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Friedrich Schiller

 

Publikationen

»Philosophischpoetische Visionen«. Schiller als philosophischer Dilettant. In: Dilettantismus um 1800. Hg. von Andrea Heinz und Stefan Blechschmidt. Heidelberg 2007, S. 185-204. (Volltext)

Kulturelles Gedächtnis um 1800. Die ethische und ästhetische Neufunktionalisierung der Antike in Schillers ›Die Götter Griechenlands‹. In: Convivium academicum 2004. 250 Jahre Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt. Hg. von Klaus Manger. Erfurt 2007, S. 225-243.

Freude, Freundschaft, Beschäftigung. Zur Poetologie der Gefühle in Schillers Lyrik. In: Der ganze Schiller. Hg. von Klaus Manger in Verbindung mit Nikolas Immer. Heidelberg 2007, S. 233-250.

»Körper und Stimme leiht die Schrift dem stummen Gedanken« - Schillers Gedankenlyrik. In: Schillers Lyrik. Hg. von Silke Henke und Nikolas Immer. Weimar 2012, S. 11-32.

»Die wahre, die tätige, produktive Freundschaft«. Die Freundschaft von Goethe und Schiller im Spiegel ihres Briefwechsels. In: Rituale der Freundschaft. Hg. von Klaus Manger und Ute Pott. Heidelberg 2007, 193-205.

Kindsmörderinnen, Familienväter, Homunculi – Literarische Geburten bei Goethe und Schiller. In: Publications of the English Goethe Society 81.3 (2012), S. 152-165. 

Unpubliziert: 

  • Freiheit als schöne Kunst betrachtet. Essay zum 200jährigen Todestag von Friedrich Schiller (Volltext)
  • Annäherung an den Kranich



 

Annäherung an den Kranich (in drei Schritten,
mit Schiller und Brecht)


I. Das Erlebnis: Erhabenes, geballt auf abendlichen Wiesen


Es war dann doch überwältigend. Wir waren noch bei hellem Sonnenschein und mäßig sommerlichen Temperaturen hinausgefahren auf dem bunten Schaufelraddampfer. Auf den Uferwiesen tummelten sich schon größere Mengen von Vögeln, weiße Tupfen gegen das metallische Blau des windstillen großen Sees, aber alles war friedlich, sogar die einzelnen Fischerboote dümpelten. Wir waren natürlich gespannt: Kraniche hatte man uns versprochen, die Dame im Buchungsbüro hatte auf unsere skeptische Nachfrage hin geantwortet, sie könne nicht genau sagen, ob es Hunderte oder eher Tausende seien würden? Na gut, einzelne Paare begannen einzutrudeln, elegant im Paarflug segelnd, und durchs Gehirn streifte eine vereinzelte Brecht-Zeile: „Seht jene Kraniche in hohem Bogen / Die Wolken, ihnen beigegeben. / Flogen mit ihnen schon, als sie entflogen / von diesem in ein anderes Leben“. Natürlich hatte man das als Liebesgedicht gelesen, damals in der sentimentalen Jugend, nicht als ein Gedicht über Kraniche, aber was wusste man damals schon; und ganz falsch war es vielleicht auch nicht gewesen. Inzwischen jedoch, so verkündete der Lautsprecher in rührend syntaktisch-ungeschickten Sätzen, könnte man ganz dort hinten schon die ersten Züge erkennen; man strengte sich an, starrte in den sehr langsam dunkler werdenden Himmel, war das nur ein Wolkenstreif oder – nein, tatsächlich, die Kraniche flogen ein, sie flogen Zug um Zug, mal in geordneten Linien, mal in wirren, sich gerade umsortierenden Haufen, hier im spitzwinkligen, dort im stumpfwinklingen Dreieck. Sie machten einen Landeanflug, der mit einer Kurve begann, auf einmal sah man nicht mehr die langgestreckten Körper mit der leichten Schwellung in der Mitte, sondern nur noch schlanke Silhouetten, die in der schon tieferstehenden Sonne noch blitzten, dann streckten sie die schmalen Beine aus, und schon waren sie verschwunden im grauen Gewimmel auf der Wiese, das nun immer dichter wurde. Und da kamen schon die nächsten, an einer etwas anderen Stelle des immer größer werdenden Himmels; und da, man hörte sie jetzt schon weitem, ein anschwellendes Krah-Krah, es kam von dort, oder kam es von dort, oder von – und auf einmal flogen sie an, von fast allen Seiten, ein langer Zug nach dem Anderen, ja, es waren gewiss Tausende, und keiner wusste mehr, wohin er das leuchtende Handy zuerst richten sollte. Die Menschenmasse gab entzückte kleine Laute von sich, die aber bei weitem übertönt wurden vom immer lauteren, jetzt schon fast bedrohlichen Krah-Krah, dicht über den Köpfen, dort über dem Wasser, von hinten nachrückend, von den Seiten aufschließend, sich in grauen Schwärmen auf den Wiesen ballend. Lange hatte man sich nicht so – kollektiv erhaben gefühlt. Brecht war inzwischen verdrängt von einer anderen Stimme, sie nagte noch im Unterbewusstsein und sang die „Kraniche des Ibykus“, was war das noch? Als die Betäubung dann vorbei war und die Schwärme abklangen, war man ein wenig mitgenommen und ein wenig leer. Zeit zum Nachlesen!


2. Die Ballade: Graulichtes Geschwader, im Gedränge


Die Kraniche des Ibykus also, Ballade von Schiller. Tatsächlich fliegen die Kraniche in ihrem völkerverbindenden Zug bis heute über den Isthmus von Korinth. Sie taten das wohl auch schon in der Antike, wo sich die griechischen Völker, friedlich für eine kurze Zeit, zu den isthmischen Spielen trafen; es galt den „Kampf der Wagen und Gesänge“, Athletik des Geistes neben der des Körpers. Da machte sich auch auf Ibykus aus Rhegium, berühmt schon in jungen Jahren und vom jugendlich-sonnengleichen Gott Apoll begünstigt mit der Gabe des Gesanges, „der Lieder süßen Mund“. Und Ibykus wandert frohen Mutes und „mit leichtem Stab“, in der Ferne sieht er schon Akrokorinth auf dem Hügel, das Ziel seiner freudigen Reise. Doch vorher ist „Poseidons Fichtenhain“ zu durchqueren, die Götter sind auch hier anwesend, der leicht fühlsame Wanderer spürt sie am „frommen Schauer“; und über ihn zieht, „fernhin nach des Südens Wärme“, ein Schwarm von Kranichen, in „graulichtem Geschwader“ ziehen sie, und ein leicht fühlsamer Leser, eine sympathetische Leserin könnte hier vielleicht schon den ersten Schauder fühlen, eine kleine Ahnung wie eine kleine grau-lichte Wolke am noch hellen Himmel. 

Der Dichter jedoch grüßt die großen Vögel als treue Reisebegleiter (bis heute zehrt die deutsche Lufthansa von diesem Bilde): Sie wandern zwischen den Welten, wie er, der Dichter; und wie er müssen sie darauf vertrauen, gastlich aufgenommen zu werden in der Ferne, unter einem „wirtlich Dach“. Doch im Walde, da wohnen auch die Räuber und Ibykus soll niemals in Korinth ankommen. Genau in „des Waldes Mitte“, dort wo er am tiefsten, am fremdesten, am dunkelsten ist, erscheinen zwei Mörder auf „gedrangnem Steg“ – und die Leserin springt, mitten im Text schon, die Fremdheit des seltsamen Wortes an: „gedrangen“, man fühlt das Unbehagen förmlich, eingeklemmt zwischen „gedrungen“ und dem „Andrang“ entsteht ein Wort-Gedränge, in dem der schwache Sänger, gewohnt die Lyra zu halten und nicht den Bogen zu dehnen, unterliegen muss, den hirnlosen, aber bizepsstarken bösen Buben, die tatsächlich „Mörder“ genannt werden: Sie wollen nichts von dem armen, fremden Sänger, als sein Leben. Der letzte Blick des sterbenden Ibykus richtet sich auf den Himmel, und er beklagt, sprachgewaltig bis zum Ende, dass er nun ungerächt vergehen müsse, verlassen, „unbeweint“ auf fremden Boden. Und in gedrangner Not ruft er die Kraniche an, die einzigen Zeugen eines Endes, die in ihrem gewaltigen völkerverbindenden Zug jetzt den ganzen Himmel verdunkeln; er sieht sie schon nicht mehr, aber er hört „die nahen Stimmen furchtbar krähn“, das harte Kra-Kra, das ihnen den Namen gegeben hat, und er fleht sie an, für ihn zu sprechen, Anklage zu erheben. Dann stirbt er, nackt, entstellt von Wunden, ein wenig schimmert Christus durch die Beschreibung, ein anderer Fremder auf dieser Welt, getötet von bösen Buben. 

Sein Gastfreund in Korinth jedoch, der, der ihm ein „wirtlich Dach“ geben wollte, erkennt das entstellte Opfer an seinen Gesichtszügen und bricht in beredte Klage aus: Dahin sind der friedliche Sieg und der erhoffte Ruhm; und alle Gäste, versammelt im Namen der Götter und des friedlichen Kampfes leiden mit ihm. Das Volk jedoch leidet nicht still und nicht beredt, nein, es wütet: Es will Blut sehen, Rache muss geübt werden, nur so kann das Verbrechen gesühnt werden, das ist die älteste Gerechtigkeit der Welt und sie wohnt tief im kollektiven Unterbewusstsein. Wo jedoch soll man sie finden, die „schwarzen Täter“, die Feiglinge? Waren es vielleicht Konkurrenten, Neider? Man weiß es nicht, man wird es nicht wissen. 

Nur Helios, die Sonne selbst, die die Kraniche am Himmel begleitet in ihrem graulichten Zug, mag es wissen; nur der allsehende Sonnengott kann sehen, wie die Frevler mitten am hellichten Tage den Göttern und ihren Schützlingen trotzen. Sie drängen sich unter die „Menschenwellen“, wieder ein Gedrang, geballt fluten sie in Richtung des großen Theaters, wo Bank an Bank gedrängt der Griechen Völker sitzen. Und der Bau wächst über sich selbst hinaus: Die Stimmen vereinen sich „dumpfbrausend wie des Meeres Wogen“, und die dicht gefüllten Reihen scheinen menschenwimmelnd, aber doch geordnet in „stets geschweiftem Bogen“ hinauf bis zum Himmel zu wachsen; er ist blau, dort wohnen die Götter, dort strahlt Helios, der alles sieht, das weiß jeder Einzelne in der anonymen Masse und vergisst es nicht im Gedränge. „Wer zählt die Völker, nennt die Namen“ entspringt als geflügeltes Wort dieser Ballade, es wird maßlos missbraucht werden, wie alle geflügelten Wörter, die in die Enge der Alltagssprache geraten; in der Ballade jedoch werden sie aufgezählt, die Völker, werden mit ihren fremden Namen genannt: Sie kommen sogar aus Asien, sie kommen „aus allen Inseln“, sie haben sich vereint zur Kathedrale des Theaters und genießen den Gastfrieden. Doch nun verstimmt das Stimmengewirr, denn der Chor tritt auf; und man kann sich die Szene nicht düster, nicht schauerlich genug vorstellen. Aus der Tiefe der kollektiven Vergangenheit treten maskierte Gestalten auf der Bühne, unkenntlich sind sie, vermummt, riesenhaft und weiblich, aber: „So schreiten keine irdschen Weiber!“ Stumm umschreiten sie das Proscenium, in einer Parade des Schreckens, mit „langsam abgemeßnem Schritt“; sie folgen einem alten, tiefen, im Blut verankerten Rhythmus, und ihr Singen ist nicht melodisch wie die süßen Töne aus dem Munde des Götterfreundes Ibykus, sondern von „grauser Melodie“ wie das Geschrei der Kraniche. Gehüllt in lange schwarze Mäntel schreiten sie und schreiten sie; in ihren dürren Händen schwingen sie blutrote Fackeln, aber ihre eignen Wangen sind blutlos-gespenstisch, und anstelle von Haaren, die lebendig über Dichterstirnen flattern und sich mit der Lorbeerkrone verflechten, ringeln sich Schlangen mit „giftgeschwollnen Bäuchen“. Sieht man sie wirklich, oder ist es eine Vision, die die Menge ergriffen hat und unwiderstehlich Gewalt und Gestalt gewinnt; ein sich im Kreise drehender und niemals endender Alptraum eines früheren Seins, einer archaischen Gemeinschaft vor der sanften Menschlichkeit, „die besinnungsraubend, herzbetörend“ wirkt? 

Besinnungsraubend, herzbetörend – in diesen gedrängten Worten drängt der Dichter die Gewaltsamkeit der Erscheinung zusammen, denn die schwarzen Überweiber rauben den Menschen nicht nur den Verstand, nein, sie verzaubern, betören, vergiften auch sein Herz, ja, schlimmer noch: Ihr Gesang verzehrt des Hörers Mark von innen her auf. Willenlos wird das Menschengewimmel, der sanften Stimme der Dichtung ebenso wenig zugänglich wie der weisen der Vernunft. Und die schwarzen Überweiber in ihren wehenden Mänteln sprechen alle frei, die sich eine „kindlich reine Seele“ bewahrt haben; nur sie allein könnten „frei des Lebens Bahn“ wandeln, im Gespräch mit den Göttern und der Natur, so wie Ibykus vertrauensvoll sich in den Wald begab, den er nie mehr verließ; aber er war frei und hatte eine kindliche Seele. Doch der Verbrecher, der Mörder gar, ist von nun an und für immer gefangen: Er wird gejagt von den Erinnyen, dem „furchtbaren Geschlecht der Nacht“, und nie mehr wird die Sonne des Helios für ihn scheinen, nie mehr wird er unbeschwert durch den Wald des Poseidon gehen können. Überall sind ihm die geflügelten dunklen Göttinnen auf den Fersen, und nichts kann sie versöhnen, keine Reue, kein Bitten und Flehen, noch nicht einmal der Tod: in der Unterwelt selbst, in ihrer ewigen Nacht, lassen sie ihn immer noch nicht los. Erbarmen liegt nicht in ihrer Natur, Vergebung kennen sie nicht. Sie setzen sich im Mark fest, und von dort zerstören sie den Mörder von innen. Düstere Stille lastet über dem Theaterrund, als die Riesenweiber, immer noch im „langsam abgemeßnen Schritt“ – es eilt ihnen nicht mit der Rache, sie haben die Ewigkeit gepachtet – wieder abtreten; und jeder einzelne im Menschengewimmel spürt in seiner eigenen Brust die Wirkungen einer uralten, dunklen, furchtbaren Macht, die im Verborgenen richtet, „unerforschlich, unergründet“, sie kennt keinen Prozess, keine Berufung, ob Trug oder Wahrheit, das interessiert sie nicht. 

