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Gedichte, gelesen   

  •  Goethe: All-Leben. Eine Apologie des Staubes
  • Goethe, Begünstigte Tiere. Oder: Die Bremer Stadtmusikanten, mit vertauschten Köpfen
  • Annäherung an den Kranich. Schiller, die Kraniche des Ibykus; Brecht, Die Liebenden
  • Das Schweigen der Grashalme. Rainer Maria Rilke, Irre im Garten.  
  • Wandernde Steine. Paul Celans Es ist alles anders
  • Leichtsinn mit Melancholie gepaart. Variationen über den Leicht-Sinn (mit lyrischen Beispielen)

 


All-Leben, oder: Eine Apologie des Staubes

 Staub ist eins der Elemente,

Das du gar geschickt bezwingest,
Hafis, wenn zu Liebchens Ehren
Du ein zierlich Liedchen singest.

 Denn der Staub auf ihrer Schwelle
Ist dem Teppich vorzuziehen,
Dessen goldgewirkte Blumen
Mahmuds Günstlinge beknieen.

Treibt der Wind von ihrer Pforte
Wolken Staubs behend vorüber,
Mehr als Moschus sind die Düfte
Und als Rosenöl dir lieber.

Staub, den hab ich längst entbehret
In dem stets umhüllten Norden,
Aber in dem heißen Süden
Ist er mir genugsam worden. 

Doch schon längst, daß liebe Pforten
Mir auf ihren Angeln schwiegen!
Heile mich, Gewitterregen,
Laß mich, daß es grunelt, riechen!

Wenn jetzt alle Donner rollen
Und der ganze Himmel leuchtet,
Wird der wilde Staub des Windes
Nach dem Boden hingefeuchtet.

Und sogleich entspringt ein Leben,
Schwillt ein heilig heimlich Wirken,
Und es grunelt, und es grünet
In den irdischen Bezirken.

Ein Gedicht an den Staub? Eine Apologie des Staubs gar? Die schwäbische Hausfrau schüttelt den Kopf und energisch das Staubtuch aus. Der Pfarrer zitiert das Buch Hiob am offenen Grab: „Der Mensch hat nichts mehr als das Vieh, denn es ist alles eitel. Es fährt alles an einen Ort; es ist alles von Staub gemacht und wird wieder zu Staub“ (im Hintergrund weht melancholisch Dust in the Wind von Kansas). Der Reisende schüttelt den Staub von seinen Schuhen und verwünscht wieder einmal den Zustand der Straßen. Allein Goethe fällt mal wieder aus der Reihe, wie so oft. Denn er zitiert seinen neuen Liebling, den persischen Dichter Hafis, dessen Divan geradezu eine Oase des Staubes ist: Staub allenthalben, in der Wüste, in der Schenke, bei der Geliebten vor allem! Gepriesen in den lyrischsten Tönen werden sein Wohlgeruch und seine Kostbarkeit, aber auch seine Wirkung: Denn der Staub bringt den Dichter zum Weinen. Tränen aber, kostbares Nass – 

Aber zurück zu Goethes und All-Leben, einem Gedicht mit einem großen Titel und einem winzigen, geradezu atomaren Gegenstand: Staub. Die ersten drei Strophen feiern das große Vorbild Hafis als „Bezwinger des Staubes“ im Namen der Liebe; und sie nehmen dafür reichlich Wort-Anleihen bei ihm auf: Kostbar also sei der Staub, in typisch orientalisierender Übertreibung: kostbarer sogar als die „goldgewirkten Blumen“ in den Teppichen von Mohammeds „Günstlingen“! Wohlriechend sei er, wenn der Wind ihm von der Schwelle der Geliebten dem Dichter zutreibt, wohlriechender sogar als „Moschus“ und „Rosenöl! Die schwäbische Hausfrau riecht misstrauisch an ihrem Staubtuch, der Pfarrer stellt die Pop-Musik ab, sie geht ihm auf die Nerven, der Reisende hat im Hotel endlich den gut versteckten Schuhputzautomaten gefunden. Goethe aber hat inzwischen die Gedichtmitte erreicht und ist bei sich, dem lyrischen Ich, dem anverwandelten Dichter angekommen: Einmal nämlich, lang ist es her, war er selbst der Reisende mit Staub auf den Schuhen; im Süden, auf staubigen, trockenen Straßen, hat er ihn kennengelernt und abgeschüttelt – aber halt, traf er dort nicht die erste Geliebte, öffnete sich nicht auch für ihn in Rom eine „liebe Pforte“ samt Schwelle, empfingen ihn nicht dort die Kostbarkeiten und Wohlgerüchte –? 

Aber schon haben wir kehrt gemacht und uns dem „stets umhüllten Norden“ zugewandt. Umhüllt, nun offensichtlich nicht mehr von Staubwolken, sondern von einem anderen, eher nordischen Element, dem „Gewitterregen“ nämlich. Die Hausfrau schließt die Fenster angesichts der aufziehenden Wolkenfront, der Priester eilt schutzsuchenden der umhüllenden Kapelle zu, der Reisende lässt sich längst von den Düften des reichlichen Abendessens umwehen, Goethe aber läuft zu voller Form auf: Heilung, das erwartet er von dem neuen Element, nicht mehr und nicht weniger! Endlich soll es ihm wieder „gruneln“! Gruneln, fragen alle im Chor? Was ist denn das bitte, und warum kann man es „riechen“? Man kann es riechen, weil das genau die Bedeutung des wenig benutzten, ein wenig dialektal angefrischten Wortes ist: Gruneln, das heißt: Man kann riechen, dass es wieder grün wird, das die Natur aufblüht, dass die Dinge wachsen, erfrischt vom feuchten Elemente. Es ist, fast, eine orientalisch anmutende Synästhesie: Man sieht das Grün sprießen und meint es zu riechen! Dazu große Gewitterkulisse (Goethe verwendet, falls man noch einen Beweis braucht, das Wort auch in einem Brief bei der Beschreibung eines Gewitterregens): lautstarker Donner, allerleuchtendes Leuchten, gefolgt von einem recht hübsch gereimten „Hinfeuchten“: Der „wilde Staub“, der vor dem Gewitter von Böen aufgewirbelt wurde, wird niedergedrückt auf den durchnässten Boden, und schon, als sei man in der Wüste, „entspringt“ ein neues Leben dort, wo eben nur Staub war! Nein, es entspringt nicht nur es „schwillt“ sogar - und kann man da nicht die „Schwelle“ mithören, und vielleicht sogar eine gewisse nicht nur botanische Erregung der Staubgefäße vor der Bestäubung? Aber das ist, , und so belassen wir es auch, ein öffentliches oder auch „heilig heimlich“ Geheimnis, das vor sich hin grunelt und grünet überall da, wo sich Staub und Feuchtigkeit, Frau und Mann, Süd und Nord, Religion und Natur treffen und aufs Fruchtbarste wechselwirken. 

Aber ein Nachwort, ein kleines staubig-gelehrtes. Bemerkenswerterweise steht das mit dem Gruneln schon bei Hiob, nur in etwas anderen Worten. Bevor nämlich dem Menschen seine unheilbare Staubhaftigkeit vor Augen geführt wird, heißt es über die Bäume: „Ein Baum hat Hoffnung, wenn er schon abgehauen ist, daß er sich wieder erneue, und seine Schößlinge hören nicht auf. Ob seine Wurzel in der Erde veraltet und sein Stamm im Staub erstirbt, so grünt er doch wieder vom Geruch des Wassers und wächst daher, als wäre er erst gepflanzt“. „Geruch des Wassers“, wirklich, das steht da, und der Pfarrer freut sich. Ob wir die Hausfrau auch noch glücklich machen können? Vielleicht nicht ganz, vielleicht sogar ganz im Gegenteil. Denn der Staub erweist sich als beständiger, als man denkt (na gut, das hatte sie schon geahnt); er erweist sich geradezu als Speichermedium für Erinnerungen und Erfahrungen (vielleicht nicht nur der Liebe?). So schreibt Goethe in einem nicht in den Divan aufgenommenen Gedicht mit dem wunderbaren Titel „Nicht mehr auf Seidenblatt“ (ein Bestandteil des künftigen Divan?): 

Nicht mehr auf Seidenblatt
Schreib ich symmetrische Reime;
Nicht mehr fass ich sie
In goldne Ranken.
Dem Staub, dem beweglichen, eingezeichnet
Überweht sie der Wind, aber die Kraft besteht,
Bis zum Mittelpunct der Erde
Dem Boden angebannt.
Und der Wandrer wird kommen,
Der Liebende. Betritt er
Diese Stelle, ihm zuckt’s
Durch alle Glieder.

Näher kann man Paul Celan nicht kommen (oder auch umgekehrt). Ein wandernder Staub, wiedergefunden.

 


 Begünstigte Tiere, oder:
Die Bremer Stadtmusikanten, mit vertauschten Köpfen

 

Vier Tieren auch verheißen war,
Ins Paradies zu kommen,
Dort leben sie das ew'ge Jahr
Mit Heiligen und Frommen.

Den Vortritt hier ein Esel hat,
Er kommt mit muntern Schritten:
Denn Jesus zur Prophetenstadt
Auf ihm ist eingeritten. 

