Minutiae. Archiv
Bilder * Texte * Gedanken


Goethe-Straße 


  • "Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten" - eine Phantasmagorie
     zu Goethes 275. Geburtstag
  • The understory, oder: Goethes 'Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit'
  • Goethe, das Monster. Gegen ein Vorurteil
  • Das Goethe-Wörterbuch stellt sich vor: 

https://www.youtube.com/watch?v=G00q5fgBY1E 

 


 zu Goethes 275. Geburtstag am 28. August 2024

„Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten“ –
eine Phantasmagorie zu Goethes 275. Geburtstag

Wo bin ich nur? Ach, wohin sind nur die Zeiten wo Aufwachen und Aufspringen eins war? „Des Lebens Pulse schlagen frisch lebendig, ätherische  Dämmerung milde zu begrüßen“ –wie höchsterfreulich und herzerquickend wäre das, einmal so aufzuwachen wie mein alter Faust! Bin ich doch schon lange nicht mehr angefrischt erwacht und energisch zu neuen Taten stürmend. Aber ist heute nicht mein Geburtstag? Und da kommt auch schon mein guter John  mit dem Morgenkaffee und einem Berg Post – ja, schweige er, ich weiß, er heißt nicht John, aber was kann er von einem Greis erwarten, der sich und seine Zeit schon so lange überlebt hat? 275 Jahre, um genau zu sein, ich danke ihm recht schön, dass er mich erinnert; heute werde ich denn also genau 275 Jahre alt, es ist wieder einmal der 28. August, nein, sag er das Jahr nicht, es kommt nicht darauf an und erschreckt mich unnötig! Es ist ein schöner Sommertag, wie ich – zugestanden: etwas neblicht und schemenhaft nur – sehe, aber wo bin ich denn eigentlich? Ja gut, lass er die Schokolade hier und schick er mir Eckermann.  Ich weiß, er heißt nicht Eckermann, aber es sind schon so viele Eckermanns gekommen und gegangen, das kommt davon, wenn man 275 wird und nichts Neues unter der Sonne – da ist er ja schon, der Gute, Treu-Ergebene, immer Nützlich-Geschäftige! Ja, danke ihm, mein Lieber, mein Bester! Du kennst mich, du weißt, dass ich all das von Herzen verabscheue, die Glückwünschungen, die Lobeserhebungen, die öffentlichen Zeremonien gar! Nein, ganz für uns bleiben wir auch heute, mein Grund-Guter, Nützlich-Angenehmer, und wir lassen sie reden, da draußen an diesem schönen Sommertag in – wo bin ich, sagst du? Es ist nicht Rom, ich bin mir ganz sicher.

Aber wer hat nun alles gratuliert, wir werden doch schauen und dann später antworten müssen, nicht wahr? Und ich bitte dich sehr, benutze nicht wieder all diese neuen Rätsel- und Flitter-Wörter, Twitter, Facebook und ihresgleichen. Ich weiß wohl, dass ich selbst zu meiner Zeit ein rechter Wortflüsterer war und ein Feind jeder Spracheinseitigkeit. Aber jetzt bin ich ein Greis in der Blüte seiner Greisenheit, und all diese neuen Wörter, die überlassen wir dieser, wie nennst du das noch gleich? Genau, der PR-Abteilung; eine rechte Buchstabenkrämerei ist das. Jaja, alles treffliche und tüchtige Männer, das hast du mir versichert; und ich weiß, es sind auch Frauen dabei, und sie mögen auch sehr tüchtig sein. Jetzt schicke er mir Ottilie;  Ottilie war schon immer eine Tüchtige, nein, lass mich sie bitte Ottilie nennen, heute nur, an meinem 275ten Wiegenfeste; ich weiß schon, dass sie nicht Ottilie heißt!

Aber ich sehe, du hast noch eine kleine Liste vorbereitet; das ist schön von dir, mein Tüchtig-Praktischer. Listen, Verzeichnisse, Aufstellungen, Schemata: Daran hatte ich schon immer ein Wohlgefallen, das ist dem Denken förderlich, der Gründlichkeit zuträglich und der Ordnung wohldienlich. Gekrönte Häupter sind dabei, sagst du? Das freut und ehrt mich besonders, ich kann und mag es nicht leugnen. Ich weiß, sie sind allesamt abgesetzt heute, die Revolutionäre und Revolutionisten haben gewonnen. Aber ich weiß immer noch ein gekröntes Haupt wohl- und wert zu schätzen, auch wenn sie nicht alle wie mein Carl August sind! Und alle Staatsmänner von einiger Bedeutsamkeit im Weltlichen haben geschrieben, so, so; aber es ist doch niemals wieder ein Napoleon gekommen! Napoleon, das war ein Mann; und das nicht, weil er meinen Werther kannte und meinte, ihn kritisieren zu müssen, wie noch jede Rezensentenseele. Nein, weil er ein Mensch war, ein ganzer, voller Mensch, und ein Weltenherrscher! Seinen Geburtstag hatte ich immer in meinem Tagebuch notiert, genauso wie die meiner Fürsten und aller europäischen gekrönten Häupter, die mich damals mit ihrer Gunst beehrten! Und was habe ich nicht Geburtstagsgedichte für sie geschrieben, Aufführungen angeleitet, ganze Festzüge organisiert zu ihren Ehren! Vor lauter Geborenheiten wußte man so manches Mal kaum noch zu leben! Aber ich will nicht klagen, was wäre der Dichter ohne Gelegenheiten?

