Exposition mit Nicht-Thema
Das Kapitel „Grau und Frau“ ist mit großem Abstand das kürzeste in Peter Sloterdijks neuer Monographie, und eigentlich würde man es am liebsten zur Gänze abdrucken. Es verwendet einen sehr vergessenen Topos (heute würde man wohl lieber sagen: ein „Narrativ“) aus dem sehr vergangenen 18. Jahrhundert, nämlich den der vom Winde verweh-ten Manuskriptseiten, die es dem Autor/Herausgeber ersparen, sich mit einem heiklen Text in ein massives öffentlich bewirtschaftetes Nesselbeet zu setzen. Und so bleibt die Leserin allein mit ausgesuchten grauen Frauen der Weltliteratur, den Vetteln in Schneetraum von Thomas Manns Zauberberg, den Sorgen-Gestalten aus Faust. Der Tragödie zweiter Teil, Musils Grigia und den Pariser Grisetten, während der Autor die Flucht ergreift: „Vielleicht kam der Windstoß zur rechten Zeit – andernfalls hätte der Lektor womöglich gesagt: Pass auf, wenn man keine Frau ist, kann man so etwas heute nicht mehr schreiben!“
Nun gut, das ist frech, und man könnte sich empören. Man könnte auch einen eigenen Roman daraus schreiben, in dem sich graue Frauen verbünden gegen altersgraue Männer und eine bunte Philosophie des Weiblichen entwerfen. Oder man könnte versuchen – und das tun die folgenden Absätze, die eine zu lange Rezension sind, aber eine angemessen kurze Gebrauchsanweisung –, dem Altmeister Sloterdijk dabei zuzuschauen, wie er seine philosophisch-rhetorischen Taschenspielertricks vorführt. Das abgetriebene Kapitel „Grau und Frau“ zum Beispiel ist eine umfangreiche praeteritio – eine enorm nützliche und von Politikern gern (wenn auch zumeist unwissend) verwendete Figur, mit der man vorgibt, etwas nicht sagen zu wollen, es aber eben durch diese Erwähnung ja doch sagt und sogar noch besondere Aufmerksamkeit darauf lenkt. Worum geht es also in Wer noch kein Grau gedacht hat – eine Farbenlehre, und wie liest frau es so, dass man sich beim Lesen nicht nur ärgert, sondern Spaß hat? Here goes!
Sloterdijk lesen – eine Gebrauchsanweisung
Seit 1983 hat Peter Sloterdijk ungefähr jedes Jahr eine neue Monographie publiziert, dazu unzählige Essays, Interviews und Übersetzungen. Wenn er nun, in seinem 75ten Lebensjahr, wiederum ein dreihundertseitiges neues Buch vorlegt, ist es wohl angemessen, von einem Alterswerk zu sprechen. Weit davon entfernt, sich selbst ins Aschgraue zu wieder-holen, liest es sich jedoch so frisch und neu und bunt, und mit jugendlicher Frechheit stellt es eine steile These in den Denkraum: „Solange man noch kein Grau gedacht hat, ist man kein Philosoph“! Gleichzeitig promoviert sich sein Autor damit, Praemissis praemittendis, zum ehrenhaft ergrauten Gegenwartsphilosoph schlechthin, der sich gedanklich in der Grau-lehre auf der Höhe seiner Vorreiter Platon, Hegel und Heidegger bewegt. Die “Ressourcen deutscher Satzbildungskunst“ werden dabei ebenso ausgeschöpft wie der gedankliche und phänomenale Reichtum der Philosophie-, Medien-, Politik- und Kulturgeschichte – noch jedes Alterswerk tendiert zum gesteigerten Geistergespräch, und umgeben von Geistesverwandten, die wie alte Bekannte wirken, reduziert sich die Kommunikation oft auf geballte Kurz- und Kernformeln, die von Gipfel zu Gipfel gerufen werden (das fehlende Register würde aber genauso Autoren und andere Ikonen wie Baudrillard, Dante, Darwin, Dewey, Marx, Wagner oder Warhol verzeichnen; na gut: gönnen wir wenigstens einer Frau eine Nennung: Hannah Arend!; Register sind übrigens ein unterschätztes Genre, sie enthalten ganze intellektuelle Biographien!). Was Sloterdijk jedoch über den Panoramablick hinaus auch zum sprachlichen Großmeister unserer eher zur Sprachverelendung neigenden Gegenwart macht, sind die pointierte Prägnanz, die blendende Brillanz, die sprachschöpferische Buntheit, das schiere Virtuosentum der Darstellung des Denkens (man könnte auch sagen: des Denkens der Darstellung): Das Grau zu denken, bedeutet hier nämlich gerade nicht, in einer grauen Sprache graue Gedanken aneinanderzureihen. Es ist vielmehr geradezu eine Lust, der hochtrainierten Gymnastik von Sloterdijks grauer Substanz beim bunten Tun zuschauen!
Damit ist nicht gesagt, dass dieses Buch einfach zu lesen ist, eher im Gegenteil (aber billige Vergnügungen haben gemeinhin auch wenig Substanz, und Brutstätten für gefälliges Denken findet man anderswo genug im intellektuellen Schnäppchenmarkt). Man muss dazu selbst ein wenig rhetorisch beflügelt sein, sprachmusikalisch nicht ganz unbegabt und fähig wie willig, über den ein oder anderen Begriffsgraben sprachspielerisch hinweg-zuspringen. Das jedoch vorausgesetzt, wird man erkennen können: Es sind sehr ernste Sprachspiele, die hier betrieben werden, und was sich in der Erscheinung als Assoziation verkleidet, verbirgt eine messerscharfe Analyse in seinem Grund. Falls jedoch die Aufgabe gestellt wäre, sich selbst als gelenkige Leserin zu erweisen, die eine nuancenreiche und jeden einzelnen Denkmuskel beanspruchende Lektüre schätzt, ohne sich vor dem gele-gentlich resultierenden mentalen Muskelkater zu fürchten – dann sollte man dieses Buch mit Genuss lesen. Wort für Wort lesen, Satz für Satz lesen, ganz lesen, nochmal lesen. Noch im grauesten Detail stecken die ganze Buntheit eines langen Philosophenlebens und das souveräne Trickstertum des lebenslänglichen Autors (das meiste davon kommt aus der sehr alten Zauberkiste der Rhetorik, die heute jedoch mehr oder weniger durch die Anspruchslosigkeiten des Twittertums ersetzt worden ist). Und natürlich sollte man Zaubertricks nicht verraten; aber vielleicht ist es nicht ganz unnötig, ein wenig Hilfestellung beim Lesen zu leisten?
1. Aparte Aufzählungen
Worum es im Buch inhaltlich im Großen und Ganzen und Grauen geht – lassen wir am besten Sloterdijk selbst sagen, er sagt es so unvergleichlich besser selbst, dass jede Nachrede nur mausgraues Referat sein könnte. Man kann zudem gleich die Gelegenheit nützen und ihn dabei beobachten, wie er aparte Aufzählungen (enumeratio auf rhetorisch) zur Anreicherung akademisch strohtrockener Zwecke wie einer erwarteten Exposition oder einer zielgerichteten Zusammenfassung einsetzt: „Im chromatischen Bereich kommt Grau dem nahe, was aus modaler Sicht ein Möglich wäre. Topologisch ist es für das Zwischenräumliche zuständig; bei Gebäuden sind seine Bereiche eher die Korridore, die Treppenhäuser und Hinterhöfe als die Balkone oder die Zimmer mit Aussicht. In politischer Sicht färbt es die Randgebiete, wo die Adressen unscharf werden und die Ordnungskräfte zögern; moralisch meint es Grenzfallgebiete, wo man chronisch neben der Vorschrift handelt, um Vorgeschriebenes zu erfüllen; juristisch wuchert es in den Gesetzeslücken und den Bereichen des nicht ausdrücklich Verbotenen.“ Shades of Grey – das ist im Übrigen das einzige Wortspiel des Grauen, das sich Sloterdijk konsequent nicht erlaubt – sind das Grundprinzip solcher Reihungen: Sprachlich kommen ebenso Entfernt-Verwandte zusammen wie gedanklich; nicht markierte ebenso wie ausgestellte Zitate streifen vagabundierend durch den Text („Zimmer mit Aussicht“!); kleinere rhetorische Wortfiguren machen ihre Kunststückchen innerhalb der enumeratio (die Spannung zwischen „Vorschrift“ und „Vorgeschriebenem“ ist die der figura etymologica). Metaphern machen sich auf Begriffsgrund breit (das Juristische „wuchert)“. Merke: Aufzählungen sind nicht langweilig, und man sollte sie niemals überlesen! Aufzählungen sind vielmehr das Wesen der Welt jenseits des immer reduktionistischen Begriffs!
2. Kuriose Komposita und bunte Bettgenossen
Sloterdijk gebiert dabei ständig neue Worte. Das Goethe-Wörterbuch, das den bisher um-fangreichsten Wortschatz der (geschriebenen) deutschen Sprache überhaupt dokumentiert (Goethe ist natürlich ein alter Bekannter im Geistergespräch, er versteht sich besser mit einer gewissen Art Philosophen, als man meint), verzeichnet 90.000 Einträge; darunter eine bemerkenswert hohe Zahl an Einmalbildungen sowie Komposita, für die sich die paarungsfreudige deutsche Sprache besonders eignet. Man darf behaupten, dass das Slo-terdijk-Wörterbuch in ähnliche Höhen aufsteigen könnte. Wer vor ihm hat schon von „solarmythologischen“, „lichtmetaphysischen“ und „farbtheologischen Motiven“ in der philosophischen Farbenlehre gesprochen? Wer hat, neben Kafka natürlich (ein alter Bekannter, er bekommt weiter unten eine eigene Digression), die „Korridorisierung der Existenz“ beschrieben oder die „Melanokratie“ der Bürokraten? Wo finden wir „Zornsammelstellen“ und „Wutbanken“ (außer im Internet natürlich, das bemerkenswert wenig gewürdigt wird, aber das nur a parte gesprochen) sowie den „Illusionenparkplatz“, außer bei Sloterdijk, dem Wortzauberer? Unnötig zu bemerken, dass das Grau zu einem Haupt-Ideenspender wird: Der „Grauzonenglobus“ wird in seinen „Vergrauungsleistungen“ erschlossen, der „Grautod“ folgt der „Grauzonenverschiebung“ und so weiter ins Aschgraue. Fremde Worte werden auf jeder einzelnen Textseite eingebürgert, auf einer (beinahe) beliebig gewählten Seite wandern ein: „sic et non“, „intentio recta“, „intentio obliqua“ und – man empfinde die Spanne vom Bildungslatein zum zynisch angehauchten Anglizismus der Baby Boomer: „not even wrong“; Wittgenstein lässt grüßen!). In der „mesokosmischen Weltauffassung“ (aus der allein man ein ganzes philosophisches Programm entwickeln könnte!) interagieren, jenseits der großtuenden Pathosformeln wie der kleingeistigen Fachsprache, in natürlicher Selbstverständlichkeit die Worthorte der Spezialisten mit denen Abstellkammern der Alltagsdenker, flirtet Anschauliches mit Höchst-Abstraktem, wiederbelebt Neugedachtes Althergebrachtes. Ja, sogar das „Ungedachte“ (ein sehr dunkler Bereich der traditionellen Philosophie) kommt zu seinem Recht, neben die „Unfarbe“ Grau treten die "Unlesbarkeit“ wie die „Unlebbarkeit“, die „Desymbolisierung“ und die „Dekonzentration“, und am Ende gar die „Entewigung“.
3. Angenehme Allusionen
Eine Digression zu diesem Trick (Digressionen übrigens sind ebenfalls ein sehr zu Unrecht in Verruf geratenes Werkzeug der rhetorischen Trickkiste; wahrscheinlich sind im digressionsverliebten Zeitalter der Aufklärung letztmals wichtige Manuskriptblätter vom Winde verweht worden, so wie dem Autor hier in der abgrundhaften Digression zum Thema „Grau und Frau“!): Es mag kein Zufall sein, dass Sloterdijk Alliterationen nicht nur ihrer akustischen Anmut, sondern durchaus ihres assoziativ-analytischen Potentials wegen schätzt. Wer bereit ist, „Marken, Methoden und Modelle“ nicht nur als Klanggeklimper und Allusion an verbreitete Floskeln des Marketing-bullshits zu lesen, sondern als mesokosmische enumeratio von Phänomenen, die in der Sache verbunden sind, wird auch die „flüchtigen Kulte in den Seitenkapellen der weltumspannenden Konsumkathedrale“ als „eminentestes Exempel“ schätzen; und es mag kein Zufall sein, dass gerade ein sanft summendes M „in milden Kollisionen einer Mehrzahl von Meinungen“ dominiert. Experimentalpsychologen – ein Wissenschafts-Genre, dessen Fehlen so auffällig ist, dass es als Absicht gedeutet werden könnte – haben für derartige (An-)Bahnungen im Gehirn den Begriff Priming geprägt: Ein Reiz aktiviert im Gehirn bestimmte Gedächtnisinhalte, die damit assoziativ – oder, in diesem Fall: akustisch – verbunden sind; wer vorher „milde“ gesagt hat, wird freundlicher auf „Meinungen“ schauen, als wenn vorher von, sagen wir: „schwachen“ Kollisionen gesprochen worden wäre.
4. Prägnante Pointe und perlende Polemik
Noch ein M-Exempel, für den Sprach-Gourmet: „Ohne Massenflucht in die Mediokrität keine modernen Zeiten“! Das ist richtig und lustig und illustriert nebenbei einen weiteren rhetorischen Trick, nämlich: die prägnante Pointe, die auch in Gestalt des bedeutungsballenden Aphorismus auftritt oder gepaart mit perlender Polemik (es scheint nicht unpassend, bei der Lektüre gelegentlich zu lachen). „Die Reinheit des Dagegenseins bewahrt am besten, wer sich der Stimme enthält, wenn Mehrheiten für kleinere oder mittelgroße Übel in Gesetzesform gesucht wer-den“. Oder: „Kein Auswärtiges Amt weiß wirklich, was da draußen geschieht, wo die Irregularitäten unter sich sind“ (das nicht genug zu empfehlende farbpolitische Kapitel des Buchs liefert en passant eine Geschichte des 20. Jahrhunderts in seinen arg grauen Ecken, für das man nervlich stark aufgestellt sein muss). Zitate werden angespielt und dabei zur Kenntlich-keit entstellt: „Am Anfang war das Bit, und das Bit war bei Gott, und Gott war das Bit“. Zu platt? Na gut, „Bildungsroman verpflichtet“, trotz alledem. Wer jedoch würde der „Gewalt eines Inexistenzbeweises aus der Erfahrung“ widersprechen wollen? Ist die „prästabilierte Harmonie zwischen Neugier und Erkenntnis“ nicht wirklich eine gelungene Wiederbelebung einer schon bei ihrer Geburt außerhalb ihres Milieus nicht besonders lebensfähigen und von den Philosophieverwaltern dann zu Tode getrampelten Formel? Oder, eine winzige Spur von Corona nur in einem Text, der sich – wiederum: auffällig unauffällig – diesem Minen-feld der Immunologie verweigert, obwohl sein Autor seit jeher zu den Heroen der philosophischen Immunisierungserkundung zählte: „Stark augenfällig ist überdies der kamerarela-tive Exhibitionismus, der inzwischen pandemisch wurde, ohne daß die Durchseuchung der Population zu höherer kollektiver Immunität geführt hätte“. Ein Selfie für Sloti!