Und während die Menge noch dämmert, zweifelt, bebt, erschauert, da erhebt sich plötzlich, beinahe erschrickt man beim Lesen, eine einzelne Stimme, man imaginiert sie unwillkürlich hell. Und sie spricht vernehmliche Worte und sie spricht sich selbst ihr Urteil: „Sieh da! Sieh da, Timotheus! Die Kraniche des Ibykus!“ Denn der Himmel hatte sich verfinstert, über das Theater hinweg zieht genau in diesem einzelnen Moment, nicht mehr graulicht, sondern zu „schwärzlichtem Gewimmel“ zusammengedrängt, das „Kranichheer“ – eine Masse ununterscheidbarer Leiber, verschmolzen zu einer dunklen Macht, geleitet von einem tiefen, unerforschten, unergründlichen Willen. Doch die Menge erwacht ebenso plötzlich, wieso, was hat es auf mit diesen Kranichen, was hat das mit dem erschlagenen Ibykus zu tun? Und „wie im Meere Well auf Well“ verbreitet sich die Nachricht, das Gerücht, die Erkenntnis: Nur der Mörder kann wissen, dass Ibykus in seinem letzten Moment noch Kraniche gesehen hat! „Mit Blitzesschnelle“ erkennen alle Herzen in einem Moment der Erleuchtung, dass dies das Werk der Eumeniden, der dunklen Rachegöttin ist: Die Mörder „bieten selbst sich dar“ zum Urteil. Und die Übeltäter verwünschen noch das schnelle Wort, das ihrem „schreckenbleichen Mund“ entfahren ist; kaum finden sie die Zeit, ihre Schuld zu bereuen, da werden sie schon vor den Richter geschleppt, und sie haben noch Glück, dass die Menge sie nicht auf der Stelle zerreißt. Die Theaterszene wandelt sich zum Tribunal, die Mörder gestehen, und kaum zwei Zeilen später ist die Ballade zu Ende, in einer gewaltigen Anti-Klimax: Das Werk des irdischen, menschlichen Rechts tut sein unspektakuläres Werk. Und es ist nicht wichtig, wie das Urteil fällt; wichtig ist, dass Rache geschieht, dass die Götter dafür gesorgt haben, das der Tod ihres Lieblings gesühnt wird. Gerechtigkeit aber ist das, was im Inneren geschieht; und niemals werden die Mörder wieder freie Menschen werden können, immer werden ihnen die Erinnyen auf den Fersen sein, sie werden Schlangenköpfe sehen statt flatterndem Dichterhaar, und niemals verstummt das heisere Krah-Krah der Kraniche mehr in ihren Ohren. Wer Mord begeht, hat sein inneres Mark zerstört. Der Mensch jedoch bewahre sich sein kindlich reines Gemüt, auch wenn er in den dunklen Wald geht. Die Kraniche aber sind wie die Menschenwellen, die der Chor der Menschenleiber antreibt: das Bild einer grau-lichten Macht, ewig hin- und hergerissen zwischen Licht und Schatten, Tag und Nacht; ein gewaltiger Anblick, ein Gedränge im begrenzten Raum des Himmels. Aber bevor sie sich paaren, tanzen sie.


3. Das Liebesgedicht: Wolke und Kranich, daneben


Das Gedicht von Brecht heißt übrigens Die Liebenden. Und es ist ja nicht ganz falsch. Immerhin geht es auch um den schönen Himmel und um Gastfreundschaft in Zeiten der Wanderung. Und es beschreibt auch etwas, das sich jenseits der Vernunft vollzieht, in Instinkten und Rhythmen, in der Wechselwirkung von Tier und Umgebung, in der stillen Übereinstimmung zwischen Wolke und Kranich. Denn nicht, wie man es allzu leicht assoziiert und damit verkennt, ist von zwei Kranichen die Rede; die Rede ist von den Kranichen und der ihnen beigegebenen Begleitwolke, zwei sehr unterschiedlichen Wesen in einer Beziehung von äußerst schwankender Dauer. Ihr Verhältnis, wenn man es denn „Liebe“ nennen will, gründet im Nichts des Augenblicks: einer gemeinsamen Wahrnehmung, einer geteilten Umgebung, einer rhythmischen Abstimmung im Moment, der man sich jedoch überlassen muss; reinen Herzens, mit einer kindlichen Seele, von Sonne und Mond beschienen, im Glauben daran, dass dieser Moment, diese Beziehung, dieses reine Verhältnis alles ist. Die Liebe nämlich ist, das wird auch in gereiftem Alter häufig übersehen, ein Moment geteilten und geschenkten Vertrauens, nicht sich unsterblicher wähnender Leidenschaft; ein „daneben“ mehr denn ein „miteinander“. (Hier ist das Gedicht:)


Seht jene Kraniche in großem Bogen!
Die Wolken, welche ihnen beigegeben
Zogen mit ihnen schon als sie entflogen
Aus einem Leben in ein anderes Leben.
In gleicher Höhe und mit gleicher Eile
Scheinen sie alle beide nur daneben.
Daß so der Kranich mit der Wolke teile
Den schönen Himmel, den sie kurz befliegen
Daß also keines länger hier verweile
Und keines anderes sehe als das Wiegen
Des andern in dem Wind, den beide spüren
Die jetzt im Fluge beieinander liegen:
So mag der Wind sie in das Nichts entführen.
Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben
So lange kann sie beide nichts berühren
So lange kann man sie von jedem Ort vertreiben
Wo Regen drohen oder Schüsse schallen.
So unter Sonn und Monds verschiedenen Scheiben
Fliegen sie hin, einander ganz verfallen.
Wohin ihr? - Nirgend hin. Von wem davon? - Von allen.
Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen?
Seit kurzem. - Und wann werden sie sich trennen? - Bald.
So scheint die Liebe Liebenden ein Halt.



"Philosophischpoetische Visionen" -
Schiller als philosophischer Dilettant

 

Die Behandlung von Schiller als philosophischer Dilettant im abwertenden Sinn hat eine lange Tradition in der Wirkungsgeschichte seiner ästhetischen Schriften. Von der Fachphilosophie wurden die Texte bis heute kaum zur Kenntnis genommen. Das zeigt in aller Deutlichkeit die im Schiller-Jahr erschienene Monographie von Frederick Beiser zu Schiller as Philosopher. A Re-Examination – immerhin verfaßt von einem veritablen Professor der Philosophie und Preisträger mehrerer akademischer Auszeichnungen –, einen der wenigen Beiträge überhaupt, die sich nicht nur mit einzelnen Aspekten von Schillers ästhetischer Theorie beschäftigen, sondern versuchen, deren inneren Zusammenhang zu rekonstruieren. Beiser stellt im Einleitungskapitel zunächst den apologetischen Charakter seines Vorhabens klar: Die Schillerschen Texte stellten hohe Ansprüche an die Bildung des Lesers; sie seien enorm einflußreich für die Romantik und den deutschen Idealismus gewesen; und sie seien insgesamt, und zwar explizit unter Anlegung eines fachphilosophischen Maßstabs, zu bewerten als "some of the most searching, thorough and rigorous writings on aesthetics in the Western philosophical tradition".[1] Umso erstaunlicher sei es, daß sie lange Zeit sowohl von der englisch- wie auch deutschsprachigen Fachphilosophie gegenüber den Kanongrößen Kant und Hegel völlig vernachlässigt worden seien.[2] Die Gründe dafür sieht Beiser vor allem in der fatalen Tendenz der modernen akademischen Welt zur Arbeitsteilung[3], die es von vornherein ausschließe, daß ein und derselbe Autor als Philosoph und als Poet ernst genommen werden kann: "For our own specialized age, this can only mean one thing: that Schiller must have been an amateur philosoph".[4] Mit dieser Begründung sei der Philosoph Schiller von den akademischen Vertretern der Disziplin seit längerer Zeit den Literaturwissenschaftlern überlassen worden, die ja offensichtlich für einen philosophisch nur dilettierenden Amateur zuständig sein mußten.[5]

Ein Amateur-Philosoph jedoch, so Beiser, sei Schiller nun keineswegs gewesen. Das zeigten sowohl der Inhalt wie die Form seiner Beiträge zur Ästhetik:

we have no choice but to treat his aesthetic writings as philosophy. They are philosophical not only in the questions they raise but also in the method with which they answer them. In standard philosophical fashion Schiller analyzes concepts, makes distinctions, lays down definitions, and engages in sustained discursive argument.[6]

Dazu komme seine substantielle philosophische Ausbildung an der Karlsschule sowie seine enorme praktische Erfahrung. All dies spreche dafür, daß Schiller eine substantielle ästhetische Theorie auf der Grundlage seines breiten Erfahrungsschatzes methodisch korrekt konzipiert und systematisch solide durchgeführt habe. Daß dies auch die Literaturwissenschaftler letztlich nicht anerkannt hätten, führt Beiser wiederum auf einen Professionalisierungszwang zurück. Sobald nämlich ein Literaturwissenschaftler sozusagen in Vertretung eines Philosophen agiere, stehe er unter starkem Rechtfertigungszwang, um nicht selbst als Dilettant zu erscheinen:

Anxious to prove their own philosophical credentials, they [die "literary historians"] stress Schiller's many philosophical vices: his vagueness and inconsistency, his bungled conceptual divisions, his many lapses in argument. Such mistakes, they assume, could only be made by a poet.[7]

Diesem Argument hält Beiser entgegen – und es ist nochmals daran zu erinnern, daß hier ein etablierter, erfahrener, international anerkannter Philosophie-Professor spricht:

What these scholars are too polite to say, however, is that such blunders are endemic in philosophy. As any philosopher would concede, they are simply business as usual.[8]

Darüber hinaus kehrt er in diesem Zusammenhang sogar den verbreiteten Kant-Schiller-Vergleich[9], der normalerweise von Philosophen wie Literaturhistorikern klar zu ungunsten des dilettierenden Dichter-Philosophen entschieden wird, um:

My central thesis is that, in fundamental respects, Schiller's ethics and aesthetics are an improvement on Kant's. Where Kant is vague, inconsistent and narrow, Schiller is clear, consistent, and broad.[10]

Ich habe die Ausführungen Beisers deshalb so ausführlich referiert, weil sie einen gemeinhin verschwiegenen, aber gleichwohl auch im Schiller-Jahr 2005 häufig mitschwingenden Subtext der Debatten um Schiller als Philosoph als Licht holen. Sowohl in den akademischen Grenzstreitigkeiten zwischen heutigen Literatur- und Philosophiehistorikern wie auch in den historischen Grenzstreitigkeiten zwischen Kant- und Schiller-Anhängern ist das erste Opfer Schillers Ästhetik selbst geworden. Beisers Rettungsversuch zielt demgegenüber auf das andere Extrem, nämlich die vollständige akademische und philosophische Rechtfertigung der Schillerschen Ästhetik als eigenständiges "System".

Wenn hier im folgenden trotzdem von Schiller als "philosophischem Dilettanten" die Rede ist, geht es mir nicht darum, Inhalt und Wert seiner ästhetischen Theorie zu bestimmen. Vielmehr ist zunächst zu klären, was ein philosophischer Dilettant im 18. Jahrhundert überhaupt ist,[11] und ob die Bezeichnung eine positive oder eine negative Bewertung impliziert. Denn letztlich hat sich Schiller selbst als einen solchen bezeichnet; in einem Brief an Körner vom 25. Mai 1792 – also zu Beginn seiner intensiven Kant-Studien – schreibt er:

Eigentlich ist es doch nur die Kunst selbst, wo ich meine Kräfte fühle; in der Theorie muß ich mich immer mit Principien plagen. Da bin ich bloß Dillettant.[12]

Ich werde deshalb im folgenden zunächst das Konzept des professionellen Philosophen beschreiben, wie es das 18. Jahrhundert vor allem in Gestalt des Schulphilosophen oder des Systemphilosophen vor Augen hat,[13] und zwar zum ersten anhand von Äußerungen der Zeitgenossen Schillers (I) und zum zweiten anhand von Schillers eigenen Äußerungen vor allem in seinen Briefen (II). In einem dritten Teil werde ich Schillers Essay Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen im Hinblick auf die darin vorgestellten Darstellungsweisen wissenschaftlicher, populärer und schöner Erkenntnis analysieren (III). Abschließend werde ich Defizite und Verdienste des Dilettantismus in der Philosophie am Beispiel Schillers diskutieren (IV). 

I. 

Eine interessante Parallele zur Diskussion um Schillers philosophischen Status findet sich in einer Schrift, die Mendelssohn und Lessing 1755 gemeinsam verfaßten: Pope, ein Metaphysiker?, heißt ihr satirischer Titel. Die Berliner Akademie der Wissenschaften hatte eine Untersuchung des "Popischen Systems, welches in dem Satze: alles ist gut enthalten ist" gefordert[14]; und Mendelssohn/Lessing machen sich nun daran, zuerst gut aufklärerisch und philosophisch korrekt die Fragestellung selbst zu konkretisieren und die ihr zugrundeliegenden Begriffe zu klären. Es gehe im wesentlichen darum, ob ein Dichter ein System haben könne, genauer: ob systematische Metaphysik – als strengste vorstellbare Form der Philosophie – mit dem Konzept eines Gedichts als "vollkommene sinnliche Rede"[15] vereinbar sei. Die Antwort ist ein eindeutiges und energisches "Nein"; sie wird mit einer Reihe methodischer und formaler Argumente untermauert. So basiere die Philosophie auf eindeutigen begrifflichen Definitionen; die Dichtung hingegen sei auf semantische Abwechslung und akustischen Wohlklang aus.[16] In der Philosophie sei der Gebrauch von Figuren verboten; die Dichtung hingegen lebe von deren Vieldeutigkeit und Unschärfe.[17] Die logisch folgerechte Ordnung der Schlüsse sei die Grundlage einer jeden Metaphysik; im Gedicht jedoch lasse sich die freie Begeisterung des Künstlers in kein Schema pressen.[18] Schließlich seien im System alle Aussagen auf Wahrheit verpflichtet.[19] Im Gedicht hingegen gehe es um die Überzeugung, weshalb sich die Dichter hemmungslos in den unterschiedlichsten und unvereinbarsten philosophischen Systemen bedienten und "mit dem Epikur" sprächen, wo sie die Wollust verherrlichen wollten, und "mit der Stoa", wenn sie die Tugend priesen.[20] Zusammenfassend halten Mendelssohn/Lessing – bezeichnenderweise in einem Bild – fest:

Der Philosoph, welcher auf den Parnaß hinaufsteiget, und der Dichter, welcher sich in die Täler der ernsthaften und ruhigen Weisheit hinabbegeben will, treffen einander gleich auf dem halben Wege, wo sie, so zu reden, ihre Kleidung verwechseln, und wieder zurückgehen. Jeder bringt des andern Gestalt in seine Wohnungen mit sich; weiter aber auch nichts, als die Gestalt. Der Dichter ist ein philosophischer Dichter, und der Weltweise ein poetischer Weltweise geworden. Allein ein philosophischer Dichter ist darum noch kein Philosoph, und ein poetischer Weltweise ist darum noch kein Poet.[21]