Halb schüchtern kommt ein Wolf sodann,
Dem Mahomet befohlen:
»Laß dieses Schaf dem armen Mann,
Dem Reichen magst du's holen!« 

Nun, immer wedelnd, munter, brav,
Mit seinem Herrn, dem braven,
Das Hündlein, das den Siebenschlaf
So treulich mitgeschlafen.

Abuherriras Katze hier
Knurrt um den Herrn und schmeichelt:
Denn immer ist's ein heilig Tier,
Das der Prophet gestreichelt. 

Man meint die Bremer Stadtmusikanten geradezu vor sich zu sehen. Zwar ist der Hahn durch einen Wolf ersetzt, aber nun gut, Hähne haben vielleicht wirklich nichts im Paradies zu suchen, wo auch die Bäche nur sehr still vor sich hin murmeln. Denn um das Paradies geht es in diesem „munteren“ Gedicht; es geht bekanntlich im ganzen Divan gar nicht wenig um das Paradies, und natürlich gibt es viele Paradiese, eines davon christlich, eines muslimisch, und wie sieht es eigentlich aus mit den Tieren im Paradies? Gute Frage, wir vertagen sie erst einmal, um festzustellen, dass das Tiergedicht nicht gar so allein dasteht, wie überhaupt alle Divan-Gedichte sehr stark verknüpft, um nicht zu sagen: vielverschlungen sind. Es wird vorbereitet, angekündigt, angebahnt durch Berechtigte Männer (was die Frage beantwortet, wie Männer ins Paradies kommen: nämlich indem sie eine Art Rechtsanspruch erwerben, im Wesentlichen durch Heldentod) und Auserwählte Frauen (genau, Frauen werden nicht berechtigt, sondern auserwählt; durch was? Durch erwiesene Treue natürlich, dem Manne gegenüber). 

Bleiben wir ruhig noch einen Moment bei den Frauen, den auserwählten, die Auswahl ist nämlich ganz interessant, auch im Blick das Tiergedicht. Natürlich ist sie ost-westlich, also muslimisch-christlich, das war zu erwarten: Sie beginnt mit Suleika (der moralisch nicht besonders gut beleumdeten Frau von Potiphar in der Josephsgeschichte, erzählt sowohl im Koran wie in der Bibel), die aber durch spätere Entsagung gerettet werden kann. Sie setzt sich fort mit der christlichen Maria, der absoluten Mutter; paart sie mit Mohammeds erster Gattin Chadidscha, der einzigen, mit der der Prophet in Einehe lebte, bis sie starb, sie war gleichzeitig seine Financieuse, eine seiner ersten Anhängerinnen und seine lebenslange Verteidigerin. Abgerundet wird die erlauchte Runde opferbereiter Weiblichkeit schließlich mit Fatima, einziger überlebender Tochter von Mohammed und Chadidscha und selbst ein Muster aller Weiblichkeit im Islam bis heute, geradezu kultartig verehrt. Nein, eine gelehrte Frau war wohl nicht zu erwarten, auch keine emanzipierte. Aber immerhin, eine Sünderin (wie Gretchen, sehr viel später)! Zwei muslimische Treue-Ikonen in einer Religion, die die Vielweiberei kennt und das Paradies der berechtigten Männer mit willigen Huris in großer Menge ausstattet! Wer mehr will, muss sich wohl schon selbst in einen künftigen Divan einschreiben! 

Tiere hingegen, um nach dieser orientalisierenden Arabeske nun endlich zum Thema zu kommen, werden „begünstigt“; ein netter kleiner Orientalismus, denn natürlich ist der orientalische Despotismus die Blütezeit der Günstlingswirtschaft (nein, gab es auch im Okzident, so ist das halt mit Stereotypen, sie fallen überall auf fruchtbaren Boden). Man kann aber nicht sagen, dass Tiere in der Bibel „begünstigt“ werden; sie werden vielfach strikt dem Menschen untertan gemacht, und was daraus geworden ist, kann man ja sehen (kein Paradies, nirgends). Allerdings kommen Tiere durchaus vor in der Bibel, aber meist als schlechtes Beispiel oder besondere Strafe (die Schlange. Die Heuschrecken). Ausnahme, und damit sind wir schon mitten im Gedicht: der vortretende Esel, auf dem Christus im Koran und in der Bibel in die heilige Stadt Jerusalem einreitet, das Volk begrüßte ihm mit Palmwedeln, heiligen Pflanzen, und sah darin, dass er nicht auf einem kriegerischen Pferd einritt, ein Zeichen der Demut und des zukünftigen Friedens. Zwar gilt der Esel sonst gemeinhin nicht als „munter“, sondern eher als etwas störrisch. Aber immerhin bekommt er von Gott eine Stimme verliehen, als der brutale Bileam sie (es war eine Eselsstute) schlägt, nur weil sie vor einem Engel gescheut hatte! Na gut, Esel werden berechtigt begünstigt! 

Wölfe hingegen –mit der dritten Strophe ist so eine Sache. Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, ist Hobbes und nicht direkt christlich gedacht, wenn auch historisch ziemlich erfahrungsbewehrt. In der Bibel tritt der Wolf bemerkenswerterweise fast nie ohne das Schaf auf, immerhin; und der Prophet Jesaja prophezeit eine neue Zeit, ein wiedergekehrtes goldenes Zeitalter sozusagen, in dem Wolf und Lamm zugleich weiden werden. Was hingegen Mohammed mit dem Wolf zu tun hat, da streiten die Quellen ein wenig; es gibt eine unterschiedlich überlieferte Legende, in der er einen Wolf davon abbringt, eine Hindin zu reißen, aber ihr dafür ein attraktiveres Opfer anbietet. Na gut, der Wolf im Gedicht ist ja auch nur „halb schüchtern“ geworden; ob er sich von der Robin-Hood-Logik wirklich überzeugen lässt, da fragen wir besser seine andere, nicht-schüchterne Hälfte. Aber trotzdem nehmen wir mit, dass das Almosengeben im Islam eine der fünf Glaubenssäulen ist und durchaus einen gewissen Umverteilungsgedanken transportieren mag. 

Aber dann, das Hündchen, das Hündchen! Das Hündchen ist eine wichtige Gestalt im Divan. Im letzten Gedicht, Gute Nacht, steht es ganz am Ende, das Hündlein, das treue. Es ist, und natürlich ist die Geschichte wiederum christlich und muslimisch überliefert, das Hündchen aus der Siebenschläferlegende, die im Divan selbst erzählt wird und deshalb hier nicht nachgeplappert werden muss. Wichtig ist nur: Bei den sieben jugendlichen Glaubenshelden, die in einer Höhle ihre Verfolgung verschlafen, schläft nur in der islamischen Variante ein Hündchen mit (manchmal sind es auch drei oder vier, es kommt nicht darauf an). Die Treue, das unbedingte Vertrauen in Gott, das die jungen Glaubenshelden zeigen, wird sozusagen potenziert durch das Hündlein, das über seinen Herrn vermittelt Gott vertraut; dabei immer schön schwanzwedelnd, munter und brav, ganz die fröhliche Hundenatur, sogar im Schlaf sieht man die Schwanzspitze noch ein wenig zucken. Auf jeden Fall berechtigt, vergünstigt und auserwählt! Nicht jedoch in der christlichen Variante. Sie kennt kein Hündchen, gar keines. 

Am Ende hingegen steht die Katze, und das ist schon ein wenig tückisch (Katzen halt). Katzen haben jetzt nicht so einen guten Ruf, allegorisch und so (in der Bibel kommen sie praktisch nicht vor). Ein Tier, das um seinen Herrn „knurrt“ und ihm „schmeichelt“ – das ist wohl ein klassischer Günstling, um nicht zu sagen: eine Berufsopportunistin, auf sanften Katzenpfoten schleicht sich die Katze in unser Herz, aber ganz sicher sein kann man sich ihrer nie. Sie wedelt auch nicht mit dem Schwanz, ihre Sprache ist überhaupt viel komplizierter. Aber deshalb kann man ja trotzdem ein „Abuherrira“ sein, ein „Katzenfreund“ nämlich, wie einer der Gefährten Mohammeds, Prophet auch er; er überlieferte genauso christliche Legenden wie muslimische, und er mochte eben Katzen, was ihm den Namen eintrug, unter dem er bis heute bekannt ist. Wahrscheinlich hat Abuherrira seine Katzen gestreichelt, wenn sie ihm umschmeichelt haben. Macht ihn das zu einem besseren oder schlechteren Menschen? Oder einem hellsichtigeren Propheten? Oder doch nur zu einem von Mohammeds Günstlingen? Denn Mohammed mochte auch Katzen. Es ist sogar der Name seiner Lieblingskatze überliefert, Muezza soll sie gehießen haben. Und Mohammed soll es auch gewesen sein, der dafür sorgte, dass Katzen immer mit vier Pfoten auf den Boden fallen, indem er Muezzas Rücken nach der Rückkehr vom Gebet dreimal streichelte. Seitdem fällt die Katze auf die Pfoten. Katzen sind weder berechtigt noch auserwählt ins Paradies zu kommen; sie sind eben einfach begünstigt. 

