muß schlechterdings in einem Buche, das er liest, nicht alles verstehen: er frage, sinne oder suche nach".
Für Kinder schreiben heißt nicht schlechter schreiben, und es heißt noch nicht einmal, einfacher schreiben (das ist eine Regel, die auch die großen Jugendliteraturerfolge unserer Zeit, wie Harry Potter, sehr bestätigen). Deshalb ist es für Wezel auch gerechtfertigt, dem Robinson eine philosophische Ausrichtung zu geben, die vielleicht nicht ganz der seines ursprünglichen Autors entspreche, die aber von großem pädagogischem Nutzen sei. Dazu heißt es im Vorwort weiter:
"Robinson, in seinen rechten Gesichtspunkt gestellt, in welchem ich ihn auch bearbeitet habe, ist eine Geschichte des Menschen im Kleinen, ein Miniaturgemälde von den verschiedenen Ständen, die die Menschheit nach und nach durchwandert ist, wie Bedürfniß und zufällige Umstände einen jeden hervorgebracht und in jedem die nöthigen Erfindungen veranlaßt oder erzwungen haben; wie stufenweise Begierden, Leidenschaften und Fantasien durch die äußerliche Situation erzeugt worden sind. In der Geschichte selbst habe ich diese Stufen der Entwicklung deutlich angegeben und hineinzubringen gesucht, so sehr der Plan des Originals es erlaubte. Es scheint nicht, daß Defoe diese philosophische Idee eigentlich dabey gehabt hat, und sein Schatten wird mir vergeben, daß ich ihm etwas andichte, woran er vielleicht nicht dachte."
Was Defoe aber wahrscheinlich nicht so leicht vergeben hätte, ist Wezels laxer Umgang mit der Religion: Wezel tilgt nämlich die bei Defoe sehr stark ausgeprägte christliche Deutung des Geschehens vollständig. Schon zahlreiche zeitgenössische Rezensionen bemerkten bedauernd, dass die Meditationen und Selbstreflexionen Robinsons über die christlich-moralische Wertung seiner Handlungen und Gefühle bei Wezel ausfallen. Ebenso sind die im Original sehr zahlreichen Bibelzitate, Gebete und Passagen über Robinsons Religiosität gänzlich gestrichen. Weder findet Wezels Robinson im Schiffswrack drei Bibeln, noch reflektiert er darüber, auch auf der Insel einen "Sabbath-Day" einzuführen. Wo Robinson zu einer Kritik an allen Religionsgemeinschaften ausholt, bei denen ein kleiner Zirkel von Priestern das Wissen um die wahre Religion für sich beansprucht, macht sich Wezel über seinen Protagonisten lustig, indem er ihn als den "ehrlichen Robinson, der selbst nur einfältig glaubte, was ihm seine Kirche zu glauben befahl", bezeichnet. Dessen Zweifel, ob sein Verstand ausreiche, Franz den Begriff Gottes zu erklären, lässt Wezel zugunsten der Aussage weg, Robinson habe zwar mangelhaften Unterricht gegeben, aber "Franzen in kurzer Zeit zu einem guten Christen" gemacht". Kurz gesagt: Robinson ist in Wezels Text weniger Christ denn Mensch; und seine Geschichte dient nicht dem Lob der Vorsehung, die den guten Menschen auch in der Krise nicht verlässt, sondern stellt realistisch dar, was aus einem 'durchschnittlichen' Mitteleuropäer wird, wenn man ihm die Bequemlichkeiten der Zivilisation entzieht und auf einen fiktiven 'Naturzustand' zurückwirft. Der zweite Teil wird dann an derjenigen Stelle einsetzen, wo sich aus diesem 'Naturzustand' des Einzelnen die ersten politischen Organisationsformen entwickelt haben, und eine kritische Kulturgeschichte der Menschheit unter den Bedingungen der Wezelschen Anthropologie präsentieren.
V. Wezels Robinson Krusoe, neu bearbeitet (zweiter Teil)
Ein Jahr nach dem relativ erfolgreichen, öffentlich viel beachteten ersten Teil des Robinson schiebt Wezel den zweiten Teil nach; in der Vorrede erläutert er:
"Kurz darauf erfand sich eine Ursache, die mich nöthigte, den ganzen ersten Theil besonders herauszugeben [die Kontroverse mit Campe um die Priorität an einer Bearbeitung des Robinson für die Jugend]: ich mußte freilich einen großen Theil meines Plans aufopfern, wenn ich nicht zu sehr vom Defoe abweichen und ein neues Buch machen wollte; aber noch gieng alles gut: doch wie erstaunte ich, als ich im zweiten Theile, den ich ehemals gar nicht gelesen hatte, auch nicht das mindeste für meine Absicht brauchbar fand! Ich entschloß mich also ohne langes Bedenken, diesen zweiten Theil ganz nach meinem eignen Plane auszuarbeiten; denn zwecklose Scharmützel, die nicht einmal sonderlich vergnügen, und Reisen nach China und Rußland, die man in neuen Reisebeschreibungen ungleich besser und vollständiger findet, in Auszug zu bringen, dauerte mich Zeit und Mühe".