Das klingt verdächtig konsensfähig: "Ein philosophischer Dichter ist darum noch kein Philosoph", und schreibe er noch so grundlegende Abhandlungen und noch so gedankenschwere Gedichte. Es sollte jedoch festgehalten werden, daß Mendelssohn und Lessing mit dem Systemphilosophen und Metaphysiker einen Idealtypus zeichnen. Legt man eine andere Definition des Philosophen zugrunde, verschwimmen die soeben säuberlich gezogenen Grenzen wieder. So könnte man beispielsweise vermuten, daß der rationalistische Systemphilosoph bereits im späten 18. Jahrhundert eine ziemlich deutsche und noch dazu im Aussterben begriffene Spezies war – und deshalb die Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des arts et métiers, par une société de gens de lettres hinzuziehen. Denis Diderot selbst versucht in einem entsprechenden Artikel darzutun, was ein "Philosoph" eigentlich ist.[22] Dabei kommt er zunächst auf die üblichen Verdächtigen – Philosophen seien Leute, die nach Prinzipien denken und handeln, die sich an der Vernunft und nicht an der Leidenschaft orientieren.[23] Sie seien jedoch keine abgeklärten Weisen nach stoischem Muster und auch keine "systematischen Geister", die unbeirrbar an ihren einmal aufgestellten "Weltsystemen"[24] festhielten. Vielmehr sind sie verpflichtet, ihre Erkenntnisse in Anbetracht neuer Erfahrungen und Beobachtungen ständig zu reformulieren; sie gelten wegen ihrer aus Prinzipien resultierenden "Rechtschaffenheit"[25] als moralische Vorbilder und werden auf gesellschaftliche Nützlichkeit verpflichtet. Die aus alldem abgeleitete Definition Diderots lautet schließlich:

Der Philosoph ist also ein rechtschaffener Mensch, der in allen Dingen vernünftig handelt und der mit seinem nachdenkenden und richtig urteilenden Geist gute Sitten und gesellige Eigenschaften verbindet.[26]

Damit haben wir uns schon eine gute Strecke vom metaphysischen Schulphilosophen entfernt und uns einer gleichwohl anspruchsvollen Philosophie fürs Leben angenähert. Darüber hinaus findet sich jedoch in der Encyclopédie noch ein eigenes Kapitel über den esprit philosophique, den philosophischen Geist. Bei diesem handele es sich um ein "Geschenk der Natur, das durch die Arbeit, die Kunst und die Übung vervollkommnet ist, damit alle Dinge vernünftig beurteilt werden können"[27];

er ist der Maßstab für das Wahre und das Schöne. In den verschiedenen Werken, die aus der Hand der Menschen hervorgehen, ist nur das schätzenswert, was von ihm beseelt ist. Von ihm hängt insbesondere der Ruhm der schönen Wissenschaften ab.[28]

Eine ähnliche Begriffsdefinition findet sich auch in den wirkungsmächtigen Philosophischen Aphorismen (1793) von Ernst Platner. Platner unterscheidet dort den "philosophischen Geist", der "gereizt durch eine innere Unruhe der Seele und angetrieben durch ein dunkel gefühltes Interesse"[29] sozusagen von seiner Natur zur Reflexion angehalten wird, vom "philosophischen Kopf", der auch alle dazu nötigen Fähigkeiten hat. Von beiden existieren aber auch Negativformen: Wer "philosophischen Geist" ohne den dazu nötigen "Kopf" hat, ist kein Philosoph, sondern mit einem verbreiteten Terminus der Zeit ein "Schwärmer".[30] Hingegen ist ein "philosophischer Kopf" ohne den nötigen "Geist" ein "philosophischer Komödiant"[31], der den philosophischen Geist nur simulieren kann, oder – und das ist besonders bemerkenswert – ein "philosophischer Gelehrter", der kein wahres existentielles Interesse an philosophischen Fragen hat, sondern nur ein historisches.[32]

Ich denke, der esprit philosophique in der Encyclopédie bzw. der "philosophische Geist" Platners sind mögliche positive Bestimmungen des philosophischen Dilettantismus im 18. Jahrhundert. Dieser ist eine Begabung, ein Naturtalent, das jedoch trainiert werden muß; er wirkt belebend auf alle Schöpfungen des Menschen. Wird der "philosophische Geist" hinreichend ausgebildet und geübt, kann es sein Träger zu einer Art nobilitiertem philosophischem Dilettantismus bringen. Dieser kann auch auf die Fachphilosophie zumindestens anregend wirken und zudem deren extreme Auswüchse in Form des Systemwahns oder der haltlosen metaphysischen Abstraktion durch seinen Praxisbezug korrigieren; er ist besonders wichtig im Bereich der "schönen Wissenschaften". 

II.

Ein unmittelbarer Verwandter eines solchen "philosophischen Geistes" findet sich auch in Schillers Antrittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (1789): Dort unterscheidet Schiller zwischen dem "Brodgelehrten" und dem "philosophischen Kopf" in den Wissenschaften. Ersterer ist offensichtlich der (damalige?) akademische Normalfall des Gedächtnisgelehrten und Polyhistors, der nur auf wissenschaftlichen Ruhm und ökonomische Vorteile aus ist und unkooperativ auf seinem engen Fachgebiet vor sich hin forscht.[33] Letzterer, der philosophische Kopf hingegen, ist ständig bestrebt, sein Wissen zu erweitern und es auch für andere Wissensgebiete anschließbar zu machen. Er plädiert deshalb für ein notwendig interdisziplinäres Vorgehen: "denn nur der abstrahierende Verstand hat jene Grenzen gemacht, hat jene Wissenschaften von einander geschieden".[34] Schulmeinungen und Dogmen steht er feindlich gegenüber:

Durch immer neue und immer schönere Gedanken-Formen schreitet der philosophische Geist zu höherer Vortreflichkeit fort, wenn der Brodgelehrte, in ewigem Geistesstillstand, das unfruchtbare Einerley seiner Schulbegriffe hütet.[35]

Es geht also Schiller bereits hier um eine fruchtbare Form des Denkens, das sich nicht in sich selbst verschließt; es geht ihm um die Beziehung zur einen und ungeteilten Lebenswirklichkeit; und es geht ihm schließlich um eine bestimmte philosophische Methode: „Nicht was er treibt, sondern wie er das, was er treibt, behandelt, unterscheidet den philosophischen Geist“.[36]

Die eigene philosophische Betätigung im engeren Sinn[37] nimmt Schiller mit den Kant-Studien[38] und der Abfassung der großen Essays zur Ästhetik in den 90er Jahren auf.[39] Zwar betreibt er das Kant-Studium autodidaktisch, aber nichtsdestotrotz gründlich; bis zur Schließung seiner "philosophischen Bude" im Jahr 1795 stellt er die poetische Produktion ein und konzentriert sich ganz auf die philosophische Theorie. In mehreren Briefen an seinen Mäzen, den dänischen Prinzen von Augustenburg, reflektiert Schiller zwischen Februar und Dezember 1793 ausführlich Motivation, Intention, Methode und Form seiner philosophischen Betätigung.[40] Den biographischen Ausgangspunkt bildet seine seit der schweren Erkrankung im Januar 1791 immer noch zerrüttete Gesundheit; zur eigentlich poetischen Produktion fühlt er sich unfähig: "Mein jetziges Unvermögen die Kunst selbst auszuüben, wozu ein frischer und freier Geist gehört, hat mir eine günstige Musse verschaft, über ihre Principien nachzudencken"[41], heißt es im ersten Brief vom 9. Februar. Dazu komme die allgemeine "Revolution in der philosophischen Welt"[42], die die Kantische Philosophie ausgelöst habe und die auch die Ästhetik bedrohlich "erschüttert" habe.[43] Zu deren "Ritter" fühlt sich Schiller nun berufen:

Für jetzt zwar kann ich bloß einige flüchtige Ideen dazu liefern, weil mein Beruf zum Philosophiren noch sehr unentschieden ist, aber ich werde suchen, ihn mir zu geben. Zu Gründung einer Kunsttheorie ist es, däucht mir, nicht hinreichend, Philosoph zu seyn; man muß die Kunst selbst ausgeübt haben, und dieß, glaube ich, giebt mir einige Vortheile über diejenigen, die mir an philosophischer Einsicht ohne Zweifel überlegen seyn werden. Eine ziemlich lange Ausübung der Kunst hat mir Gelegenheit verschaft der Natur in mir selbst bey denjenigen Operationen, die nicht aus Büchern zu erlernen sind, zuzusehen. Ich habe mehr, als irgend ein anderer meiner Kunstbrüder in Deutschland durch Fehler gelernt und dieß, däucht mir, führt mehr als der sichere Gang eines nie irrenden Genies zur deutlichen Einsicht in das Heiligthum der Kunst.[44]

Schiller formuliert hier, mit aller Vorsicht und Zurückhaltung, eine Art Kant-Kritik: Die Philosophie der Kunst könne am besten von Künstlern selbst betrieben werden, und zwar speziell von solchen, die eine lange praktische Erfahrung mit einer Neigung zur Selbstreflexion und Selbstbeobachtung verbinden – "philosophischen Geistern" in der Kunst also. Damit verbunden ist zugleich ein bestimmtes Bild der Kunst selbst: Sie läßt sich – zumindestens nicht vollständig – aus "Büchern" lernen, sondern wirkt unmittelbar nach Regeln der Natur im Künstler. Im "Genie" ist diese unmittelbare Gewißheit so stark, daß es niemals zu "Kunstfehlern" kommt; für sich jedoch nimmt Schiller in Anspruch, daß er sogar mehr als seine "Kunstbrüder" erst durch Irrtum klug geworden sei.[45] Gerade die durch diese Fehler ausgelöste Reflexion bildet jetzt jedoch sozusagen den Materialfundus einer praxisnahen ästhetischen Theorie, der eben nur dem zur Verfügung steht, der sich selbst als Irrender und Lernender in der Kunst versucht hat.

Zu dieser eigenen Erfahrung kommen in einem zweiten Schritt die durch die Lektüre der Kantischen Schriften gewonnenen Einsichten hinzu, die es erst ermöglichen, das bereitliegende Material zu einer konsistenten ästhetischen Theorie zu verarbeiten. Schiller schreibt im gleichen Brief: 

In der That würde ich nie den Muth dazu [zu einer neuen Kunsttheorie] gehabt haben, wenn nicht Kants Philosophie selbst mir die Mittel dazu verschafte. Diese fruchtbare Philosophie, die sich so oft nachsagen lassen muß, daß sie nur immer einreisse und nichts aufbaue giebt, nach meiner gegenwärtigen Ueberzeugung, die festen Grundsteine her, auch ein System der Aesthetik zu errichten.[46]

Schiller formuliert seine eigene Kunsttheorie also in Auseinandersetzung mit dem wichtigsten Philosophen seiner Zeit; zudem ist die Lektüre einer Vielzahl weiterer Schriften zur Ästhetik nachgewiesen.[47] Insofern ist der Ansatz durchaus professionell zu nennen. Bezüglich seiner philosophischen Methode verweist Schiller vor allem auf sein Autodidaktentum, aber auch auf seine mangelnde Übung und Ausbildung im schulgemäßen Gebrauch der philosophischen Instrumente:

Viel zu wenig bekannt mit dem Gebrauche schulgerechter Formen um durch Misbrauch derselben mich zu versündigen, werde ich vor der Gefahr wenigstens sicher seyn, Ihre Geduld methodisch zu ermüden. Meine Philosophie wird ihren Ursprung nicht verläugnen, und, wenn sie ja verunglücken sollte, eher in den Untiefen und in den Strudeln der poetisierenden Einbildungskraft untersinken, als an den kahlen Sandbänkchen trockner Abstraktionen scheitern. Eine Frucht meines eigenen Nachdenkens, und aus meinem beschränckten Erfahrungskreis geschöpft, wird sie sich vielmehr jedes andern Fehlers, als der Sektiererey schuldig machen, und eher aus eigner Gebrechlichkeit fallen, als durch Autorität und fremde Hülfe sich aufrecht erhalten.[48]

Schiller ist sich also durchaus der Schranken seines dilettantischen Vorhabens bewußt. Diese werden jedoch gleichzeitig zum Vorteil gewendet: Die Berufung auf die eigene praktische Erfahrung impliziert gleichzeitig eine notwendige Korrekturinstanz, die vor allzu abstrakten und wirklichkeitsfernen Konstruktionen schützt. In diesem Zusammenhang äußert sich Schiller unverhüllt ablehnend über den professionellen Systemphilosophen:

unsere mehresten Gelehrten besonders sind so ängstlich in ihre Systeme eingeschnallt, daß eine etwas ungewohnte Vorstellungsart ihre mit dreyfach Erzt umpanzerte Brust nicht durchdringen kann. Wenige sind es, in denen das zarte Schönheitsgefühl durch Abstraktion nicht erstickt wird, und noch weit wenigere halten es der Mühe wert, über ihre Empfindungen zu philosophieren.[49]

Damit kritisiert Schiller jedoch nicht das strenge methodische Vorgehen schlechthin: Es sei vielmehr selbstverständlich, daß "philosophische Wahrheiten" in einer anderen Form "gefunden" werden, als derjenigen, in der sie dann "angewandt und verbreitet" werden.[50] Auch dies ist eine Erfahrung, die er bei der Kant-Lektüre und der anschließenden Verarbeitung selbst gemacht hat. In einem Brief an Goethe vom 16. Oktober 1795 resümiert er zum Ende seiner philosophischen Tätigkeit, er habe zwar einen "sauren Weg" eingeschlagen, aber im nachhinein habe sich dieser als der richtige erwiesen:

Soviel habe ich nun aus gewißer Erfahrung, daß nur strenge Bestimmtheit der Gedanken zu einer Leichtigkeit verhilft. Sonst glaubte ich das Gegentheil und fürchtete Härte und Steifigkeit.[51]

"Strenge Bestimmtheit der Gedanken" ist natürlich eine Begründungsformel für philosophisches Vorgehen schlechthin. Aber bezeichnenderweise wendet Schiller diese Formel sogleich in ein Paradox: Gerade aus der gedanklichen Disziplinierung sei ihm letztendlich ein umso freierer, "leichter" Umgang mit der Theorie erwachsen. Das heißt: Auch die philosophische Erkenntnis selbst unterliegt einem Entwicklungsprozeß. In Über die ästhetische Erziehung des Menschen führt Schiller eine Art Naturgeschichte der philosophischen Erkenntnis aus, die ganz klar die triadische Struktur aufweist, die all seinen ästhetischen Schriften zugrundeliegt:

Die Natur (der Sinn) vereinigt überall, der Verstand scheidet überall, aber die Vernunft vereinigt wieder; daher ist der Mensch, ehe er anfängt zu philosophieren, der Wahrheit näher als der Philosoph, der seine Untersuchung noch nicht geendigt hat. Man kann deswegen ohne alle weitere Prüfung ein Philosophem für irrig erklären, sobald dasselbe, dem Resultat nach, die gemeine Empfindung gegen sich hat; mit demselben Rechte aber kann man es für verdächtig halten, wenn es, der Form und Methode nach, die gemeine Empfindung auf seiner Seite hat. Mit dem letztern mag sich ein jeder Schriftsteller trösten, der eine philosophische Deduction nicht, wie manche Leser zu erwarten scheinen, wie eine Unterhaltung am Kaminfeuer vortragen kann. Mit dem erstern mag man jeden zum Stillschweigen bringen, der auf Kosten des Menschenverstandes neue Systeme gründen will.[52]

Ich will kurz die nicht ganz einfache Argumentation rekonstruieren. Alle Philosophie geht aus auf Wahrheit. Diese Wahrheit empfindet der Mensch anfangs von Natur aus unmittelbar und unfehlbar. Entfernt er sich von diesem naiven Urzustand, so muß er Philosoph werden; sein ursprüngliches Wissen ist ihm nur noch über die Mühen der Reflexion und unter Risiko des Irrtums zugänglich. Die Vernunft jedoch soll im dritten Stadium anschauliches und reflexives Wahrheitswissen wieder vereinen. Deshalb, und nun kommt das Originelle an dem Gedanken, sind alle philosophischen Zwischenergebnisse falsch, wenn sie dem unverdorbenen "Menschenverstand" und der "gemeinen Empfindung" nicht einleuchten. Auf der anderen Seite ist jedoch nicht zu erwarten, daß die philosophische "Methode" dem Alltagssinn zugänglich ist; "philosophische Deduktionen" haben notwendig eine andere Form als "Unterhaltungen am Kaminfeuer". Eine philosophische Theorie darf also methodisch anspruchsvoll gewonnen sein, sie muß jedoch im Ergebnis dem gesunden Menschenverstand vermittelbar sein; und ihre Darstellung darf nicht beliebig unterkomplex werden, sondern muß ebenfalls ein gewisses Niveau halten. 