Das kann man für eine zweifelhafte Moral halten. Oder für – nun ja, eine Art von Inklusivität, die dem Fremden seine Fremdheit lässt und es nicht ins eigene Moralsystem einkleidet? Goethe hätte aber wahrscheinlich über beides die Schultern gezuckt. Im Gute-Nacht-Gedicht, das den Divan abschließt, schreibt er sich ein wenig selbst zur Ruhe. Er zieht sich zurück in seine ganz persönliche Siebenschläfer-Felsspalte; um dann, nach langem Schlaf, wieder zum Paradies zu erstehen, „mit Heroen aller Zeiten“, „frisch und wohlerhalten“. Dabei ist, wie könnte es anders sein: das Hündlein gar, das treue (dem Goethe auf der Bühne ja bekanntlich nicht so gewogen war). Denn der Dichter, der west-östliche, er ist „gern gesellig“, dem „Genusse“ nicht abgeneigt und nichts weniger als ein Moralist oder ein Dichter für eine intellektuelle Elite: „Daß die Unzahl sich erfreue“, das ist der Zweck des Divan (na gut, einer der Zwecke, ein halber vielleicht). Die „Unzahl“. Wie erfreut sich eine Unzahl? Das zur gefälligen Meditation allen Berechtigten, Auserwählten und Begünstigten in ihrer persönlichen Felsspalte. 

Gute Nacht! 

Nun, so legt euch, liebe Lieder,
An den Busen meinem Volke!
Und in einer Moschuswolke
Hüte Gabriel die Glieder
Des Ermüdeten gefällig;
Daß er frisch und wohlerhalten,
Froh, wie immer, gern gesellig,
Möge Felsenklüfte spalten,
Um des Paradieses Weiten,
Mit Heroen aller Zeiten,
Im Genusse zu durchschreiten;
Wo das Schöne, stets das Neue,
Immer wächst nach allen Seiten,
Daß die Unzahl sich erfreue.
Ja, das Hündlein gar, das treue,
Darf die Herren hinbegleiten.

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Annäherung an den Kranich (in drei Schritten)

I.          Das Erlebnis: Erhabenes, geballt auf abendlichen Wiesen

Es war dann doch überwältigend. Wir waren noch bei hellem Sonnenschein und mäßig sommerlichen Temperaturen hinausgefahren auf dem bunten Schaufelraddampfer. Auf den Uferwiesen tummelten sich schon größere Mengen von Vögeln, weiße Tupfen gegen das metallische Blau des windstillen großen Sees, aber alles war friedlich, sogar die einzelnen Fischerboote dümpelten. Wir waren natürlich gespannt: Kraniche hatte man uns versprochen, die Dame im Buchungsbüro hatte auf unsere skeptische Nachfrage hin geantwortet, sie könne nicht genau sagen, ob es Hunderte oder eher Tausende seien würden? Na gut, einzelne Paare begannen einzutrudeln, elegant im Paarflug segelnd, und durchs Gehirn streifte eine vereinzelte Brecht-Zeile: Seht jene Kraniche in hohem Bogen / Die Wolken, ihnen beigegeben. / Flogen mit ihnen schon, als sie entflogen / von diesem in ein anderes Leben. Natürlich hatte man das als Liebesgedicht gelesen, damals in der sentimentalen Jugend, nicht als ein Gedicht über Kraniche, aber was wusste man damals schon; und ganz falsch war es vielleicht auch nicht gewesen. Inzwischen jedoch, so verkündete der Lautsprecher in rührend syntaktisch-ungeschickten Sätzen, könnte man ganz dort hinten schon die ersten Züge erkennen; man strengte sich an, starrte in den sehr langsam dunkler werdenden Himmel, war das nur ein Wolkenstreif oder – nein, tatsächlich, die Kraniche flogen ein, sie flogen Zug um Zug, mal in geordneten Linien, mal in wirren, sich gerade umsortierenden Haufen, hier im spitzwinkligen, dort im stumpfwinklingen Dreieck. Sie machten einen Landeanflug, der mit einer Kurve begann, auf einmal sah man nicht mehr die langgestreckten Körper mit der leichten Schwellung in der Mitte, sondern nur noch schlanke Silhouetten, die in der schon tieferstehenden Sonne noch blitzten, dann streckten sie die schmalen Beine aus, und dann waren sie verschwunden im grauen Gewimmel auf der Wiese, das nun immer dichter wurde. Und da kamen schon die nächsten, an einer etwas anderen Stelle des immer größer werdenden Himmels; und da, man hörte sie jetzt schon weitem, ein anschwellendes Krah-Krah, es kam von dort, oder kam es von dort, oder von – und auf einmal flogen sie an, von fast allen Seiten, ein langer Zug nach dem Anderen, ja, es waren gewiss Tausende, und keiner wusste mehr, wohin er das leuchtende Handy zuerst richten sollte. Die Menschenmasse gab entzückte kleine Laute von sich, die aber bei weitem übertönt wurden vom immer lauteren, jetzt schon fast bedrohlichen Krah-Krah, dicht über den Köpfen, dort über dem Wasser, von hinten nachrückend, von den Seiten aufschließend, sich in grauen Schwärmen auf den Wiesen ballend. Lange hatte man sich nicht so – kollektiv erhaben gefühlt. Brecht war inzwischen verdrängt von einer anderen Stimme, sie nagte noch im Unterbewusstsein und sang die Kraniche des Ibykus, was war das noch? Als die Betäubung dann vorbei war und die Schwärme abklangen, war man ein wenig mitgenommen und ein wenig leer. Zeit zum Nachlesen!

2.         Die Ballade: Graulichtes Geschwader, im Gedränge

Die Kraniche des Ibykus also, Ballade von Schiller. Tatsächlich fliegen die Kraniche in ihrem völkerverbindenden Zug bis heute über den Isthmus von Korinth. Sie taten das wohl auch schon in der Antike, wenn sich die griechischen Völker, friedlich für eine kurze Zeit, zu den isthmischen Spielen trafen; es galt den Kampf der Wagen und Gesänge, Athletik des Geistes neben der des Körpers. Da machte sich auch auf Ibykus aus Rhegium, berühmt schon in jungen Jahren und vom jugendlich-sonnengleichen Gott Apoll begünstigt mit der Gabe des Gesanges, der Lieder süßen Mund. Und Ibykus wandert frohen Mutes und mit leichtem Stab, in der Ferne sieht er schon Akrokorinth auf dem Hügel, das Ziel seiner freudigen Reise. Doch vorher ist Poseidons Fichtenhain zu durchqueren, die Götter sind auch hier anwesend, der leicht fühlsame Wanderer spürt sie am frommen Schauer; und über ihn zieht, fernhin nach des Südens Wärme, ein Schwarm von Kranichen, in graulichtem Geschwader ziehen sie, und ein leicht fühlsamer Leser, eine sympathetische Leserin könnte hier vielleicht schon den ersten Schauder fühlen, eine kleine Ahnung von dräuendem Unheil wie eine kleine grau-lichte Wolke am noch hellen Himmel. Der Dichter jedoch grüßt die großen Vögel als treue Reisebegleiter (bis heute zehrt die deutsche Lufthansa von diesem Bilde): Sie wandern zwischen den Welten, wie er, der Dichter; und wie er müssen sie darauf vertrauen, gastlich aufgenommen zu werden in der Ferne, unter einem wirtlich Dach. Doch im Walde, da wohnen auch die Räuber und Ibykus soll niemals in Korinth ankommen. Genau in des Waldes Mitte, dort wo er am tiefsten, am fremdesten, am dunkelsten ist, erscheinen zwei Mörder auf gedrangnem Steg – und die Leserin springt, mitten im Text schon, die Fremdheit des seltsamen Wortes an: gedrangen, man fühlt das Unbehagen förmlich, eingeklemmt zwischen gedrungen und dem Andrang entsteht ein Wort-Gedränge, in dem der schwache Sänger, gewohnt die Lyra zu halten und nicht den Bogen zu dehnen, unterliegen muss, den hirnlosen, aber bizepsstarken bösen Buben, die tatsächlich Mörder genannt werden: Sie wollen nichts von dem armen, fremden Sänger, als sein Leben. Der letzte Blick des sterbenden Ibykus richtet sich zum Himmel empor, und er beklagt, sprachgewaltig bis zum Ende, dass er nun ungerächt vergehen müsse, verlassen, unbeweint auf fremden Boden. Und in gedrangner Not ruft er die Kraniche an, die einzigen Zeugen eines Endes, die in ihrem gewaltigen völkerverbindenden Zug jetzt den ganzen Himmel verdunkeln; er sieht sie schon nicht mehr, aber er hört die nahen Stimmen furchtbar krähn, das harte Kra-Kra, das ihnen den Namen gegeben hat, und er fleht sie an, für ihn zu sprechen, Anklage zu erheben. Dann stirbt er, nackt, entstellt von Wunden, ein wenig schimmert Christus durch die Beschreibung, ein anderer Fremder auf dieser Welt, getötet von bösen Buben.