Tatsächlich ist der zweite Teil im Unterschied zum ersten weitgehend Wezels eigene Erfindung (auch wenn Defoes Fortsetzung, die Farther Adventures, wahrlich so schlecht nicht ist, wie er sie hier aus taktischen Gründen darstellt).
Es ist jedoch bezeichnend, dass auch diese Publikation zunächst wieder mit einem Skandal verbunden ist. Diesmal gerät Wezel mit der Leipziger Zensur aneinander. Der wahrlich an den Haaren herbei gezogene Anlass ist eine Stelle aus dem ersten Satz der Vorrede zum zweiten Band, die lautete:
"Wäre Rousseau ein schadenfroher Mann gewesen, so könnte seine Seele izt ein köstliches Vergnügen genießen, wenn sie von dem Fixsterne, wo sie etwa wohnen mag, einen Blick auf Teutschland wärfe und die mannichfaltigen Bewegungen wahrnähme, die ein einziges Urtheil über den Robinson unter Autorfedern, Druckerpressen, Verlegern, Herausgebern, Papierhändlern, Buchbindern, Recensenten und vielleicht auch unter Lesern veranlaßt hat"-
(der Satz spielt natürlich auf Rousseaus Empfehlung des Robinson im Emile an und die dadurch ausgelöste Kontroverse von Wezel und Campe sowie überhaupt den Robinson-Hype im gesamten 18. Jahrhundert). Man muss sich etwas mühsam klarmachen, wo der Skandal für die Zensur in diesem Satz eigentlich lag: Natürlich durften unsterbliche christliche Seelen nicht auf Fixsternen angesiedelt werden! Wezel erzählt in der Vorrede den weiteren Verlauf der Angelegenheit (aus seiner nicht ganz neutralen Perspektive):
"Der Leipziger Censor, Herr Hofrath Böhme, wollte nicht leiden, daß ich Rousseau in der vierten Zeile auf einem Fixsterne wohnen lasse; er anathematisirte die Stelle mit einigen Röthelstrichen und verstattete der Verlagshandlung nur dann den Druck, wenn der Herr Auctor Rousseau’s Seele anderswohin quartirte: ich war in Verlegenheit, wohin ich mit der armen Seele in der Geschwindigkeit sollte, und so gleichgültig es mir und der ganzen Christenheit ist, ob Rousseau izt in der Jungfrau, im Wassermanne oder im Steinbock wohnt, so erachtete ich doch nicht für rathsam, einem Verlangen nachzugeben, wofür sich kein vernünftiger Grund finden läßt, zumal da in der angezeigten Stelle nichts behauptet, sondern die Seele des Genfer Bürgers nur per formam loquendi auf einen Fixstern gesetzt wird. Ich habe mir zwar eine Belehrung ausgebeten, ob der Herr Censor zuverlässigere Nachrichten von ihrem Aufenthalte hat: allein die Antwort verzögerte sich so sehr, daß sich die Verlagshandlung wegen Nähe der Messe genöthiget sah, diese Vorrede unterdessen anderswo drucken zu lassen: sobald die erwartete Nachricht einläuft, um welche ich hier öffentlich bitte, werde ichs für meine Schuldigkeit halten, die Leser von Rousseau’s gegenwärtiger Residenz zu benachrichtigen".
Darauf warten die geneigten Leser bis heute; aus der Lappalie aber entwickelte sich tatsächlich eine juristische Auseinandersetzung, bei der sowohl Wezel als auch der Verleger Dyck mehrfach nach Leipzig vorgeladen und verhört wurden (Wezel entzog sich sicherheitshalber durch eine Reise nach Gotha). Das Verfahren endete sehr prosaisch mit dem Tod des strengen Zensors Böhme am 30.Juli 1780; Wezel hatte die Vorrede inzwischen in Halle drucken lassen (eine übliche Ausweichlösung), Dyk musste sich entschuldigen und die Prozesskosten übernehmen, und damit war die Sache erledigt. Abschließend verarbeitet hat Wezel den Vorfall dann in seinem Versuch über die Kenntniß des Menschen, wo es heißt:
"Viertens muß unter den Ideen, die es [das Kunstwerk] erregt, keine mit unangenehmen Empfindungen in uns verbunden seyn […]. Manchem mißfällt ein poetisches Werk schon darum, weil Jemand von ihrem Stande eine ähnliche Rolle darin spielt, allen Orthodoxen die herrlichsten Spekulationen, die nicht mit den angenommenen Religionssätzen übereinstimmen, und aus solchen Ursachen muß oft ein ganzes Buch für eine einzige Stelle büßen".