III. 

Gerade dieses Darstellungsproblem ist es nun, dem Schiller sich mit besonderer Intensität widmet. Bereits in den Augustenburger Briefen unterschied er explizit zwischen der angemessenen Darstellung in dogmatischen philosophischen Schriften, welche an ein Fachpublikum gerichtet seien und deshalb "der strengen Prüfung ausdrücklich hingegeben werden und Ueberzeugungen bewirken sollten"[53]: Bei diesen sei eine ästhetisch allzu ansprechende Form geradezu kontraproduktiv.[54] Wer sich hingegen an die Allgemeinheit richte und auf möglichst breite Wirkung aus sei, tue besser daran, seine Darstellung so zu formulieren, daß der Leser weder gelangweilt noch überfordert werde, sondern seine eigene Phantasie und seinen eigenen Verstand in angemessener Weise benutzen müsse.[55] Diese Vermittlungsüberlegung bestimmt explizit Schillers gleichzeitiges Horen-Projekt, das sich den Austausch zwischen akademischer Gelehrsamkeit und schöner Gesellschaft auf die Fahnen geschrieben hat. In der Ankündigung der Horen heißt es, unter Verwendung des gleichen Vokabulars und mit der gleichen typischen Verkreuzungsfigur :

So weit es tunlich ist, wird man die Resultate der Wissenschaft von ihrer scholastischen Form zu befreien und in einer reizenden, wenigstens einfachen, Hülle dem Gemeinsinn verständlich zu machen suchen. Zugleich aber wird man auf dem Schauplatze der Erfahrung nach neuen Erwerbungen für die Wissenschaft ausgehen und da nach Gesetzen forschen, wo bloß der Zufall zu spielen und die Willkür zu herrschen scheint. Auf diese Art glaubt man zu Aufhebung der Scheidewand beizutragen, welche die schöne Welt von der gelehrten zum Nachteile beider trennt, gründliche Kenntnisse in das gesellschaftliche Leben, und Geschmack in die Wissenschaft einzuführen.[56]

Welche Darstellungsform empfiehlt sich aber für die Vermittlung philosophischer Erkenntnisse an die "schöne Welt", sofern sie nicht "Unterhaltungen am Kaminfeuer" sein sollen? Dieses Thema steht nun ganz im Vordergrund der Schrift Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen, die Schiller im Oktober 1793 verfaßt hat[57] und die Überlegungen aus dem gleichzeitigen Augustenburger Briefwechsel aufnimmt und weiterführt. Gleich zu Beginn der Abhandlung beantwortet Schiller die im Titel gestellte Frage nach den "Grenzen" beim "Gebrauch schöner Formen": Diese würden exakt durch die Reichweite des Geschmacks in Fragen der Erkenntnis bezeichnet. Dessen allgemeinste Aufgabe sei es, "die sinnlichen und geistigen Kräfte des Menschen in Harmonie zu bringen, und in einem innigen Bündniß zu vereinigen".[58] Als rein formales Totalitätskonzept verhelfe er zu keiner Art positiven Wissens, sondern diene ausschließlich dazu, den Geist in eine der Erkenntnis "günstige Stimmung"[59] zu versetzen.

Eine günstige Stimmung – was ist damit denn bitte gewonnen, mag der Zeitgenosse des 21. Jahrhunderts, der weniger an weiche Stimmungsfaktoren denn an harte Objektivitätsfaktoren in der Wissenschaft glaubt, an dieser Stelle skeptisch fragen? Bevor ich diese berechtigte Frage beantworten kann, muß ich zunächst näher auf Schillers an dieser Stelle entwickelte, antithetische Unterscheidung der wissenschaftlichen Erkenntnis von der populären Erkenntnis eingehen. Schiller behauptet – und das ist die Voraussetzung der ganzen Argumentation –, daß dort, wo es um die Erkenntnis von Prinzipien geht, die Frage nach deren Wahrheit nicht allein vom Inhalt aus zu beantworten sei: Vielmehr müsse "die Probe der Wahrheit [...] in der Form des Vortrags zugleich mit enthalten sein".[60] Insofern erfordere die Mitteilung wissenschaftlicher Erkenntnis auch eine angemessene wissenschaftliche Schreibart, allein schon, um die intersubjektive Nachprüfbarkeit der Resultate zu gewährleisten. Deren wichtigste Merkmale sind, kurz zusammengefaßt: Sie gibt Beweise für ihre Behauptungen; sie entwickelt ihre Argumente in einer logisch nachvollziehbaren Reihenfolge: "die Stätigkeit in der Darstellung muß der Stätigkeit in der Idee entsprechen".[61] Ihr Vorgehen ist analytisch,[62] ihr Geltungsanspruch ist der einer notwendigen Wahrheit. Ihr Zielpublikum schließlich bildet die Gelehrtenwelt; sie taugt für den "Lehrstuhl".[63]

Die populäre Schreibart hingegen ist, wie zu erwarten, das genaue Gegenteil. Sie gibt keine Beweise, sondern nur Ergebnisse; sie arbeitet nicht mit Argumenten, sondern mit Anschauungen; diese folgen nicht aufeinander nach dem Gesetz der Stetigkeit, sondern nach der Willkür der Phantasie.[64] Sie ist nicht gezwungen, die Phänomene analytisch zu zerlegen, sondern kann deren Ganzheit erhalten; es ist jedoch nur die Ganzheit eines Einzelfalls. Ihr Geltungsanspruch geht nicht auf notwendige, sondern auf empirische Erkenntnis der Realität. Sie richtet sich an das aufgeklärte Publikum insgesamt, dessen Interesse an wissenschaftlichen Themen erst geweckt werden muß; dies geschieht am besten durch die Art der Darstellung. Die populäre Schreibweise taugt deshalb für die "Rednerbühne".[65]

Nachdem Schiller also zuerst die Grenzsteine sozusagen noch festgeklopft hat, die die "gelehrte Welt" von der "schönen Welt" trennen, macht er sich nun daran, sie wieder einzureißen, indem er den "Punkt der Vereinigung" sucht; "und diesen auszufinden, ist das eigentliche Verdienst der schönen Schreibart".[66] Schiller macht diese Vereinigung dadurch anschaulich, indem er sie bildhaft auf das Körper-Seele-Problem bezieht. Der körperliche Teil der "schönen Schreibart" besteht aus anschaulichen Vorstellungen, die den begrifflichen Abstraktionen zugrunde liegen. Diese erscheinen im schönen Vortrag willkürlich verbunden und bilden damit die "ganze Unordnung einer spielenden und bloß sich selbst gehorchenden Einbildungskraft"[67] ab; im Reich der Phantasie herrscht Freiheit. Der geistige Teil der "schönen Schreibart" besteht aus den diesen Anschauungen korrespondierenden Begriffen, die untergründig in einem genauen logischen Zusammenhang stehen und damit den Ansprüchen des Verstandes Genüge tun; im Gebiet des Geistes herrscht Notwendigkeit. Kurz: "Die Begriffe entwickeln sich nach dem Gesetz der Nothwendigkeit, aber nach dem Gesetz der Freyheit gehen sie an der Einbildungskraft vorüber; der Gedanke bleibt derselbe, nur wechselt das Medium, das ihn darstellt".[68] Nur die "schöne Schreibart", so schließt sich die Argumentation an dieser Stelle, ist deshalb geeignet, den "ganzen Menschen"[69] in der Totalität seiner Vermögen anzusprechen:

Ein solches Produkt wird dem Verstand vollkommen Genüge thun, sobald es studiert wird, aber eben weil es wahrhaft schön ist, so dringt es seine Gesetzmäßigkeit nicht auf, so wendet es sich nicht an den Verstand insbesondre, sondern spricht als reine Einheit zu dem harmonirenden Ganzen des Menschen, als Natur zur Natur.[70]

Dabei entsteht schließlich auch eine eigene Form des Geltungsanspruchs: Die in der schönen Schreibart dargestellten Erkenntnisse sind weder "notwendige" noch "wirkliche" Wahrheiten, sondern zeigen einen Sachverhalt als "möglich" und "wünschenswürdig".[71] Mit dem Terminus des "Möglichen" kommt darüber hinaus nun das Gebiet der Literatur ins Spiel. Denn der Platz für die schöne Schreibart ist weder die akademische Schule noch die gesellige "Konversazion"[72], sondern das Werk des "darstellenden Schriftstellers".[73] Der zentrale Aspekt an dessen "Darstellung" ist dabei offensichtlich ihr Verlebendigungspotential. Schiller resümiert:

Gewiß muß man einer Wahrheit schon in hohem Grad mächtig seyn, um ohne Gefahr die Form verlassen zu können, in der sie gefunden wurde [...]. Wer mir seine Kenntnisse in schulgerechter Form überliefert, der überzeugt mich zwar, daß er sie richtig faßte, und zu behaupten weiß; wer aber zugleich im Stande ist, sie in einer schönen Form mitzutheilen, der beweist nicht nur, daß er dazu gemacht ist, sie zu erweitern, er beweist auch, daß er sie in seine Natur aufgenommen und in seinen Handlungen darzustellen fähig ist. Es giebt für die Resultate des Denkens keinen andern Weg zu dem Willen und in das Leben, als durch die selbstthätige Bildungskraft. Nichts als was in uns selbst schon lebendige That ist, kann es außer uns werden.[74]

Letztlich formuliert Schiller hier, was auch die moderne Lernforschung inzwischen bestätigt: Lebendiges Lernen beruht darauf, daß Sachverhalte nicht nur abstrakt verstanden und memoriert, sondern in konkrete und persönliche Erfahrung umgesetzt werden können; nur das, was umfassend geistig, emotional und kreativ erlebt wurde, hinterläßt wirklich bleibende Spuren in der neuronalen Architektur des Gehirns.[75] Genau diesem Zweck dient letztlich die der Erkenntnis "günstige Stimmung",[76] auf die Schiller nun zurückkommt: Sie schafft ein anregendes Lern- und Erkenntnismilieu, in dem Begriffe und Theorien produktiv aufgenommen und selbständig weiterentwickelt werden können. Deren Herleitung und Beweis jedoch gehört nicht in das Herrschaftsgebiet des Geschmacks:

Er soll nie vergessen, daß er einen fremden Auftrag ausrichtet und nicht seine eignen Geschäfte führt. Sein ganzer Antheil soll darauf eingeschränkt seyn, das Gemüth in eine der Erkenntniß günstige Stimmung zu versetzen; aber in allem dem, was die Sache betrift, soll er sich durchaus keiner Autorität anmaßen.[77] 

IV.

 Bezeichnenderweise kommt Schiller an dieser Stelle nun explizit auf die Dilettantismus-Problematik zu sprechen: Das "Wahre" – der Philosophie - erschließe sich nämlich im Unterschied zum "Schönen" – der Kunst – nur durch "Studium".[78] Allerdings absolviere das nun gerade nicht davon, sich den Dingen der "schönen Kultur"[79] mit "Anstrengung und Ernst" zu widmen. Eine rein passive, "superficielle Betrachtung"[80] nütze nämlich niemals und niemanden; vielmehr gelte auf allen Gebieten:

Wer etwas großes leisten will, muß tief eindringen, scharf unterscheiden, vielseitig verbinden, und standhaft beharren. [...] Hat ihn hingegen die Natur bloß zum Dilettanten gestempelt, so erkältet die Schwierigkeit seinen kraftlosen Eifer.[81]

Zwar bleibt auch hier die Dilettantismus-Diskussion vor allem auf den Künstler bezogen. Dieser kann jedoch, will er wirklich große Werke schaffen, nicht darauf verzichten, "in den tiefen Schacht der Wissenschaft und Erfahrung" hinunterzusteigen, "wo, jedem Ungeweihten verborgen, der Quell aller wahren Schönheit entspringt".[82] Ohne Studium, sowohl der eigenen handwerklichen Mittel wie auch der wissenschaftlichen und philosophischen Grundlagen aller Erscheinungen, bleibt er ein "bloßer Liebhaber".[83]

Wenn man diese Definition des Dilettanten nun, mit der gebotenen Vorsicht, auf das Gebiet der Philosophie ausdehnt: Ist Schiller dann ein "bloßer Liebhaber", sprich: ein philosophischer Dilettant im abwertenden Sinn gewesen? Zweifellos ist er in Kants Ästhetik tief eingedrungen, hat scharf unterschieden, mehr noch vielseitig verbunden und relativ standhaft beharrt; von "kraftlosem Eifer" kann mit Sicherheit hier nicht die Rede sein. Vielmehr hat ihn das Kant-Studium, so schwer vorstellbar manchem das auch erscheinen mag, tatsächlich in eine höchst produktive Stimmung versetzt. Das positive Prädikat des "philosophischen Kopfes" oder des Diderot'schen esprit philosophique – verstanden im anfangs dargestellten Sinn als eine Art durch Training nobilitierter philosophischer Dilettant – hätten ihm dabei auch die strengeren unter seinen Zeitgenossen auf jeden Fall zugestanden. Als solcher hat er seine Vorzüge vor allem im unmittelbar praxisbezogenen Impuls seines Denkens und dessen sprachlicher Vermittlung, nicht so sehr hingegen in der methodischen Strenge und Beweiskraft, der scharfen Begriffsdefinition oder der systematischen Konsistenz. Daß auch dies jedoch wesentliche Elemente auch einer professionell betriebenen Philosophie sein können, haben spätere Philosophen außerhalb der akademischen Schulen immer wieder bewiesen.

