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Gedichte, übersetzt


Doch war der Vogel nur gerecht, geduldig und gehorsam

 Gedichte von Sylvia Townsend Warner 


Sie ist wenig bekannt; noch viel weniger bekannt als ihre Zeitgenossin Virginia Woolf, der wenigstens postumer Ruhm in hohem Maße zukam (es gibt auch keinen Grund, Angst vor ihr zu haben). Immerhin sind ihre Romane teilweise ins Deutsche übersetzt; ihre Gedichte hingegen sind sogar in ihrer englischen Muttersprache kaum noch erhältlich. Wer war Sylvia Townsend Warner, und warum sollte sie endlich gelesen werden (nicht nur von Frauen, aber notfalls auch: zuerst von Frauen)? Antworten auf diese Fragen demnächst im "Frauenzimmer". Und als Appetizer schon einmal einige wenige ihrer Gedichte, im Original und in (eigener, gelegentlich freier) Übersetzung!

The Scapegoat

See the scapegoat, happy beast,
From every personal sin released,
And in the desert hidden apart,
Dancing with a careless heart.

“Lightly weigh the sins of other,”
See him skip! “Am I my brother’s
Keeper? O never, no, no, no!
Lightly come and lightly go!”

In the town from sin made free
Righteous men hold jubilee.
In the desert all alone
The scapegoat dances on and on.

Der Sündenbock

Seht den Sündenbock, glückliches Biest!
Befreit von jeglicher eigenen Sünde
hat er sich in der Wüste versteckt
und tanzt dort mit sorglosem Herz.

„Leicht wiegen die Sünden Anderer.“
Wie er hüpft! „Bin ich denn meines Bruders Hüter?
Nein, niemals, nie und dreimal Nein!
Leicht gewonnen wie zerronnen!“

In der sündenfreien Stadt
feiern die Rechtschaffenen.
In der Wüste ganz allein
Tanzt und springt der Sündenbock.


Mankind is always the partisan of Prometheus

Mankind is always the partisan of Prometheus.
The God’s bird, and even the God himself
Are by mere justice and victory disgraced.
Yet was the bird punctual, patient, obedient.
And the God, God. Why is it unforgivable
To be with all humility in the right?
Whence came this radiance gilding the downward
Pinions of Lucifer, and on the rebel’s
Countenance this beauty of unholiness?
Oh no, not only the genius of Aeschylus?
Rather, man’s heart having lost original grace
Becomes a hostel to all lost causes, cares not –
So they be lost – whether good or evil.

Yet was the bird punctual, patient, obedient…

Twice I have dreamed, and twice I have been an eagle.
Happy was the first dream
For I was the brass eagle in the church.
My static wings quivered beneath the Word.
My feet were panted in a cluster of lilies,
The organ played, and the school-children sang.
Vast was the word of God, but I sustained it.
I was forever meek, strong and durable,
And shone like gold before the congregation.
But in my second dream I was the bird of Zeus.
The air breasted my breast, surged through my wings,
Bubbled and seethed about me, and streamed on,
While far beneath the range of Caucasus
Lay small und clean as pebbles in a brook.
With here an agate-vein of a crevasse
And here an forest like a water-weed.
I had no care, no animus, I poised
Calm as my shadow floating on the abyss
Set like a seal upon the writ of God.

So In an endless morning I was poised,
So on a blameless errand I was aimed,
So was the bird punctual, patient, obedient.

Die Menschheit schlägt sich immer auf die Seite von Prometheus

Die Menschheit schlägt sich immer auf die Seite von Prometheus.
Der Vogel Gottes, und sogar der Gott selbst
fallen, allein ihrer Rechtlichkeit und ihres Sieges wegen, in Ungnade.
Doch war der Vogel nur gerecht, geduldig und gehorsam.
Und Gott war Gott. Warum ist es denn unverzeihlich,
im Recht zu sein, mit aller Demut?
Wann geschah es, dass die gesenkten Flügelspitzen Luzifers
mit Strahlen umkleidet wurden, und das Angesicht
des Rebellen mit der Schönheit des Schrecklichen?
(Oh nein, nicht nur das Genie von Aeschylos!)
Vielmehr, das Herz des Menschen, einmal gefallen aus
der Gnade seines Ursprungs, wurde die Zuflucht aller aussichtslosen Fälle,
kehrte sich nicht darum, ob gut, ob böse. Hauptsache verloren!

Doch war der Vogel nur gerecht, geduldig und gehorsam.

Zweimal träumte ich, und zweimal war ich ein Adler.
Froh war der erste Traum,
denn ich war der Bronzeadler in einer Kirche.
Meine starren Flügel erbebten unter dem Gotteswort.
Meine Krallen hatten in Lilien Wurzeln geschlagen,
die Orgel spielte, Schulkinder sangen.
Gewaltig war Gottes Wort, aber ich unterstützte es.
Ich war sanftmütig, stark und ausdauernd, immerdar,
und strahlte wie Gold vor der Gemeinde.
Doch im zweiten Traum war ich der Vogel von Zeus.
Die Luft brandete gegen meine Brust, durchströmte meine Flügel,
schäumte und brodelte um mich und strömte weiter.
Weit unter mir lagen die Höhen des Kaukasus
winzig und blankgespült wie Kiesel in einem Bach,
mit den Achat-Adern der Gletscherspalten da
und dort einem Wald wie aus wiegendem Seegras.
Ich spürte keine Zuneigung, keine Abneigung, ich schwebte
gelassen wie mein Schatten über der Kluft,
ein Siegel, gesetzt auf das Urteil Gottes.