Ein Erfolg wurde der zweite Band allerdings trotzdem nicht, auch wenn Wezel und Dyk vielleicht wieder auf den Skandalwert der Affäre spekuliert hatten, wie bei der Kontroverse mit Campe um den ersten Band. Woran das lag, zeigt ein genauerer Blick auf den Inhalt des zweiten Bandes.
Wie in der Vorrede bereits angekündigt, folgt Wezel seiner Vorlage im zweiten Band nicht mehr so genau wie im ersten Teil. Immerhin entnimmt er die Grundzüge der verwickelten Handlung von Defoe für den ersten Teil der Erzählung, der Robinsons Rückreise und Rückkehr auf seine Insel schildert und die dortige Entwicklung seit seiner Abreise rekapituliert. In der zweiten Hälfte des Buches, der "Geschichte der Kolonie", die die Schicksale der Insel unter Robinsons Sohn Karl berichtet, löst er sich aber vollständig von Defoes Text. Bei Defoe wie bei Wezel haben sich auf Robinsonia aus den zurückgebliebenen Spaniern und Engländern verschiedene Gruppen herausgebildet, die sich gegenseitig wechselweise verbündeten und bekämpften; die Situation wurde noch schwieriger, nachdem die Engländer von den 'Wilden' der Nachbarinseln Frauen gestohlen hatten und sich dadurch eine Fehde zwischen den indigenen Einwohnern und den Kolonisatoren entwickelte. Die einigermaßen verwickelte Handlung und seinen eigenen theoretischen Neuansatz für den zweiten Teil des Robinson hat Wezel in der Vorrede kompakt skizziert:
"Der zweite Theil liefert in der Geschichte der Kolonie während Robinson’s Aufenthalt in England, nach seiner Rückkehr auf die Insel und nach seinem Tode, Beispiele von den Veränderungen in dem Zustande der Gesellschaft und von den Erfindungen, die aus der gesellschaftlichen Vereinigung herfließen: ein kleiner Menschenhaufen wird durch Noth, Zufall, Leidenschaft, Witz auf die verschiedenen Arten der Subordination, auf die Einführung richterlicher Gewalt, auf verschiedene politische Verfassungen, auf die Verschiedenheit des Vermögens, der Beschäftigung und des Standes, auf Handel, Geld und Verarbeitung der Naturprodukte geleitet, erwächst zu einem eingerichteten Staate und stirbt".
Es geht ihm also um eine systematische Darstellung historischer, sozialer, ökonomischer und kultureller Prozesse in didaktischer Absicht; und wieder stehen dabei "Noth, Zufall, Leidenschaft, Witz" als Hauptmotive und -antriebskräfte im Vordergrund.
Zu diesem Zweck hat Wezel auch die Form des zweiten Teils stark verändert, der nun eine didaktische Abhandlung mit gleichzeitig romanhaften, utopischen und satirischen Zügen geworden ist - was wahrscheinlich auch zum mangelhaften Lesererfolg beitrug: Keine Abenteuer mehr, keine Menschenfresser, keine wilden Tiere; an ihre Stelle sind gelehrte Anspielungen aus der ethnologischen, der philosophischen und der Reiseliteratur getreten, die eher schon an den folgenden Versuch über die Kenntniß des Menschen erinnern (streckenweise wirkt der zweite Teil des Robinson geradezu wie eine Vorstudie zu Wezels philosophischem Hauptwerk). Wezel veranschaulicht das Entstehen und das Funktionieren verschiedener Staatsformen vom 'Naturstand' über den Despotismus bis hin zu beinahe demokratischen Formen; er zeigt verschiedene Formen persönlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit, die vor allem nach dem Vorbild des europäischen Mittelalters gestaltet sind (Vasallität, Zinsbauerntum, Leibeigenschaft usw.). Es geht um grundlegende soziale und ökonomische Prozesse wie die Bildung sozialer Klassen oder die Entstehung und Folgen der Geldwirtschaft und des Außenhandels, Grundformen und Funktionen des Gerichtswesens und die Entwicklung der Kultur (Handwerk, Technik, Wissenschaft, Kunst und Religion; dieser Aspekt ist jedoch auffällig knapp behandelt). Die "Geschichte der Kolonie", die den zweiten Teil der Robinson-Fortsetzung ausmacht, gibt gleichsam einen Abriss der Geschichte des Mittelalters. Sie knüpft damit – bezeichnenderweise unter Auslassung der kulturellen Blütezeiten der griechischen und römischen Antike - direkt an die frühe kulturgeschichtliche Phase der menschlichen Entwicklung vom Jäger zum Hirten an, die im ersten Teil geschildert wird. Insgesamt stellt sich Wezel mit dem Band in die Tradition der Kulturgeschichte des Menschen und der europäischen Geschichtsphilosophie, wie sie Montesquieu, Voltaire, Condorcet, Lessing, Herder, Schiller und andere in ihren Schriften präsentiert haben. Für die meisten dieser Autoren macht der Blick auf die Geschichte allerdings deutlich, dass die Menschheit sich in Richtung Vernunft und Fortschritt entwickelt; das sieht Wezel nicht ganz so.