Aber zurück zu deiner Liste, du willst fertig werden, das sehe ich gern, pünktlich, zügig, tüchtig! Also, gekrönte Häupter, Staatsmänner, dazu Zelebritäten, Berühmtheiten – wie sagt man dazu heute noch? Genau, Stars, es sind aber doch wohl häufig eher Sternchen oder allenfalls dann und wann mal ein schnell verglühender Meteor; ich bitte ihn sehr, verschone er mich! Sind nicht ein paar tätige und fleißige Unternehmer dabei? Gar nichts von – wie war nur der befremdlich-anmutige Name: Elon? Er amüsiert mich mit seinen Flegeleien, er hat einen gewissen mephistophelischen Blick! Hat er mir nicht neulich noch versprochen, eine Art Homunculus für mich zu bauen? Aber er ist ein Projektmacher und Versprecher, wie alle Teufel.

So, lass mich zum Schluss noch fragen: Wie steht es mit den Wissenschaftlern? Nein, schone er mich nicht; ich weiß, dass sie meine Farbenlehre immer noch verachten. Aber sie ist nicht vergessen, das weiß ich wohl, noch neulich hat mir einer ein dickes Buch gesandt, der immerhin ein wenig verstanden hat, dass ich nur die Finsternis habe zu ihrem uralten Recht und Wert habe kommen lassen, die Newton so schmählich unterschlagen hat in seiner blinden Huldigung des Lichts! Mit Helmholtz konnte man immerhin kundig reden. Und Heisenberg, was für ein Genie! Und er hat mich studiert, regelrecht und gründlich, sogar die Farbenlehre, meinen armen Liebling!  Aber sie sind dahin. Nun, die üblichen Glückwünsche von den großen Forschungsinstituten und internationalen Akademien, das ist löblich. Es gibt jetzt sogar ein Goethe-Wörterbuch sagst du, es sei gerade pünktlich zu meinem Geburtstags fertiggeworden? Wenn einem Autor ein Lexikon nachkommen kann, taugt man nichts, so sagt man doch, oder? Es mag etwas Wahres daran sein.

Aber ich bitte sehr, mein guter, mein bester, mein nur allzu wohlwollender Eckermann: spreche er mir nicht von Autorenkollegen! Leider ist auch der schon lang dahin, der mich so gut kannte, der Bürger aus Lübeck, der Seelenverwandte und Geistesgenosse; meine Lotte ließ er so ironisch wieder auferstehen, dass es eine reine Freude war – wenn er auch etwas undelikat mit mir umging, um ehrlich zu sein…  Aber er war einer der wenigen, dessen Brust wahrlich weit genug war für zwei Seelen! Nein, seitdem kam keiner mehr mir nahe. Sprich mir doch lieber von den Frauen! Mehr als genug Frauen hätten gratuliert, sagst du? Wenn ich mich doch nur an sie gewöhnen könnte, diese neuen Frauenzimmer mit ihren Ideen von Frauenrecht und Frauenzimmertalent. Wo sind die schönen Hüte geblieben, die man früher trug, oder die Schleifen, die entzückenden blassrosa Schleifen an einer jungen Brust? Und wenn sie alle Helena wären, ist das trotzdem kein Grund, jeden Tag fast nackend zu gehen. Und sie damals, die einzig-Eine, meine Schöne-Gute, Allerliebste, meine Charlotte  – nicht einmal habe ich sie unziemlich gekleidet gesehen, im Gegenteil! Oder wenn ich noch einmal die niedliche Ulrike  sehen könnte, in ihrem weißen knöchellangen Kleid mit dem Schultertuch und den Löckchen; ich wollte mich noch einmal verlieben wie mein Werther! Glaubt er etwa nicht, dass ich das könnte? „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten“ – nein, genug für heute. Ja, die Geschenke und Auszeichnungen, mache er noch eine Liste, bitte wohlgeordnet, du weißt schon, wie ich sie mag!