5. Arsenal der Ansinnungen
Im Übrigen ist Sloterdijk – darf man sagen: offensichtlich, von jeher, in extremis? – der Großmeister der Ansinnung. Das ist Gedankenmanipulation für Fortgeschrittene und funktioniert so: Ein Satz sagt nicht nur eine beliebige Tatsache, eine Hypothese, einen Befund, eine Bemerkung aus, nach dem Muster: X ist Y, aus X folgt Y, oder auch nur: X hat Y gesagt. Nein, die allermeisten und vor allem die konzentriertesten Sätze transportie-ren in Vorder- und Nachsätzen (praemissis praemittendis, was im Übrigen nicht nur ebenfalls eine lateinische figura etymologica ist, sondern als Akronym P.P. in der formelverliebten und gleichzeitig um höchste Präzision bemühten Kanzleisprache als feste Grußformel benutzt wurde) einen ganzen Rattenschwanz von begleitenden Voraussetzungen und damit verbundenen Geltungsansprüchen. Eine kleine Auswahl aus dem Arsenal der Ansinnungen: „Es versteht sich nahezu von selbst“; Indessen scheint die Überlegung statthaft“; „Gesteht man zu, daß“; „Es liegt in der Natur der Dinge“; „Im übrigen besteht Grund zu notieren“ (weitere Beispiele liefert dieser Text in möglicherweise zu ausgiebigen Anwendungen). Die Sloterdijk’sche Ansinnung wird häufig verbunden mit dem generalisierenden Sprecher-Man (ein Ich gibt es praktisch nicht im Text, was kein Zufall sein mag; gelegentlich taucht ein Du auf) oder dem extensiven Gebrauch von Modalverben (dürfen, mögen, können, gern auch im Konjunktiv). Ebenso gern paart sie sich mit rhetorisch feinen understatement: „Das bedeutet nicht we-nig, wenn man bereit ist, mit William James zu bemerken, daß Menschen, wenn es um ihre lebensleitenden Grundannahmen geht, fast nie ohne Unfehlbarkeitsansprüche auskommen“ (und selten war ein Satz 2o wahr wie dieser heute, wo das Unfehlbarkeitsdogma der katholischen Kirche manchem als halbherziger Vorläufer der woke-Bewegung erscheinen mag).
6. Eine didaktische Digression
Natürlich ist das massive Manipulation, keine Zweifel; aber überall, wo gesprochen wird, wird manipuliert. Was tut der reife Leser an dieser Stelle? „Es versteht sich nahezu von selbst“ (man beachte das „nahezu“!): Sie widerspricht dem Autor. Das ist, und damit endlich zur versprochenen Kafka-Digression, ein Trick, der das Geheimnis des Erfolgs von Kafka bei leichtgläubigen Lesern und deutungsfreudigen Literaturwissenschaftlern ist: "Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet"; so beginnt die Odyssee des Josef K. im Prozess, und am Ende liegt seine Leiche da. Niemals aber stellt jemand die Prämisse in Frage: Ist es denn wirklich zwingend so, dass Josef K. tatsächlich verraten wurde? Es könnte doch ein einfacher Behördenirrtum gewesen, eine melanokratische Panne im Bürokratenuniversum? Nimmt man die Prämisse weg, praemissis non praemittendis!, flugs zerbröselte der Roman (Kafka übrigens soll beim Vorlesen gelegentlich über seine eigenen Texte gelacht haben; und notfalls hätte man sie ja auch, seiner testamentarischen Anordnung folgend, verbrennen können). Denn man könnte die grauen Korridore des Schlosses auch einfach verlassen, sich der „Verkorridierung“ widersetzen, auch wenn einem vom Erzähler ständig die Notwendigkeit angesonnen wird, dort zu bleiben! Genauso sollte der der erste Impuls der mündigen Leserin ein vehementes Veto sein, sobald Sätze mit Formulierungen eingeleitet werden wie: „Es versteht sich von selbst“, „es liegt in der Natur der Sache“, „man darf behaupten“ – nein, es versteht sich nicht von selbst für mich! Nein, es drängt sich mir nicht auf! Das entscheidet ja nicht über deren Geltungsanspruch. Aber es eröffnet ein Geistergespräch. Man muss allerdings sein persönliches Unfehlbarkeitsdogma vorher ablegen. Gegen ein permanentes overstatement von angesonnenen Geltungsansprüchen hilft jedoch nur skeptische Immunität (schwierig zu erwerben, sogar im Zeitalter von RNA-Impfstoffen, hält dafür aber lesenslang und immunisiert zusätzlich gegen jegliche Schwarz-Weiß-Malerei, besonders in Kriegszeiten).
Am Ende ist Gleich-Gültigkeit
Und damit zurück zum (inhaltlich) Grauen und einem Schlusszitat, dass die weiteste gedankliche Erstreckung des leitenden Gedankens in Nietzsche’scher Ansinnungsrhetorik und gewagter Wortkombinationskunst („onto-allergisch“!) ausbuchstabiert: „Wie, wenn Empfindung, Nervlichkeit, Störbarkeit, Subjektivität und alles, was daraus folgt, nur ein ‚Versehen des Seins‘ wäre? Wenn das, was wir das Innere nennen, nur ein Epiphänomen wäre, das auf dem Mineralischen aufsitzt, ein Spiel von Botenstoffen in organischen Hypothesen namens Körper? Indes das sachlich Wahre das Tote würde, das sich den Luxus des irrenden, überempfindlichen, onto-allergischen Lebens leistet? Bis das begriffen wird, leben wir im geborgten Licht einer bisher lebensnotwendigen falschen Unterscheidung“. Es gibt kein richtiges Leben in den falschen Begriffen (wahrscheinlich gibt es nicht einmal in richtigen Begriffen ein richtiges Leben). Wer das Grau zu Ende gedacht hat, dem wird vieles gleichgültig. Aber nicht egal! Und so überrascht der Text schließlich mit einer reservierten Rehabilitierung des Grau-Lauen, Mittleren, Mittelmäßigen: „Das gewöhnliche laue Selbst strebt eine mittlere Selbstverlorenheit an, mit der sich leben läßt. … Vor romantischem Hochmut gegen das Laue sei gewarnt: Lau ist die Betriebstemperatur des Lebens bei den endothermischen Kreaturen“. Aber diese zerstören sich derzeit wieder einmal lieber selbst in den extremistischen Hochtemperaturzonen des unbedingt Schwarz-Weißen und den geistigen Folterkammern der Propaganda.
Fragen zur Philosophie?
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AKTUELL
Beinahe hätte Berthold seinen Geburtstag vergessen. Es war ein ganz normaler Tag im Vorfrühling gewesen, gefüllt mit Routinearbeiten, kleinen Freuden, nicht zu vielen Schmerzen, draußen hatten gerade die ersten Krokusse ihre Köpfe herausgestreckt. Keine besonderen Erkenntnisse, dachte er und schmunzelte vor sich hin; beinahe hörte sich das an wie die Formulierung eines ungeschickten Polizeisprechers bei einer Pressekonferenz. Und war es nicht Cicero gewesen, der gesagt hatte, man solle nicht den zufälligen Tag seiner Geburt feiern, sondern besser den Tag, an dem man ein Weiser geworden war? Aber wann war er, Dr. B. Reiter, ein Weiser geworden? In die Wiege gelegt worden war es ihm jedenfalls nicht. Keine guten oder bösen Feen hatten ihn mit Wundergaben beschenkt oder verwünscht damals vor 24 Jahren; er hatte auch keine Schlangen erwürgt schon im Kinderbettchen. Und was sich seine Eltern, jugendlich-naive Freizeitdenker und Enthusiasten, dabei gedacht hatten, ihn ausgerechnet „Berthold Reiter“ zu nennen – das hatte er nie verstanden. Er wollte nicht mit wilden Pferden durchgehen und hatte manchmal sogar Angst vor Ponys. Er sah sich aber auch nicht als biederer „Berthold“. Wenn er schon ein reitender Berthold sein sollte, dann war er wahrscheinlich eher einer von der Sorte Sancho Pansas, des unerschütterlichen Begleiters des großen, verrückten Don Quijote. Und er ritt den Esel der Demut, des bescheidenen alltäglichen Nachgrübelns, nicht der hochfliegenden Idealistenträume; er nannte ihn rucio, den kleinen Grauen, stellte sich ihn aber, er wusste nicht genau warum, eher blau vor, ein wenig himmelblau sogar. Nichts Besonderes, das war er, Dr. B. Reiter, ein Routinedenker, kleine Freuden der oberflächlichen Erkenntnis, nicht zu viele Schmerzen des tiefen Wissens. Und eigentlich wollte er, mit Cicero (war Cicero eigentlich eher ein Herren- oder ein Eselsreiter? ach, immerhin hieß sein Name wörtlich „Kichererbse“, und er hatte ihn nicht geändert, wie die Freunde vorschlugen!), lieber die Tage feiern, an denen er eine neue Erkenntnis, eine plötzlich aufscheinende Idee, eine kleine – Erleuchtung gehabt hatte. Manchmal erinnerte er sich noch an den Ort, wo ihn eine Erkenntnis – heimgesucht hatte, dachte er und musste wieder schmunzeln: auf einer Holzbank mitten in dem großen Friedhof, die Engel schauten steinern und milde herab, bunte Schmetterlinge umschwirrten ihn und die Zeit stand still. Oder beim Zähneputzen, gute Ideen kamen ihm häufig beim Zähneputzen, es musste mit der gleichmäßig kreisenden Bewegung zu tun haben. Natürlich, dachte Berthold, hatten die wirklich großen Philosophen alle gewusst, welcher Tag eigentlich zu feiern wäre: der Todestag natürlich, einmalig, persönlicher als alles Geborenwerden und niemals ein Kater am nächsten Morgen! Aber so weit war er noch nicht. Er bestieg noch zu gern seinen Esel, den kleinen Blauen, und er wünschte sich vor allem – neue Ideen, es mussten gar kein großen sein, und ein wenig Gebrauchsspuren störten ihn nicht. Inspiration, gelegentlich. Vor allem aber: Fragen! Wer aufgehört hat zu fragen, ist schon tot, dachte Berthold; und war das nicht ein schöner Geburtstags-Gedanke!
Beiträge im 'blauen reiter'
Es war im Jahre 1985, da trällerte eine österreichische Popgruppe namens Erste Allgemeine Verunsicherung einen Refrain, der sofort zum geflügelten Wort wurde:„Das Böse ist immer und überall“. Während man bei einer Internetrecherche nach diesem Titel heutzutage auf Seiten mit satanistischen Inhalten stößt, war die ursprüngliche Ironie des Titels nicht zu übersehen: Das scheinbar allgegenwärtige Böse war von einer nicht zu überbietenden Harmlosigkeit, und nur die Polizei glaubte tatsächlich noch an seine Existenz – kein Wunder, war es doch gleichzeitig ihre eigene Existenzberechtigung. Ganz ähnlich verhält es sich mit einer ebenfalls höchst populären literarischen Gattung, die eine der letzten Enklaven des Bösen darstellt: Im Kriminalroman, so sollte man meinen, ist das Böse tatsächlich immer und überall. Aber ist das wirklich so? Sherlock Holmes hatte in dem berüchtigten Professor James Moriarty noch das personifizierte Böse schlechthin im Visier; heutzutage verfolgen Kurt Wallander und seine Kollegen Mörder ohne Gesicht. Dazwischen liegen eine Jahrhundert- und eine Jahrtausendwende; Zeit genug für vielfältige Verwandlungen des Bösen.
Erinnern Sie sich? Wahrscheinlich war es während der Pubertät, als Sie zum ersten Mal das kleine Büchlein aufschlugen – ein richtiges Buch, aber mit ganz weißen Seiten – und nach den ersten Worten suchten.Vielleicht hießen sie: „Liebes Tagebuch“; und wahrscheinlich waren sie in Schönschrift geschrieben, mit einem besonders angenehm in der Hand liegenden Stift; und womöglich waren Sie etwas aufgeregt, so als täten Sie etwas ganz Verbotenes. Vielleicht haben Sie eines oder sogar mehrere Büchlein gefüllt; doch irgendwann meldete sich, wie man so sagt, das Leben selbst zu Wort, und die Bücher verschwanden in einer sehr tiefen Schublade des Schreibtischs, wanderten durch mehrere Umzugskartons und gerieten schließlich auf die große Müllhalde des Vergessens (oder haben Sie sie gar stilecht verbrannt?).
Robert Musil entwirft in seinem Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" eine Theorie des Gefühls vor dem Hintergrund der Gestalt- und Ganzheitspsychologie seiner Zeit. Er begreift Gedanken und Gefühle als untrennbare Phänomene. In der Geschichte der Erkenntnis werde jedoch der emotionale Anteil an der Erkenntnis der Wirklichkeit zugunsten der Verdienste des rationalen Verstands und der wissenschaftlichen Objektivität systematisch verdrängt. Demgegenüber betont Musil die Notwendigkeit einer Geschichte des Gefühls, die neben der einen Welt der Wirklichkeit auch andere, mögliche Welten erschließen würde. Um jedoch nicht in einen mystisch gefärbten Irrationalismus zu geraten, muss das Reden über Gefühle wissenschaftliche Genauigkeit mit anschaulicher Lebendigkeit verbinden. Musils Ziel ist ein sachlicher Enthusiasmus des Denkens, der die verlorene Einheit von Gedanken und Gefühlen wiederherstellt und für die Zukunft der Menschheit unentbehrlich ist, wenn sie nicht in einseitiger Rationalität erstarren oder das Gefühl den Gefahren ideologischer Manipulation überlassen will.
Wo ist der Weise zu Hause? Hat die Philosophie eine Heimat? Für den heutigen Intellektuellen ist die Frage wohl relativ leicht zu beantworten: Er nährt sich von den Brosamen der unterschiedlichsten Weltanschauungen,hat keine geistige Heimat mehr und ist somit in zunehmendem Maße betroffen von „transzendentaler Obdachlosigkeit“. Die Metapher von der transzendentalen Obdachlosigkeit,die Georg Lukacs zu Beginn des 20. Jahrhunderts in seiner Romantheorie prägte, kann leicht auf die Philosophie übertragen werden: Das antike Äquivalent des Romans, das Epos – beziehungsweise die antike Philosophie –, zeigte eine „abgerundete Welt“, die dem Menschen eine „urbildliche Heimat“ gab; der moderne Roman – beziehungsweise die moderne Philosophie– kann das angesichts der potenziellen Unendlichkeit der globalisierten Welterfahrung in der Neuzeit nicht mehr leisten. Gleichzeitig jedoch, so Lukacs, bleibt die Sehnsucht nach der überschaubaren und doch allumfassenden Sinnfülle im heimatlich abgeschlossenen Erfahrungskreis erhalten. Das Individuum wird dadurch „transzendental obdachlos“,es wandert ziellos durch die Wälder und Sümpfe der postmodernen Beliebigkeit. Aber an welchem Feuer wärmt sich der obdachlose Philosoph?Wovon zehrt seine Seele? Wo findet er seine ganz persönliche Heimat im Denken?