VI. Das Ende von Robinsonia: Sic transit gloria mundi!
Wezel ist in seiner Geschichtsphilosophie ebenso skeptisch wie in seiner Anthropologie. Das zeigt vor allem der Schluss des zweiten Bandes, der bis heute gern und viel in der Forschung zitiert wird. Nachdem auf der Insel Robinsonia die verschiedensten Herrschaftsformen einander abgelöst hatten (und keine davon war besonders erfolgreich oder befriedigend für die Einwohner), regiert am Ende ein tyrannischer Statthalter durch "Pracht und Bedrückung" über seine unzufriedenen Bürger (ich zitiere etwas länger den Schluss des Romans):
"Die Einwohner entrichteten sonst die Auflagen nur zur Bestreitung der Kosten für das gemeinschaftliche Wohl, für öffentliche Sicherheit, Bequemlichkeit; und izt wurden sie täglich häufiger und mit der größten Strenge eingetrieben, um die Pracht eines eitlen Regenten zu unterhalten, der eine Untreue an seinem König begieng. Man wurde schwürig: man murmelte, fluchte und wünschte insgeheim dem Bedrücker den Untergang: das Feuer glimmte so lange, bis einer von den Kassirern des Despoten die Verwegenheit hatte, einen angesehnen Bürger, der ihm die Vorausbezahlung einer Abgabe verweigerte, mit dem Stocke zu schlagen. Dies war die Losung zu allgemeinem Aufruhr: man ergriff die Waffen: der Aufstand verbreitete sich durch die ganze Insel: der Despot wurde ermordet, und an die Stelle der Unterdrückung trat die Anarchie: Niemand regierte, und Jedermann wollte regieren. Der Krieg dauerte unaufhörlich fort: jede Partey verwüstete, wohin sie kam: die Dörfer lagen in der Asche, die Städte waren Steinhaufen, die Äcker wurden nicht gebaut, der Handel stund, die Einwohner starben durch Schwert und Hunger: aus den vielen Leichnamen entstund eine Pest; und die Insel war eine menschenleere Wüste, wie ein tragisches Theater, auf welchem ein barbarischer Dichter gewürgt hat. Nichts blieb übrig als Spuren der Bevölkerung, Steine mit Aufschriften, verschüttete Pantoffeln, Trinkgefäße und Nachttöpfe, vermoderte Strümpfe, verstreutes Geld, zerbrochene Waffen, umgestürzte Heiligenbilder, damit dereinst ein amerikanischer Antiquar alle diese Alterthümer ausgraben und der Akademie der Wissenschaften in Kanada oder der Societät der Alterthümer unweit Hudson’s Bay mit vielen Citaten aus den alten teutschen, französischen und englischen Schriftstellern beweisen kan, daß hier einmal Europäer wohnten. Wie viele Thätigkeit wird dieser verödete Kothhaufen noch einmal nach Jahrtausenden unter dem Menschengeschlechte verbreiten! Die Alterthumsforscher in Nordamerika werden sich zanken, ob die Robinsonianer hohe oder niedrige Absätze an den Schuhen trugen: sie werden sehr scharfsinnig die verschiedenen Epoken dieser Höhe festsetzen: sie werden englische und spanische Inschriften auf verfaulten Brodschrankthüren nach selbsterfundnen Alfabeten entziffern und alles darinne finden, was sie wollen. Die Eskimaux werden alle diese kostbaren Reste sauber in Kupfer stechen lassen und einen Kommentar dazu schreiben; in Novazembla sticht man sie nach, übersezt den Kommentar mit Anmerkungen und Verbesserungen und schimpft in jeder Zeile auf die verdammten Eskimaux, die alle Namen verhunzen und keine Jahrzahl, kein Datum, kein Kapitel in ihren Citaten richtig angeben. Die grönländischen Nachdrucker lassen ein Exemplar kommen, drucken den Text auf Löschpapier nach, bringen so vielen Unsinn hinein, als sich in ihren Köpfen auftreiben läßt, und machen in Ißland einen starken Absatz damit. Die Recensenten, die bey der Novazemblischen Übersetzung nicht gebraucht worden sind, fangen an launisch zu werden, und beweisen mit Schimpfwörtern, daß kein einziger Strumpf dem Originale gemäß abgezeichnet ist, das sie nie gesehen haben: man läßt sie schwatzen, wird des Bilderbuchs überdrüßig und macht daraus ein Elementarwerk für Kinder. Auch die Kinder werden ekel: niemand kauft das Werk mehr, die Buchhändler verschicken große Schiffsladungen von dem Makulatur nach Kamtschatka zu Patronen, weil