Schiller hat darüber hinaus darauf aufmerksam gemacht, daß die Art der Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnis an zwei Stellen von kultureller und gesellschaftlicher Bedeutung ist. Sie muß zum ersten bei einem abstrakten Problemen generell eher abgeneigten Publikum erst einmal überhaupt Interesse für die Auseinandersetzung mit philosophischen Themen wecken; und sie muß dafür Zugeständnisse an die Aufnahmebereitschaft und -fähigkeit dieses Publikums machen.[84] Sie soll zum zweiten gewährleisten, daß wissenschaftliche Erkenntnisse nicht nur abstrakt verstanden, sondern in konkrete gesellschaftliche Praxis umgesetzt werden können – bzw., im Falle der Schillerschen Ästhetik, in eine entsprechende ästhetische Praxis sowohl der Hervorbringung wie auch der Rezeption von Kunstwerken. Insofern ist der "philosophische Kopf" als Erscheinungsform eines nicht naiven, sondern elaborierten Dilettantismus eine wichtige Vermittlerfigur zwischen dem harten systemphilosophischen Fachdiskurs, seinen abstrakten Theorien und seinen methodischen Konventionen auf der einen Seite und dem aufklärerischen Diskurs der gebildeten Laien mit seinem Interesse an lebenspraktischer Verwendung von Wissen und seiner Neigung zu eher unterhaltsamen Darstellungsformen auf der anderen Seite.[85] Wichtig ist dabei, daß er nicht mit einem einfachen Popularisierungsdiskurs verwechselt werden darf, in dem die Erkenntnisse der Wissenschaften und der Philosophie für ein unbedarftes Publikum reduktionistisch verkürzt und didaktisch aufbereitet werden. Vielmehr soll die "schöne Schreibart" gewährleisten, daß es zu einer lebendigen Aufnahme, Anwendung und Weiterentwicklung philosophischer Gedanken beim Hörer kommt. Letztlich steht der philosophische Dilettant so bereits im Dienst des kulturphilosophischen Erziehungsprogramms, das die Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen dann wenig später ausformulieren werden und das Schiller in Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen aufs engste mit dem Vermittlungsproblem verknüpft:

Wenn man überlegt, wie viele Wahrheiten als innere Anschauungen längst schon lebendig wirkten, ehe die Philosophie sie demonstrirte, und wie kraftlos öfters die demonstrirtesten Wahrheiten für das Gefühl und den Willen bleiben, so erkennt man, wie wichtig es für das praktische Leben ist, diesen Wink der Natur zu befolgen, und die Erkenntnisse der Wissenschaft wieder in lebendige Anschauung umzuwandeln. Nur auf diese Art ist man im Stande, an den Schätzen der Weisheit auch diejenigen Antheil nehmen zu lassen, denen schon ihre Natur untersagte, den unnatürlichen Weg der Wissenschaft zu wandeln.[86]

[1]   Frederick Beiser: Schiller as Philosopher. A Re-Examination, Oxford 2005, hier: S. 2.

[2]   "Compared to the torrent of work on Kant, or any of the German idealistis, the output on Schiller amounts to a trickle" (Beiser, S. 7).

[3]   Hingegen sei die Anerkennung von Schillers Verdiensten bei seinen Zeitgenossen bis hin zu berühmten Vertretern des Neukantianismus noch völlig unproblematisch gewesen (vgl. Beiser, S. 8). Nur zwei Beispiele mögen das illustrieren. So rühmt Ernst Cassirer die "belebende Kraft", die Schillers ästhetische Schriften besonders durch ihren dialogischen Charakter auf die "Entwicklung der deutschen Philosophie" ausübten (vgl. Ernst Cassirer: Die Methodik des Idealismus in Schillers philosophischen Schriften, in: Ders.: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 9: Aufsätze und kleine Schriften (1902-1921), hg. von Marcel Simon, Hamburg 2001, S. 343). Und Wilhelm von Humboldt würdigt Schillers philosophische Verdienste sowie auch explizit seinen Begriffsgebrauch in Ueber Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung mit folgenden Worten: "Aber über den Begriff der Schönheit, über das Aesthetische im Schaffen und Handeln, also über die Grundlagen aller Kunst, so wie über die Kunst selbst enthalten diese Arbeiten alles Wesentliche auf eine Weise, über die es niemals möglich seyn wird hinauszugehen. In diesem ganzen Gebiet dürfte schwerlich eine Frage vorkommen, deren richtige Beantwortung sich nicht würde bis zu den in diesen Abhandlungen aufgestellten Principien hinaufführen lassen. Dies liegt nicht bloss in der scharfen Absonderung und Begränzung der Begriffe, sondern fliesst bei weitem mehr aus dem viel seltneren Verdienst, alle in ihrem ganzen Umfange, ihrem vollen Gehalte, schon mit der Ahndung aller aus ihnen hervorgehenden Folgerungen hingestellt zu haben" (Wilhelm von Humboldt: "Ueber Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung", in: Ders.: Werke in fünf Bänden, Bd. II: Schriften zur Altertumskunde und Ästhetik, hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Berlin 1961, S. 367f.).

[4]   Beiser, S. 8. Beiser sieht das gleiche Problem im übrigen auch in der anderen Richtung gegeben: Für das Verständnis von Schiller als Philosoph sei ebenso die Einbeziehung seiner poetischen Texte unentbehrlich: "If philosophy should come from the experience from life itself, then the best philosophy derives from those media that are closest to that experience: poetry and drama" (S. 10). Seine Monographie behandelt dementsprechend sowohl Schillers Essays zu allgemeinen ästhetischen Fragen wie auch seine Tragödientheorie.

[5]   Vgl. zur Rezeptionsgeschichte und Wirkung der Schillerschen Ästhetik auch: Gert Schröter: Schillers Theorie ästhetischer Bildung zwischen neukantianischer Vereinnahmung und ideologiekritischer Verurteilung, Frankfurt a.M. u.a. 1998.

[6]   Beiser, S. 8.

[7]   Ebd. Vgl. zu Schillers philosophischer Methode und Darstellungsweise auch Klaus Berghahn: Schillers philosophischer Stil, in: Schiller-Handbuch, hg. von Helmut Koopmann, Stuttgart 1998, S. 288-301.

[8]   Beiser, S. 8f.

[9]   Daß es gerade der enge Bezug der Schillerschen Ästhetik auf Kant war, der ihr letztlich zum Verhängnis wurde, hat bereits Wolfgang Riedel bündig dargelegt: "Wo immer in der Schillerforschung Kant zum Maß aller Theorie erhoben wurde, kam es entweder zu angestrengten Apologien, die Schiller als Kantianer philosophisch zu legitimieren suchten, oder zu indignierten Zurückweisungen solchen Bestrebens, die Schiller als Defizitär-Kantianer ins zweite philosophische Glied zurückstellten. Eines so unfruchtbar wie das andere, verfehlte ersteres Quellen und Grund, letzteres Rand und Wirkung des Schillerschen Denkens" (vgl. Wolfgang Riedel: Schiller und die popularphilosophische Tradition, in: Schiller-Handbuch, hg. von Helmut Koopmann, Stuttgart 1998, S. 155-166, hier: S. 155).

[10]  Beiser, S. 2.

[11]  Dabei sind jedoch das bekannte Schiller-Goethesche Schema über den Dilettantismus (1799) sowie der dazugehörige Text keine Hilfe, da sie sich explizit nur auf die verschiedenen Künste beziehen; Übertragungen sind zwar denkbar, bleiben aber notwendig sehr spekulativ.

[12]  Das Zitat lautet weiter: "Aber um der Ausübung selbst willen philosophiere ich gern über die Theorie; die Critik muß mir jetzt selbst den Schaden ersetzen, den sie mir zugefügt hat. Und geschadet hat sie mir in der That, denn die Kühnheit, die lebendige Glut, die ich hatte, eh mir noch eine Regel bekannt war, vermisse ich schon seit mehreren Jahren. Ich sehe mich jetzt erschaffen und bilden, ich beobachte das Spiel der Begeisterung, und meine Einbildungskraft beträgt sich mit minder Freiheit, seitdem sie sich nicht mehr ohne Zeugen weiß. Bin ich aber erst so weit, daß mir Kunstmäßigkeit zur Natur wird, wie einem wohlgesitteten Menschen die Erziehung, so erhält auch die Phantasie ihre vorige Freiheit zurük, und setzt sich keine andern als freiwillige Schranken" (NA 26, S. 141). Schiller betont hier zum einen den unmittelbar praktischen Ausgangs- wie Zielpunkt seiner ästhetischen Bemühungen. Zum anderen wird die eigene dichterische Laufbahn hier bereits in das triadische Entwicklungsschema eingepaßt, das erst in Ueber naive und sentimentalische Dichtung voll entfaltet vorliegt: Schiller beginnt als naiver Dichter (mit der "lebendigen Glut" des Regelunkundigen), wird durch Reflexion zum sentimentalischen Dichter und plant ein Ende als idealer Dichter, der beides vereint, in dem die "Kunstmäßigkeit" wieder zur "Natur" wird; s. dazu genauer unter II.

[13]  Nötig wäre auch eine Diskussion des Professionalisierungsprozesses an den Universitäten. Vgl. dazu beispielsweise Immanuel Kants Streit der Fakultäten (1798), wo bereits von einer "fabrikenmäßige" Einteilung der Fakultäten die Rede ist (in: Immanuel Kant: Werke in zehn Bänden. Bd. 9: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1983, hier: S. 279). Daneben, so Kant, seien aber auch zunftfreie Wissenschaftler vorstellbar, die "gleichsam im Naturzustande der Gelehrsamkeit leben" und sich der Wissenschaft als "Liebhaber" (S. 279f.) widmen. –    Ironisch reflektiert auch Johann Karl Wezel die Fakultätenaufteilung in seiner Satire Silvans Bibliothek (1777): "Wie niedrige Handwerker, die, auf das Interesse ihrer Innung eingeschränkt, mit kurzsichtigem Blicke das allgemeine Band der Nützlichkeit übersehen, daß sie insgesamt an die menschliche Gesellschaft knüpft, verachtet der Philosoph den Rechtsgelehrten, der Rechtsgelehrte den Dichter, der Dichter den Rechtsgelehrten [...] – kurz, schätzt nur Mitglieder seiner Klasse und verschmäht mit handwerksmäßigem Ekel alle, die nicht dazugehören" (Silvans Bibliothek oder die gelehrten Abenteuer, in: Satirische Erzählungen, hg. von Anneliese Klingenberg, Berlin 1983, S. 50).

[14]  Vgl. die Einleitung: "Man würde es nur vergebens leugnen wollen, daß gegenwärtige Abhandlung durch die neuliche Aufgabe der Königl. Preußischen Akademie der Wissenschaften, veranlaßt worden; und daher hat man auch diese Veranlassung selbst nirgends zu verstecken gesucht. [...]. Die Akademie verlangt eine Untersuchung des Popischen Systems, welches in dem Satze alles ist gut enthalten ist. Und zwar so, daß man Erstlich den wahren Sinn dieses Satzes, der Hypothes seines Urhebers gemäß, bestimme. Zweitens ihn mit dem System des Optimismus, oder der Wahl des Besten, genau vergleiche, und Drittens die Gründe anführe, warum dieses Popische System entweder zu behaupten oder zu verwerfen sei" (Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 3: Werke 1754-1757, hg. von Conrad Wiedemann, Frankfurt a.M. 2003, hier: S. 614f.).

[15]  S. 617. Hingegen lehnen Mendelssohn/Lessing die Begriffsdefinition von "System" mutwillig ab: "Es ist so ungeziemend, als unnötig, einer Versammlung von Philosophen, das ist, einer Versammlung systematischer Köpfe zu sagen, was ein System sei?" (ebd.).

[16]  Vgl. S. 618.

[17]  Vgl. ebd.

[18]  Vgl. ebd.

[19]  Vgl. S. 620.

[20]  Ebd.

[21]  S. 619.

[22]  Vgl. Diderots Artikel "Philosophe"; hier zitiert nach: Artikel aus der von Diderot und d'Alembert herausgegebenen Enzyklopädie, aus dem Frz. von Theodor Lücke, hg. von Manfred Naumann, Leipzig 1972, S. 841-848. Darauf folgt der anonyme Artikel "Philosophie", S. 867; darauf folgt der Artikel "Philosophique, Esprit", S. 867-868, von de Jaucourt. Die Argumentation ist vor dem Hintergrund der negativen Konnotationen zu sehen, die im Frankreich des 18. Jahrhunderts mit dem Begriff des "philosophe" verbunden sind, mit dem man verschiedene mißliebige philosophische Richtungen (wie z. B. der Enzyklopädisten, der Materialisten, der Moralisten) belegte, die des Atheismus, des Skeptizismus und des Materialismus verdächtigt wurden. Darauf hebt auch Diderot zu Beginn seines Artikels ab (vgl. S. 841f.).

[23]  "Die anderen Menschen erscheinen dazu bestimmt, zu handeln, ohne die Ursachen, die sie dazu bewegen, zu empfinden und zu erkennen; sie denken überhaupt nicht daran, daß es Ursachen gibt. Der Philosoph dagegen erkennt die Ursachen, soweit dies in seiner Macht steht [...]. Der Philosoph bildet sich seine Prinzipien auf der Grundlage unzähliger einzelner Beobachtungen" (S. 842).

[24]  "Unter systematischem Geist verstehe ich nicht den Geist, der die Wahrheiten miteinander verbindet, um Beweise zu führen; denn dies bedeutet nichts anderes als wahrhaft philosophischer Geist. Nein, ich bezeichne damit jenen Geist, der Pläne aufstellt und Weltsysteme bildet, denen er dann die Erscheinungen mehr oder weniger gewaltsam anzupassen versucht" (S. 866).

[25]  "Er ist sozusagen mit dem Sauerteig der Ordnung und der Gesetzlichkeit zusammengeknetet" (S. 846).

[26]  S. 847.

[27]  S. 867.

[28]  S. 868.

[29]  Ernst Platner: Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte. Ganz neue Ausarbeitung. Erster Theil, Leipzig 1793, hier: S. 4.

[30]  "Die Schwärmerey ist meistentheils verfehlte Philosophie" (S. 6).

[31]  Ebd.

[32]  S. 7.

[33] "Er hat umsonst nach Wahrheit geforscht, wenn sich Wahrheit, für ihn nicht in Gold, in Zeitungslob, in Fürstengunst verwandelt" (NA 17, S. 361).