Was hat Metaphysik mit Werbung zu tun? Nichts – Metaphysik ist eine der altehrwürdigen Grundmauern der abendländischen Zivilisation, auf der ganze Generationen von Philosophen ihre Systeme errichtet haben. Alles – da so gut wie alle diese Systeme eingestürzt sind,von der Realität überholt wurden und nur noch das übrig geblieben ist, worauf sie errichtet wurden: das menschliche Bedürfnis danach, dem Leben einen Sinn zu geben, der über das Sicht- und Greifbare, die schnöde Materie hinausreicht. Meta-physik – es muss etwas geben jenseits der physis, der Natur, ihren erbarmungslosen Gesetzen und der von ihr so provozierend vorgeführten Vergänglichkeit alles körperlich Seienden. Und,wenn man das schon nicht beweisen kann: Wäre es nicht schön, wenn man es kaufen könnte?
Wenn die „großen“ Philosophen vom Glück reden, meinen sie zumeist nicht das Lebensglück des Einzelnen im Hier und Jetzt, sondern die „Glückseligkeit“ als abstraktes Letztziel der Menschheit und als eine der zentralen Kategorien philosophischer Ethik. Tritt Philosophie hingegen in ihrer sich zunehmender Beliebtheit erfreuenden Populär- und Verkleinerungsform als „Lebenskunst“ auf, preist sie zumeist das „kleine Glück“ – all das, was erreichbar und machbar erscheint,was über die Härten des Alltags hinweg hilft und das Leben, in kleinen Portionen genossen, lebenswert machen kann. Über das „kleine Glück“ rümpfen all diejenigen die Nase, die es nur mit Spießbürger- und Philistertum, mit Mittelmäßigkeit und Durchschnittlichkeit, mit Pantoffeln und Wellness assoziieren können und wollen. Für sie spricht der All-Zertrümmerer Friedrich Nietzsche, dessen Zarathustra von den Höhen seines Übermenschentums herab in seiner Rede über die verkleinernde Tugend schimpft: „Zur kleinen Tugend möchten sie mich locken und loben; zum Ticktack des kleinen Glücks möchten sie meinen Fuß überreden. Ich gehe durch dies Volk und halte die Augen offen: sie sind kleiner geworden und werden immer kleiner – das aber macht ihre Lehre von Glück und Tugend. Sie sind nämlich auch in der Tugend bescheiden – denn sie wollen Behagen … Dies aber ist – Mittelmäßigkeit: ob es schon Mäßigkeit heißt.“
Aber was ist falsch am „kleinen Glück“, an Pantoffeln der Häuslichkeit statt der Siebenmeilenstiefel des Weltgeistes, am gemütlichen Wohnzimmer statt den einsamen Gipfeln des Geistes, an der überschaubaren Idylle im Schrebergarten anstelle metaphysischer Heimatlosigkeit (siehe Erläuterung), an bunten Gartenzwergen anstelle von monochromer gegenstandsloser Kunst? Gibt es nicht vielleicht doch ein richtiges Leben im falschen, ein „kleines Glück“ vielleicht auch im großen Unglück, wenn man nur den Maßstab oder die Perspektive ändert?
Sein Leben war von Widersprüchen zerrissen, aber vielleicht gerade dadurch ein getreues Abbild seiner Zeit. Es fiel in die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, den Übergang von Revolution zu Restauration, von Aufklärung zu Romantik; eine "Sattelzeit" (R. Koselleck), und Friedrich Schlegel war ganz sicher mehr als nur einer ihrer Steigbügelhalter: Er galoppierte selbst tollkühn voraus, wurde bald aber von der Realität eingeholt und endete ein wenig als – Herrenreiter im Seniorensitz.
Das Ende hat eine schlechten Ruf. "Denn jedem Anfang wohnt ein Zauber inne", das prangt in Poesiealben, auf Selbsthilfebüchern, und sogar auf Twitter finden sich Hashtags #jedemanfang. Sie werden bildlich umschwärmt von Vorstellungen von Frühling, Jugendfrische, erster Liebe; erstaunlich selten allerdings von der ersten Scheidung, der ersten Vorstrafe, der ersten Operation - ebenso ergreifende Ereignisse, sicherlich, aber eben ohne die Beflügelung, die der magische Anfang verleiht. Wäre es aber möglich, dass auch jedem Ende ein Zauber innewohnt, ein magischer Abschluss, eine - vielleicht nicht Beflügelung, aber Befriedung, Befriedigung, vielleicht sogar: eine Befreiung?
Johann Wolfgang Goethe lebte, um ein altes chinesisches Sprichwort zu zitieren, in interessanten Zeiten. In seinem langen Leben hat er viele Revolutionen erlebt. Dazu gehören die politischen Umwälzungen des 18. und 19. Jahrhunderts, "von der Französischen Mutter-Revolution an, durch alle Töchter-Revolutionen durch, bis auf, und inbegriffen, die Griechische" (Goethe in einem Brief vom 8. Juni 1822) ebenso wie die Anfänge der industriellen Revolution und die revolutionären Umwälzungen in den Naturwissenschaften seit Isaac Newton. Die erste literarische Revolution Deutschlands, den Sturm und Drang nämlich; hat er als junger Wilder sogar selbst mit ausgelöst - um sich später, im reiferen Alter klassisch und konservativ geworden, deutlich von ihr zu distanzieren.
Der philosophische Roman ist das, was frühere Zeiten einen "Bastard" nannten und man heute vielleicht einen "Hybrid" nennen könnte: ein Zwischenwegen, gezeugt aus einer (un)heimlichen Kopulation von Philosophie und schöner Literatur, aufgezogen in der Fremde, und am Ende doch noch zähneknirschend anerkannt. Häufig waren es nämlich gerade die Bastarde, die ein schon reichlich inzestuöses Erbgut aufgegfrischt und traditionell verknöcherte Familienlinien vor dem Aussterben bewahrt haben. Aber leicht hat man es ihnen nie gemacht, wie allen Wesen, die irgendwie zwischen die Welten geraten sind und damit deren vermeintliche Stabilität in Frage stellen.
Was weiß die Welt und was wissen deren gekrönte Häupter schon von der wahren Weisheit? Unter seiner Narrenkappe darf der Hofnarr als einziger dem Herrscher die ungeschminkte Wahrheit sagen. Mit seinen
Schellen klingelnd steht er damit in Konkurrenz zu den Siegelverwaltern im Dienste der absoluten Wahrheit und der letztgültigen Weisheit: den Philosophen. Aber sind das Gegensätze – Narr sein und Philosoph sein?
Der Krieg ging ins zwanzigste Jahr. Es war ein Kampf zweier politischer Ideologien, oder es war ein Wettstreit zweier Großmächte um die neue Weltordnung; oder es war ganz einfach das Übliche, „Kampf, Krieg und Wahnsinn“. Die Frauen hatten nichts zu sagen dabei: “Denn der Krieg ist Männersache“ – hatte es so nicht der unsterbliche Homer selbst gesagt? Doch es waren die Frauen, die die Knaben geboren hatten, die nun schon seit zwanzig Jahren hingemeuchelt wurden, in einer Orgie der Brutalität, die bisher noch nie gesehen ward (man erzählte, sie hätten ganze Dörfer niedergemäht, Alte, Junge, Kinder, Frauen, niemand sei verschont geworden). Und war die polis nicht inzwischen so verarmt, dass sie kaum noch die Feiern zu Ehren der Götter bezahlen konnte? Von wo sollte noch Rettung kommen, wenn die berühmtesten Feldherren, die größten Redner, der gepriesene Perikles selbst – dem Kriegswahnsinn anheimgefallen waren? Von wo, wenn nicht – von uns selbst?
Verantwortung ist immer konkret. Ohne Handeln gibt es keine Verantwortung. Verantwortung zu übernehmen erfordert eine Entscheidung, und entscheiden tut immer weh. Wer aber Verantwortung im Handeln übernimmt, begibt sich auf ein weites Feld: Folgelasten sind zu bedenken, unvorhersehbare Komplikationen stellen sich ein, intrikate Fragen von Schuld und Sühne drängen hinzu. Denn wer Verantwortung übernimmt, ist hinterher schuld, egal, ob er schuld ist oder war oder nicht. Doch seit dem Sündenfall muss immer einer – oder: eine – schuld sein, das scheint ein urmenschlicher Impuls zu sein. Nur so ist Sühne denkbar. Deshalb hat sich die Literatur, das Medium des konkreten Einzelfalls und der Erforschung von Handlungsfolgen, seit jeher mit Fragen von Schuld und Verantwortung beschäftigt. Ein relativ modernes Beispiel dafür ist Fontanes Effi Briest, einer der wenigen Romane des späten 19. Jahrhunderts, der bis heute gelesen und in Schulklassen wie Seminaren heftig diskutiert wird. Vordergründig ist Effi Briest ein Eheroman über eine alltägliche Liebes- und Eifersuchtsgeschichte mit tödlichen Folgen, modelliert nach einem realen Fall; aber schon Fontane sah das „versteckt und gefährlich Politische“, das solche Liebes- und Skandalgeschichten haben können.
Wörterbuchartikel
Corinne Pelluchon: Wovon wir leben. Eine Philosophie der Ernährung und der Umwelt. In: der blaue reiter 48 (2021), S. 108.
Peter Sloterdijk: Wer noch kein Grau gedacht hat. In: der blaue reiter. Journal für Philosophie (50).
Martha Nussbaum: Gerechtigkeit für Tiere. In: der blaue reiter 53 (2023), S. 105.
Hi, ich hätte da mal eine Frage. Wer war eigentlich der coolste Philosoph ever? Und wäre er heute auf Facebook?
Zarathustra Reborn, Mannheim
Das ist einfach. Sokrates natürlich. Schon davon gehört oder mal ein Bild gesehen? Ziemlich alter Mann, mit Bart, Knubbelnase, trägt so ein komisches Gewand mit vielen Falten und grinst meist ein wenig tückisch (googelt halt). Cooler geht nicht. Sokrates war ein alter Grieche, als die Griechen noch die führende Nation in Europa war, und das ist sehr, sehr lange her, und er hat die Philosophie mehr oder weniger erfunden. Einige Leute sagen, er habe eigentlich nur seiner Frau aus dem Weg gehen wollen, der bitchy Xanthippe (ja, so hießen die Leute wirklich damals!), hing deshalb viel auf der Straße rum und es vor allem auf hübsche junge Männer abgesehen. Aber ihr wisst ja, wie das ist mit Gerüchten im Internet, kaum getwittert (#XanthippeistneZicke), schon ein Meme. Dieser Sokrates sah sich als eine Art Hebamme, die die Leute dazu bringen konnte, Erkenntnisse zu gebären, die tief in ihnen schlummerten, aber ohne seine Hilfe nie das Licht der Welt erblickt hätten. Dazu verwendete er einen ziemlich simplen Trick: Er fragte nämlich einfach nach, was die Leute genau mit dem meinten, was sie gerade sagten oder fragten. Und dann ging er ihnen so lange mit weiteren Fragen auf die Nerven, bis man sich auf einen gemeinsamen Gebrauch der benutzten Worte und ihre eigentliche Bedeutung geeinigt hatte. Damit war das Problem selbst aber meistens schon gelöst.
Verstehst du nicht? Ein Beispiel. Reden wir über Freiheit, gibt es einen freien Willen beispielsweise, beliebte Frage. Was aber genau ist eigentlich mit „freier Wille“ gemeint? Was ist überhaupt der menschliche Wille, und in welchem Sinn kann er frei sein? So hätte Sokrates gefragt. Und möglicherweise stellt sich bei der nun folgenden Diskussion – die im Übrigen natürlich hemmungslos von Sokrates dominiert und manipuliert wird, schließlich ist er der Chefphilosoph und die Hebamme, und ihr seid die Schüler, die gebären sollen – dann heraus, dass man, wenn man sich geeinigt hat, in welchem Sinn man fürderhin von „Wille“ und „frei“ sprechen will, auch schon die Frage nach seiner Existenz beantwortet ist. Denn alle Missverständnisse und Unklarheiten waren nur dadurch entstanden, dass sich jeder etwas ganz anderes darunter vorgestellt hatte, und alles Reden und Diskutieren war für die Katz gewesen, weil man meilenweit aneinander vorbei geredet hatte. Kommt dir bekannt vor? Na eben.
Ich könnte mir gut vorstellen, dass Sokrates auch Fragen auf Facebook beantwortet hätte, obwohl er sicherlich den persönlichen Kontakt, vor allem mit hübschen jungen Männern (das war damals ganz normal, und Männer vor allem deshalb, weil wohlerzogene griechische Mädchen das Haus nicht zu verlassen hatten), geschätzt hat; es hätte also in einer Art Chat geschehen müssen. Damit ist er aber sicherlich eine Ausnahme; denn insgesamt sind die traditionellen Philosophen ein ziemlich unkommunikativer und eher schwer zugänglicher Haufen von Sonderlingen gewesen, und ihre Texte sind meist nicht besonders leserfreundlich. Aber es gab auch später noch ein paar wirklich coole Typen. Sören Kierkegaard zum Beispiel, der ein Tagebuch des Verführers geschrieben hat und interessante Dialoge mit sich selbst führte; und, wem sage ich das, Zarathustra forever, ganz sicher Friedrich Nietzsche, der ein Supertalent zum Twittern hatte und die Dinge wirklich so auf den Punkt bringen konnte, dass es wehtat. Wurde leider verrückt. Immer erwischt es die Besten.
Am allercoolsten aber, vielleicht noch cooler als Sokrates, war zweifellos der Kyniker Diogenes. Der mit dem Fass, vielleicht kennt ihr die Anekdote (gutes Meme), der bei einem Besuch von Alexander dem Großen nur einen Wunsch äußerte: Der Weltenherrscher möge doch bitte aus der Sonne gehen, er würde beim Chillen stören. Diogenes lebte sein Philosophen-Leben ziemlich öffentlich, und das aus Überzeugung: Er konzentrierte sich einfach auf die menschlichen Grundbedürfnisse, schmiss sogar seinen letzten Löffel weg, weil eine Hand schließlich auch ausreicht zum Wassertrinken und machte alles, was man so machen kann, allein oder zu zweit, bei Sonnenlicht oder in der Nacht, auf dem Marktplatz. Ja, auch das. Damit wäre er ganz sicher auf Youtube gelandet, totaler Hype. Aber wahrscheinlich wäre ihm Facebook zu anstrengend gewesen.
Tl; dr: Sokrates war cool, Diogenes noch cooler. Aber ordentliche Philosophie findet im Gespräch statt, nicht auf Facebook. Geht raus und redet mit den Leuten!
Sehr geehrter Herr Philosoph, ich habe so viele entsetzlich langweilige Schulfächer, keine Ahnung, warum ich das alles lernen soll. Warum gibt es eigentlich Philosophie nicht als Schulfach? Und wenn es das gäbe, wäre das genauso langweilig wie Chemie oder Geschichte?