dort ein blutiger Krieg entstanden ist, worinne man sich mit der Robinsonia illustrata die Köpfe zerschießen will. – Einen andern Theil des Werks erhandeln die Papiermacher in Sibirien, weil die schöne Litteratur unter den Samojeden, Tschuwaschen und Buräten so gewaltig eingerissen ist, daß man nicht so viel Papier machen kan als die Tschuwaschischen Reimer Verse drucken lassen. – Die dritte Hälfte wird in Küchen, Kellern, Kramläden und an andern Orten zu beliebiger Consumtion verbraucht; und endlich ist der Name Robinsonia aus allen menschlichen Köpfen und Büchern so gänzlich vertilgt, daß man so wenig von der Insel weis, als wie vom Südpole. Sic transit gloria mundi"
Die gesamte Passage ist natürlich eine Satire, durch und durch ironisch gefärbt und tatsächlich nicht ganz leicht zu verstehen. Erst ein ausführlicherer Kommentar erschließt die ganze Tiefe dieser zutiefst pessimistisch eingefärbten Schlussvision:
Durch die "Anarchie" als letzte und allerschlimmste Regierungsform war Robinsonia zu einer "menschenleeren Wüste" geworden, die mit einer Theaterbühne, auf der "ein barbarischer Dichter gewürgt hat", verglichen wird. Die Formulierung verwendet Wezel normalerweise für die ihm verhassten "Kraftgenies" des Sturm und Drang, die in ihren bekanntesten Stücken gern das gesamte Personal im letzten Akt auf der Bühne ermeucheln; sie werden hier in einem Atemzug mit gänzlicher politischer Anarchie genannt und damit auch für diese verantwortlich gemacht. Von der leidenden Bevölkerung bleibt nichts übrig als "verschüttete Pantoffeln, Trinkgefäße und Nachttöpfe, vermoderte Strümpfe" usw. – also die niedersten Gegenstände des Alltags, nicht etwa künstlerisch wertvolle Antiquitäten oder wichtige Gegenstände der Kulturgeschichte; sogar die Heiligenbilder sind umgestürzt und die Waffen zerbrochen – Robinsonia erweist sich als eine Kultur, von der keine überlieferungswerten Reste mehr existieren. Trotzdem werden auch die jämmerlichen Reste natürlich wissenschaftlich untersucht, und zwar ausgerechnet von einem "amerikanischen Antiquar" – also einem Mitglied derjenigen Volksgemeinschaft, die die ehemaligen europäischen Kolonisatoren misshandelt, ausgenützt und schließlich ausgerottet hatten. Dementsprechend sind nun auch die "Akademie der Wissenschaften" in "Kanada" und die "Sozietät der Altertümer" in Hudons Bai angesiedelt – also nicht wie ihre zeitgenössischen Vorbilder in den europäischen Metropolen Paris oder London, sondern ausgerechnet auf dem Stützpunkt der kolonisatorisch bedeutsamen britischen Handelsgesellschaft. Es sind also die ehemals Unterworfenen, die nun in den ehemaligen politischen und wirtschaftlichen Machtzentren der Kolonisatoren "mit vielen Zitaten aus den alten teutschen, französischen und englischen Schriftstellern beweisen, daß hier einmal Europäer wohnten"– die nun aber leider nur Nachttöpfe und vermoderte Strümpfe hinterlassen haben. Es ist eine verkehrte Welt, die Wezel hier virtuos schildert – ein klassisches Satire-Muster seit der Antike.
Allerdings werden die neuen Wissenschaftler sich dabei ebenso verirren wie ihre altehrwürdigen europäischen Vorbilder; sie werden nämlich energisch über äußerst wichtige Angelegenheiten streiten, wie beispielsweise die Frage, "ob die Robinsonianer hohe oder niedrige Absätze an den Schuhen trugen" (eine Anspielung auf das Tragen von Schuhen mit hohen Absätzen, den Kothurn, in der griechischen Tragödie, und von Schuhen mit niedrigen Absätzen, den Soccus, in der Komödie); oder sie werden versuchen, "englische und spanische Inschriften auf verfaulten Brodschrankthüren" zu entziffern, also in der ehrwürdigen Tradition der Akademien der antiken Inschriften Schriftzeugnisse sammeln – die aber leider nicht schön in Marmor gemeißelt sind, sondern in vergessenen Sprachen auf wenig werthaltige Materialien verfasst wurden und deshalb nun mit ähnlich unzureichenden Mitteln untersucht werden wie zu Beginn der europäischen Neuzeit die rätselhaften ägyptischen Hieroglyphen.