[34]  S. 362.

[35]  S. 362f.

[36]  S. 363.

[37]  Wolfgang Riedel hat in mehreren Veröffentlichungen dargetan, daß der junge Schiller an der Karlsschule eine anspruchsvolle und umfangreiche philosophische Grundausbildung erhalten hat. Darüber hinaus, so Riedel, seien Schillers eigene Texte zur Ästhetik sinnvoll in den Kontext der Popularphilosophie einzuordnen (vgl. Riedel, Schiller und die Popularphilosophie, Anm. 1). Nun liegt jedoch das Argument nahe, daß die Popularphilosophie zur Gänze als eine Art dilettantischer Philosophie-Diskurs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts betrachtet werden könnte. Diese These könnte jedoch wiederum nur in einer Darstellung, die auch die konkreten Professionalisierungsphänomene und –diskurse analysierte, diskutiert werden.

[38]  Nach Rüdiger Safranski ist die intensivste Phase von Schillers philosophischem Selbststudium vom Februar 1791 bis 1794 zu datieren; ab Juni 1795 setzt die poetische Produktion wieder ein. Den finanziellen Rückhalt bietet das dreijährige Stipendium des Prinzen von Augustenburg. Folgende Texte Schillers entstehen in dieser Zeit: Im Wintersemester 1792 beginnt Schiller eine Ästhetik-Vorlesung; Anfang 1793 entsteht Kallias, oder über die Schönheit; im Sommersemester 1793 wird die Ästhetik-Vorlesung fortgesetzt. Im gleichen Jahr schreibt Schiller Über Anmut und Würde, Vom Erhabenen und beginnt mit Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Anfang 1795 lehnt Schiller einen Ruf nach Tübingen als ordentlicher Professor für Philosophie ab. In diesem Jahr entstehen: Von den notwendigen Grenzen des Schönen (s.u.); Über naive und sentimentalische Dichtung (vgl. Rüdiger Safranski: Friedrich Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus, München 2004, S. 534-536).

[39]  Schillers erster philosophischer Versuch noch aus seiner Jugendzeit sind die Philosophischen Briefe (entstanden wahrscheinlich zwischen 1783 und 1786 und 1786 gedruckt in der Thalia). Bereits hier finden sich einige typische Merkmale von Schillers philosophischer Methode. So verwendet er hier schon die Briefform, die er später sowohl in den Kallias-Briefen als auch in Über die ästhetische Erziehung des Menschen einsetzen wird. Seine philosophischen Bezugsgrößen zu dieser Zeit sind allerdings noch vor allem Leibniz und Shaftesbury sowie die Vereinigungsphilosophie.

[40]  Vgl. zu diesen Briefen wie auch insgesamt zur Entwicklung der ästhetischen Studien den vorzüglichen Aufsatz von Hermann Meyer mit dem etwas irreführenden Titel: Schillers philosophische Rhetorik, in: Euphorion 53 (1959), S. 313-350.

[41]  NA 26, S. 184.

[42]  Ebd.

[43]  Zudem befürchtet Schiller, daß die Aufräumungsarbeiten der Fachphilosophen sich zunächst auf andere Gebiete beschränken würden: "Aber so wie es jetzt in der philosophischen Welt aussieht, dürfte die Reihe wohl zuletzt an die Aesthetik kommen, eine Regeneration zu erfahren. Unsere vorzüglichsten Denker haben mit der Metaphysik noch alle Hände voll zu thun" (ebd.).

[44]  S. 185.

[45]  Auch in dieser Unterscheidung findet sich natürlich diejenige von naivem und sentimentalischem Dichter.

[46]  Brief vom 9. Februar 1793, NA 26, S. 186.

[47]  Die Auseinandersetzung mit anderen Leitfiguren des ästhetischen Diskurses hat Schiller bereits im Rahmen seiner Ästhetik-Vorlesung im Wintersemester 1792/93 und seinen Kallias-Briefen betrieben. Vgl. zu diesen Kenntnissen als Verständnisvoraussetzung für Schillers ästhetische Theorie auch Beiser, S. 1.

[48]  Brief vom 13. Juli 1793, NA 26, S. 257f.

[49]  Brief vom 9. Februar 1793, NA 26, S. 186. An dieser Stelle wird auch erstmals das anvisierte Zielpublikum benannt: Er schreibe für "freye und heitre Geister, die über den Staub der Schulen erhaben sind" (S. 187); eine Formulierung, die ein sehr viel späterer Kritiker der Schulphilosophie in seiner Fröhlichen Wissenschaft aufnehmen wird.

[50]  Brief vom 13. Juli, NA 16, S. 258. Schiller nimmt anschließend Kants architektonische Metaphorik auf, wen er die streng philosophische Methode Kants mit einem "Gerüst" und "Geräthen" vergleicht, die jedoch entfernt werden müßten, wenn der Bau vollendet sei, damit man die "Schönheit des Gebäudes" wahrnehmen könne: "Aber die mehresten Schüler Kants ließen sich eher den Geist, als die Maschinerie seines Systems entreißen" (ebd.).

[51]  Brief an Goethe vom 16.10.1795 (NA 28, S. 79). Schiller fährt fort: "Aber freilich spannt diese Thätigkeit sehr an, denn wenn der Philosoph seine Einbildungskraft und der Dichter seine Abstraktionskraft ruhen laßen darf, so muss ich, bey dieser Art von Produktionen, diese beyden Kräfte immer in gleicher Anspannung erhalten, und nur durch eine ewige Bewegung in mir kann ich die 2 heterogenen Elemente in einer Art von Solution erhalten" (ebd.). Hier wird das gleiche Modell beschrieben, nach dem auch der "schöne Vortrag" auf die verschiedenen Kräfte des Menschen gleichzeitig wirkt; s. dazu u. III.

[52]  18. Brief; NA 20, S. 368.

[53]  Brief vom 21. November, NA 26, S. 320.

[54]  "So würde Kants Kritick der Vernunft offenbar ein weniger vollkommenes Werk seyn, wenn sie mit mehr Geschmack geschrieben wäre" (ebd).

[55]  Vgl. ebd. Die in diesem Zusammenhang verwendeten Bilder weisen darauf hin, daß Schiller sich geläufiger Vorstellungen der ästhetischen Debatten wie der Hogarthschen "line of beauty" bedient: "Wenn der dogmatische Vortrag in geraden Linien und harten Ecken mit mathematischer Steifigkeit fortschreittet, so windet sich der schöne Vortrag in einer freyen Wellenbewegung fort [...]. Der dogmatische Lehrer, könnte man sagen, zwingt uns seine Begriffe auf, der sokratische lockt sie aus uns heraus, der Redner und Dichter gibt uns Gelegenheit, sie mit scheinbarer Freiheit aus uns selbst zu erzeugen" (S. 321).

[56]  NA 22, S. 107.

[57]  Die Abhandlung erscheint in zwei Teilen in den Horen: 9 Stück (Von den notwendigen Grenzen des Schönen besonders im Vortrag philosophischer Wahrheiten) und 11. Stück (Über die Gefahr ästhetischer Sitten). Im folgenden werde ich nur auf den ersten Teil der ersten Abhandlung eingehen. Der Beitrag wurde von der Forschung bereits relativ umfassend behandelt und soll hier vor allem im Blick auf das Dilettantismus-Problem akzentuiert werden. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang auch sein Entstehungskontext: Schiller hatte einen für die Horen bestimmten Beitrag von Fichte mit dem Titel Über Geist und Buchstab in der Philosophie zurückgewiesen; daraus hatte sich eine Kontroverse zwischen beiden Autoren über das Thema Verständlichkeit in der Philosophie entwickelt. Zudem hatte Schiller auch bei Christian Garve nachgefragt, ob er nicht einen Beitrag zum Verhältnis des Schriftstellers zum Publikum verfassen wolle (vgl. dazu die ausführliche Darstellung bei Meyer (Schillers philosophische Rhetorik, S. 339-347). Dort findet sich auch eine umfassende Würdigung von Schillers eigenem Projekt und dessen rhetorisch-pädagogischen Grundlagen: Meyer bezeichnet den Text als "Summa" von Schillers "philosophischen Rhetorik", die in enger Verbindung zum inhaltlichen Anliegen der "ästhetischen Erziehung" stünde (vgl. S. 349f.). – Vgl. auch Klaus Berghahn, der den Text als Versuch sieht, "stilistisch die Antithese von Sinnlichkeit und Vernunft aufzuheben, um so die Totalität des Menschen als regulative Idee zu beschwören" (Berghahn, S. 291).

[58]  NA 21, S. 3.

[59]  S. 4.

[60]  S. 5.

[61]  Ebd.

[62]  Sie zerteilt ein "lebendiges Ganzes" in Teilvorstellungen (S. 6).

[63]  S. 12.

[64]  Die Phantasie verfährt aber hier nur reproduktiv, nicht produktiv, da sie nur zur Veranschaulichung abstrakter Ideen didaktisch eingesetzt wird (vgl. S. 7).

[65]  S. 11.

[66]  S. 8.

[67]  S. 9.

[68]  S. 10. Dazu muß der Schriftsteller vor allem zwei genuin poetische Mittel einsetzen: Er muß seine Gegenstände "individualisieren", um die Sinnlichkeit des Menschen stärker anzusprechen und seine Phantasie in Bewegung zu setzen – aber immer in den von den Begriffen vorgegebenen Grenzen. Noch wichtiger jedoch ist der Einsatz des "uneigentlichen Ausdrucks" (ebd.). In der Metaphorik des Textes findet sich die Grundfigur der "schönen Schreibart" geradezu konzentriert abgebildet: "Der uneigentliche Ausdruck treybt diese Freiheit noch weiter, indem er Bilder zusammengattet, die ihrem Inhalt nach ganz verschieden sind, aber sich gemeinschaftlich unter einem höhern Begriff verbinden. Weil sich nun die Phantasie an den Inhalt, der Verstand hingegen an jenen höhern Begriff hält, so macht die erstere eben da einen Sprung, wo der letztere die vollkommenste Stätigkeit wahrnimmt" (ebd.).

[69]  S. 14.

[70]  S. 13f.

[71]  S. 10. Hier scheint auch der ästhetische und ethische Anspruch des Textes auf, der dann im zweiten Teil weiter ausgeführt wird.

[72]  S. 12.

[73]  S. 14. Was ein "darstellender Schriftsteller" genau ist, verrät Schiller nicht; man kann aber wohl mit einiger Berechtigung spekulieren, daß er sich als einen solchen versteht. Spiegelbildlich dazu gehört das Konzept eines Lesers, der "darstellend denkend" (ebd.) kann. Einen Hinweis gibt auch das Konzept des wahren Volksdichters als Popularisator in Über Bürgers Gedichte (1789/90): "Selbst die erhabenste Philosophie des Lebens würde ein solcher Dichter in die einfachen Gefühle der Natur auflösen, die Resultate des mühsamsten Forschens der Einbildungskraft überliefern und die Geheimnisse des Denkers in leicht zu entziffernder Bildersprache dem Kindersinn zu erraten geben. Ein Vorläufer der hellen Erkenntnis, brächte er die gewagtesten Vernunftwahrheiten, in reizender und verdachtloser Hülle, lange vorher unter das Volk, ehe der Philosoph und Gesetzgeber sich erkühnen dürfen, sie in ihrem vollen Glanze heraufzuführen. Ehe sie ein Eigentum der Überzeugung geworden, hätten sie durch ihn schon ihre stille Macht an den Herzen bewiesen, und ein ungeduldiges einstimmiges Verlangen würde sie endlich von selbst der Vernunft abfodern. In diesem Sinne genommen, scheint uns der Volksdichter, man messe ihn nach den Fähigkeiten, die bei ihm vorausgesetzt werden, oder nach seinem Wirkungskreis, einen sehr hohen Rang zu verdienen. Nur dem großen Talent ist es gegeben, mit den Resultaten des Tiefsinns zu spielen, den Gedanken von der Form los zu machen, an die er ursprünglich geheftet, aus der er vielleicht entstanden war, ihn in eine fremde Ideenreihe zu verpflanzen" (NA 22, S. 249).

[74]  NA 21, S. 15f.

[75]  Vgl. zum Konzept des "episodischen Gedächtnis" die zusammenfassende Darstellung bei Harald Welzer: Art. Gedächtnis und Erinnerung, in: Handbuch der Kulturwissenschaften, hg. von Friedrich Jäger und Jörn Rüsen, Bd. 3: Themen und Tendenzen, Stuttgart/Weimar 2004, S. 155-171, bes. S. 158ff.

[76]  Die produktive "Stimmung" spielt auch eine große Rolle im Briefwechsel von Goethe und Schiller; vgl. dazu: "Die wahre, die tätige, produktive Freundschaft". Die Freundschaft von Goethe und Schiller im Spiegel ihres Briefwechsels, erscheint in: Rituale der Freundschaft, hg. von Klaus Manger und Ute Pott. Heidelberg 2006.

[77]  NA 21, S. 17.

[78]  S. 18. Vgl. auch die Xenie Wissenschaftliches Genie: "Wird der Poet nur geboren? Der Philosoph wirds nicht minder, / Alle Wahrheit zuletzt wird nur gebildet, geschaut" (in: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, Bd. 4.1., hg. von Reiner Wild, S. 783).

[79]  NA 21, S. 17.

[80]  Ebd.

[81]  S. 20f.

[82]  S. 20.

[83]  S. 21.

[84]  Schillers Analyse der Schwervermittelbarkeit wissenschaftlicher Inhalte ist wohl bis heute nichts hinzuzufügen: "Wo sich aber ein solcher Entschluß [zur Aufnahme und zum Verständnis auch schwieriger und abstrakter wissenschaftlicher Sachverhalte] nicht voraussetzen läßt, und wo man sich keine Hofnung machen kann, daß das Interesse an dem Inhalt stark genug seyn werde, um zu dieser Anstrengung Muth zu machen, da wird man freylich auf Mitteilhung einer wissenschaftlichen Erkenntniß Verzicht thun müssen" (S. 7).

[85]  Ob Schillers eigene "schöne Schreibart" die von ihm postulierten Zwecke erfüllt, hängt letztlich wohl doch vom Empfänger und dessen persönlichen Voraussetzungen ab. Das Experiment mit dem dänischen Prinzen muß leider als mißlungen bezeichnet werden; in einem Brief vom Februar 1795 an seine Schwester äußert sich dieser: "Der gute Schiller ist doch eigentlich nicht zum Philosophen geschaffen. Er bedarf einen Übersezer, der das poetisch schön gesagte mit philosophischer Precision entwickelt, der ihn aus dem Poetischen in die philosophische Sprache übersezt" (zitiert nach: Meyer, S. 344). Interessanterweise wird hier nicht die Schwerverständlichkeit des dilettantischen Vermittlungsversuchs beklagt, sondern eben die mangelnde Professionalität im Ausdruck. Andererseits ließe sich dagegen einwenden, daß der Prinz noch nicht genug ästhetisch erzogen ist, um die Vorzüge der "schönen Schreibart" im vollen Umfang würdigen zu können, sondern noch dem Vorurteil anhängt, gelehrte Diskurse seien nur dann gültig, wenn sie sich auch der Fachkonventionen bedienen (die sozusagen ihre Solidität verbürgen).