Zeit- und Raumsprung nach Korinth. Ibykus‘ Gastfreund in Korinth, der ihm ein wirtlich Dach geben wollte, erkennt das entstellte Opfer an seinen Gesichtszügen und bricht in beredte Klage aus: Dahin sind der friedliche Sieg und der erhoffte Ruhm! Und alle Gäste, versammelt im Namen der Götter und des friedlichen Kampfes leiden mit ihm. Das Volk jedoch leidet nicht still und nicht beredt, nein, es wütet: Es will Blut sehen, Rache muss geübt werden, nur so kann das Verbrechen gesühnt werden, das ist die älteste Gerechtigkeit der Welt, und sie wohnt tief im kollektiven Unterbewusstsein. Wo jedoch soll man sie finden, die schwarzen Täter, die Feiglinge? Waren es vielleicht Konkurrenten, Neider? Man weiß es nicht, man wird es nicht wissen. Nur Helios, die Sonne selbst, die die Kraniche am Himmel begleitet in ihrem graulichten Zug, mag es wissen; nur der allsehende Sonnengott kann sehen, wie die Frevler mitten am helllichten Tage den Göttern und ihren Schützlingen trotzen. Sie drängen sich unter die Menschenwellen, wieder ein Gedrang, geballt fluten sie in Richtung des großen Theaters, wo Bank an Bank gedrängt der Griechen Völker sitzen. Und der Bau wächst über sich selbst hinaus: Die Stimmen vereinen sich dumpfbrausend wie des Meeres Wogen, und die dicht gefüllten Reihen scheinen menschenwimmelnd, aber doch geordnet in stets geschweiftem Bogen hinauf bis zum Himmel zu wachsen; er ist blau, dort wohnen die Götter, dort strahlt Helios, der alles sieht, das weiß jeder Einzelne in der anonymen Masse und vergisst es nicht im Gedränge. Wer zählt die Völker, nennt die Namen entspringt als geflügeltes Wort dieser Ballade, es wird maßlos missbraucht werden, wie alle geflügelten Wörter, die in die Enge der Alltagssprache geraten; in der Ballade jedoch werden sie aufgezählt, die Völker, werden mit ihren fremden Namen genannt: Sie kommen sogar aus Asien, sie kommen aus allen Inseln, sie haben sich vereint zur Kathedrale des Theaters und genießen den Gastfrieden.

Doch nun verstimmt das Stimmengewirr, denn der Chor tritt auf; und man kann sich die Szene nicht düster, nicht schauerlich genug vorstellen. Aus der Tiefe der kollektiven Vergangenheit treten maskierte Gestalten auf die Bühne, unkenntlich sind sie, vermummt, riesenhaft und weiblich, aber: So schreiten keine irdschen Weiber! Stumm umzirkeln sie das Proscenium, in einer Parade des Schreckens, mit langsam abgemeßnem Schritt; sie folgen einem alten, tiefen, im Blut verankerten Rhythmus, und ihr Singen ist nicht melodisch wie die süßen Töne aus dem Munde des Götterfreundes Ibykus, sondern von grauser Melodie wie das Geschrei der Kraniche. Gehüllt in lange schwarze Mäntel schreiten sie und schreiten sie; in ihren dürren Händen schwingen sie blutrote Fackeln, aber ihre eignen Wangen sind blutlos-gespenstisch, und anstelle von Haaren, die lebendig über Dichterstirnen flattern und sich mit der Lorbeerkrone verflechten, ringeln sich Schlangen mit giftgeschwollnen Bäuchen. Sieht man sie wirklich, oder ist es eine Vision, die die Menge ergriffen hat und unwiderstehlich Gewalt und Gestalt gewinnt: ein sich im Kreise drehender und niemals endender Alptraum eines früheren Seins, einer archaischen Gemeinschaft vor der sanften Menschlichkeit, die besinnungsraubend, herzbetörend wirkt? Besinnungsraubend, herzbetörend – in diesen gedrängten Worten zwingt der Dichter die Gewaltsamkeit der Erscheinung zusammen, denn die schwarzen Überweiber rauben den Menschen nicht nur den Verstand, nein, sie verzaubern, betören, vergiften auch sein Herz, ja, schlimmer noch: Ihr Gesang verzehrt des Hörers Mark von innen her. Willenlos wird das Menschengewimmel, der sanften Stimme der Dichtung ebenso wenig zugänglich wie der weisen der Vernunft. Und die schwarzen Überweiber in ihren wehenden Mänteln sprechen alle frei, die sich eine kindlich reine Seele bewahrt haben; nur sie allein könnten frei des Lebens Bahn wandeln, im Gespräch mit den Göttern und der Natur, so wie Ibykus vertrauensvoll sich in den Wald begab, den er nie mehr verließ; aber er war frei und hatte eine kindliche Seele. Doch der Verbrecher, der Mörder gar, ist von nun an und für immer gefangen: Er wird gejagt von den Erinnyen, dem furchtbaren Geschlecht der Nacht, und nie mehr wird die Sonne des Helios für ihn scheinen, nie mehr wird er unbeschwert durch den Wald des Poseidon gehen können. Überall sind ihm die geflügelten dunklen Göttinnen auf den Fersen, und nichts kann sie versöhnen, keine Reue, kein Bitten und Flehen, noch nicht einmal der Tod: in der Unterwelt selbst, in ihrer ewigen Nacht, lassen sie ihn immer noch nicht los. Erbarmen liegt nicht in ihrer Natur, Vergebung kennen sie nicht. Sie setzen sich im Mark fest, und von dort zerstören sie den Mörder von innen.

Düstere Stille lastet über dem Theaterrund, als die Riesenweiber, immer noch im langsam abgemeßnen Schritt – es eilt ihnen nicht mit der Rache, sie haben die Ewigkeit gepachtet – wieder abtreten; und jeder einzelne im Menschengewimmel spürt in seiner eigenen Brust die Wirkungen einer uralten, dunklen, furchtbaren Macht, die im Verborgenen richtet, unerforschlich, unergründet, sie kennt keinen Prozess, keine Berufung, ob Trug oder Wahrheit, das interessiert sie nicht. Und während die Menge noch dämmert, zweifelt, bebt, erschauert, da erhebt sich plötzlich, beinahe erschrickt man beim Lesen, eine einzelne Stimme, man imaginiert sie unwillkürlich hell. Und sie spricht vernehmliche Worte und sie spricht sich selbst ihr Urteil: Sieh da! Sieh da, Timotheus! Die Kraniche des Ibykus! Denn der Himmel hatte sich verfinstert, über das Theater hinweg zieht genau in diesem einzelnen Moment, nicht mehr graulicht, sondern zu schwärzlichtem Gewimmel zusammengedrängt, das Kranichheer – eine Masse ununterscheidbarer Leiber, verschmolzen zu einer dunklen Macht, geleitet von einem tiefen, unerforschten, unergründlichen Willen. Doch die Masse im Theaterrund erwacht ebenso plötzlich, wieso, was hat es auf mit diesen Kranichen, was hat das mit dem erschlagenen Ibykus zu tun? Und wie im Meere Well auf Well verbreitet sich die Nachricht, das Gerücht, die Erkenntnis: Nur der Mörder kann wissen, dass Ibykus in seinem letzten Moment noch Kraniche gesehen hat! Mit Blitzesschnelle erkennen alle Herzen in einem Moment der Erleuchtung, dass dies das Werk der Eumeniden, der dunklen Rachegöttin ist: Die Mörder bieten selbst sich dar zum Urteil.

Und die Übeltäter verwünschen noch das schnelle Wort, das ihrem schreckenbleichen Mund entfahren ist; kaum finden sie die Zeit, ihre Schuld zu bereuen, da werden sie schon vor den Richter geschleppt, und sie haben noch Glück, dass die Menge sie nicht auf der Stelle zerreißt. Die Theaterszene wandelt sich zum Tribunal, die Mörder gestehen, und kaum zwei Zeilen später ist die Ballade zu Ende, in einer gewaltigen Anti-Klimax: Das Werk des irdischen, menschlichen Rechts tut sein unspektakuläres Werk. Und es ist nicht wichtig, wie das Urteil fällt; wichtig ist, dass Rache geschieht, dass die Götter dafür gesorgt haben, dass der Tod ihres Lieblings gesühnt wird. Gerechtigkeit aber ist das, was im Inneren geschieht; und niemals werden die Mörder wieder freie Menschen werden können, immer werden ihnen die Erinnyen auf den Fersen sein, sie werden Schlangenköpfe sehen statt flatterndem Dichterhaar, und niemals verstummt das heisere Krah-Krah der Kraniche mehr in ihren Ohren. Wer Mord begeht, hat sein inneres Mark zerstört. Der Mensch jedoch bewahre sich sein kindlich reines Gemüt, auch wenn er in den dunklen Wald geht. Die Kraniche aber sind wie die Menschenwellen, die der Chor der Menschenleiber antreibt: das Bild einer grau-lichten Macht, ewig hin- und hergerissen zwischen Licht und Schatten, Tag und Nacht; ein gewaltiger Anblick, ein Gedränge im begrenzten Raum des Himmels. Aber bevor sie sich paaren, tanzen sie.