Lieben Dank ***, Chantal_I-Love-Cats, Berlin-Marzahn
Liebe Chantal, Beileid, aber: Schule muss langweilig sein, sonst bereitet sie nicht aufs Leben vor (der alte Spruch: Nicht für die Schule lernen wir, sondern fürs Leben, wird übrigens falsch zitiert; es ging genau umgekehrt, und daraus lernen wir, dass man niemand trauen kann, vor allem nicht Leuten, die angebliche alte Weisheiten zitieren) (#nonTwittaeSedScholaeDiscimus). Aber es kann nun einmal nicht alles so unterhaltsam und nützlich sein wie Katzen-Videos! Und genau deshalb gibt es auch nicht Philosophie als Schulfach: Das wäre nämlich nicht nur super-unterhaltend und wirklich nützlich, sondern auch noch gefährlich für die Lehrer! Also, hör gut zu!
Es gibt (außer Katzenvideos natürlich) nichts Lustigeres, als Leuten beim Denken zuzusehen: Wie sie tolle neue Wörter erfinden, damit sie bloß niemand versteht; wie sie verzweifelt versuchen, einen originellen Gedanken zu fassen, den noch niemand vor ihnen gehabt hat (das war schon völlig aussichtslos, bevor wir das Internet hatten und alles googeln können); wie sie gegeneinander hetzen und schimpfen und sich gegenseitig für Vollidioten erklären (Mobbing ist unter Philosophen die Regel). Und wie sie alles, aber auch wirklich alles tun, damit sie nicht doch irgendwie irgendjemand nützlich sein könnten; denn in der Philosophie gehe es schließlich nicht um den schnöden Nutzen, das würde das reine Denken ja irgendwie beschmutzen, es gehe um den reinen Geist, die reine Vernunft, die reine Logik!
Dabei könnte richtige Philosophie wirklich nützlich sein. Weil sie nämlich das Denken lehrt. Heutzutage sind die meisten Leute im Denken so ungeübt wie Katzen beim Auspacken von Weihnachtsgeschenken; und, liebe Chantal, hörst du noch zu?, das ist gar nicht ihre Schuld. Sie haben es nicht anders gelernt. Denn eure Lehrer und die Medien, alle zusammen, sagen euch von Anfang an, was ihr zu denken habt. Nicht aber, wie man denkt (das haben sie selbst vergessen). Glaubst du nicht? Kleines Beispiel. Angeblich sollt ihr euch ja über alle Dinge kritisch eine eigene Bildung bilden können, oder? Sagen die Lehrer doch ewig, stimmt’s? Jetzt vertrete mal, nur probeweise, als eigene Meinung, die Emanzipation der Frau sei eigentlich keine so gute Idee. Nee, kann doch gar nicht sein, sagst du, weiß doch jeder, dass Frauen emanzipiert sein sollen. Wenn man aber doch darüber anderer Meinung sein könnte? Mit guten Gründen? Denn wenn es von vornherein feststände, dass das die einzige und ewige Wahrheit wäre – dann bräuchten wir ja überhaupt nicht mehr drüber zu diskutieren. Es wäre ein Dogma, so nannte man das früher in der katholischen Kirche; also so etwas wie: Jesus ist von den Toten auferstanden. Maria hat ihn geboren und ist dabei Jungfrau geblieben. Oder: Die Erde ist eine Scheibe (bis vor gar nicht allzu langer Zeit unbezweifelbar, selbst für die klügsten Leute). Denken lernen heißt: Es gibt keine Dogmen, es gibt keine ewigen Wahrheiten, auch wenn die Lehrer euch das erzählen. Sie haben halt nicht richtiges Philosophieren gelernt, sondern können nur eine Meinung haben (genau eine).
Und das ist wirklich nützlich zu wissen. Genauso wie es nützlich ist, selbst denken zu können: Man müsste gar nicht mehr so viel auswendig lernen und wissen, sondern könnte sich das meiste selbst erklären und beibringen. Denken funktioniert aber nur als Selbstdenken, und Nach-denken heißt nicht, das nachzuplappern, was andere Leute einem vorgeplappert haben. Das ist Philosophie. Selbstdenken. Nicht mehr und nicht weniger.
Leider aber, und lass dich davon jetzt nicht abschrecken, liebe Chantal!, ist Selbstdenken ein wenig anstrengend. Wie jede Art Gymnastik kostet auch geistige Arbeit Energie, und man nimmt leider trotzdem nicht davon ab (es ist aber eine Rechtfertigung, Schokolade zu essen, das Gehirn verlangt nämlich nach heftiger Betätigung nach Süßigkeiten!). Das Training lohnt sich aber, ehrlich wahr. Da sich die meisten Leute, auch und vor allem deine Lehrer, diesem Training nicht unterzogen haben, kannst du jede Diskussion gegen sie gewinnen. Mit ein paar einfachen Tricks. Na gut, das sorgt jetzt vielleicht nicht unbedingt für gute Noten, aber hey! Wer braucht schon gute Noten, wenn er schlauer ist als die anderen?
Zeig es ihnen, Chantal!
Tl;dr: Philosophie in der Schule wäre total spannend und nützlich! Aber die Lehrer haben Angst davor.
Hallo zusammen, ich habe gerade mein Abi gemacht, und jetzt wollen alle wissen, was ich einmal „werden“ will (als ob ich jetzt nichts wäre). Und ich sollte mich „beraten“ lassen und „informieren“. Deshalb meine Frage: Sollte ich was mit „Philosophie“ studieren? Dauert es lange? Was braucht man dazu? Und kann man damit richtig fett Geld verdienen?
Lazy Dog, z.Zt. Mallorca
Du willst es kurz und knackig, gell? Also
1) Ja, unbedingt, Philosophie ist das einzige Fach, das man ohne jede praktische Begründung immer studieren kann; es gibt nämlich keinen Grund es zu tun, und keinen, es nicht zu tun. #4losophie4ever
2) Ja, notfalls lebenslang, weil man in der Philosophie nicht auslernen kann. Aber Studium ist doch prinzipiell eine gute Sache, oder? Besser als Arbeiten auf jeden Fall.
3) Gar nichts braucht man. Na gut, einen Kopf samt halbwegs intaktem Gehirn. Augen zum Lesen. Früher meinten einige Philosophie-Gurus, man müsse Mathe können oder tote Fremdsprachen, aber das muss man heute nicht mal mehr für Ingenieursstudiengänge. Oder Theologie.
4) Nee, sorry, wenn das ginge, wären alle Philosophen superreich und börsennotiert. Mittelreich kann man als philosophischer Bestseller-Autor werden, aber nur, wenn man es sich wirklich ganz, ganz einfach macht mit der Philosophie. Die klassische philosophische Strategie ist allerdings, wortreich zu begründen, warum Geld nicht glücklich macht. Am Ende glaubt man es sogar. Wenn man Glück hat.
Tl;dr: Studiert Philosophie! Alle! Sofort!
Lieber Herr Philosoph, was ist eigentlich Aufklärung? Und tut es wirklich weh beim ersten Mal?
Liebe Grüße, Lilifee Meyer, Passau
Meine liebste Prinzessin, Aufklärung hat, auch wenn du das immer wieder lesen und hören wirst, nichts mit Bienchen und Blümchen zu tun. Aber das weißt du sicher schon längst, schließlich hast du ein Smartphone, und wenn dann noch Fragen offen sind, erklärt dir das der geehrte Kollege Dr. Sommer oder Winter bei der BRAVO. Aufklärung ist vielmehr, und das hat ein sehr berühmter Kollege, ein Professor sogar, gesagt:
AUFKLÄRUNG IST DER AUSGANG DES MENSCHEN AUS DER SELBST VERSCHULDETEN UNMÜNDIGKEIT!
So, und das lernst du jetzt erst mal auswendig. Ist gar nicht so schwer. Was es bedeutet, musst du aber selbst rauskriegen. Vielleicht tut das ein klein wenig weh, und ganz sicher beim ersten Mal; aber die Sache ist es wert, Prinzessin. Nur auf diese Art und Weise pflanzen sich Ideen fort, und das ist vielleicht sogar noch schöner als Sex. Also, wie heißt der Satz?
Tl;dr: Aufklärung ist besser als Sex!
Wertester Herr Philosoph, Sie denken Sie die Fragen doch bestimmt alle selbst aus, oder? Ist das eigentlich moralisch vertretbar?
Mit den besten Grüßen, OStR i.R. Kurt Knauser, Stuttgart
Natürlich denken wir uns die Fragen selbst aus. Glauben Sie etwa, Dr. Sommer hat darauf gewartet, dass ihm die Pubertierenden der Welt ihr von Hormonen vollständig verwirrtes Herz ausschütten? Das hat außerdem den Vorteil, dass man die Antwort schon weiß. Aber das Fragen ist auch insgesamt ein wenig aus der Mode gekommen, seitdem alle, nicht nur die Philosophen, die Weisheit mit Löffeln gefressen haben, die political correctness zudem die Zahl möglicher Antworten auf alle wirklich spannenden Fragen auf nahe Null reduziert hat (nämlich auf exakt eins) und das Internet auch Antworten auf niemals gestellte Fragen in Hülle und Fülle bereit hält.
Ob wir damit aber auch moralisch vertretbar handeln, ist natürlich eine philosophisch wirklich spannende Frage. Nur leider werden sie verschiedene Philosophen unterschiedlich beantworten, je nachdem, welcher Schule der Moralphilosophie sie nun gerade anhängen. Ein Gesinnungsethiker würde ihnen im Brustton der Prinzipientreue natürlich zustimmen: Wir täuschen etwas vor, nämlich reale Fragesteller mit realen Fragen, und haben uns doch alles nur selbst ausgedacht. Damit fallen wir unter das, was Platon schon den Dichtern vor 2000 Jahren als grundlegenden moralischen Fehltritt vorgeworfen hat: Sie lügen. Lügen aber ist ganz sicherlich ein Ausweis einer schlechten moralischen Gesinnung. Ab in die Ecke!
ABER! Es gibt ja auch Verantwortungsethiker. Als solche müssten wir vor allem beurteilen, ob die durch die Handlung bewirkten Folgen moralisch zu wünschen sind; wir müssten Verantwortung für unser Handeln übernehmen wollen. Als Verantwortungsethiker würden wir also sagen: Da unser Tun – das Erfinden und gleichzeitige Beantworten wichtiger philosophischer Grundfragen – grundsätzlich mehr positive als negative Handlungsfolgen hat (wenn wir nur besten Gewissens fragen und antworten), wäre es moralisch gerechtfertigt – bzw. wenigstens dem Nichthandeln vorzuziehen, das dazu führte, dass weniger Philosophie in der Welt wäre und weniger Menschen über philosophische Fragen nachdächten. Wir würden uns dabei auf den Stammvater Sokrates berufen, der im Wesentlichen rhetorische Fragen gestellt hat, um seine Gesprächspartner endlich zum Denken zu bringen, und uns gegenseitig auf die Schultern klopfen: Ja wohl, richtig gehandelt!
Ob wir es nun jedoch mit Platon halten oder mit Sokrates, in Einem stimmen wir Ihnen gewiss zu: Neue Fragen braucht das Land! Die alten philosophischen Streitfragen sind wahrlich zur Genüge behandelt, aber Philosophen selbst tun sich schwer damit, neue zu finden (Betriebsblindheit ist eine verbreitete Berufskrankheit). Also auf, ihr Denkerinnen und Noch-Nicht-Denker, auf, mein werter Herr Oberstudienrat:
WAS IST EIN "COVFEFE"?
Ganz früher dachte man (jedenfalls ein paar antike Naturphilosophen dachten das, von denen nur einige verstreute Tweets erhalten sind), die ganze Welt bestehe aus Atomen: winzigen, unteilbaren, verschieden geformten Urteilchen, die durch den Raum fielen, immer schön brav nebeneinander nach unten. Aber manchmal wehte ein lieblicher Westwind oder der Gott des Zufalls rauschte vorbei auf einer Spritztour zu einer lieblichen Göttin, und dann änderten zwei Atome ihre Bahn, stießen zusammen, und schon entstand etwas Neues: eine Platane, ein Pantoffeltierchen, oder, wenn es allerfeinste Atomteilchen waren, auch einmal ein Platon.
Später dachte man (beispielsweise Leibniz, der mit den digitalen Zahlen), die Welt bestehe aus Monaden: einfachen, einheitlichen Urwesen, jedes einzelne ein Abbild des gesamten Universums im Allgemeinen und der Welt der Zahlen im Besonderen, zwar beseelt, aber ohne Ausdehnung und deshalb irgendwie auf mysteriöse Weise materiell und immateriell zugleich. Und wenn eine solche Monade aus allerfeinsten Substanzen war, aus Licht oder Äther, dann wurde sie nicht zu einer Lilie oder zu einer Laus, sondern eben zu Leibniz. Das ganze Universum aber war eine große prästabilierte Harmonie aus fensterlosen Heeren von Monaden, gesteuert vom großen Schöpfungs-Navi (oder auch: Gott).
Heute jedoch ist man ganz sicher (jedenfalls Leute mit geschwungenen Haartollen), dass das Universum aus Covfefes besteht. Es sind definitiv ausgedehnte (maximal 140 Zeichen lange), dabei aber rein virtuelle Meinungsfetzen ohne jegliche Substanz, die sich in riesigen Datenströmen völlig ungesteuert durch das große weite Internet bewegen. Sie trotzen dabei den Gesetzen Physik ebenso wie denen der Logik, und jedes einzelne ist ein in sich vollendetes Abbild seines Urhebers in seiner ganzen post-destabilisierten Chaotik: ein Wort ohne Sinn und Verstand, ein leichtfertiges Spiel des allgegenwärtigen Gottes des Spins, ein – Covfefe eben (es kann aber sein, dass es morgen schon wieder anders heißt; das liegt in seinem unbeständigen Wesen begründet).
IST DIE PHILOSOPHIE EINE BROTLOSE KUNST, UND WENN JA, WIE VIELE?
Dass sich die Milliardäre dieser und so ziemlich aller vergangenen Zeiten nicht unter den Philosophen finden – bzw. die Philosophen nicht unter den Milliardären, was nicht ganz das gleiche ist -, ist, wie man so schön sagt, Fakt. Vielleicht war ja Aristoteles ganz ordentlich bezahlt, als er für eine kurze Zeit Prinzenerzieher bei dem damals noch nicht so großen Alexander war, aber darüber können wir nur spekulieren. Und Mark Aurel war als römischer Kaiser wahrscheinlich auch nicht gerade sozialhilfeberechtigt. Danach hört es aber so ziemlich auf, und bekannter ist eher die Diogenes-Linie („Hab ich tatsächlich noch einen Kaffeebecher? Weg damit, wozu gibt es Coffee Shops!“) Aber selbst wenn es bei den meisten Philosophen wohl nicht für jeden Tag Hummer gereicht hat – ein ordentliches Stück Schwarzbrot war meistens drin.
Das beantwortet die Fragen aber nur empirisch-historisch, und damit willkürlich. Viel wichtiger ist der Nachweis, dass die Philosophie generell einen umfassenden Nutzen weit über das Brotverdienen hinaus hat, ja, dass sie sogar gar nicht ohne Nutzen sein kann, also von Grund auf und in ihrem Wesen an sich selbst immer nützlich.