[86]  NA 21, S. 16. – Insofern ist es für Schiller nur eine natürliche Entwicklung, daß er die Phase der philosophischen Tätigkeit wieder abschließen und zur poetischen Tätigkeit zurückkehren muß; vgl. auch den Brief an Goethe vom 7.1.1795: "Soviel ist indeß gewiß, der Dichter ist der einzige wahre Mensch, und der beste Philosoph ist nur eine Karikatur gegen ihn" (NA 27, S. 116).

 


Freiheit, als schöne Kunst betrachtet 

Essay zum 200jährigen Todestag von Friedrich Schiller


Wir schreiben das Jahr 2005. Vor zweihundert Jahren starb Friedrich Schiller, Dichter der Freiheit, nur 46jährig zermürbt von langwierigen und schmerzhaften Krankheiten. Vor einhundert Jahren schrieb Albert Einstein in seinem „Wunderjahr“ einige Aufsätze, die die Freiheit des Menschen einmal mehr angesichts der mathematischen Berechenbarkeit des Universums als lächerliches Konstrukt erscheinen ließen. Vor sechzig Jahren endete eine der größten Katastrophen der Menschheitsgeschichte mit der sogenannten „Befreiung“; ihr folgten Vertreibung, Gefangenschaft und neue Zwangsherrschaften. Wo war da die Freiheit?

Im gleichen Jahr 2005 werden in Südostasien über 300.000 Menschen von einem mörderischen Spiel der Natur, genannt Tsunami, innerhalb von wenigen Minuten getötet. In Deutschland erreicht trotz fortgesetzter Reformbemühungen der politischen Führung die Anzahl der vom modernen Industriestaat freigesetzten Arbeitskräfte einen neuen Höchststand. Im Irak wird unter dem Banner der Freiheit und unter dem Einsatz von technologisch ausgefeiltester Waffensysteme der internationale Terrorismus bekämpft; derweil werden die Freiheitsrechte der Bürger in den westlichen Demokratien allenthalben beschnitten. Wo ist da die Freiheit?

Auch zweihundert Jahren nach Schillers Tod scheint, trotz aller Fortschritte in Wissen und Gesellschaft, die Erfahrung von Unfreiheit in der globalisierten Weltgesellschaft unausrottbar zu sein: Gegen die Gewalt der Natur ist zwischenzeitlich ebenso wenig ein Wunderkraut gewachsen wie gegen die Gewalt des Menschen gegen den Menschen. Und selbst dort, wo politische Liberalität und friedliche Verhältnisse die größtmögliche Entfaltung individueller Freiheit in der Lebensgestaltung zu ermöglichen scheinen, erwachsen neue Zwänge und Unfreiheiten aus einer entfesselten ökonomischen Rationalität, die sich zu einer neuen und kaum weniger bedrohlichen Gewalt entwickelt hat. Wo wird sich zukünftig Freiheit finden lassen?

Die gleiche Frage stellte sich Friedrich Schillers in einem im Jahre 1801 veröffentlichten Gedicht, betitelt „Der Antritt des neuen Jahrhunderts“:

Edler Freund! Wo öffnet sich dem Frieden

Wo der Freiheit sich ein Zufluchtsort?
Das Jahrhundert ist im Sturm geschieden,
Und das neue öffnet sich mit Mord.

Und er beantwortet die Frage selbst am Schluß des Gedichts:

Ach umsonst auf allen Länderkarten
Spähst du nach dem seligen Gebiet,
Wo der Freiheit ewig grüner Garten,
Wo der Menschheit schöne Jugend blüht.
In des Herzens heilig stille Räume
Mußt du fliehen aus des Lebens Drang,
Freiheit ist nur in dem Reich der Träume,
Und das Schöne blüht nur im Gesang.


Es wäre demnach ein Irrtum, die Freiheit auf der geopolitischen Landkarte zu suchen. Gemeinsam mit ihrer Schwester, der Schönheit, hat sie sich still und verborgen ins Innere des Menschen, in sein „Herz“ und seine „Träume“ zurückgezogen; und nach außen treten sie beide nur noch im "Gesang", also in der Kunst. Wahre und vollständige Freiheit, so behauptet Schiller hier und anderswo immer wieder, gibt es nur als schöne Kunst betrachtet.

Das läßt sich allzu leicht als Aufruf zur Emigration ins schöngeistige Innere brandmarken. Etwas mühsamer ist es, Schillers Begründungen für diesen Sachverhalt nachzuvollziehen. Und noch schwerer läßt sich beweisen, daß Schillers ästhetische Theorie, in der diese Fragen verhandelt werden, durchaus nicht eskapistisch und unpolitisch gemeint ist, sondern sich mit unendlicher Redlichkeit des Bemühens und differenziertester Argumentation bemüht, gerade das Gegenteil herzuleiten: „Die wahre Kunst aber hat es nicht bloß auf ein vorübergehendes Spiel abgesehen, es ist ihr Ernst damit, den Menschen nicht bloß in einen augenblicklichen Traum von Freiheit zu versetzen, sondern ihn wirklich und in der Tat frei zu machen“ (Braut von Messina).

Wie jedoch macht die "wahre Kunst" den Menschen „wirklich und in der Tat“ – und nicht nur in der Kunst und im Traum – frei? Die Antwort auf diese Frage gibt das gesamte Schillersche Werk, und zwar sowohl das dichterische als auch das immer noch weitgehend unterschätzte philosophische. Ihr Verständnis erfordert deshalb einen etwas längeren gedanklichen Atemzug und die Bereitschaft, sich nicht mit vordergründigen und plakativen Formeln wie der vom "Dichter der Freiheit" zufriedenzugeben, sondern zwischen verschiedenen Formen der Freiheit sorgfältig zu unterscheiden und vor die wohlfeile Kritik das mühsame Bemühen um Verständnis zu setzen; Fähigkeiten, die dem neuen 21. Jahrhundert zunehmend über der Kurzatmigkeit und Oberflächlichkeit medialer Präsentationsformen verloren zu gehen drohen. 

Wenn von Schiller als Dichter der Freiheit der Rede ist, drängen sich wohl als erstes zwei Figuren des dramatischen Werks in den Vordergrund: "Geben Sie Gedankenfreiheit!", fordert der Marquis Posa im Don Carlos von König Philipp; und im Rütlischwur des Wilhelm Tell versprechen sich die aufständischen Schweizer: "Wir wollen frei sein, wie die Väter waren, / Eher den Tod als in der Knechtschaft leben". Gedankenfreiheit und politische Freiheit sind aufklärerische Grundforderungen und bilden zusammengenommen die allergrundlegendeste Voraussetzung für jede andere Form von Freiheit. Allerdings sind beide nur das, was in der Sprache der Philosophie "negative Freiheiten" heißt: Sie machen frei von etwas ‑ einem äußerlichen Zwang wie der Zensur oder absolutistischen Herrschaft; sie bilden aber nur die Basis für die Freiheit zu, der eigentlichen positiven und kreativen Umsetzung der gewonnenen Handlungs- und Denkfreiheit. Trotz allgemeiner Pressefreiheit ist es weiterhin möglich, daß ein öffentlicher Meinungsterror herrscht; ebenso kann auch in der allerfreiheitlichsten Demokratie passive Teilnahmslosigkeit herrschen. Erst die Entfaltung aktiver politischer Gestaltungskraft und der Mut, sich des eigenen Verstandes auch wirklich ohne fremde Vormünder zu bedienen, machen den freien Bürger und den freien Denker.

Nun ist das dem Marquis Posa durchaus bewußt. Die Gedankenfreiheit, die er vom spanischen König fordert, soll nämlich dazu dienen, den "verlorenen Adel" der Menschheit wiederherzustellen. Erst wenn das geschehen ist – "wenn nun der Mensch, sich selbst zurückgegeben, / zu seines Werts Gefühl erwacht" ‑, dann können "der Freiheit / erhabne, stolze Tugenden gedeihen". Die Wiedereinsetzung der von der Natur verliehenen Menschenrechte ist nur die Voraussetzung für die weit wichtigere Verpflichtung zu tugendhaften Handeln. Richtiges und freies Denken allein ist zwar eine schöne, aber weitgehend folgenlose Angelegenheit; zur "Triebkraft", wie Schiller im mechanistischen Jargon der Zeit immer wieder sagt, wird es erst, wenn es mit einem lebendigen Gefühl, einer Motivation verbunden werden kann. "Ausbildung des Empfindungsvermögens", so wird es in den Ästhetischen Briefen zur Erziehung des Menschen heißen, sei deshalb nach weitgehend vollzogener Aufklärung des Verstandes das eigentliche Gebot der Zeit – eine Forderung, die sich in Zeiten des zwar allseitig ausgebreiteten, aber deshalb keineswegs tiefer verstandenen Gefühlsleben nicht erübrigt hat.

Auf freies Denken muß moralisch freies Handeln folgen – dieser Sachverhalt wird bis heute unter dem Stichwort des "freien Willens" verhandelt. Direkt im Anschluß an die zitierte Rede Posas beweist der vermeintlich so verhärtete König Philipp, daß auch er zu so etwas fähig ist: Er will

den Jüngling, der sich übereilte,
Als Greis und nicht als König widerlegen.
Ich will es, weil ich’s will.

Philipp will als Mensch sprechen, und nicht als Monarch; und diese moralische Entscheidung bedarf keinerlei Begründung: "Ich will es, weil ich's will". Mit der gleichen Formel könnte man allerdings auch die völlige Beliebigkeit des Handelns begründen, die bis heute weitgehend unreflektiert unter "freiem Willen" verstanden wird: eine Art Diktatur des von jeglichem Begründungs- und Legitimationszwängen freigesprochenen, spontanen, individuellen, willkürlichen Handelns.

Das allerdings meinte Schiller gerade nicht mit der moralischen Freiheit des Menschen. Die Paradoxien, die aus einem solchen bloß willkürlichen Freiheitsbegriff entstehen, thematisieren alle seine Dramen, vom frühen Don Carlos bis zum späten Wilhelm Tell. Willkürlich sei eines aus der Mitte herausgegriffen. In Wallensteins Lager feiern die Soldaten enthusiastisch die Freiheit ihres Berufsstandes und ihrer Lebensweise. Wohlgemerkt, wir befinden uns im Krieg – allgemein nicht gerade als eine Oase freien Handelns bekannt -; und es herrscht strenge militärische Disziplin unter dem Regiment des Fürsten Wallenstein. Gerade aus dieser Situation extremen äußerlichen Zwanges heraus jedoch entfalten die Soldaten ihren Freiheitsbegriff:

Aus der Welt die Freiheit verschwunden ist,
Man sieht nur Herren und Knechte;
Die Falschheit herrschet, die Hinterlist
Bei dem feigen Menschengeschlechte.
Der dem Tod ins Angesicht schauen kann,
Der Soldat allein ist der freie Mann.

Wiederum ist hier zunächst von einer negativen Freiheit die Rede: Die Voraussetzungen zum freien Handeln erwachsen erst daraus, daß man die Notwendigkeit des Todes anerkennt und sich von der zwanghaften Angst, sterben zu müssen, befreit. Nur wer dem Tod ohne Furcht ins Auge blicken kann, gewinnt Gestaltungsfreiheit für sein Leben. Allerdings können die Soldaten diese letztlich nur auf dem Schlachtfeld verwirklichen: "Ins Feld, in die Freiheit gezogen", heißt ihre Parole. Eine positive gesellschaftliche Perspektive ist daraus nicht zu gewinnen.

Für Wallenstein selbst stellt sich die Lage von oben her gesehen etwas anders dar. Aus einer Position beinahe absoluter Macht heraus kann er, wie König Philipp im Don Carlos, von sich behaupten, der "Täter seiner Taten" zu sein. So ist seine Verschwörung gegen den Kaiser zunächst ein Akt freien Denkens:

In dem Gedanken bloß gefiel ich mir;
Die Freiheit reizte mich und das Vermögen.
Blieb in der Brust mir nicht der Wille frei?

Doch als er sein Gedankenspiel in die Tat umsetzt, ist er urplötzlich nicht mehr der "Täter seiner Taten":

In meiner Brust war meine Tat noch mein;
Einmal entlassen aus dem sichern Winkel
Des Herzens, ihrem mütterlichen Boden,
hinausgegeben in des Lebens Fremde,
gehört sie jenen tückschen Mächten an,
Die keines Menschen Kunst vertraulich macht.

 Nun wird er getrieben von der äußerlichen Eigendynamik seines Tuns – dem Selbsttäter ein unerträglicher Gedanke. Seine Freiheit gewinnt er erst zurück, als die Situation ausweglos geworden ist:

Die Brust ist wieder frei, der Geist ist hell,
Nacht muß es sein, wo Friedlands Sterne strahlen.
Mit zögerndem Entschluß, mit wankendem Gemüt
Zog ich das Schwert, ich tats mit Widerstreben,
Da es in meine Wahl noch war gegeben!
Notwendigkeit ist da, der Zweifel flieht,
Jetzt fecht ich für mein Haupt und für mein Leben.

Auch hier ist also die Basis wahrer Freiheit des Handelns, wie bei den Soldaten, ein Zwang: Freiheit wird nicht etwa verwirklicht in beliebigen Willkürakten der "Wahl", sondern in der Anerkennung einer strengen und unumgänglichen "Notwendigkeit". Wallenstein wird erst wieder der "Täter seiner Taten", als er sich aus der Sphäre des "tückschen Mächte" des Schicksals erhebt; nun entspringt sein Handeln wieder rein aus ihm selbst, aus dem "mütterlichen Boden" des Herzens, aus der "freien Brust".

Damit jedoch ist dem moralisch freien Handeln des Menschen in Schillers Dramen eine unüberwindliche Grenze gesetzt. Zum einen folgen die vermeintlich freien Taten des Menschen, wenn sie tatsächlich ausgeführt werden, nicht mehr ihrem eigenen Gesetz, sondern den fremden Gesetzen äußerlicher Zwänge. Zum zweiten kann sich der Mensch in kurzen Momenten der absoluten Selbstbestimmung zwar als moralisch frei erfahren; aber er kann dieses paradoxerweise nur durch die Erfahrung absoluter Fremdbestimmung – angesichts des Todes, angesichts eines unabwendbar gewordenen Verhängnisses. Solange er noch eine Wahl zwischen verschiedenen Handlungsoptionen hat, wird er hin- und hergerissen zwischen verschiedenen Ansprüchen der Außenwelt, zwischen seinen Bedürfnissen und seinen Prinzipien. Erst wenn alles allzu pragmatische Abwägen von Vor- und Nachteilen verschwindet, gewinnt der Geist die Freiheit, das Notwendige zu tun.