Aber Wezel treibt die Satire noch weiter: Ausgerechnet die Eskimos werden die erbärmlichen Überreste der ehemaligen Kolonisatoren "sauber in Kupfer stechen" – jedes ethnologische Standardwerk der Zeit, beispielsweise über die Eskimos, prunkte mit punktgenauen Kupferstichen zu den Kommentaren der gelehrten Reisenden. Der Titel dieses neuen Standardwerks wird, wie weiter unten enthüllt, "Robinsonia illustrata" lauten, eine Anspielung auf illustre Namen berühmter ethnologischer Standardwerke des 17. und 18. Jahrhunderts wie "China"oder "Hispania" oder "Batavia illustrata". Weitere Kommentatoren werden die Kommentare der Eskimos kritisch übersetzen und mit pedantischer Gelehrsamkeit bewerten, und zwar ausgerechnet in Novazembla – einer sibirischen Insel im Polarmeer, die im 18. Jahrhundert immer dann bemüht wird, wenn man vom Ende der Welt und jeglicher Zivilisation sprechen will. Die Grönländer hinwiederum fertigen Nachdrucke der bebilderten Robinsonia Illustrata an – eine verbreitete verlegerische Praxis im 18. Jahrhundert, unter der Wezel wie andere Autoren viel zu leiden hatte, nicht nur wegen der damit verbundenen finanziellen Einbußen, sondern auch wegen der dabei häufig vorkommenden Textentstellung durch Druckfehler. Als nächstes melden sich die Rezensenten zu Wort – neben den Nachdruckern die zweiten Hauptfeinde der Autoren nicht nur des 18. Jahrhunderts – und kritisieren noch einmal die kommentierenden Nachdrucke der ursprünglichen Kommentare (und das alles zu den vermoderten Strümpfen, wohlgemerkt!).
Nachdem das Werk nun wirklich niemand mehr lesen will, erklärt man die Robinsonia Illustrata zur Kinderlektüre, genauer zu einem "Elementarwerk" – eine versteckte Anspielung auf Basedows Elementarwerk, ein bekanntes pädagogisches Kompendium der Zeit –, was natürlich sehr hintersinnig ist, wenn es ausgerechnet in einer Robinsonade steht, aber sogar die Kinder wollen es nicht mehr sehen. Deshalb verschicken nun die Buchhändler die verbliebenen Auflagen als Makulatur nach Kamtschatka – ähnlich wie Novazembla im 18. Jahrhundert eine Chiffre für Wildheit und Unzivilisiertheit entlegener Gegenden schlechthin. Dort wird es zu Patronen verarbeitet, "weil dort ein blutiger Krieg entstanden ist, worinne man sich mit der Robinsonia Illustrata die Köpfe zerschießen will". Das wirft ein ganz neues Licht auf die gefährlichen Wirkungen gedruckter Worte – und ist immer noch nicht völlig überzogene Satire, sondern Realität: Aus Makulatur, also fehlerhaften Druckprodukten aus Papier, wurden damals tatsächlich (wenn auch nur blinde) Patronen gefertigt. Der Scherz ist verbreitet in zeitgenössischen Satiren; so heißt es beispielsweise auch in Friedrich Nicolais Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker: "Die Gewürzkrämer machen auch eine wichtige Konsumtion von Büchern, und in diesem Kriege sind viele Streitschriften wider die Ketzer, die mir zur Last lagen, in Patronen verschossen worden". Ein weiterer Teil der Robinsonia Illustrata wird jedoch friedlich verwendet: Papiermacher in Sibirien machen daraus dringend benötigte "schöne Literatur" und bedrucken es mit nunmehr sehr beliebten tschuwaschischen Versen (wir bleiben geographisch im nördlich-exotischen Kontext…). Wenn nun aber die "dritte Hälfte" der Robinsonia Illustrata" an "andern Orten" "zu beliebiger Konsumtion verbraucht wird", ist der Gipfel der Satire erreicht: Und ob es sich dabei eher um das stille Örtchen oder die mathematisch wahrlich erstaunliche "dritte Hälfte" handelt, darf der Leser selbst entscheiden.