3.         Das Liebesgedicht: Wolke und Kranich, daneben

Das Gedicht von Brecht heißt übrigens Die Liebenden. Und es ist ja nicht ganz falsch. Immerhin geht es auch um den schönen Himmel und um Gastfreundschaft in Zeiten der Wanderung. Und es beschreibt auch etwas, das sich jenseits der Vernunft vollzieht, in Instinkten und Rhythmen, in der Wechselwirkung von Tier und Umgebung, in der stillen Übereinstimmung zwischen Wolke und Kranich. Denn nicht, wie man es allzu leicht assoziiert und damit verkennt, ist von zwei Kranichen die Rede; die Rede ist von den Kranichen und der ihnen beigegebenen Begleitwolke, zwei sehr unterschiedlichen Wesen in einer Beziehung von äußerst schwankender Dauer. Ihr Verhältnis, wenn man es denn Liebe nennen will, gründet im Nichts des Augenblicks: einer gemeinsamen Wahrnehmung, einer geteilten Umgebung, einer rhythmischen Abstimmung im Moment, der man sich jedoch überlassen muss; reinen Herzens, mit einer kindlichen Seele, von Sonne und Mond beschienen, im Glauben daran, dass dieser Moment, diese Beziehung, dieses reine Verhältnis alles ist. Die Liebe nämlich ist, das wird auch in gereiftem Alter häufig übersehen, ein Moment geteilten und geschenkten Vertrauens, nicht sich unsterblicher wähnender Leidenschaft; ein daneben mehr denn ein miteinander. (Hier ist das Gedicht:)

Seht jene Kraniche in großem Bogen!
Die Wolken, welche ihnen beigegeben
Zogen mit ihnen schon als sie entflogen
Aus einem Leben in ein anderes Leben.
In gleicher Höhe und mit gleicher Eile
Scheinen sie alle beide nur daneben.
Daß so der Kranich mit der Wolke teile
Den schönen Himmel, den sie kurz befliegen
Daß also keines länger hier verweile
Und keines anderes sehe als das Wiegen
Des andern in dem Wind, den beide spüren
Die jetzt im Fluge beieinander liegen:
So mag der Wind sie in das Nichts entführen.
Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben
So lange kann sie beide nichts berühren
So lange kann man sie von jedem Ort vertreiben
Wo Regen drohen oder Schüsse schallen.
So unter Sonn und Monds verschiedenen Scheiben
Fliegen sie hin, einander ganz verfallen.
Wohin ihr? - Nirgend hin. Von wem davon? - Von allen.
Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen?
Seit kurzem. - Und wann werden sie sich trennen? - Bald.
So scheint die Liebe Liebenden ein Halt.


Rainer Maria Rilke 

Irre im Garten

Dijon

Noch schließt die aufgegebene Kartause
sich um den Hof, als würde etwas heil.
Auch die sie jetzt bewohnen, haben Pause
und nehmen nicht am Leben draußen teil.

Was irgend kommen konnte, das verlief.
Nun gehn sie gerne mit bekannten Wegen,
und trennen sich und kommen sich entgegen,
als ob sie kreisten, willig, primitiv.

Zwar manche pflegen dort die Frühlingsbeete,
demütig, dürftig, hingekniet;
aber sie haben, wenn es keiner sieht,
eine verheimlichte, verdrehte

Gebärde für das zarte frühe Gras,
ein prüfendes, verschüchtertes Liebkosen:
denn das ist freundlich, und das Rot der Rosen
wird vielleicht drohend sein und Übermaß

und wird vielleicht schon wieder übersteigen,
was ihre Seele wiederkennt und weiß.
Dies aber lässt sich noch verschweigen:
wie gut das Gras ist und wie leis.

Das Schweigen der Grashalme 

Gedichte über Rosen gibt es wahrlich genug. Umgeben sind wir jedoch meistens von Gras. Gras ist langweilig und grün; wenn es im Sommer nicht genug regnet, wird es hässlich gelbbraun und verdorrt. Man muss es regelmäßig mähen, man ärgert sich über Moos und Klee, Löwenzahn und Quecken, und manche sogar über unschuldige Gänseblümchen. Schon das Wort ist irgendwie nicht gerade lyrisch: einsilbig, mit harten Anlauten, es reimt auch nicht gut (nass? saß? Osterhas?). Man kann es auch nicht zu Sträußen binden; allerhöchstens kann man kleine Knoten daraus machen oder auf ihm pfeifen, wie damals, in den endlosen Sommern einer kaum noch erinnerbaren Kindheit. War damals nicht wirklich das Gras noch grüner? Vor allem im Frühling, wenn die ganze Welt in Pastell getaucht schien und man angesichts einer frisch aufgeblühten Wiese auf einmal, für einen Moment, eine Kuh sein wollte? 

Rainer Maria Rilke hat ein Gedicht über Gras geschrieben. Es ist aber auch ein Gedicht über Irre (und wir vergessen für die Dauer unserer Lektüre besser die politisch korrekten Einwände gegen diese Bezeichnung): Irre im Garten ist sein lakonischer Titel. Die „aufgegebene Kartause“, in der sich der Garten befindet, war ehemals ein berühmtes Kartäuserkloster in Dijon, die Grablege der mächtigen Herzöge von Burgund und ausgestattet mit wertvollen Kunstwerken. Der Furor der Französischen Revolution hat nur den ehemaligen Großen Kreuzgang verschont, mit dem Mosesbrunnen in der Mitte; schon seit langer Zeit wird das Gelände als psychiatrisches Krankenhaus genutzt. Rilke sah es auf seiner Reise nach Rom, Ende des Jahres 1803. Es hat wohl einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen, denn geschrieben hat er das Gedicht über das Gras und die Irren erst 1907, als er wieder zurück in Paris war. Ganz leise und heimlich beschwört das Gedicht auch diesen historische Hintergrund; wenig nur noch ist heil geblieben in dem ehemaligen Kloster, das mit aller Pracht und allen Kunstwerken den lauten Zeitläuften zum Opfer gefallen ist. Anstelle meditierender Kartäuser-Mönche pflegen nun Irre die Beete im Kreuzgang; und auch sie sind nicht heil, sondern versehrt von der Welt, dem „Leben draußen“. 

Inmitten dieser eigentlich gar nicht mehr heilen Welt jedoch bildet der Hof der Kartause eine Oase; in ihm ist „Pause“ vom Leben, und auf einmal erscheint das Leben als eine gigantische, nicht enden wollende Schulstunde, mit viel zu seltenen Pausen und immer überfüllten Pausenhöfen. Zwar schließt auch dieser Pausenhof seine Bewohner ein, aber diese leiden offensichtlich nicht unter ihrem Freiheitsentzug: Sie suchen nicht das Neue, das Unbekannte, sondern gehen „mit bekannten Wegen“ - man beachte den subtilen Unterschied: mit ihnen, nicht auf ihnen, so als wären die Wege ihre Freunde, etwas, mit dem man um-geht. Dabei folgen sie instinktiv einem unsichtbaren Muster, das aus dem Kommen und Gehen kein chaotisches Pausenhof-Gewusel, sondern eine harmonische Kreisbewegung macht: eine kommunikative, aber sprachlose Begegnung. Die Irren sind zu Wiedergängern der Mönche geworden: Sie haben sich (wenn auch unfreiwillig) von der Welt draußen abgeschieden;sie knien demütig; sie leben dürftig; aber sie erkennen das Gute, in ihrer Seele. Sie sind Irre, und sie sprechen lieber in Gebärden mit dem frühen Gras als in Worten von den roten Rosen (von Menschen, dieser größten vorstellbaren Bedrohung von allem, gar nicht zu reden). 

Deshalb spricht das Gedicht, mit bescheidenen Mitteln, für die Irren. Es versammelt einfache Gegenstände – den Hof, die Wege, die Frühlingsbeete, das Gras. Es benutzt einfache Worte, die nicht erschrecken: viele Verben mit der Vorsilbe ver-, die den Verlust von etwas andeuten, das Verschwinden und Vergehen; emotional anrührende Adjektive (zart, früh, verschüchtert, freundlich, gut, leise); auch auffällig unkonkrete Wörter, Unbestimmtheitsmarker wie „irgend“ oder „vielleicht“, die vieles offen lassen und nichts auf den Punkt bringen. Das Gedicht hat ein einfaches alternierendes Versmaß, das der gleichmäßigen Bewegung des Kommens und Gehens entspricht; es hat unauffällige Reime (heil-teil, weiß-leis, Wegen-entgegen) und verwendet eine zurückhaltende, geradezu pastellfarben aufgetragene Lautmalerei – schüchterne „Ü“s, beruhigende „W“s, unauffällige „E“s. Das Gedicht spricht nicht bedrohlich; es spricht, um eines seiner Worte aufzugreifen, „primitiv“. 

Aber stimmt das eigentlich? „Primitiv“ ist nun wahrlich kein einfaches Wort; es ist ein Fremdwort (das wir wiederum für den Moment unserer Lektüre besser aller negativen Assoziationen entkleiden: "primitiv" ist etwas vom seinem Anfang her, ursprünglich, einfach: das erste) und sticht geradezu heraus aus dem umfriedeten Vokabular, ähnlich wie „Kartause“. Der zweite Blick entdeckt eine ganze Reihe solcher Fremdlinge. Es gibt auch komplizierte und abstrakte Bilder (das „Übermaß“ der Rosen); sie „übersteigen“ die Sprache des Gedichtes ebenso wie das Rot der Rosen die Fassungskraft der einfachen Seelen der Irren übersteigt. Neben einfachen Reimen stehen überraschend fremdartige, die Ungewohntes paaren und beinahe peinlich berühren: Die „Kartause“ wird mit der „Pause“ gepaart, „verlief“ mit „primitiv“, das „Gras“ mit „Übermaß“– gerade die komplizierten Wörter und Vorstellungen, die das Gedicht „übersteigen“, erhalten einen eher „primitiven“ Partner, der sie zurückbindet an den geschlossenen Hof und die einfache Wahrnehmung. Die lautmalerischen „Ü“s schließlich sind nicht nur grün und schüchtern, sondern im „Übermaß“ und dem „Übersteigen“ auch übermächtig; sie konterkarieren nur mühsam das lautstarke „Drohen“ der „O“s der roten Rosen. 