Nämlich:
1) Beweis aus dem Nutzen des Nutzlosen:
Es ist ein klassisches Argument der Bildungsbürger und Schöndenker, dass es irgendetwas auf dieser Welt geben muss, dass keinerlei ökonomischen oder sonstwie verwertbaren Nutzen hat. Das nämlich erhebe uns über die Tiere und mache uns zu einer höheren Art, Menschen nämlich, die über ihren unmittelbaren Vorteil oder die pragmatische Verwertbarkeit hinwegschauen können und das Schöne-Wahre-Gute. um seiner selbst willen schätzen. Ergo: Der Nutzen des brotlosen Philosophierens ist seine völlige Nutzlosigkeit! (es konkurriert darin allenfalls mit den noch nutzloseren Künsten oder mit Facebook)
2) Beweis aus dem universalen Nutzen logischen Denkens:
Das klassische Argument der Schul- und Amtsphilosophen lautet: Denken lernen ist nie unnütz; die logische Grundausbildung sollte eigentlich in der Vorschule stattfinden, der Syllogismus von jedem im Schlaf beherrscht werden, und wer es dann noch schafft, ein Werk des deutschen Idealismus zu verstehen (zuerst das kleine Fichtum, dann das große Hegelum), ist erwiesenermaßen zu jeder geistigen Gymnastik in der Lage!
3) Beweis aus dem Nutzen der Reflexion für das gute Leben:
Lebens-, Feld-, Wald- und Wiesenphilosophen würden argumentieren, dass jeder einfach so dahinleben kann. Aber sein Leben zu verstehen, es immer wieder zu reflektieren, vielleicht es gar aufgrund vertiefter Einsicht besser, länger, gesünder, vielfältiger zu gestalten, erfordert möglichst viel Welt- und Lebenserfahrung, die man nur im Austausch mit anderen Philosophen gewinnen kann. Philosophie ist Schöner Leben für alle!
4) Beweis aus dem Nutzen fürs Überleben:
Der Zyniker hingegen sagt: Wenn etwas zweitausend Jahre überlebt hat, ohne einen unmittelbaren finanziellen, machtstrategischen oder sonstwie quantifizierbaren Nutzen vorzeigen zu können, hat es sich evolutionär gesehen als überlebensfähig in hohem Maße erwiesen! Die Evolution wollte die Philosophie, und wenn wir jetzt auch noch Frauen dazu zulassen, dann ist ihrem weiteren evolutionären Aufstieg über ihre bisherige Nische hinaus keine Grenze gesetzt! Vielleicht bekommen wir sogar mal eine Philosophenkönigin (oder sagt man PhilosophInnenkönigin? neben Angela Merkel, natürlich), wer weiß?
Wir könnten noch lange weitermachen, aber es sollte inzwischen klar geworden sein: Philosophie ist selbstzweckhaft-schön, anspruchsvoller geistiger Sport, Schöner Leben und offensichtlich unausrottbar – was will man mehr von einer brotlosen Kunst erwarten? Na gut, außer Brot und vielleicht, gelegentlich, Kuchen; aber dass die wirklich nützlichen Dinge im Leben nicht mit Geld bezahlt werden, ist definitiv nicht das Problem der Philosophie!
Tl;dr: Die Philosophie ist die Königin aller brotlosen Künste!
MUSS EINE WISSENSCHAFT KLARE UND PRÄZISE BEGRIFFE BENUTZEN?
IST ETHIK EINE WISSENSCHAFT, (ETHISCHE BEGRIFFE SIND VAGE UND MEHRDEUTIG)?
Ja, die Begriffe. Das ist so eine Sache. Gern wird die Philosophie (als eine deren Töchter wir die Ethik jetzt erst einmal betrachten) der sog. „Begriffshuberei“ beschuldigt: Sie definiere so lange hin und her, dass die Sache selbst sich dabei gemächlich aus dem Staube machen könne, und während die Philosophen sich gegenseitig in den Haaren liegen, gehe das Leben an ihnen vorbei. Die Streiterei „nur“ um Begriffe sei also insgesamt frucht- und zwecklos und diene allein der akademischen Selbstbefriedigung oder höchstens noch dem Ausschluss der Öffentlichkeit, vertreten durch den „gesunden Menschenverstand“, der eben so rede, wie ihm der Schnabel gewachsen sei. Können wir nicht bitte einfach zur Sache kommen und sich die Pedanten zanken lassen?
Andererseits, und jetzt gehen wir erst mal einen Schritt zurück, bevor wir der Sache wieder näher kommen, auch wenn sich die Diskussion damit bereits auf das schönste im Kreise zu drehen beginnt: Andererseits stelle man sich eine Wissenschaft ohne „klare und präzise“ Begriffe – so Ihre weislich überlegt klingende nähere Bestimmung - vor! Tatsächlich können wir uns das gar nicht vorstellen, weil sofort fraglich wird, was Wissenschaft dann eigentlich sein und wie sie funktionieren soll. Es könnte dann ja jeder kommen und sagen: Ich habe soeben eine neue Wissenschaft erfunden, sie nennt sich Nonsensologie, aber eigentlich kann sich darunter jeder vorstellen, was er möchte, und wird das nicht zu den wunderbarsten und anregendsten Diskussionen führen?
Wahrscheinlich ist die Nonsensologie die einzige Wissenschaft auf der Welt, bei der das sogar funktionieren könnte; aber bei der Philosophie wird es doch deutlich schwieriger, auch wenn sie sich ziemlich häufig genauso benimmt. Zwischen der völligen Begriffsanarchie und der Begriffshuberei liegt jedoch ein weites Feld in der Mitte, und das sollten wir im Folgenden etwas genauer untersuchen: Denn was haben Sie eigentlich gemeint, als Sie von „klaren und präzisen“ im Unterschied zu „vagen und mehrdeutigen“ Begriffen sprachen? Und schon sind wir wieder im Definitionsgeschäft, und es drängt sich vielleicht ein Anfangsverdacht auf, dass dieses Definitionsgeschäft doch, irgendwie, zum Kerngeschäft von Philosophie, um nicht zu sagen: zu ihren Kernkompetenzen gehören könnte! Und deshalb haben sich auch schon genug ehrenhafte Philosophen daran abgearbeitet, von denen wir jetzt einige Klassiker zu Rate ziehe, nämlich René Descartes, Gottfried Wilhelm Leibniz und all ihre rationalistischen Nachfolger. Leider wird erst jetzt ein wenig kompliziert, aber auch wenn es zunächst nach einem Musterbeispiel für Begriffshuberei aussehen mag: Bleiben Sie bei uns! Es lohnt sich! Am Ende des Tunnels winkt Klarheit!
Also: Descartes unterschied zunächst zwischen „klarer“ und „dunkler“ Erkenntnis. Die dunkle lassen wir gleich einmal im Dunklen liegen, sie ist nämlich genauer genommen überhaupt keine Erkenntnis, da sie noch nicht mal Wiedererkennen ermöglicht; sie ist einfach ein Bauchgefühl, und als solches ja auch ganz in Ordnung, aber eben nur für den Bauch. Klare Erkenntnis hingegen erkennt wieder und schafft damit die Basis für Wissenschaft überhaupt: Nur Wiedererkennbares kann kommuniziert und von anderen überprüft werden.
Klare Erkenntnis kann wiederum entschieden werden in „deutliche“ und „verworrene“ Erkenntnis (beides Untermengen von „klar“, auch wenn sich das erst mal nicht so anhört!). Verworrene Erkenntnis erkennt zwar eine Sache wieder, kann aber deren Merkmale nicht deutlich unterscheiden; deutliche Erkenntnis kann Merkmale differenzieren und benennen. Nur klare und deutliche Erkenntnis ist den Rationalisten zufolge Erkenntnis des Wahren!
Die weiteren, etwas begriffshuberischen Unterteilungen, Einschränkungen und Ergänzungen ersparen wir uns und kommen damit endlich zurück zur Sache, nämlich Ihrer Frage nach dem Charakter von Begriffen in der Ethik. „Klar und präzise“ könnten wir jetzt, mit den Rationalisten, genauer definieren als eine Art von Erkenntnis, die Sachverhalte wiedererkennbar durch genaue und möglichst vollständige Unterscheidung ihrer Merkmale benennen kann; „vage und mehrdeutig“ hingegen würde in rationalistisch wohl „dunkel und verworren“ sein, da eben nicht genau unterscheidbar (vage) und dadurch auch nicht genau bestimmbar oder wiedererkennbar (mehrdeutig). Damit haben wir aber jetzt nicht nur zwei sozusagen fußgängerische Begriffspaare durch zwei andere, etwas höher trabende, ersetzt; wir haben sie genauer bestimmt und könnten jetzt auch, theoretisch, mit ihnen die weitere philosophische Diskussion über diese Begriffe verfolgen – und genau das ist, natürlich, Wissenschaft: nicht die persönliche und willkürliche Definition von Begriffen, sondern die Möglichkeit, mit anderen in ein Gespräch zu kommen und deren Hypothesen selbst zu überprüfen und damit hoffentlich der Wahrheit (wenn es sie denn gibt!) schrittweise immer näher zu kommen.
Spüren wird da, etwas dunkel und verworren, doch einen skeptischen Blick im Rücken? Haben wir wirklich etwas gewonnen oder doch nur vier harmlose Ausdrücke aus dem alltäglichen Sprachgebrauch in philosophischen Jargon übersetzt? Wir werden wohl eine Probe machen müssen. Nehmen wir, warum bescheiden sein, einen unbestreitbar zentralen Begriff aus der Ethik, nehmen wir: Was ist das GUTE? Wenn wir die philosophischen Definitionen dafür seit der Antike bis in die jüngste Gegenwart aufzählten, wäre dies kein ohnehin schon reichlich überlanger Facebook-Artikel mehr, es wäre eine Bibliothek. Nähern wir uns deshalb von der anderen Seite und versuchen es mit einer vagen, mehrdeutigen, alltagssprachlichen Definition: Was ist gut? Käsekuchen, Autos, Freunde, Gott? Materielle Güter, geistige Errungenschaften, moralische Höchstleistungen? Des Einen Käsekuchen aber ist der Anderen Erdbeertorte, und selbst wenn wir uns auf „moralische Höchstleistungen“ einigen, dann haben wir das Problem nur verschoben, denn was ist eigentlich „MORAL“? Um es mit Kant zu formulieren, der zweifellos einen der härtesten philosophischen Jargons überhaupt erfunden hat, aber doch auch schöne und verständliche Sätze sagen konnte; Kant also hat gesagt: „Begriffe ohne Anschauung sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“, und das bedeutet für Ihre, für unsere Frage nach den Begriffen in der Ethik: Wenn ein ethischer Begriff – das GUTE – so abstrakt definiert ist, dass er keinerlei Anschauung mehr erlaubt, hat er auch keine Anwendung, keinen Nutzen mehr – er ist leer, ein reines Wortgeklingel, wie das „höchste Gut“ der Philosophen über weite Strecken. Aber wenn er nur rein anschaulich, empirisch, besonders ist, dann ist er genauso, nein: nicht genauso, sondern auf eine andere Art unnütz: Er ist blind, er erlaubt keine über ihn selbst hinausweisende Erkenntnis, und Käsekuchen bleibt für immer Käsekuchen.
Das aber ist offensichtlich das Problem mit der Ethik und weiteren eher „unscharfen“ Wissenschaften. Will man sie zu einer reinen Begriffswissenschaft nach dem Modell der Mathematik machen (was die Rationalisten ein wenig versucht haben, aber sie waren ehrlich und klug genug um selbst zu sehen, dass das nicht ganz funktioniert), wird sie lebens- und weltfremd, und dafür braucht man keine Ethik, das macht der Bauch ganz allein, und nicht immer schlecht. Gibt man aber jeden Anspruch auf Präzision und Klarheit der Begriffe auf, gerät man in eine völlige babylonische Sprachverwirrung, und jegliche Diskussion erübrigt sich. Die salomonische Lösung läge wohl, einmal mehr, in einer goldenen Mitte. Sie könnte lauten: Jeder, der über ethische Fragen diskutieren will – es muss nicht gleich wissenschaftlich sein, sondern: einfach produktiv diskutieren will, mit dem Anspruch auf Mitteilung und gemeinsamen Erkenntnisfortschritt, der sollte die Begriffe definieren, die er verwendet; es können durchaus seine eigenen sein, aber wir müssen wissen, was er damit meint, jetzt und hier. Und er sollte, in einer Art Index, dazu sagen, welchen Wahrheitsanspruch diese Begriffe erheben: Sollen sie bereits klar und deutlich sein? Sind sie auf einer Vor- oder Zwischenstufe anzusiedeln, also beispielsweise eine verworrene Erkenntnis auf dem Weg zur Deutlichkeit, oder gar eine bisher nur dunkle, die man schrittweise weiter erhellen möchte? Nicht alles, da sind wir uns durchaus einig, ist in ethischen Fragen der Klarheit und der Deutlichkeit fähig. Und vieles mag sogar mehrdeutig sein – aber auch das gegliederte Nebeneinander mehrerer, in sich möglichst klarer und präziser Deutungen, ist ein Schritt hin zu mehr Klarheit! Denn Philosophie ist (Vorsicht, Definition!): ARBEIT AM BEGRIFF.
Arbeit aber, das Wort sagt es ohne viel Definitionsbedarf, ist mühevoll, und immer wenn man gerade meint, die Sonne der Aufklärung stände doch jetzt hoch genug am Himmel, verschwindet die Wahrheit hinterm Horizont. Des Philosophen Arbeit ist niemals getan!
Tl;dr: Ja, Wissenschaft braucht Begriffe, sonst ist sie Geschwätz; und nein, nicht alle ethischen Begriffe können klar und präzise sein. Das jedoch muss möglichst klar und deutlich kommuniziert werden.
DAS EIGENE UND DAS FREMDE (IN FORTSETZUNGEN)
Wie kommt es eigentlich, dass man sich manchmal selbst fremd fühlt?
War das mal wieder so ein Tag? Wo man morgens in den Spiegel schaut, und Dorian Gray grinst hohläugig zurück? Oder jemand, den man echt nicht kennt? Oder, am schlimmsten, die eigene Mutter sieht einen tadelnd an?
Das alles ist kein Grund zur Panik. Es gibt viele natürliche Ursachen für dieses auf den ersten Blick so erschreckende Phänomen. Denk an den gestrigen Abend: Waren, irgendwie, irgendwo, Drogen im Spiel, harte oder weiche? Oder ist vielleicht der Spiegel mal wieder schlecht geputzt, und die Streifen sind in Wirklichkeit keine Falten, sondern Seifenspuren? Hast du aus Versehen deine Brille aufgesetzt, bevor du in den Spiegel schaust, was du seit Jahren vorsichtshalber vermeidest? Hattest du eine Schönheits-OP nicht nur geplant, sondern auch schon vollzogen? Weißt du wirklich genau, wie alt du bist?