Der Text endet aber nicht mit Wezels eigenen Worten, sondern vielmehr mit einem klassischen lateinischen Bildungszitat: sic transit gloria mundi (so vergeht der Ruhm der Welt). Das geflügelte Wort geht zurück auf eine Bibelstelle aus dem ersten Johannesbrief ("Und die Welt vergeht mit ihrer Lust; wer aber den Willen Gottes tut, der bleibt in Ewigkeit“) und wurde bekannt in der Abwandlung des Mystikers Thomas von Kempen: "O quam cito transit gloria mundi!" Es ist vielleicht kein Zufall, dass Wezel sich genau in diesem Kontext vom Nordpol, Grönland und den Eskimos entfernt und statt dessen den gänzlich unbekannten Südpol herbeizitiert – "und endlich ist der Name Robinsonia aus allen menschlichen Köpfen und Büchern so gänzlich vertilgt, daß man so wenig von der Insel weiß als wie vom Südpole". Denn tatsächlich war es auch dem berühmten James Cook bei seiner zweiten Entdeckungsreise gerade eben nicht gelungen, die 'terra australis incognita', das große unbekannte Südland, zu finden (die ersten Menschen erreichten den Südpol erst 1911). Und Cooks in Deutschland beinahe ebenso berühmter Mitreisender Georg Forster hatte das sic-transit-Zitat ebenfalls an prominenter Stelle seines Berichts über seine Reisen mit Cook, der Reise um die Welt, benutzt, nämlich bei der Beschreibung des idyllischen Tahiti, das im 18. Jahrhundert gern als wiedergefundenes Paradies (bzw. als weitere Verkörperung des Rousseauschen Naturzustandes) betrachtet wird. Forster schreibt nämlich über die Wirkungen ihres Aufenthaltens auf Tahiti:
"Kurz überall, wo wir nur hin blickten, sah man die Künste aufblühen, und die Wissenschaften tagten in einem Lande, das bis izt noch eine lange Nacht von Unwissenheit und Barbarey bedeckt hatte. - Allein dies schöne Bild der erblühten Menschheit und Natur war von keiner Dauer. Gleich einem Meteor verschwand es fast so geschwinde als es entstanden war. […] in wenigen Jahren wird der Ort unsers Auffenthaltes nicht mehr zu kennen, sondern zu dem ursprünglichen chaotischen Zustande des Landes wieder herabgesunken seyn. Sic transit Gloria mundi!"
Tahiti trifft also das gleiche Schicksal wie Robinsonia (wie, aus der christlichen Perspektive des Johannes gesehen, natürlich alle irdischen Dinge schlechthin, unabhängig vom Grad ihrer Zivilisation oder ihrer moralischen Qualifikation oder was auch immer)!
Letztlich aber ist der besondere Witz dieser besonders gelungenen kulturgeschichtlichen Satire am Ende von Wezels Robinson Krusoe nicht nur, dass die Franzosen von heute die Grönländer von morgen und die Kolonisatoren der Neuzeit die vergessene wissenschaftliche und kulturelle Avantgarde der Zukunft sein könnten – auch wenn man Wezel ein fortgeschrittenes kolonialismuskritisches Bewusstsein attestieren kann, wenn er an anderer Stelle schreibt:
"Ob die Teutschen Genie haben, das heißt, räsonnieren, dichten und schön schreiben können, ist eine Frage, die man keiner Antwort würdigen sollte: der Hottentot und der Grönländer, der Karaibe und der Kamtschadale hat die Anlage dazu so gut als der Grieche, Franzose und Teutsche; denn dieSeelen aller Menschen sind nach Einer Regel gemacht, ihre Organisation nach Einerley Grundgesetzen gebildet".
Nein, der eigentliche Witz ist natürlich, dass es Wezel doch gelungen ist, Robinsonia in gewisser Weise unsterblich zu machen, und das ganz ohne säuberliche Kupferstiche und gelehrte Kommentare: als Inbegriff einer skeptisch inspirierten, realistisch ausformulierten Menschheitsgeschichte, die anstelle von vermeintlich zielgerichteter Entwicklung und zivilisatorischem Fortschrittsglauben zeigt, dass politische Gesellschaften sowie wirtschaftliche Systeme genauso von "Noth, Zufall, Leidenschaft, Witz" (Vorrede) geleitet werden wie das Leben der einzelnen Menschen in ihnen. Das aber liest sich denn doch nicht so leicht wie die Abenteuer eines erfindungsreichen Schiffbrüchigen und seines Kameraden Freitag bei den Menschenfressern der Südsee (und bisher ist auch noch niemand darauf gekommen, den zweiten Teil von Wezels Robinson als Kinderlektüre zu vermarkten). Für den erwachsenen Leser jedoch bietet sie ein skeptisches und unterhaltsames Panorama des geschichtsphilosophischen, politischen und ökonomischen Denkens der Zeit, wie man es bei kaum einem anderen Autor finden kann.
Es gibt die Klage wahrscheinlich schon so lange, wie es Bücher gibt, aber heute scheint sie berechtigter denn je: Es wird nicht mehr gelesen. Zwar wird weiterhin veröffentlicht (man hat sogar den Eindruck: je mehr, desto weniger gelesen wird), aber gerade unter Kindern und Jugendlichen gehört das Lesen sicherlich nur noch für eine Minderheit zu den aktiv betriebenen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung: Zu groß sind die Ablenkungen der schönen neuen multimedialen Spielwelt, zu bunt und aufregend die Bilder auf Computer- und Fernsehbildschirmen, als dass man sich in eine graue Bleiwüste versenken wollte - und wenn doch, dann muss sie wenigstens in ungefähr genauso funktionieren wie die virtuellen Bilderwelten – viel Action also, Fantasy, Tempo, Sensationen über Sensationen.