Eine Bedrohung ist im Gedicht also durchaus enthalten; sie steckt im „noch“, das das Gedicht einleitet und es beendet – es handelt sich nur um einen begrenzten Zeitabschnitt, eine „Pause“ eben – ebenso wie im akustischen Anschwellen des Tones im Gedichtverlauf. Den Einschnitt bildet dabei offenbar die Formel „Zwar manche“ zu Beginn der dritten Strophe. Sie unterbricht die kollektive Sichtweise mit einer Inversion, einer grammatischen Umstellung der gewohnten Satzfolge – ebenso wie die genannten „manchen“ aus dem rhythmischen Kreisen der Gruppe isoliert werden. Gleichzeitig variiert das Gedicht sein Reimschema: Die umarmenden Reime, die in den ersten beiden Strophen die Geschlossenheit des Hofes beschworen hatten, weichen einem Kreuzreim, der die Interaktion der „Manchen“ in ihren Gebärden mit dem „zarten frühen Gras“ einfängt, aber auch die Kontrastierung von grünem Gras und roten Rosen. Die letzte Strophe – und darin zeigt sich der Meister - vereint untergründig beide Muster: Über „ei“-Assonanzen sind alle vier Reimwörter aneinander geknüpft, das „übersteigen“ und „verschweigen“ ebenso wie „weiß“ und „leis“.   

Auch im Satzbau sind die drei letzten Strophen deutlich von den gleichmäßigen ersten beiden abgehoben, die jeweils einen einzelnen Satz umfassen. Der in der dritten Strophe angefangene Satz zieht sich über die gesamte vierte hin, um im „Übersteigen“ in der ersten Hälfte der fünften Strophe zu gipfeln. Zudem macht der lange Satz dabei zwei geradezu atemberaubende Sprünge: Über die Strophengrenzen hinweg, mitten im Satz, wird die „verheimlichte, verdrehte“ – „Gebärde“ am Ende der dritten Strophe mit einem Enjambement unterbrochen, so als müsse das Gedicht erst ein Wort suchen für das, was da heimlich geschieht (und das Wort, das es findet, ist dann auch ein eher „großes“). Und auch das „Übermaß“ am nächsten Strophenende lässt nach Luft schnappen, schafft Raum für das Anwachsen des Bedrohungsgefühls in einer Lücke zwischen den Strophen, in einer Pause im Fluss der Sprache. 

Im umfriedeten Raum der Kartause ist die Bedrohung allerdings gezähmt. Sie ist vor allem deshalb nicht mehr primär verstörend, weil das Gedicht eine Umwertung der Werte vorgenommen hat: Indem es etwas „verdreht“ hat nämlich, weil es nicht von Rosen, sondern von Grashalmen spricht. Die (zumindest temporär) heile Welt ist hier die der Irren in der aufgegebenen Kartause, nicht die der Gesunden im „Leben draußen“ jenseits der Mauern. Sie sind fähig zu menschlichen Gesten und Gebärden, sie erkennen Freundlichkeit und Güte in kleinen Dingen, sie pflegen in Demut, willig, aber ohne zu wollen. Gleichwohl haben sie eine Ahnung davon, dass es auch große Dinge gäbe, jenseits der Mauern, dort, wo es laut und deutlich hergeht, wo die Dinge nicht verlaufen, sondern auf einen zukommen, wo man konfrontiert ist mit Fremden und Unvertrauten, nicht nur auf den Wegen, sondern in den Seelen. Selbst das Rot der Rosen würde schon mit aller Macht verlangen, gesagt zu werden; man müsste die richtigen Worte finden, große Worte, große Sätze für große Gefühle und große Gedanken.   

Das Gras hingegen, das frühe feingliedrige Gras des Frühlings, das Gras der glücklichen Kühe, das Gras der Irren – es lässt sich verschweigen. Es bleibt an einem geheimen Ort zurück, einer aufgegebenen Kartause, im Garten der Kindheit, noch! - solange das Gedicht es für uns aufbewahrt und wir zu ihm zurückkehren können. Gedichte über Rosen gibt es schließlich genug. 

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Wandernde Steine. Paul Celans "Es ist alles anders

„Es ist alles anders, als du es dir denkst“ – geradezu trivial klingen die ersten Worte dieses titellosen Gedichtes von Paul Celan aus dem Gedichtband Die Niemandsrose(1963). Sie sprechen eine alltägliche Lebenserfahrung aus, etwas, das wohl jeder schon einmal erlebt hat:  Die Dinge sind nicht immer so, wie sie auf den ersten Blick aussehen, wie es unser Vor-Urteil immer schon zu wissen meint, wie man es sich eben denkt, ohne genauer darüber nachzudenken. Wobei der Widerruf – „es ist alles anders“ – ebenso eine gute wie eine schlechte Nachricht sein kann. „Nein, es ist doch alles gar nicht so schlimm“, kann er bedeuten; aber auch: „Nein, es ist noch viel schlimmer“. Vielleicht meint er jedoch einfach nur, jenseits von Gute und Böse sozusagen: Es könnte alles schlechthin anders sein, für jeden unterschiedlich, zu jeder Zeit und an jedem Ort. Damit eröffnet das Gedicht aus dem vierten Teil der Niemandsrose, dessen erster Entwurf unter dem Titel Pariser Elegie vom 5. Juni 1962 stammt, einen Möglichkeitsraum, in dem nichts ein- für allemal so sein muss, wie es scheint oder gedacht wird. Auf dem gemeinsamen Weg durch diesen Raum hindurch begegnen wir – denn von einem „ich“ und einem „du“ ist von Anfang an die Rede – bekannten Personen, Orten, Gegenständen, Zitaten und Namen in einem neuen und unerwarteten Zusammenhang: „es ist alles anders“. 

Als erstes treffen wir bei unserem Gang mit dem und durch das Gedicht möglicherweise Friedrich Hölderlin. In einem seiner bekanntesten Gedichte, Hälfte des Lebens (entstanden zwischen 1799 und 1803) – das seine Berühmtheit sicherlich der gedämpften Midlife-Crisis-Stimmung verdankt, die noch der lyrisch unempfindsamste Leser erspüren kann, – ist die Rede von „Fahnen“, die vor „sprachlosen“ Mauern „im Winde klirren“; ein Bild, das frösteln macht in seiner sprachlichen Starrheit. Ähnlich, aber doch anders ist es bei Celan, der zur Zeit der Niederschrift von Es ist alles anders mit 42 Jahren ebenfalls in der „Hälfte des Lebens“ steht: „die Fahne weht noch“, die „kleinen Geheimnisse sind noch bei sich, / sie werfen noch Schatten“. Das Leben ist nicht im Winter erstarrt, die Sprache noch nicht erkaltet und erlahmt, trotz der furchtbaren Erfahrungen des 20. Jahrhunderts im Allgemeinen und Persönlich-Besonderen, die Celan in allen seinen Gedichten immer wieder beschreibt und die ihn wiederholt an den Rand des Verstummens und Erstarrens kommen lassen.   

Gleichwohl: Der Tod ist auch in diesem Gedicht unmittelbar gegenwärtig. Die „Silbermünze“, die die Toten in der antiken Mythologie bei ihrer Reise über die Lethe, den Fluss des Vergessens, in die Unterwelt im Mund tragen, schmilzt jedoch bereits. Die Zunge kann damit weiter sprechen und die Erinnerung bewahren. An dieser Stelle, sei es diesseits oder jenseits der Lethe, wartet ein guter Bekannter Celans auf uns: der russische Dichter Ossip Mandelstam, dem Celan die Niemandsrose gewidmet hat - „der Name Ossip kommt auf dich zu“. Das Gedicht ist nicht nur mit seinem Namen „geschmückt“ (vom „namengeschmückten Lied“ ist in einem Gedicht Mandelstams die Rede, das Celan übersetzt hat: Der Hufeisenfinder) –-, sondern auch mit einem Gegenstand aus dessen russischen Heimat assoziiert, der weißen Birke, betula alba. Mandelstam ist Celan verwandt und vertraut, von seiner Lyrik und seinem persönlichen Schicksal her; so sehr vertraut, dass er mit ihm nach dem Muster dunkel erinnerter Kinderreime Arme, Hände und Namen tauschen kann – dein Gedicht ist mein Gedicht, deine Hand schreibt meine Texte, „du hast / wieder, was dein ist, was sein war“. Das Gedicht ist das „Unterpfand“ dafür, dass in der Sprache die Erinnerung lebt; es weist aber nicht nur einen Weg zurück in die gemeinsame Vergangenheit, sondern dient auch als Garantie für eine mögliche, neu zu entwerfende Zukunft, in der „alles anders“ sein und werden kann. 

Wie aus der Pistole geschossen, nein, wohl besser: wie von einem starken Windstoß angestoßen wechselt das Gedicht an dieser Stelle mit einem einzigen Wort die Richtung: „Windmühlen“ – sind es diejenigen von Don Quijote, der sein Heil in der Dichtung suchte und an der Realität scheiterte? – verschaffen dem Gedicht Bewegung und versetzen es in eine neue Welt, auf andere „Meridiane“ (so die bekannte Formulierung aus Celans Büchner-Preisrede). Bei „Wortschein“, im Leuchten einer Sprache des Möglichen, überwindet es die Grenzen der Länder und der Zeiten, fährt durch venezianische Lagunen wie durch niederländische Grachten. Das Gedicht kann ein trunkenes Schiff ohne Ziel sein (das berühmte Gedicht Le Bateau ivre des französischen Symbolisten Arthur Rimbaud hat Celan ebenfalls übersetzt). Es kann gleichzeitig das Argonautenschiff der griechischen Mythologie sein, aber ohne Galionsfigur: zwar auf der Suche, wie die griechischen Helden, aber nicht nach etwas Bestimmten und Handfesten wie dem goldenen Vlies, sondern auf der Suche nach dem Unbestimmten, nach neuen Möglichkeiten: „am Heck kein Warum, am Bug kein Wohin“. 