Sorry, das hört sich nun an wie eine Beleidigung. Ist es aber nicht. Tatsächlich haben wir alle ein optisches Selbstbild, das dazu tendiert ein Wunschbild zu sein und deshalb ab und zu mal anhand der Realität aufgefrischt werden muss. Mehr noch, wir haben sogar ein ganz konkretes Körperbild, das im Gehirn neurologisch verankert ist. Der medizinische Beweis dafür ist schon lange unter dem Begriff der „Phantomschmerzen“ bekannt; also die nachweisbar im Gehirn vorhandene Schmerzempfindung in einem Glied, meistens einer Extremität, die nachweisbar physisch nicht mehr vorhanden ist. Man kann aber auch ohne operativen Eingriff Teile dieses Körperbildes ganz verlieren. Das heißt in medizinisch „Asomatognosie“ oder „Somatoagnosie“ (meint beides das gleiche, nur das verneinende A ist jeweils vertauscht) und bedeutet, dass man ein vorhandenes Körperteil nicht mehr als zum Körper gehörig erkennt, weil es im Gehirn sozusagen gelöscht ist auf der Körperkarte. Das, könnte ich mir vorstellen, ist eine ziemlich erschreckende Erfahrung von Selbstentfremdung (obwohl es nützlich sein kann, wenn man sich beim Bügeln die Finger verbrennt …)
Weitere medizinische Ursachen sind vorstellbar, und ich zähle sie nur auf, damit wir froh sein können, dass wir das alles nicht haben. Eine Persönlichkeitsspaltung natürlich, heute auf korrekt medizinisch „dissoziative Identitätsstörung“ (DIS): Sie entsteht nach allgemeinem Konsens durch hoch traumatische Kindheitserfahrungen, die zu einer Entwicklungsstörung führen: Teile des Gehirns kapseln sich ab, um sich selbst zu schützen; es entstehen verschiedene, „multiple“ (von bis zu 16 wurden in der Literatur berichtet) Personen, die sogar einen unterschiedlichen Blutdruck haben können, ganz abgesehen von den unterschiedlichen Persönlichkeiten. Das bekannteste literarische Beispiel dafür sind Dr. Jekyll und Mr. Hyde aus der berühmten Novelle von Robert Louis Stevenson (1886), die auf einer realen Geschichte beruht: Der ordentliche, gesellschaftlich wohleingegliederte und wohltätige Dr. Henry Jekyll wird über Nacht zum ungezügelten Gewaltverbrecher, Mr. Hyde (auch dabei spielen im übrigen Drogen eine gewisse Rolle…). Die wenig später entstehende Tiefenpsychologie bietet ein eingängiges Erklärungsmodell für diese Geschichte: Unser Ich ist eben nicht, so wie wir es gern hätten, eine kontinuierliche und verlässliche Einheit, sondern es zerfällt in das „Es“ (besser bekannt als das Unbewusste und von großer Macht), das „Über-Ich“ (sein rationalisierender Gegenpart, der die gesellschaftlichen Normen und Regeln interniert hat und das Es zügeln soll) und das „Ich“, das verzweifelt versucht, Herr im eigenen Hause zu sein (keine Chance, sagt Freud). Und auch wenn man nicht zum Freudianismus konvertieren möchte und einem vereinfachte Dreiermodelle immer schon verdächtig erschienen sind – an der Sache selbst ist etwas dran. Man hat, wenn man ehrlich ist, einige Erfahrungen mit sich selbst gemacht, die in diese Richtung weisen. Aber reicht das schon für eine ordentliche Selbstentfremdung? Hat man nicht immer noch, und vielleicht gerade dann, wenn der Bauch mal wieder entschieden etwas anderes will als der Kopf, das Gefühl, besonders eng bei sich zu sein?
Und damit kommen wir, endlich, zur Philosophie. Und natürlich könnte man auch ein Buch schreiben, und es sind ganz sicher schon ziemlich viele geschrieben worden, zum Thema: Ich-Identität. Wir halten es kurz, sonst können wir uns beim weiteren Altern im Spiegel zuschauen. Also: Wenn man ganz an der Wurzel beginnen will, fängt man mit den Vorsokratikern Parmenides und Heraklit an. Der eine war der Meinung, dass sich alles ständig ändert und im Werden ist (Heraklit, der mit dem Fluss); der andere war der Meinung, dass es nur das Sein und die Einheit sind, die überhaupt und in Wahrheit existieren (Parmenides, der mit dem Scheideweg). Nach Heraklit ist es also ganz logisch, dass uns heute aus dem Spiegel eine andere Person entgegenschaut als gestern: Man kann ja nicht zweimal in den gleichen Spiegel schauen! Nach Parmenides jedoch kommt es darauf nicht an, philosophisch jedenfalls nicht. Worauf es ankommt, ist das Sein; und das kann man sowieso nicht im Spiegel sehen.
Das könnten wir jetzt weiter durchdeklinieren durch die Philosophiegeschichte, aber wir wollten ja kein Buch schreiben bzw. lesen. Nur einige Höhepunkte im Schnelldurchlauf und im O-Ton: Descartes, „Ich denke, also bin ich“ (die Einheit des Ich liegt im Denken begründet). Schelling, Das Ich als Prinzip der Philosophie: „Nur das Ich also ist es, das allem, was ist, Einheit und Beharrlichkeit verleiht; alle Identität kommt nur dem im Ich Gesetzten, und diesem nur insofern zu, als es im Ich gesetzt ist“ (die Einheit wird vom Ich zwingend logisch gesetzt, aber die Angelegenheit ist kompliziert, und das Buch ziemlich lang, und ich bin mir wirklich nicht sicher, ob ich es verstanden habe). Kierkegaard, Entweder-Oder: „ich erschaffe mich nicht selber, ich wähle mich selber. Während daher die Natur aus nichts erschaffen ist, während ich selber als unmittelbare Persönlichkeit aus nichts erschaffen bin, bin ich als freier Geist aus dem Prinzip des Widerspruchs erschaffen, oder dadurch geboren, daß ich mich selber wählte“ (die Einheit wird vom Ich in einem freien Akt der Wahl begründet).
Man sieht im Übrigen: Die traditionellen Philosophen reden viel lieber von der Einheit des Ich als vom Gegenteil, der Entfremdung des Ich von sich selbst. Aber die Frage war ja, warum man sich selbst fremd fühlen kann. Deshalb steht auch im Zentrum der zeitgenössischen philosophischen Debatten um die „personale Identität“ die Frage, woraus diese eigentlich besteht: nämlich eben nicht nur aus dem Denken, sondern aus: dem Körper, der Wahrnehmung, der Erinnerung, dem Gedächtnis, der sozialen Stellung, den kulturellen Wurzeln, unseren Überzeugungen, unserem Glauben – die Liste ließe sich beinahe beliebig erweitern. Und deshalb müssen wir, wenn wir in den Spiegel schauen (es kann auch ein mentaler Spiegel sein) und uns nicht wiedererkennen, wohl zuerst die Frage beantworten, wen von uns wir gerade nicht wiedererkennen. Und anschließend, mit wem wir lieber und besser weiterleben wollen: dem alten oder dem neuen Selbstbild. Es kann ja durchaus sein, dass auch unser Geist ab und zu eine Portion Botox braucht, um zu einem ordentlichen Hegelschen Dreischritt anzusetzen: Ich bin Ich – Ich bin mir fremd – Ich bin ein neues Ich (Ich 2.0, sozusagen).
Tl,dr: Ich ist mit Sicherheit ganz viele; und das ist gut so!
Braucht man also eine Identität und ein Gedächtnis, um sich fremd fühlen zu können? Und wie sieht das beispielsweise aus bei Tieren?
Ein besonders krasser Fall von Identitätskrise und daraus resultierender Fremdheit ist tatsächlich der Gedächtnisverlust, weshalb er so eine große Rolle in Filmen und Geschichten spielt. Aber was passiert dabei eigentlich? Die Medizin sagt: Gedächtnisverlust gibt es in zwei Varianten, retrograd und anterograd; ersteres heißt, dass man seine Vergangenheit verloren hat (in den meisten Fällen: zeitlich genau konkretisierbare Teile davon, und meistens nur vorübergehend); anterograd, dass man keine neuen Erinnerungen mehr anlegen kann. Beides ist in den allermeisten Fällen auf nachweisbare Schäden in den Bereichen des Gehirns, wo das Gedächtnis lokalisiert ist, zurückzuführen; es ist keine Identitätskrise, sondern erst einmal eine Krankheit. Nur ganz selten tritt der Fall auf, dass jemand seine gesamte Vergangenheit verliert, und ebenfalls eher selten sind die sog. „psychogenen“ Ursachen, also: sehr traumatische Erfahrungen und nicht konkrete Hirnschäden als Auslöser. Die meisten Sensationsgeschichten über völligen Gedächtnis- und damit verbundenen Identitätsverlust sind empirisch nicht recht belegbar, sondern eine sicherlich interessante Fiktion der Literatur. Was ja immer noch Grund genug wäre, sich damit zu beschäftigen; nur bin ich bei näherem Nachdenken darüber gar nicht so sicher, ob das wirklich eine Erfahrung von Fremdheit ist – weil man ja seine Identität völlig verloren hätte, also kein Abgleich zwischen Eigenem und Fremden mehr möglich ist. Es gibt kein Ich mehr, das sich vertraut oder fremd sein kann – so stelle ich mir das jedenfalls vor, aber eigentlich will man sich das nicht vorstellen ....
Aber man sieht, wie groß die Rolle ist, die das Gedächtnis für die Identitätskonstruktion spielt. Und man kann sogar noch weiterfragen, warum es dann beispielsweise so ist, dass wir alle keine Erinnerungen an unsere frühe Kindheit haben, die ja nun entwicklungspsychologisch einigermaßen wichtig zu sein scheint. Hat die Wissenschaft aber, soweit ich weiß, noch keine gefestigte Antwort drauf. Wenn ich bei der obigen Argumentation zum Thema Gedächtnisverlust bleibe, könnte eine Hypothese sein: Gerade weil die Ich-Identität im sehr frühen Alter noch nicht ausgeprägt ist, vergessen wir unsere ersten Erfahrungen: Es gibt ja noch kein Ich, an das sie sozusagen „andocken“ könnten; man kann sich selbst erst dann fremd werden, wenn man weiß, was „Ich“ ist.
Was uns auf die Tiere bringt, wo es ja ganz ähnlich ist: Vielleicht haben sie ein Gedächtnis, das wäre ja durchaus vorstellbar; aber ein Selbstbewusstsein wohl eher nicht (einige haben wahrscheinlich Bewusstsein, aber das ist eine andere Frage). Insofern können sie sich wohl selbst nicht fremd sein. Aber anderen! Meine Katze, zum Beispiel. Wir verstehen uns ziemlich gut, und wir würden wahrscheinlich beide sagen, dass wir ziemlich vertraut miteinander umgehen; mit anderen Leuten außerhalb der Familie fremdelt sie jedoch, und das kennt man ja auch von anderen Haustieren. Tiere können also Fremdheit fühlen; und das ist biologisch gesehen ziemlich sinnvoll, weil Fremdes für die meisten Arten bedeutet: Wenn es größer ist als ich und fremd riecht, dann wird es mich wahrscheinlich fressen. Das heißt aber auch: Wenn wir den Menschen als das Tier betrachten, das sich zwar in gewissem Maße über die Evolution und die einfacheren Gesetze biologischer Notwendigkeit erhoben hat, aber trotzdem ein höheres Tier geblieben ist – dann tragen wir diesen Impuls notwendig mit uns, ob wir wollen oder nicht. Wir können ihn reflektieren, abstreiten, bekämpfen – aber ob wir ihn damit gänzlich überwinden, erscheint mir zumindest zweifelhaft. Aber an dieser Stelle setzt ja (hoffentlich!) ein kultureller Prozess ein: Man hat zwar eine intuitive Angst vor dem Fremden, kann sie aber durch Beobachtung und Analyse bewältigen, integrieren, produktiv machen. Es hilft aber nicht sie zu verleugnen oder zu denunzieren, weder in der Philosophie noch im Leben.
Tl; dr: Man kann sich selbst nur fremd werden, wenn man ein „Ich“ hat; und ob das evolutionär ein Vorteil ist, ist noch nicht entschieden.
Wie sieht es eigentlich aus mit der Gewohnheit? Können wir uns an alles gewöhnen, und geht so Fremdes in Vertrautes über?
Thomas Hobbes schreibt in seinen Elementiae Philosophiae : „Bisweilen wird auch etwas, was beim ersten Kennenlernen unangenehm ist, wenn es nur selten oder neu gewesen ist, durch die Gewohnheit nicht mehr als unangenehm, später sogar als angenehm empfunden. So großen Einfluss hat die Gewohnheit auf die Sinnesänderung einzelner Menschen“. Und David Hume, etwas später: „Die Gewohnheit ist daher der große Führer im Leben. Dieses Prinzip allein macht unsere Erfahrung uns nützlich und lässt uns in der Zukunft einen gleichen Lauf der Ereignisse erwarten, wie in der Vergangenheit geschehen. Ohne die Kraft der Gewohnheit wären wir über alle Tatsachen unwissend, die nicht den Sinnen oder der Erinnerung gegenwärtig wären.“ Hume hatte nämlich die ziemlich radikale Idee, dass das, was wir für Kausalität halten – also ein sehr, sehr grundlegendes Prinzip des menschlichen Denkens und der Wissenschaften – eigentlich nur eine Gewohnheit des Denkens sei; vollständig bewiesen könne Kausalität jedenfalls niemals werden.
Soweit muss man ja vielleicht nicht unbedingt gehen, und nicht immer kommt die Gewohnheit so gut weg in der Philosophie. Auch im Alltag tendieren die meisten ja eher dazu, die Gewohnheit für eine Schwester der Routine zu halten, und beide entstammen einer sehr langweiligen und äußerst konservativen Familie. Aber könnten wir ohne Gewohnheiten wirklich leben? Ge-„wohn“-heit ist doch auch das, wo wir – naja, wo wir wohnen eben. Wo wir uns zuhause fühlen und uns eingerichtet haben. Wohin wir zurückkehren, wenn die Welt mal wieder allzu fremd und bedrohlich erscheint. Das heißt ja nicht, dass wir nicht gelegentlich umziehen wollen (oder müssen). Aber Umzüge sind stressig, das weiß jeder. Bis man sich eben wieder eingewöhnt hat.
Fremdes kann also auf unterschiedliche Art Eigenes werden – mal schnell und unproblematisch (aber dann war es wahrscheinlich auch nicht allzu fremd, oder es war sogar schon das Eigene, und man hatte es nur noch nicht gemerkt), mal durch Arbeit, Übung und Gewöhnung. Wenn man von hier aus weiterdenkt, stellt sich die Frage: Kann man alles Fremde integrieren? Will man das? Soll man das? Und nach welchen Kriterien entscheidet man, was man in welchem Maße und mit welchen Mitteln wie weit integrieren will? Dass das hochaktuelle Fragen sind, ist ziemlich offensichtlich; aber selbst wenn man das damit verbundene politische Minenfeld nicht unbedingt betreten möchte, sind beispielsweise fremde Religionen ein gutes Beispiel, um auszutesten, wie weit man persönlich gehen möchte mit der Integration, und wo man sich lieber abgrenzen möchte. Denn, und das ist der springende Punkt: Wenn alles Fremde integriert ist, gibt es kein Eigenes mehr. Rein logisch. So sind wir angelegt, so ist unsere Sprache angelegt: Identität entsteht durch Abgrenzung; man kann nur sagen, was das Eigene ist, wenn man sagen kann, was es nicht ist. Was ja nicht automatisch impliziert, und das kann man nicht oft genug wiederholen, dass das Fremde schlechter ist als das Eigene. Es ist nur anders. Wenn wir hingegen alles Fremde zu Eigenem machen wollen (es uns an-eignen, und das bringt schon eine gewisse Gewaltsamkeit zum Ausdruck), kann das auch eine Allmachtsphantasie sein.