Das jedoch schließt nicht nur die großen Werke unserer "klassischen" Literatur aus (die im Schulkanon ein sehr kümmerliches Dasein fristen), sondern den überwiegenden Teil aller literarischen Texte überhaupt, die vor dem Beginn des neuen Jahrtausends geschrieben sind. Sie spielen in alten, kaum noch vorstellbaren Lebenswelten; sie haben Figuren, mit denen man sich nur schwerlich identifizieren kann; sie verwenden eine altertümliche Sprache und Begriffe, mit denen man nichts mehr anfangen kann; und sie erzählen noch auf eine andere Art und Weise. Allgemeiner gesagt: Sie haben andere Reize, andere Attraktionen, für die kaum noch ein Wahrnehmungsorgan zu existieren scheint, auf die der heutige Leser nicht mehr trainiert ist – denn dass Lesen sich von selbst versteht, sobald man einmal die 26 Buchstaben des Alphabets verinnerlicht und verstanden hat, wie sie sich zu Silben und Wörtern fügen, gehört leider zu den frommen Lügen der Moderne. Nein, lesen will geübt sein wie jede Kulturtechnik, die auf sich hält, und je mehr und früher, desto besser!
Insofern wird es zu den Aufgaben künftiger Literaturwissenschaftler gehören, Texte nicht nur editorisch zu erhalten und gelehrt zu kommentieren, sondern auch zu vermitteln, so sehr sie sich auch mit all ihrem modernistischen Selbstverständnis als spezialisierte Wissenschaftler dagegen wehren. Dazu wird es nötig sein, sie zu aktualisieren; sie also unter Einsatz all der erlernten Fachkompetenz daraufhin zu befragen, was denn ein heutiger Leser, der guten Willens, aber ohne ein intensives Lesetraining daherkommt, mit ihnen anfangen kann, wie er Freude (notfalls auch: Spaß) aus ihrer Lektüre ziehen kann, und wie er etwas von ihnen lernen kann – auch und gerade, wenn sie von Autoren abseits des historischen Höhenkamms verfasst wurden. Denn vielleicht könnten diese sogar zugänglicher sein als die "Klassiker": Schließlich mag nicht jeder die Gipfel des Geistes mühsam erklimmen, wenn man doch auch im Mittelgebirge ganz gemütlich unterwegs sein könnte (zu den Niederungen des Trivialen muss man die meisten ja nicht direkt zwingen).
Beginnen wir also mit Wezel. Beginnen wir mit einem Text von ihm, der eher wenig gelesen wird, aber in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert ist, nämlich seinem letzten großen Roman: Wilhelmine Arend, oder die Gefahren der Empfindsamkeit aus dem Jahr 1783. Es ist, zum ersten,sein einziger Roman mit einer weiblichen Hauptfigur - und damit schon einmal interessant für alle diejenigen, die gern über Fragen weiblicher Identität diskutieren möchten, sei es nun in den Modebegriffen der Gender-Debatte oder auch nur aufgrund der eigenen lebensweltlichen Kompetenz als geschlechtliches Wesen. Es ist zum zweiten, sein einziger Roman, der tragisch endet: Wilhelmine stirbt, ihr Liebhaber und zweiter Ehemann Webson ist trostlos. Es gibt auch keine Nachkommen und keinerlei Aussicht mehr, irgendwelche Gärten zu kultivieren(wie im Belphegor, Wezels erstem Roman), sich in der eigenen Sonderlichkeit abseits der Welt einzurichten (wie bei Tobias Knaut oder Kakerlak) oder gar ein erfülltes Eheleben zu führen (wie in Herrmann und Ulrike, Wezels bekanntestem Roman). Am Ende heißt es vielmehr erbarmungslos:
"Die Betrübniß begleitete ihn [Wilhelmines Ehemann Webson] und ist noch itzo seine Gesellschafterin in der Einsamkeit: er flieht die Menschen, um sich nicht zu erinnern, daß es Glückselige gibt, die noch besitzen, was er verlor. In seiner Seele herrscht Melancholie und todte Stille, wie auf dem grünen Rasenhügel, worunter seine Wilhelmine ruht".
Kein Happy-End also für Wilhelmine Arend; was den Roman zwar wiederum für den modernen, an leichter Unterhaltung interessierten Leser eher unverträglich macht, aber ihm andererseits ein gewisses zeitüberdauerndes existentielles Schwergewicht verleiht: Warum siegen eigentlich Melancholie und "todte Stille"? Dieser Befund nämlich ist der Moderne nicht ganz fremd; wir würden anstelle von Melancholie nur von einer Depression sprechen (einer der Volkskrankheiten mit den stärksten Zuwachsraten in der letzten Zeit), medizinisch exakter: von einer bipolaren Störung, dem pathologischen Befund eines Schwankens zwischen manischen und depressiven Stimmungen, therapiebar, sicherlich, aber im schlimmsten Fall mit letalem Ausgang. Krankengeschichten aber kommen niemals aus der Mode!
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