So war ich an einem endlosen Morgen bereitet,
so war ich zu makelloser Mission bestimmt,
so war der Vogel nur gerecht, geduldig und gehorsam.

Wish in Spring

To-day I wish I was a tree,
And not myself.
Confronting spring with a neat little row of poems
Like cups and saucers on a shelf.

For then I should have poems innumerable,
One kissing the other;
Authentic, perfect in shape and lovely variety,
And all of the same tireless green colour.

No one would think it unnatural
Or question my right;
All day I would wave them above the heads of the people,
And sing them to myself all night.

But as I am only a woman,
And not a tree,
With piteous human care I have made this poem,
And set it now on the shelf with the rest to be.

Frühlingswunsch

Heut wär‘ ich am liebsten ein Baum,
und nicht ich selbst.
Ich würde dem Frühling mit einer netten kleinen Reihe von Gedichten begegnen,
wie Tassen und Unterteller auf einem Regalbrett gereiht.

Denn dann hätte ich unzählige Gedichte,
von denen eines das andere küsst,
ganz es selbst, in makelloser Form und lieblicher Vielfalt.
Und alle von dem gleichen unermüdlichen Grün.

Niemand würde das für unnatürlich halten
oder mir das Recht dazu absprechen;
den ganzen Tag lang würde ich sie den Leuten über die Köpfe wirbeln,
und die ganze Nacht lang würde ich sie mir selbst vorsingen.

Aber da ich nur eine Frau bin,
und kein Baum,
habe ich mit erbarmungswürdiger menschlicher Sorgfalt dieses eine Gedicht gemacht
und setze es jetzt aufs Regal, damit es mit den anderen ist.


Woman’s Song

Kind kettle on my hearth,
Whisper to avert God’s wrath,
Scoured table, pray for me.
Jam and pickle and conserve.
Cloistered summers, named and numbered,
Me from going bad preserve,
Pray for me.

Wrung dishclout on the line
Sweeten to those nostrils fine,
Patched apron, pray for me.
Calm linen in the press,
Far-reaped meadows, ranged and fellowed,
Clothe the hour of my distress;
Pray for me.

True water from the tap
Overflow the mind’s mishap.
Brown tea-pot, pray for me.
Glass and clome and porcelain,
Earth arisen to flower a kitchen,
Pray for me.

All things wonted, fleeting, fixed,
Stand me and myself betwixt,
Sister my mortality.
By you transcience still renewed,
But more meek than mine and speechless,
In eternity’s solitude,
Pray for me.


Lied einer Frau

Lieber Kessel auf meinem Herd,
besäusele den Zorn Gottes!
Gescheuerter Tisch, bete für mich!
Marmelade, Eingemachtes,
konservierte Sommerklöster, gut beschriftet und gezählt,
betet für mich!

Ausgewrungenes Geschirrtuch auf der Wäscheleine,
umschmeichle Gottes feine Nasenflügel,
geflickte Schürze, bete für mich!
Stilles Leinen in der Bügelpresse,
weite gemähte Wiesen, geordnet und befreundet,
bedeckt die Stunde meiner Not;
betet für mich.

Wasser der Wahrheit aus dem Hahn,
spüle die Missgeschicke des Geistes hinweg.
Brauner Teekessel, bete für mich.
Glas und Ton und Porzellan,
Erde, auferstanden zum Blumenschmuck einer Küche,
bete für mich.

All ihr Dinge, alltäglich, flüchtig, geflickt,
stellt euch zwischen mich und mein Selbst,
verschwistert meine Sterblichkeit.
Mit eurer verneuten Vergänglichkeit,
die sanftmütiger ist als meine, und sprachlos,
einsam in alle Ewigkeit:
Betet für mich.

Ah sleep, you come not

Ah, Sleep, you come not, and I do not chide you.
You the ever-young, the sleek and the supple,
How should I bride you
Who am so harsh with care, so grimed with trouble?

You to the child’s cot and the lover’s pillow,
You to the carelesse creation in field and steading,
And to my roof-mate swallow
Come with goodwill, who come not to my dull bidding.

Like lies down with like. If I am to woo you
I must disguise myself, and in youth’s green
Habit pursue you,
Or imagine myself so what I never have been:

Or you in pity put on death’s leaden likeness
To follow my weariness.

Ach Schlaf, du kommst nicht

Ach, Schlaf, du kommst nicht, und ich schelte dich nicht dafür.
Wie sollte ich dich, immer jung, glatt und geschmeidig,
mir vermählen,
die ich so rau vor Sorge bin, so beschmutzt von Mühe?

Du kommst zur Wiege des Kindes und dem Kissen des Liebenden,
zur sorglosen Kreatur in Feld und Gehöft,
kommst zur Schwalbe, meiner Dachgenossin,
kommst gutwillig, aber nicht zu meinem dumpfen Werben.

Gleich legt sich gern zu gleich. Wenn ich dich betören soll,
muss ich mich verkleiden und dich im Grün der
Jugendtracht verfolgen.
Oder mich so vorstellen, wie ich niemals war:

Oder du legst die bleierne Gestalt des Todes an,
um meiner Mattigkeit mitleidig dich anzuschließen.

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