Aber vielleicht ist es möglich, eine Zwischenstufe zwischen Fremden und Eigenem, zwischen Identität und Abgrenzung zu finden: nämlich das Verstehen. „Nichts Menschliches ist mir fremd“, das hat ein römischer Komödiendichter des zweiten Jahrhunderts vor Christus gesagt, Publius Terentius Afer, und all seine Stücke sind vergessen, aber dieser Satz ist geblieben. Vielleicht ist es kein Zufall, dass Terenz als Sklave nach Rom gekommen ist; wahrscheinlich war er afrikanischer Abstammung, darauf deutet sein Beiname „Afer“ hin. Aber sein Herr, ein römischer Senator, sorgte für seine Ausbildung und ließ ihn schließlich frei. Und Terenz schrieb Komödien, die berühmt wurden, weil ihm nichts Menschliches fremd war; und offenbar hat er es geschafft, sich dabei seinen Humor zu erhalten, was eine schwierige Übung ist, wenn einem wirklich nichts Menschliches fremd sein soll. Wäre das vielleicht ein gutes Vorbild?
Tl;dr: Gewohnheit kann aus Fremdem Eigenes machen; man sollte aber aufpassen, dass man das Fremde dabei nicht enteignet.
Aber wie versteht man das Fremde?
Wenn ich unter diesem Blickwinkel noch einmal unsere Ausgangsfrage schaue – wie kann es eigentlich sein, dass man sich selbst fremd vorkommt? –, dann können wir jetzt besser unterscheiden. Wir gehen weiterhin davon aus, dass Fremdheit als (notwendiger) Gegenpol zum Eigenen, Vertrauten verstanden werden kann – aber dabei muss man zum Beispiel unterscheiden zwischen qualitativen und quantitativen Aspekten: Ist es einfach zu viel des Fremden, so dass das Eigene sich bedrängt oder bedroht oder überwältigt fühlt? Oder ist ein einzelnes Erlebnis, ein Gedanke, ein Verhalten derart massiv fremdartig, dass es das ganze eigene Weltbild in Frage steht bzw. keinerlei Möglichkeit eröffnet, damit jemals produktiv umzugehen?
Aber das sind beides Extreme, und das Leben spielt sich normalerweise in einer großen Grauzone dazwischen ab. Ich würde also dafür plädieren, sich das Verhältnis von Eigenem und Fremden, sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht, unter dem guten alten Bild der Mengenlehre vorzustellen: Wir haben zwei Mengen, die sich entweder gar nicht überschneiden oder vollständig identisch sein können, das Fremde und das Eigene nämlich – aber dazwischen gibt es unendlich viele Möglichkeiten Schnittmengen zu bilden, kleine oder große, oder auch über die Zeit veränderliche. Das kann man sich wiederum vielleicht sogar am besten am Verhältnis zu sich selbst vorstellen: Es ist ja eher unwahrscheinlich, dass man sich – außer in den diskutierten medizinisch relevanten Fällen – auf einmal vollständig fremd wird. Wahrscheinlicher ist, dass man auf einmal, man weiß nicht woher, einen Gedanken denkt, von dem man sich nicht sicher ist, ob ihn wirklich das eigene Gehirn produziert hat, so befremdlich kommt er einem vor. Oder man verhält sich plötzlich auf eine Art und Weise, die man sich – positiv oder negativ! – niemals zugetraut hätte. Oder man geht eben zum Friseur und sagt: Alle Haare ab, ratzfatz, und dann ein Tattoo auf die Glatze! Was auch immer. Mit den Haaren muss ja nicht die ganze Identität ausgetauscht werden, und ein neuer Gedanke macht noch kein neues Weltbild. Es gibt eine Skala von Fremdheit, sowohl im Blick auf Andere als auch auf sich selbst. Und sie verändert sich: Das ist Leben!
Und genauso könnte man sich jetzt eine Skala von Verhaltensmöglichkeiten im Umgang mit den Fremden vorstellen, die von den Extremen „völlige Ablehnung/Verfolgung“ bis hin zu „völlige Annahme/Integration“ reichen würde. Aber viel wichtiger und interessanter wären die Zwischenstufen: Die Duldung würde auf dieser Skala auftauchen, etwas näher hin zur Ablehnung; in der Mitte gäbe es einen relativ neutralen Bereich der Beobachtung, Untersuchung, Auseinandersetzung; und etwas näher zur Annahme hin käme dann das Verstehen. Und das alles kann sich bewegen und verändern, und zwar – das ist wichtig! – in beide Richtungen: Fremde Dinge können nicht nur derart gewohnt oder so gut verstanden werden, dass sie man sich zu eigen macht; man kann sich eben auch vom vermeintlich Eigenen entfremden, zu Teilen, eine Zeitlang oder auch ganz.
Und das birgt übrigens, so bedrohlich es auch empfunden wird und von einem biologischen Organismus, der auf Selbsterhalt programmiert ist, zu einem gewissen Maße empfunden werden muss, eine Chance. Georg Simmel spricht in seiner Philosophie des Geldes : von der „Objektivität des Fremden“: Der Fremde, der in eine bestehende Gruppe hineinkommt bzw. von außen zu ihr hinzukommt, sieht sie aus einer Perspektive, aus der sie sich selbst gar nicht sehen kann – weil sie sich eben schon immer kennt oder zu kennen meint und Verhaltensmuster und Denkschemata und Überzeugungen entwickelt hat, die so tief zur eigenen Identität gehören, dass sie von innen heraus niemals mehr in Frage gestellt werden können. Der Fremde ist es, der sagen muss: Das ist aber komisch, was ihr da macht mit der Mülltrennung! Muss man sich wirklich in einer Bushaltestelle in eine lange Schlange stellen, obwohl weit und breit kein Bus zu sehen ist? Sagt man tatsächlich „Grüß Gott“, obwohl man weder an ihn glaubt noch ihn sehen kann? Triviale Beispiele, klar. Aber in der Anwendung auf die Art und Weise, wie man sich selbst vielleicht fremden werden oder fremd fühlen kann, könnte es ja durchaus zu interessanteren Ergebnissen führen.
Tl;dr: Fremdes und Eigenes mischen und entmischen sich im Leben notwendig und unaufhörlich; es geht um vernünftige Grenzziehung und Differenzierung, nicht um Pauschalurteile!
Schwierig wird es ja oft, wenn man ganze Gruppen als fremd empfindet und dann die eigene Gruppenidentität dagegen ausspielt. Hilft da die Philosophie auch?
Die Unterscheidung von Individuum und Kollektiv wird viel zu wenig beachtet in der traditionellen Philosophie. Die ist nämlich weitgehend eine Philosophie von Individuen für Individuen, und ein ordentlicher Schulphilosoph nimmt das Wort „Kollektiv“ noch nicht einmal in den Mund, weil er ihn sich hinterher mit Seife auswaschen müsste. Aber natürlich ist unser modernes Leben sehr stark von den unterschiedlichsten Kollektiven, Gemeinschaften, Gruppen geprägt, wie immer man das nennen will – und schon die Benennungsvielfalt zeigt, dass mit den unterschiedlichen Begriffen ganz unterschiedliche Assoziationen verbunden sind! Und diese Kollektive sind in den meisten Fällen, wenn es sich nicht um reine Zweckbündnisse handelt, eben auch Wertegemeinschaften – womit wir uns wieder politisch vermintem Gelände annähern, aber wir lassen die aktuellen Minen lieber links (oder auch rechts, meinetwegen) liegen, machen einen eleganten Sprung in die antike Philosophie (wir könnten aber auch das Mittelalter nehmen, dem das Individuum tatsächlich völlig fremd war, und ist das nicht ein fremdartiger, aber interessanter Gedanke?) und zitieren aus einer Grundschrift, der Politik von Aristoteles nämlich: „Da wir sehen, daß jeder Staat eine Gemeinschaft ist und jede Gemeinschaft um eines Gutes willen besteht, so ist es klar, daß zwar alle Gemeinschaften auf irgendein Gut zielen, am meisten aber und auf das unter allen bedeutendste Gut jene, die von allen Gemeinschaften die bedeutendste ist und alle übrigen in sich umschließt. Diese ist der sogenannte Staat und die staatliche Gemeinschaft“. Der Preis für diese Einheit war allerdings der Ausschluss nicht nur der „Barbaren“ (wörtlich: all derjenigen, die kein Griechisch können, also das Medium der Leitkultur nicht beherrschen), sondern auch der Frauen, Sklaven und – eben der Fremden. Dass eine Übersetzung dieses antiken Konzeptes in unsere globalisierte, multikulturelle Gegenwart einige Probleme aufweist, erstaunt nicht weiter; es demonstriert aber, gerade durch seine Fremdheit, wiederum sehr schön die historischen Unterschiede im kollektiven Umgang mit Fremdheit und Eigenem.
Aber bleiben wir vielleicht lieber bei etwas kleineren Gruppen; die meisten von uns würden sich heute wohl eher ungern allzu großen Kollektiven zuordnen, sondern suchen sich eine Patchwork-Identität aus verschiedenen Rollen und Gemeinschaften zusammen, die sich über die Zeit auch verändern kann. Der Begriff der „Spielregeln“ ist in diesem Zusammenhang sehr hilfreich. Spielregeln sind nämlich etwas, was zwischen Regelzwang und Freiheit changiert – man unterwirft sich ihnen freiwillig, für eine gewisse Zeit und in einem gewissen Rahmen, und zwar gemeinsam; und wenn sie gar nicht mehr passen, wirft man sie halt um und macht neue. Spielen ohne Spielregeln macht jedenfalls überhaupt keinen Spaß, das wissen vor allem Kinder, die in vielerlei Hinsicht natürliche Philosophen sind. Schon in Friedrich Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen ist der Mensch nur wirklich Mensch, wenn er spielt. Und dieser Satz wird zwar endlos oft zitiert, aber eigentlich nie so ernst genommen, wie er es verdient (und wie Schiller ihn auch, da bin ich mir sicher, gemeint hat).
Aber natürlich ist nicht das ganze Leben ein Spiel, und gelegentlich leidet man an ihm, besonders wenn man eine Philosophin ist und im Spiel auch den Ernst sehen kann und dazu neigt, immer weiter zu fragen (das „Hinter“-fragen mag ich nicht so sehr, weil inzwischen jeder alles standardmäßig hinterfragt, um dann bei einer Standardantwort herauszukommen, sagen wir mal, nur so zum Beispiel: „Die Gesellschaft ist schuld!“ – wobei man zumindest logisch weiterfragen müsste: „Und wer ist die Gesellschaft eigentlich?“, aber das wäre dann wieder zu weit weitergefragt). Und dieses ewige Weiterfragen macht nicht glücklich, sondern melancholisch. Glücklich hingegen macht, ich zitiere einen Satz des Dichters Gottfried Benn: „Dumm sein und Arbeit haben“. Ich fürchte, das ist genauso bös gemeint, wie es gesagt ist, aber Philosophinnen sollten genau wie Dichterinnen ab und zu böse Sätze sagen. Natürlich kommt man sich selbst fremd vor, wenn man mal wieder so einen bösen Satz gesagt hat, und alle schauen einen an, als sei man ein Monster (man hat nämlich eine kollektive Spielregel verletzt). Nein, man hat nur weiter gedacht. Und leider nützt einem das persönlich ab und zu überhaupt gar nichts. Hoffentlich aber bringt es einen doch ein Stückchen weiter, in the long run. Wenn man eine gewisse Neigung nicht zur akademischen Schul-, sondern zur bunten Lebensphilosophie hat, würde man sogar sagen können: Die einzigen Erkenntnisse, die uns persönlich weiterbringen, sind die, die wenigstens ein bisschen wehgetan haben bei ihrer Entstehung; so ist das halt mit Geburten, und letztlich bringt man dabei auch immer etwas Neues, Fremdes auf die Welt.
Tl;dr: Philosophen müssen sich ab und zu selbst fremd werden. Und Philosophie macht einsam. Das kann leider auch wehtun.
Jetzt sind wir ja doch wieder beim Individuum! Wie war das noch mit der Gesellschaft? Warum ist sie an allem schuld – oder doch nicht?
Die Gesellschaft ist schuld. An allem. Bauchweh, Terrorismus, falsche Partnerwahl, egal. So bringen wir es unseren Kindern in der Schule bei, und jeder weiß, dass der Lehrer zufrieden ist, wenn die Gesellschaft mal wieder schuld ist und man kritisches Bewusstsein bewiesen hat. Nicht etwa der Einzelne ist schuld, wenn er etwas Dummes oder Falsches oder Unüberlegtes oder gar wirklich Böses tut. Sondern „die Gesellschaft“, etwas genauer „gesellschaftliche Normen und Konventionen“, die gern mit Attributen wie „überholt“, „verkrustet“ oder „starr“ kombiniert werden und eher selten mit „nützlich“, „allgemein anerkannt“ oder gar „unentbehrlich für das menschliche Zusammenleben, wenn es sich von Chaos und Anarchie unterscheiden soll“. Warum wohl? Die Antwort liegt auf der Hand, wenn man eine gar nicht besonders philosophisch tiefgründige Frage stellt, die aber viel häufiger auch in intellektuellen Zusammenhängen gestellt werden sollte: Wer profitiert? Wir alle natürlich. Wir sind nämlich nicht mehr schuld. Sondern die Gesellschaft. Puuh, wieder mal Glück gehabt, muss ich persönlich ja keine Konsequenzen ziehen!
Das ist das Schöne an sog. „Kollektivsingularen“, also Begriffen, die im Singular auftreten, aber eigentlich Vielheiten meinen – die Menschheit, die Kultur, die Geschichte und natürlich auch die Philosophie: Sie sind ein gigantischer psychischer Entlastungsmechanismus, der auf einer reinen Fiktion gründet. Es gibt nämlich „die Philosophie“ nicht, sondern nur potentiell unendliche Mengen von Philosophen. Genauso wenig gibt es "die Gesellschaft", sondern es gibt nur mehr oder weniger große und durch verschiedene Dinge zusammengehaltene Gruppen von Menschen. Einer der Gründerväter der Soziologie, Ferdinand Tönnies, hat in diesem Zusammenhang eine aufschlussreiche Unterscheidung vorgenommen: Entweder mehrere Menschen schließen sich zusammen, weil sie sich selbst als untergeordneter Teil eines größeren Ganzen sehen); mit diesem großen Ganzen fühlen sie sich emotional verbunden (alle sind mehr oder weniger eine große Familie, und das ist auch das biologische Modell für diesen Zustand), sie teilen die gleichen Werte und bilden eine mehr oder weniger homogene Gruppe – das ist die „Gemeinschaft“. Oder viele Einzelne schließen sich zusammen, weil sie Andere als Mittel zur Erfüllung ihrer eigenen Zwecke gebrauchen wollen, ohne sich dem Kollektiv unterzuordnen. Die Verbindung ist also rein instrumentell, es gibt keine gemeinsamen Werte, sondern nur Tauschwerte (deren zentraler das Geld ist), und für den Zusammenhalt sorgt, siehe oben, ein System sozialer Regeln und Normen, die nicht geglaubt oder für gut befunden werden müssen, sondern nur eingehalten – das ist die „Gesellschaft“, die damit natürlich sehr viel heterogener und bunter sein kann als die „Gemeinschaft“. Global gesehen, leben die meisten Menschen heute also in Gesellschaften – instrumentellen Zweckbündnissen, in denen man seine Mitbürger nicht lieben muss und ihre Werte nicht teilen, aber wenigstens die Tausch- und Verhaltensregeln einhalten sollte. Dass das kein reiner Segen ist, lernen wir im Moment gerade schmerzhaft: Der Verlust der geschlossenen Gemeinschaft hat einen konkreten Preis, der in fehlender Emotion, Orientierung und Geborgenheit bezahlt wird. Und ob dieser Verlust durch die offensichtlichen Vorteile der offenen Gesellschaft aufgewogen wird – also im Wesentlichen durch die (abstrakt) größere Freiheit des Individuums –, das muss nicht nur jeder auf dem Wahlzettel, sondern auch in der Philosophie für sich allein entscheiden. In der Philosophie kann „die Gesellschaft“ nämlich sowieso nicht schuld sein. Denken muss schon jeder für sich allein, und wenn er es nicht gelernt hat, weil „die Gesellschaft“ es ihm nicht beigebracht hat – sollte er es schnell auf eigene Faust versuchen. Es geht!