Deshalb kann uns das „Widderhorn“ mit einem weiteren Windstoß in neue Räume und Zeiten führen, diesmal in die biblische Vorzeit: Mit dem langgezogenen „Tekiah!“ des Schofars wird das jüdische Neujahr begrüßt; er mahnt zu Buße und Neubeginn. Damit kann erneut „alles anders“ werden: Götter und Menschen haben ihren je eigenen Frieden gefunden und belästigen einander nicht mehr mit falschen Ansprüchen; die Liebe zwischen Männern und Frauen hat wieder in die Betten gefunden, wo sie auch hingehört, wo die Brustknospe von innen nach außen tritt und damit die Zeit des Rückzugs nach innen beendet. Neue „Lebens“-, die gleichzeitig „Herzlinien“ sind, kann jetzt die Hand des Dichters für die Zukunft beschreiben und damit die fleischeslüsternen „Auguren“ arbeitslos machen. 

Oder ist das doch nur ein Märchen? Ist gar nicht wirklich „alles anders“ geworden? Die nächsten Verse beschwören nicht mehr eine mythologische Vorwelt, sondern eine Märchenwelt mit magischen Namen. „Wie heißt es, dein Land / hinterm Berg, hinterm Jahr?“, lautet die Zauberfrage, die Dichter kennen die möglichen Antworten: Es ist das „Wintermärchen“ (sagt Shakespeare), es ist aber auch das „Sommermärchen“ (antwortet Christoph Martin Wieland); und Böhmen liegt am Meer (wird Ingeborg Bachmann wenig später ergänzen). Böhmen ist gleichzeitig das Land, in dem die reale Mutter von Paul Celan für drei magische Jahre Zuflucht in Kriegszeiten fand – ein weiterer wichtiger Knotenpunkt auf den Meridianen der „Herzlinien“. Das Märchenland kann in der Sprache überall hinwandern, sei es in den Sommer oder den Winter, in den Krieg oder in den Frieden. Und nur derjenige findet es, der, wie es bei dem frühen Goethe heißt, „nichts zu suchen“ „im Sinn“ hat; wer ein Argonaut ohne Ziel ist, eine Märchenfigur, die im Vertrauen auf ihr Glück allein die Heimat verlässt und in die weite Welt wandert: „wirf sie weg, wirf sie weg, / dann hast du siewieder“. Die Möglichkeit zum Festhalten erwächst erst aus dem Entschluss zum Loslassen. 

Genauso wandert nun auch ein Kieselstein, von Flüssen getragen, durch die Länder und Möglichkeitsräume zwischen Märchen, Mythos und Realität. Er wird dabei zum Gedenkstein auf Gräbern und erinnert dadurch nicht nur an die Toten, sondern auch an ihr Leben. Kurz taucht er in Prag auf (liegt er möglicherweise auf dem Grab Franz Kafkas?), verschwindet wieder, wird vergessen, aber dann, ganz plötzlich – „Tekiah!“ und „Windmühlen!“ – ist er wieder da: „klein ist er, weiß, / um die Ecke“. Es ist der gleiche Stein, nach dem Ossip Mandelstams erster Gedichtband (Kamen) benannt ist; es könnte aber auch irgendein Stein sein, der überall gleich „um die Ecke“ liegt, sei es im Märchenland Böhmen oder in „Normandie-Njemen“. Das gleichnamige französische Fliegergeschwader kämpfte im zweiten Weltkrieg auf russischer Seite gegen die Nationalsozialisten; Celan sah einen Film über diese legendäre Einheit in der Normandie zur Entstehungszeit des Gedichts. „Normandie-Njemen“ ist damit nicht nur eine Chiffre für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus, sondern verbindet mit zwei Namen (die zudem im gleichen Anlaut ihre heimliche Verwandtschaft demonstrieren) die französische Atlantikküste mit dem weiß-russischen Fluss und zeichnet damit einen weiteren spezifischen Meridian auf. Normandie-Njemen heißt damit ebenso: „es ist alles anders“ - die Steine wandern unterschiedslos durch Flüsse und Meere, und die alten Feinde können möglicherweise auch die neuen Freunde sein. 

Das Gedicht jedoch erreicht nun mit dem Stein ein Ziel, das im dreifachen Zeigegestus kindlich und märchenhaft beschworen wird: „da, da, da“! Überall kann der Stein liegen, „hinterm Haus, vor dem Haus“. Es ist ein weißer Stein, wie die weiße Birke Mandelstams, wie der weißrussische Fluss Njemen. Er ist durchlässig für „Wasser“- wie für „Herzstrahlen“, für die Kanäle und Grachten wie für die Empfindungen des Liebenden. Und dieser weiße Stein weiß schließlich zu sagen: „Heute – es gilt“. In diesem entscheidenden Moment des Bekenntnisses treffen wir nicht nur Mandelstam, sondern auch Hölderlin wieder: „Die Ufer / hängen voll Tag“, wie in seiner Hälfte des Lebens die „gelben Birnen“ und „vollen Rosen“ in den See hängen, einZeichen der Fülle im gegenwärtigen Augenblick. Der Stein hat zu guter Letzt seinen Namen gefunden: „alba“ – das lateinische Wort für „weiß“, der Name der mythologischen Mutterstadt von Rom (alba longa), die Bezeichnung der Morgenröte in der italienischen und spanischen Sprache sowie, davon abgeleitet, die Bezeichnung für das „Taglied“, in dem die mittelalterlichen Troubadoure den Abschied von der Geliebten im Morgengrauen besangen. Nicht zuletzt ist „alba“ ein klangvolles Wort, dessen doppeltes „A“ ebenso im Namen „Mandelstam“ mitklingt wie von fern an die Einleitungsformel gemahnt: „es ist alles anders“. Ein Wort wie „alba“ kann Bedeutungsfülle sprachlich geradezu sinnlich fassbar machen, so wie man einen Stein oder einen anderen bedeutend-unbedeutenden Gegenstand „mit der Hand“ „abtasten“ kann. Es muss dazu jedoch einen langen Weg durch die Zeiten, Räume, Sprachen und Geschichten zurücklegen, der dann durch persönliche Erfahrungen, geliebte Namen, prägnante Schlüsselwörter angereichert wird: Nur so bleibt er nicht irgendein Stein „um die Ecke“, sondern wird auch für „Herzstrahlen“ durchlässig. 

Das jedoch ist ein Weg, den jeder Leser für sich selbst finden muss; das Gedicht fordert ihn im allgegenwärtigen „Du“ dazu auf, seine eigenen magischen Namen, Orte und Erinnerungssteine zu finden, ohne sich diesen Weg von fleischeslüsternen „Auguren“ oder allzu zielstrebigen Galionsfiguren vorzeichnenzu lassen. Böhmen muss nicht in Böhmen liegen, die Windmühlen können auch Segel sein, an die Stelle von Hölderlin mag Rilke treten, das geheime Wort jedoch bleibt ein Geheimnis und wirft seinen schützenden Schatten – „es ist alles anders, als du es dir denkst“! 

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Leichtsinn mit Melancholie gepaart
Variationen über den Leicht-Sinn  

Was ist Leichtsinn? Selten hat ein Wort einen so guten und so schlechten Ruf zugleich gehabt. Im Alltag sprechen wir mit empörter Miene von "bodenlosem Leichtsinn", von "katastrophalem Leichtsinn", von "schändlichem Leichtsinn"; aber auch mit einem kleinen Lächeln von "jugendlichem Leichtsinn", oder mit ein wenig Sehnsucht von "heiterem Leichtsinn". Woher dieser Widerspruch? Was meinen wir also eigentlich, wenn wir von Leichtsinn sprechen? Was ist Leichtsinn? 

Fragen wir, als Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts, zunächst Google. Dort finden sich (zumindest heute, aber das Wissen ist ja bekanntermaßen flüssig in der schönen neuen virtuellen Welt), in eben dieser Reihenfolge, als erstes ein Eintrag mit dem Titel „Schöner Schenken“, die Annonce eines Gartencenters aus Bremen-Huchting; an zweiter Stelle ein Eintrag der Rheingauer Jungwinzer, die ihren „Rheingauer Leichtsinn“, ein Markenprodukt aus ausgesuchten Rieslingweinen, anpreisen. „Leichtsinn“ heißen auch ein Gepäckträger für Fahrräder und eine Sushi-Bar in Bern. Der allfällige Wikipedia-Eintrag rangiert erst an zehnter Stelle und führt ins Nichts, nämlich zu der Mitteilung, dass die Seite nicht existiert, aber man gern aufgerufen ist, diese Lücke zu füllen (offensichtlich war bisher niemand leichtsinnig genug, sich an ein derart schweres Thema zu wagen). 