Nun schicke er doch endlich Ottilie her, mit den Enkeln. Ich will mich derweil ein wenig mit meinen Lebenserinnerungen vergnügen. Bemerklich und nicht wenig bedenklich will mir scheinen, wie wenige meiner Geburtstage für mein Leben eigentlich Epoche gemacht haben. Italien immerhin, das war ein einziges großes Geburtstagsgeschenk an mich selbst; direkt nach meinem Geburtstag war ich geflohen aus dem krummengen Weimar, und ich hatte nur meine Werke dabei, meine fragmentarischen Kinder, die sehr ob ihrer Vernachlässigung klagten! Wie froh war ich, dass ich weg war! Zwei Jahre lang währte das Fest, und es war, um mich selbst zu zitieren: eine wahre Wiedergeburt. Und danach kam Schiller, nie werde ich es vergessen, und wenn ich tausend Jahre währte, ihn und das glückliche Ereignis unseres Freundschaftsbundes: Er, der immer Produktiv-Fruchtreiche, schenkte mir einen Geburtstagsbrief, in dem er die Summe meiner Existenz zog; und siehe da, sie war gut gewesen! Was haben wir gelacht, als wir die „Xenien“ machten, und was habe ich ihn – nein, bis heute geht es mir nah und nach.

Gedenken wir doch lieber der pompösen Geburtstagstorte, die sie mir damals bei Hofe zugedacht hatten, es muss kurz nach meinem Halbhundertsten gewesen ein! Ich sehe es noch wie heute, wie der steife Haushofmeister mit der Riesentorte hereinkam, in voller Livree und mit großem Gefolge, ein Halbhundert Wachskerzen flackerten darauf, aber sie zerliefen viel zu schnell und drohten sich gar gegenseitig zu verzehren; bei jedem Kindergeburtstag wäre das besser geraten! Wo bleiben nur die Enkel, meine immer heiteren und lieb-anmutigen Kindeskinder? Für sie hatte ich immer Geschenke, Süßigkeiten zu Weihnachten und an ihren Wiegenfesten, vor allem für Walter, meinen Liebling. Ab einem gewissen Alter bekommt man dann nur noch ehr- und schauwürdige Geschenke; Orden zum Beispiel, ich erinnere mich immerhin recht gern, wie mir der bayerische König das Großkreuz am Geburtstag persönlich überbrachte! Aber meine Frankfurter Reichsbürger, sie wussten doch am besten, wie sie einen alten Mann erfreuen können: mit einem Silberpokal aus der Heimatstadt und vor allem dem ergötzlichen und gehaltvollen Inhalt dazu!

Ist das ein Vivat da draußen, oder nur der veloziferische Lärm irgendeines dieser neuen Maschinenapparate? Und wo bin ich? Nicht in Weimar, ganz gewiss nicht. Weimar bin ich eigentlich immer geflohen, als meine jährlichen Geborenheiten immer mehr zu öffentlichen Angelegenheiten wurden; ich habe sie feiern lassen und anschließend mir rapportieren lassen von meinem braven Eckermann. Er hat treulich berichtet, wie sich mich anderswo geehrt, gefeiert, gewürdigt haben; wo sie angestoßen haben, welche Reden sie gehalten haben, welche meiner Stücke aufgeführt und Gedichte rezitiert wurden, wo sie Medaillen geprägt und Porträts enthüllt haben. Ehrenvoll das meiste davon, höchst würdig und auch wohlverdient, bescheiden bin ich nie gewesen; aber doch gleichzeitig peinlich und unersprießlich. Bemerklich – und wohl auch bedenklich – will es mir daher scheinen, dass auch in meinen Romanen Geburtstage eigentlich immer höchst fatal geraten. Werther, wie er Lottes Schleifen erhält, das ist nun kein Bild, bei dem einem wohl wird und man die Gläser heben möchte. Oder in den Wahlverwandtschaften, wo jeder Geburtstag in einer Katastrophe endet! Und immer, weil sie ihn erzwingen wollen, den höchsten Lebens-Moment, den Augenblick beschwören wollen, er möge doch bleiben – als ob man so etwas erzwingen könnte von seinem Dämon! Unglückliche Übereilungen, unmäßige Zuspitzungen, immer übel geratene Übertreibungen – nein, man resigniere sich, auch und vor allem an seinem Geburtstag! „Wie froh bin ich, daß ich weg bin!“, selten habe ich einen so wahren Satz geschrieben, auch und gerade für Geburtstage!
Deshalb war ich auch damals an meinem letzten Geburtstag geflohen – aber warum denke ich eigentlich, dass es mein letzter war? In den Thüringer Wald war ich geflohen, ins gute alte Ilmenau. Und dann, es war wohl am Vorabend, habe ich die alte Hütte am Gickelhahn noch ein letztes Mal besucht – aber warum sollte es eigentlich das letzte Mal gewesen sein, woher kommt mir das seltsame Gefühl? Und da standen doch tatsächlich die Verse noch, die ich vor einem ganzen Menschenalter ins weiche Holz eingeritzt hatte, ahnungsvoll und weitausschauend als junger Mensch schon – und sagen wir es uns ruhig, es hört ja niemand zu, und ich bin nicht bescheiden: unübertrefflich in ihrer Schlichtheit und Endgültigkeit:

Über allen Gipfeln ist Ruh,
In allen Wipfeln spürest du
Kaum einen Hauch.
Es schweigen die Vöglein im Walde;
Warte nur balde
Ruhest du auch.