Nun ist das offensichtlich ein sehr idealistisches Modell von Freiheit, das weder eine Beziehung zur menschlichen Alltagserfahrung noch zur alltagsweltlichen Dominanz sinnlicher Bedürfnisse aufweist: Im Normalfall steht der Mensch nicht vor singulären, großen Entscheidungen über Sein oder Nichtsein, sondern vor vielen, kleinen Entscheidungen über das Wie-im-einzelnen-besser-oder-schlechter-Sein; und er trifft diese meist eher im Modus der abwägenden Wahl zwischen unterschiedlichen Alternativen als im Modus der unbedingten Anerkennung allgemeiner Gesetzlichkeiten. Anstelle nur einmal die Täter unserer Taten zu sein, sind wir alltäglich die Opfer eigener wie fremder Bedürfnisse und Ansprüche. Wo also wäre der Platz des freien Willens außerhalb der Sphäre des Heroischen zu finden?

"Freiheit ist nur in dem Reich der Träume, / Und das Schöne blüht nur im Gesang" – nun sind wir offenbar also doch dort angekommen, wohin Schiller uns haben wollte. Außerhalb des Bereichs der Ideale und der großen Taten der Selbst-Täter lebt die Freiheit in der Kunst; und dort ist sie für jeden erreichbar und erfahrbar. Während Wallenstein auf der Bühne mit den determinierenden Kräften des Schicksals ringt, können sich die Zuschauer dem Genuß eines Kunstwerks hingeben. Der höchste Genuß aber, so Schiller in der Vorrede zur Braut von Messina, "ist die Freiheit des Gemütes in dem lebendigen Spiel aller seiner Kräfte", wie sie der Mensch in den "Künsten der Einbildungskraft" erfahren kann. Hier - und nur hier – nämlich macht er die volle Erfahrung seiner Menschheit. In einer vielzitierten Passage der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen heißt es programmatisch: "Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. Dieser Satz, der in diesem Augenblicke vielleicht paradox erscheint, wird eine große und tiefe Bedeutung erhalten; er wird, ich verspreche es Ihnen, das ganze Gebäude der ästhetischen Kunst und der noch schwierigern Lebenskunst tragen".

Es ist immer wieder als frappierend empfunden worden, daß Schiller die volle Last seiner Theorie der Freiheit wie seiner aufs engste damit verbundene Ästhetik einem unschuldigen alltagsweltlichen Begriff überbürdet. Was qualifiziert das Spiel eigentlich zu dieser Schlüsselstellung? Letztlich ist es wohl gerade seine tiefe und vielfache Verwurzelung sowohl in der "ästhetischen Kunst" als auch in der "Lebenskunst". Wir spielen als Kinder und als Erwachsene; wir spielen in der Musik und auf dem Sportplatz; wir spielen in gesellschaftlichen Rollen und auf dem Theater. In Spielen wird Kreativität entfaltet und trainiert; in Spielen wird der Umgang mit sozialen Beziehungen simuliert; Spielen macht Spaß und wirkt entspannend auf Geist und Gemüt, die gleichwohl beim Spielen gleichermaßen beteiligt sind. Definiert man den Menschen – wie Schiller dies im Einklang mit seinen Zeitgenossen tut – als "ganzen Menschen", dann macht er diese Erfahrung von Ganzheit offensichtlich weder in den arbeitsteiligen Zwängen der Berufswelt, die ihn auf seine Rationalität reduzieren, noch in der sogenannten "rein menschlichen" Sphäre der familiären Intimität, die ihn emotional vereinseitigt. Er macht sie vielmehr sowohl in realen Spielen als auch in den Spielen der Kunst, die Kopf, Herz und Phantasie in gleichem Maße anregen und ihm eine freie Entfaltung seiner Persönlichkeit – wohlgemerkt: innerhalb der Regeln des jeweiligen Spiels! ‑ ermöglichen. Denn kennzeichnend für alle Spiele ist die Erfahrung von Freiheit beim gleichzeitigen Bestehen von Regeln. Wir treten freiwillig in Spiele ein und beenden diese freiwillig; wir beachten die Regeln, variieren sie aber in der Anwendung. Ein Spiel ohne Spielregeln wäre nicht nur sinnlos, es würde auch keinen Spaß machen; das weiß jeder, der Kinder einmal bei Spielen beobachtet hat.

Allerdings bleibt, auch wenn man Schiller bisher folgt, weiterhin die erzieherische Wirkung von ästhetischen Spielen für das Leben zu beweisen: Macht es den Menschen denn wirklich besser, wenn er viele schöne Spiele befriedigend spielen kann? Verbürgt das Schöne (des Spiels) und das Wahre (der Kunst) wirklich auch das Gute (im Leben)? Und welche Rolle spielt die Freiheit in diesem Zusammenhang? An dieser Stelle setzt normalerweise der moderne Abwehrreflex gegen alles Klassische, das zur monumentalen Leerformel verschmolzenen Schöne-Wahre-Gute, ein. Auch hier jedoch argumentiert Schiller differenzierter und lebensnäher, als die anti-klassische Kritik ihm das häufig unterstellt. Zunächst verknüpft er Spiel und Freiheit aufs engste mit dem genuin schöpferischen Vermögen der Einbildungskraft: Während in der Sphäre der Gedankenfreiheit der Verstand sich frei betätigen darf, im freien Willen sich das Gefühl seinen Weg bahnt, herrscht in der Kunst das freie Spiel der Phantasie. Auch hier gibt es natürlich wieder eine negative und eine positive Variante: Das Spiel der Phantasie ist zwar frei von den Beschränkungen der Logik und den Grenzen der guten Sitten; es ist aber keineswegs hinreichend, nur seine Assoziationen angesichts eines Kunstwerks regel- und ziellos herumschweifen zu lassen. Vielmehr entsteht auch hier wahre positive Freiheit erst in einem gestaltenden Akt: nämlich der realen Teilnahme am Spiel, und zwar entweder in der Schöpfung eines Kunstwerks als "lebendige Gestalt", oder in der Wiederbelebung dieses Geschöpfs durch den Betrachter. Beides ist für Schiller gleichwertig: Wenn der Künstler nach Gott ein zweiter Schöpfer (nach Gott) ist, sind die Kunstrezipienten dritte, vierte, fünfte (und bis ins Unendliche fort) Schöpfer.

Wie jedoch vollzieht sich dieser menschliche Schöpfungsakt lebendiger Gestalten? An dieser Stelle erreicht Schillers ästhetische Theorie ihr Maximum an Komplexität, die deshalb zu Darstellungszwecken etwas reduziert werden muß. Im wesentlichen, so Schiller, findet während dieses Schöpfungsakts eine ständige Wechselwirkung in Form eines Rollentauschs statt. In einem Kunstwerk, so zunächst die ästhetische Klippschul-Theorie, wird ein bestimmter Stoff in eine bestimmte Form gebracht. Der Stoff entstammt der konkreten und sinnlich-vielfältigen Welt der Realität (zum Beispiel: Wallensteins tatsächlich gelebtes und überliefertes Leben mit all seinen historischen Details). Die Form hingegen entsteht durch eine Anwendung allgemeiner künstlerischer Verfahren und Regeln, durch die der Künstler dem Stoff eine einmalige äußere Gestalt verleiht (also im Falle Wallensteins die einer dreiteiligen Tragödie mit bestimmten Versmaßen, Dialogformen und sonstigen Formmerkmalen). Beides zusammen erst, Inhalt und Form, Individualität und Allgemeinheit, Leben und Gestaltung, machen das Kunstwerk zur "lebendigen Gestalt". Allerdings läßt sich beides weder bei der Herstellung noch bei der Betrachtung des Kunstwerks so sauber voneinander trennen noch in eine bestimmte Reihenfolge bringen: Beides interagiert vielmehr ständig im schöpferischen Prozeß. Die Schönheit des Kunstwerks wird dabei abwechselnd und über kreuz gleichzeitig empfunden und gedacht, genauer: das Empfinden wird nun gedanklich aufgeladen, das Denken emotional geprägt und alles zusammen als lustvoll empfunden. Vermittelt wird all dies durch die äußerst rege Tätigkeit der Einbildungskraft in einem Prozeß, den man sich neurobiologisch durchaus als blitzschnelle Verschaltung möglichst vieler und unterschiedlicher Synapsen vorstellen könnte: Ein Kunstwerk löst ein Neutronenfeuerwerk im Gehirn aus und verbindet dabei sonst getrennte Bereiche und Funktionen.

Dabei jedoch, und damit kommen wir zum eigentlichen Ziel der Argumentation, entsteht nach Schiller die Erfahrung von Freiheit nicht aus Regellosigkeit, sondern aus Notwendigkeit: Die Grenzen zwischen Stoff und Form, Sinnlichkeit und Geist, Empfinden und Denken sind nicht nur aufgehoben, sondern gleichzeitig wieder in eine neue Regelhaftigkeit überführt worden. Denn das Kunstwerk als "lebende Gestalt" kann diese Lebendigkeit nur erhalten, wenn seine Form weder starr noch sein Inhalt willkürlich ist. Vielmehr muß beides in einer organischen und absolut notwendigen Verbindung zueinander stehen. Jedes Kunstwerk trägt, so Schiller immer wieder, sein eigenes Gesetz in sich; wie jedes lebende Wesen bei äußerlich vollständiger Individualität sein eigenes Wesensgesetz –biologisch begründbar in Form der DNA – in sich trägt. Das ideale Kunstwerk schließlich verwirklicht damit das, was im Leben selbst nur ein unerreichbare Zielvorstellung bleiben muß: "frei sich selbst / Zu leben nach dem eigenen Gesetz" (Braut von Messina).

Aber sind wir damit nicht immer noch nur im Reich der Träume? Mitnichten. Schiller versucht in den Ästhetischen Briefen, die ästhetische Erfahrung nur als Vorreiter allgemeinerer menschlicher Erfahrungen darzustellen. Gegen Schluß des Textes nennt er zumindestens ein weiteres Beispiel für eine gesellschaftlich breitere erzieherische Wirkung des schönen Scheins der Kunst und der damit verbundenen produktiven Ausübung der Freiheit:

Es ist auffallend, wie sich der gute Ton (Schönheit des Umgangs) aus meinem Begriff der Schönheit entwickeln läßt. Das erste Gesetz des guten Tones ist: Schone fremde Freiheit. Das zweite: Zeige selbst Freiheit. Ich weiß für das Ideal des schönen Umgangs kein passenderes Bild als einen gut getanzten und aus vielen verwickelten Touren komponierten englischen Tanz. Ein Zuschauer aus der Galerie sieht unzählige Bewegungen, die sich aufs bunteste durchkreuzen und ihre Richtung lebhaft und mutwillig verändern und doch niemals zusammenstoßen. Alles ist so geordnet, daß der eine schon Platz gemacht hat, wenn der andere kommt, alles fügt sich so geschickt und doch wieder so kunstlos ineinander, daß jeder nur seinem eigenen Kopf zu folgen scheint und doch nie dem andern in den Weg tritt. Es ist das treffendste Sinnbild der behaupteten eigenen Freiheit und der geschonten Freiheit des andern.

Vielleicht wird die von Schiller am Beispiel des gesellschaftlichen Tanzes seiner Zeit illustrierte Kunst des schönen Umgangs in geselliger Freiheit am deutlichsten, wenn man sie mit dem - gezielt ins plakativ-negative retuschierten - Bild vergleicht, das eine Love Parade dem Betrachter bietet. Zunächst wird dieser kaum den Eindruck gewinnen, es handele sich um einen "verwickelten" oder "komponierten" Bewegungsablauf; vielmehr herrscht eine relative monotone Wiederholung einiger weniger Bewegungen vor. Zum zweiten bleiben die Tänzer relativ statisch auf ihrem Platz; da es keinen Tanzpartner gibt, entfällt auch die Koordination der "lebhaften und mutwilligen" Bewegungen untereinander und der dadurch entstehende ästhetische Eindruck von kunstloser Ordnung. Der anscheinend so freie, weil regellose Tanz zu den hämmernden Rhythmen der Techno-Sounds ist, von Schillers Warte auf der Galerie betrachtet, damit gerade nicht zur Freiheit qualifiziert: Er ist nicht schöpferisch, sondern reproduzierend; nicht vielfältig und lebendig, sondern monoton und mechanisch; keine ganzheitliche und konzentrierte Erfahrung, sondern eine rein physische, unter Umständen mit künstlichen Mitteln noch gesteigerte Ekstase; nicht regelschaffend und –variierend, sondern nur wahllos und willkürlich. Da er keine eigene Freiheit hat, kann er schließlich auch nicht fremde Freiheit respektieren; er stößt gar nicht erst in den Bereich ethischen Handelns vor.

Es ist wohl vor allem dieser letzte Punkt, auf dem die pädagogische Vision von Schillers ästhetischem Modell im engeren Sinn beruht: "Schone fremde Freiheit; zeige selbst Freiheit". Die Formel vereint die beiden unterschiedlichen Grundformen der Freiheit, die negative – im zu schonenden Anderen – und die positive – in der Verpflichtung, nicht nur frei zu denken und frei zu wollen, sondern wahrhaft frei zu handeln und zu gestalten, Freiheit auch zu "zeigen". Dann und nur dann läßt sich Freiheit als eine schöne Kunst betrachten, die aber nicht nur im „Reich der Träume“, sondern ebenso im sozialen Miteinander des Alltags und darüber hinaus innerhalb der globalisierten Weltgesellschaft trainiert und praktiziert werden müßte. Und so läßt sich Schillers Gedicht Der Tanz auch als Parabel für einen schönen, freien und maßvollen Umgang nicht nur mit den menschlichen Leidenschaften und der Gewalten der Natur, sondern auch mit den Tanzpartnern im großen Welttheater lesen:

Ewig zerstört, es erzeugt sich ewig die drehende Schöpfung,
Und ein stilles Gesetz lenkt der Verwandlungen Spiel.
Sprich, wie geschiehts, daß rastlos erneut die Bildungen schwanken
Und die Ruhe besteht in der bewegten Gestalt?
Jeder ein Herrscher, frei, nur dem eigenen Herzen gehorchet
Und im eilenden Lauf findet die einzige Bahn?
Willst du es wissen? Es ist des Wohllauts mächtige Gottheit,
Die zum geselligen Tanz ordnet den tobenden Sprung,
Die, der Nemesis gleich, an des Rhythmus goldenem Zügel
Lenkt die brausende Lust und die verwilderte zähmt.
Und dir rauschen umsonst die Harmonien des Weltalls,
Dich ergreift nicht der Strom dieses erhabnen Gesangs,
Nicht der begeisternde Takt, den alle Wesen dir schlagen,
Nicht der wirbelnde Tanz, der durch den ewigen Raum
Leuchtende Sonnen schwingt in kühn gewundenen Bahnen,
Das du im Spiele doch ehrst, fliehst du im Handeln, das Maß. 


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