Leichtsinn scheint heute in erster Linie ein Füllwort des allgegenwärtigen Marketings geworden zu sein, ein Label, das das Gefühl von Freiheit, Jugend und Abenteuer beschwören soll (und wer wollte das nicht?). Aber woher dann die negativen Assoziationen? Forschen wir deshalb etwas weiter in der dunklen Vergangenheit des Begriffs und in respektableren Quellen. Das Grammatisch-Kritische Wörterbuch von Johann Christoph Adelung, der „Brockhaus“ des 18. Jahrhunderts, verzeichnet unter dem Lemma „Leichtsinn“: 

„1) Derjenige Zustand des Gemüthes, da man Dinge aus vorsetzlicher Unterlassung der gehörigen Überlegung geringer schätzet, für unwichtiger hält als sie sind. […] 2) Derjenige Zustand des Gemüthes, da man ohne gegründete Ursache, aus bloßer Willkühr, von einer Vorstellung, oder von einem Grundsatze zum andern übergehet.“ 

Bei Adelung wird der Leichtsinn also wirklich noch ausschließlich negativ verstanden: Er bezeichnet entweder eine Art geistiger Trägheit, eine Unterlassungssünde des Verstandes, der sich keine Rechenschaft über den wahren Wert der Dinge ablegt; oder eine geistige Betätigung, die nicht nach dem rationalen Prinzip von Ursache und Wirkung verfährt, sondern sprunghaft und unverbunden Ideen und Vorstellungen aneinander reiht. Leichtsinn ist demnach, sagen wir es hart, Denkfaulheit und Sprunghaftigkeit. 

Tatsächlich scheint in diesen negativen Bestimmungen aber bereits ein Grund für eine mögliche positive Umwertung des Leichtsinns auf. Denn ist der wahre Wert der Dinge wirklich ein- für allemal festgelegt, in einer unumstürzlichen Skala der ewigen Werte? Kann nicht eine spontane und intuitive Wertschätzung, die berühmte „Bauchentscheidung“ mit ihrer "emotionalen Intelligenz", dann und wann besser am Platze sein als rationales Kalkül? Und ist nicht das assoziative und sprunghafte Denken der Ursprung so mancher im Nachhinein sich als genial herausstellender Idee, auf die man durch systematisches und streng kausal geordnetes Nachgrübeln nie im Leben gekommen wäre? 

Was ist Leichtsinn? Auch die Wörterbücher spiegeln nur die Wandelbarkeit unserer Überzeugungen und die Veränderungen unserer Sprache über die Zeit. Was aber sagen die Dichter? Beginnen wir mit einer einfachen und vertrauten dichterischen Lehrform, mit einer Fabel. Sie ist ebenfalls aus dem 18. Jahrhundert und von einem der berühmtesten deutschen Fabelautoren, nämlich Christian Fürchtegott Gellert (der persönlich, wie sein Name schon sagt, nicht gerade für ausschweifenden Leichtsinn bekannt war, sondern ein sehr sittenstrenges Leben führte): 

Christian Fürchtegott Gellert:  
Der Leichtsinn

 Der Leichtsinn, wie die Fabel sagt,
Die Fabel aus den goldnen Jahren,
Ward von den Menschen einst verjagt,
Weil alle seiner müde waren.
Er floh zum Zeus und bat um Aufenthalt.
Kaum sah Merkur die lustige Gestalt,
So fühlt' er schon die Pflicht, dem Flüchtling  beizuspringen.
»So will dich alle Welt verdringen?
Du dauerst mich. Komm' hüpf auf meine Schwingen!
Ich hoffe dich gut anzubringen.
Komm', Paphos sei dein Aufenthalt!«
Schnell bracht' er ihn zur Venus kleinem Knaben.
»Hier, Gott Cupido«, fing er an,
»Schickt Ihnen Zeus den angenehmsten Mann,
Der schärfer als Sie sehen kann;
Sie sollen ihn zu Ihrem Führer haben.«
Der Leichtsinn trat sein Amt mit Eifer an,
Das Amt, der Liebe vorzutraben,
Und soll, wie die gedachte Fabel spricht,
Von dieser Zeit an seine Pflicht
Sehr selten unterlassen haben. 

Die kleine Fabel verbirgt unter ihrem mythologischen Kostüm einige interessante Aussagen über den Leichtsinn. So kommt er Gellert zufolge aus den „goldenen Jahren“, dem paradiesischen Urzustand der Menschheit, in dem alle in Eintracht mit der Natur lebten, niemand arbeiten musste und Milch und Honig in Strömen flossen. Kaum jedoch hat sich die Menschheit aus dem Paradies verabschiedet und ist erwachsen geworden, muss auch der Leichtsinn um Asyl bitten. Er findet es, vermittelt durch den selbst von Natur aus sprunghaften und leichtsinnigen Götterboten, bei der Göttin der Liebe und ihrem Fußvolk. Dort erfüllt er fortan seine Pflicht, nämlich der eigentlichen Liebe „vorzutraben“, ihr den Weg in die Herzen zu öffnen. Der Leichtsinn wohnt bis heute – der Fabel nach – in allen Frischverliebten. 

Dort allerdings erweist er sich, wie es so seine spontane und auf die Folgen unbedachte Art ist, als treulos. Wenig später heißt es bei Goethe in einem Gedicht namens „Wechsel“: 

Johann Wolfgang Goethe:  
Wechsel

 Auf Kieseln im Bache da lieg ich, wie helle!
Verbreite die Arme der kommenden Welle,
Und buhlerisch drückt sie die sehnende Brust.
Dann führt sie der Leichtsinn im Strome danieder;
Es naht sich die zweite, sie streichelt mich wieder:
So fühl ich die Freuden der wechselnden Lust.
Und doch, und so traurig, verschleifst du vergebens
Die köstlichen Stunden des eilenden Lebens,
Weil dich das geliebteste Mädchen vergißt!
O ruf sie zurücke, die vorigen Zeiten!
Es küßt sich so süße die Lippe der Zweiten,
Als kaum sich die Lippe der Ersten geküßt. 

Die hier geschilderte Erfahrung ist gleichzeitig positiv und eine negativ (was uns ja bereits als besonderes Merkmal des Leichtsinns aufgefallen war): Die zärtliche Berührung einer Welle läuft über den im flachen Wasser auf den Steinen ausgebreitet Daliegenden hinweg, um kurz darauf von der nächsten abgelöst zu werden; im leichtsinnigen Wechsel erfährt er also die Annehmlichkeiten von Bewegung und Ruhe. Diese Erfahrung wird in der zweiten Hälfte, vordergründig etwas platt, auf eine menschliche Liebeserfahrung übertragen. Auf der Negativseite wird nun die allgegenwärtige Vergänglichkeit alles Menschlichen – also auch der Liebe – beschworen. Eine Wendung zum Positiven erscheint jedoch möglich, wenn man die Vergänglichkeit als Merkmal des menschlichen Lebens anerkennt und sich nicht der Traurigkeit überlässt. Dann kann die Erfahrung des Wechsels sogar – mit einigem Leichtsinn – als Steigerung empfunden: „Es küsst sich so süße die Lippe der Zweiten / Als kaum sich die Lippe der Ersten geküsst“. 

Eine etwas leichtsinnige Moral, zweifellos, aber so ist nun mal das "eilende Leben", wenn man es festzuhalten versucht. Versuchen wir trotzdem etwas Halt zu gewinnen und fassen zusammen: Was ist nach alledem nun Leichtsinn? Zweifellos gibt es ein leichtes Fühlen, aber auch ein leichtes Denken; man findet es in der Jugend, in der Liebe und in der Dichtung (also sehr vergänglichen Zuständen per se), aber auch in genialen Einfällen und sprunghaften Gedanken, die plötzlich an einer Stelle eine Abkürzung entdecken, die wir mit den mühsamen Mitteln des Schritt für Schritt zu Fuß gehenden Verstandes niemals gefunden hätten. Und gerechtfertigt ist er, wie alle wirklich wichtigen Eigenschaften des Menschlichen, nur durch sein Gegenteil, die Schwermut; ansonsten bleibt es beim sprichwörtlichen „bodenlosen“, beim „katastrophalen“ Leichtsinn. Paul Heyse, einer der vielen im 19. Jahrhundert sehr bekannten und heute in Vergessenheit geratenen Lyriker, hat das auf die knappe Formel des Epigramms gebracht: 

Leichtsinn mit Melancholie gepaart,
hab an den Besten ich oft gewahrt.  

Wie bei allen Paarungen kommt es aber auch bei dieser darauf an, nicht einfach die Dinge bis zur Unkenntlichkeit zu mischen und dann ihre Einheit zu behaupten. Die wahre Paarung vereint die Vorzüge zweier durchaus unterschiedener oder sogar gegensätzlicher Phänomene bei gleichzeitiger Vermeidung ihrer Fehler. Vom heiteren Leichtsinn übernimmt sie die Sorglosigkeit eines offenen Verhältnisses zur Welt und zur Liebe, nicht aber die Verantwortungslosigkeit seines bodenlosen Bruders; von der melancholischen Schwermut hingegen das Wissen um die Vergeblichkeit und Vergänglichkeit auch des leichtesten Sinnens und Tuens, nicht aber die Hoffnungslosigkeit oder Verzweiflung angesichts dieses Wissens. Das ist eine Kunst, zweifellos, wie so vieles andere, was leichter gesagt als getan ist und trotzdem getan werden sollte.   

 

 

 

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