Tl;dr: Die Gesellschaft ist nicht schuld. Wenn man eine Ausrede für individuelles Fehlverhalten sucht, soll man sich wenigstens eine bessere ausdenken.
Typisch Philosophie. Jetzt muss doch wieder jede für sich allein die ganze Denkarbeit machen!
Also, eigentlich ist Sokrates schuld. Sokrates hat gesagt: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ (oder: „ich weiß, dass ich nicht weiß“, aber hier beginnen schon die Probleme mit der Überlieferung und der Deutung und der eigentlichen Arbeit, die jeder für sich…). Sokrates aber, das meinte nicht nur das im Allgemeinen wenig verlässliche Orakel von Delphi, sondern das meinen viele Philosophen auch heute noch, war der weiseste der Menschen. Was können wir also von ihm lernen, diesem fremden, alten Mann?
Vielleicht ein wenig Demut, und vielleicht ein wenig Skepsis. Schon die antiken Skeptiker haben gründlich darüber nachgedacht, warum wir eigentlich nichts Genaues wissen können; und sie haben mehrere Zusammenstellungen sog. „Tropen“ (Argumentationsmodellen, könnte man vielleicht sagen) präsentiert, die prinzipielle Gründe für das Nichtwissenkönnen enthalten. Eine ganze Reihe von diesen Tropen resultiert aus den vielen Verschiedenheiten der Menschen an sich: Jeder Mensch nimmt anders wahr, empfindet anders, ist in anderen kulturellen Kontexten sozialisiert worden, befindet sich in verschiedenen Lagen und Zuständen – all das beeinflusst substantiell und nicht nur obenhin sein Urteil und kann nicht einfach nach Belieben ein- oder abgeschaltet werden. Die Beispiele sind Legion, und jeder kann das jederzeit an sich selbst ausprobieren, beispielsweise nach einer schlaflosen Nacht oder nach drei Tagen Zahnschmerzen oder dem Ausfüllen einer Steuerklärung. Weitere skeptische Tropen lassen sich aus der Art des menschlichen Denkens und Argumentierens selbst formulieren, wie die logischen Gefahren von Zirkelschlüssen oder Regressen ins Unendliche: Jeder Satz bedarf einer Begründung, die wiederum begründet werden muss, die wiederum – und so weiter, bis ins Aschgraue. Das Denken selbst, zumindest in seiner menschlichen Begrenztheit, führt uns in die Irre! Tatsächlich ist für einen ordentlichen Skeptiker deshalb, und der Satz ist eben nicht trivial, alles relativ. Alles. Immer. Es gibt nur Beziehungen.
Was hat das nun alles mit dem Fremden zu tun? Ziemlich viel, würde ich sagen. Denn für die Skeptiker ergibt sich aus der Unmöglichkeit festen, zuverlässigen Wissens die Forderung nach Urteilsenthaltung: Nur wer sich gar nicht auf das schwankende Gebiet unsicherer Wahrheiten begibt, kann sich seine innere Stabilität (die Skeptiker sprechen mit einem schönen Wort – übersetzt, natürlich – von „Seelenruhe“) bewahren. Das wäre aber eine Maxime, die man auch im Umgang mit dem Fremden, wo immer man es antrifft, erproben könnte: also nicht gleich auf ein Urteil losstürzen, sei es positiv oder negativ, sondern erst einmal ein wenig relativieren. Aber richtig! Das bedeutet nämlich: sich die Voraussetzungen eines Urteils in diesem besonderen Fall klarmachen, die Unterschiedlichkeiten des Urteilenden und desjenigen, worüber geurteilt wird, die ganz besondere einmalige Situation, in der sich beide befinden, all die Voraussetzungen, die man heimlich gemacht hat. Dabei durchaus einmal die Seiten wechseln, im Kopf wenigstens! Und, am wichtigsten: Offen bleiben! Das klingt nun ähnlich trivial wie „alles ist relativ“, und es ist ebenfalls gerade nicht trivial, im Gegenteil. Ein Skeptiker kennt kein Dogma. Das heißt aber auch, und das sollte man sich klarmachen, bevor man nun mit fliegenden Fahnen zum Skeptizismus konvertiert: Er erkennt auch die großen Lieblings- und Herzenswahrheiten der Moderne, ihre letzten Gewissheiten – Demokratie ist die beste Staatsform, Menschenrechte gelten für alle, das Leben ist heilig, die Emanzipation der Frau unter allen Umständen anzustreben – nicht an. Sie sind für ihn nicht nur nicht bewiesen, sondern niemals beweisbar. Mit dieser Art von „Hinterfragen“ kommt man nicht gut an in Talk-Shows, so viel ist dann doch sicher. Aber das Denken schult es ungeheuer. Und vielleicht ist es ja, um zu Sokrates zurückzukommen, die philosophischste Haltung von allen: zuzugeben, dass die Welt uns fremd ist. Dass die anderen Menschen, einzeln oder in Gruppen, uns fremd sind. Schließlich: dass wir selbst uns fremd sind. Und damit beginnt die eigentliche Arbeit. Philosophie in diesem Sinne ist: Ent-fremdung.
Tl;dr: Skepsis kann lebensgefährlich sein. Oder notwendig.
DER HEILIGE MICHAEL UND PETER SLOTERDIJK
Schon mal von der Seelenwaage gehört? Also, der Heilige Michael, seines Zeichens Erzengel und Drachentöter, hat eine solche (Bild unten). Auf ihr werden, so dachte man jedenfalls in der (eher ein wenig apokryphen) christlichen Tradition, die Seelen gewogen; auf die eine Seite kommen schön säuberlich die guten Taten (lass uns vermuten, ganz mutig: auf die rechte…), auf die andere die ganz bösen, und je nachdem, wie sich die Waage hebt oder senkt, so entscheidet sich das Schicksal der armen Seele (sogar die alten Ägypter hatten übrigens schon die gleiche Idee, bei ihnen war der hundsköpfige Todesgott Anubis für das Seelenwägen verantwortlich).
Das alles kennt Peter Sloterdijk bestimmt, er kennt nämlich alles aus der abendländischen Geistesgeschichte, je entlegener, desto besser, und wenn man seine Bücher auf die eine Waage legt und auf die andere – aber nein, das führt uns ab, das lassen wir sein (gratulieren wir ihm lieber ein wenig nachträglich zum soeben feierlich begangenen 70. Geburtstag und wünschen ihm noch viele produktive Jahre, bevor er vor den Heiligen Michael tritt!). Also, worauf wir eigentlich hinauswollen: Die ganze Geschichte mit der Seelenwaage muss im Angesicht von Sloterdijks Bemerkung über die strikte Proportionalität zwischen zunehmend beseelten Androiden und zunehmend entseelten Menschen neu gedacht, geschrieben und gemalt werden. Es ist aber ganz einfach, wenn man die strikte Proportionalität beachtet. Man muss nur die Teufelchen mit all ihren Höllengeräten durch kleine bunte Roboter ersetzen; schon ganz menschenähnlich sehen sie aus, wie Mini-Homunculi. Dass sie eine Seele haben, erkennt man an ihrer geschmackvollen Kleidung (oder erkennt man daran nur, dass sie Geld haben? man verwechselt das so leicht), und sie sitzen alle wohlgeordnet und freundlich lächelnd auf der rechten Seite, die steigt und steigt. Und auf der anderen Seite, der linken, sinkenden, tummeln sich entseelte Menschlein; sie erkennt man daran, dass sie ein Smartphone in der Hand halten und den Blick gesenkt halten, ihre Augen sind schon ein wenig stumpf geworden und sie ähneln einander sehr. Der Heilige Michael aber ist der oberste Roboter, und wenn er Drachen töten will, spielt er League of Legends.
WOVON PROFITIERT DIE PHILOSOPHIE? VON „ALLEM“?
Berthold ist immer ein wenig skeptisch, wenn er das Wort "alles" hört. Aber nun gut, nehmen wir mal an, die Philosophie würde von allem profitieren. Sie wäre sozusagen das verkörperte Meta-Super-Win-Win schlechthin, egal was passiert, die Philosophie profitiert, sie profitiert sogar von dem, was nicht passiert. Aber warum ist sie dann eigentlich bis heute ein Nischenprodukt einiger seltsamer Exoten, das noch nicht mal bei Facebook eine ordentliche Anzahl Follower auf die Beine bekommt? Warum ist sie nach gut 2000 Jahren dokumentierter Philosophiegeschichte nicht ein wenig weiter gekommen mit der Wahrheit und dreht sich immer noch fröhlich in den immergleichen, insgesamt sehr kleinen Kreisen? ALLES ist ein großes Wort. Komisch nur, dass Allaussagen meistens so leer sind. Die einzige Kombination, in der Berthold das Wort "alles" gern hört, ist die mit einer Verneinung: Niemand darf alles. Niemand kann alles. Niemand profitiert von allem. Und: Alle Menschen sind sterblich, natürlich. Das hört aber niemand gern.
Frage: Profitiert die Philosophie wirklich von allem – oder gibt es etwas, von dem sie beim besten Willen nicht profitiert? (sagen wir mal, nur beispielshalber: Jargon. Weltfremdfheit. Akademische Zwangsinstitutionalisierung)
PHILOSOPHEN-WEIHNACHTEN
1. ADVENT
Wo ist der Philosoph in der Weihnachtsgeschichte?
Das ist einfach. Es gibt gleich drei, nämlich die – ursprünglich – „drei Weisen aus dem Morgenlande“, die erst eine Überlieferung, die nicht mehr so viel Respekt vor Weisheit, aber umso mehr vor Macht hatte, zu „drei Königen“ gemacht hat. Es waren aber eigentlich Sterndeuter, Magier, voll der geheimnisvollen Weisheit des Orients, die aus rein wissenschaftlicher Neugier einem neuen Stern folgten. Dafür, dass sie eigentlich Philosophen waren, spricht auch die relative Nutzlosigkeit ihrer Geschenke, die vielmehr hochsymbolisch gemeint waren: Gold für den neuen König der Welt, Weihrauch für den neuen Gott, Myrrhe für den schon abzusehenden Kreuzestod (Philosophen denken bei allem an den Tod). Im Übrigen waren die Weisen, wenn man dem Matthäus-Evangelium glauben darf, im Geheimauftrag von König Herodes unterwegs, um den neuen Regimegegner aufzuspüren. Philosophen tun so etwas aber nicht, deshalb fanden sie zwar Christus und huldigten ihm (na gut, eher untypisch für Philosophen, zumindest im Westen), gingen dann aber schleunigst wieder nach Hause und ließen Herodes zappeln.
2. ADVENT
Was hängt der Philosoph an den Weihnachtsbaum?
Immanuel Kant ist da ganz klassisch: Sterne und Engel, denn zwei Dinge erfüllen ihn bekanntlich mit Bewunderung, der gestirnte Himmel über ihm und das moralische Gesetz in ihm. Wenn Schopenhauer da ist, will er Pudel-Glocken. Hegel setzt am liebsten einen handgeschnitzten Weltgeist oben auf die Spitze, Marx will den Baum aber lieber verkehrt herum aufstellen. Diogenes gibt seinen letzten Becher dafür ab. Platon und Aristoteles streiten über die Lamettafrage, alle Jahre wieder.
Welches ist das Lieblingslied des Philosophen?
Ganz klar: „O Tannenbaum“, und zwar die dritte Strophe:
O Tannenbaum, o Tannenbaum,
dein Kleid will mich was lehren!
Die Hoffnung und Beständigkeit,
gibt Trost und Kraft zu jederzeit!
Und jetzt alle im Chor, die Stoiker voran:
O Tannenbaum, o Tannenbaum,
dein Kleid will mich was lehren![
3. ADVENT
Was wünscht sich der Philosoph zu Weihnachten?
Ruhe. Einen Moment nur, kein Gelärm, kein Gedudel, kein Geplapper, auf den Straßen, in den Stuben, in den Kirchen und auf den Plätzen; Ruhe in den alten und den neuen und den sog. sozialen Medien; Ruhe im großen und weiten Internet wie in der letzten Hütte in Betlehem. Und warme Socken (mit kalten Füßen denkt es sich schlecht).
Was verschenkt der Philosoph zu Weihnachten?
Gedanken. Wenn er Ästhetiker ist, mit Schleife, wenn er Moralphilosoph ist, mit Nutzen, wenn er Materialist ist, mit Gutscheinen, wenn er Eklektiker ist, gebrauchte. Und warme Socken (mit kalten Füßen denkt es sich schlecht).
4. ADVENT
Wie feiert der Philosoph Weihnachten?
Mit einem Symposion natürlich. Es gibt Wein, in kleinen Bechern, und das Höhlengleichnis wird verlesen, alle Jahre wieder. Diogenes kommt mal wieder zu spät, und Kant ist böse deshalb. Sokrates besorgt noch in letzter Sekunde ein Weihnachtsgeschenk für Xanthippe. Leibniz muss nur noch kurz die Welt retten und 148 Weihnachtskarten an seine Korrespondenten in aller Welt schreiben. Nietzsche ist schon betrunken und ruft alle fünf Minuten: „Gott ist tot, ey!“ Wittgenstein schweigt. Schopenhauer hat seinen neuen Pudel mitgebracht, Hegel den Weltgeist, sehr hochprozentig. Mark Aurel ist anonym gekommen und singt die stoische Welthymne „Oh du fröhliche“; Marx singt die Internationale dazwischen. Wittgenstein schweigt. Rousseau will den Baum lieber im Naturzustand lassen und ärgert sich, dass er immer den Weihnachtsmann spielen muss. Nietzsche ruft mal wieder: „Gott ist tot, immer noch, ey!“ Sartre sitzt in der Ecke und murmelt: „Die Hölle, das sind die anderen!“ Wittgenstein schweigt. Camus versucht, das Lametta vom letzten Jahr zu bügeln, gibt aber bald auf. Dann versucht er es noch einmal. Sokrates kommt endlich, Xanthippe hat das Weihnachtsgeschenk mal wieder nicht gefallen, und er muss es umtauschen. Platon will daraus einen neuen Dialog über die Idee des nachhaltigen Konsums machen, er soll „Xanthippos“ heißen. Nietzsche brüllt: „Gott ist sowas von tot, ey!“ Wittgenstein schreit: „Ruhe! Und wo sind eigentlich meine warmen Socken?“