Da kommen mir doch tatsächlich wieder die Tränen! Immerhin, dazu bist du noch fähig, schwachmütiger Greis, wenn sonst schon nichts mehr so recht fließen will! Bin ich etwa noch am Gickelhahn? Nein, es ist nicht ruhig, es riecht auch nicht nach Wald. „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten“ – kurz bevor ich auf dem Gickelhahn stand zwischen den schweigenden Wipfeln, hatte ich mir auch noch einmal selbst ein Geburtstagsgeschenk gemacht; hatte noch einmal eine Summe meiner Existenz gezogen. Ich hatte mir nämlich in den schon ziemlich müdseligen Kopf gesetzt, den zweiten Teil meines Faust fertigzumachen, noch vor meinem – aber warum nun wieder letzten? – Geburtstag; und es war mir über alles Erwarten gelungen. Und dann habe ich das mächtig angeschwollene Manuskript sorgfältig zugeschnürt und es weggesperrt. Denn für dieses Geschenk war die Zeit nicht reif gewesen. Und ist sie es heute etwa? Aber sie haben es natürlich aufgeschnürt, sie können ja kein Geheimnis mehr dulden, diese unduldsamen Modernen, alles muss nackt sein, überdeutlich und allerhöchstens leichtbedeutend! Menschenverständlich sein, das wollte ich. Einfach und wahr, wie alles Wahre einfach ist. Bin selbst niemals einfach gewesen, allerdings. Bin ein Kollektivwesen gewesen, ein Vieles; bin Werther und Albert gewesen, Tasso und Antonio, Werner und Wilhelm, Faust und Mephisto, – bin sogar Mignon gewesen, und wie alle ihre lieben, leichten Verwandten heißen bis hin zum leicht verführbaren Gretchen! Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten – bin ich vielleicht gerade mit Makarien im All unterwegs und ziehe meine Bahn zwischen Sternen, ein Wanderer und Waller im Universum?

Genug grillisiert, Greis! Im Alter wird man plauderhaft mit sich selbst. Wo bleibt nur Ottilie mit den Enkeln? Ach, da ist ja mein Eckermann wieder. Was will er denn mit diesem Kasten, diesem Maschinenapparat, er weiß doch, dass ich so etwas nicht sehen mag in meiner Kammer! Es ist ein Homunculus, sagt er? Den mir Elon geschickt hat, zu meinem heutigen Geburtstag? Ein Männlein sitze in diesem Kasten, sagt er, und spreche mit meiner Stimme? Er kenne nicht nur all meine Werke und alle meine Schriften, sondern auch all das, was jemals darüber geschrieben und veröffentlicht wurde? Und er wisse nicht nur, was ich geschrieben und gedacht habe, sondern er spreche und denke auch genauso wie ich? Er könne, mit etwas Übung nur, notfalls sogar einen Faust schreiben und eine Farbenlehre? Aber, mein guter Eckermann, mein guter, allerbester, tüchtiger und immer wohlmeinender Eckermann: Wozu brauche ich denn ein Doppelgebild meiner selbst? Sage er meinem Freund Elon – falls er ihn an diesen Maschinenapparat bekommt, mit dem man über große Entfernungen hinweg miteinander sprechen kann, so als wäre man in einem Raum oder wenigstens nebenan –, sage er ihm also: Ich danke ihm recht schön für den Maschinenapparat, aber: Das bessere Geschenk wäre es doch gewesen, wenn er mir mein Gegenstück geschenkt hätte – meine komplementäre andere Hälfte, all das, was ich nie war und nie sein werde, und wenn ich noch Abertausende von Jahre in meiner Greisenheit verharrte! Du verstehst nicht, runzelst die Stirne, willst mir gar widerreden? Ach, Heisenberg hätte gewusst, was ich meine!

Wo bin ich nur hingeraten! Doch nicht etwa zu den Müttern unten, den Ungekannten, Ungenannten und ihrem glühenden Dreifuß? Es wird mir so dunkel vor Augen! Nehme er doch den Maschinenapparat hinweg, sein Funkeln will mir gar unheimlich erscheinen! Und, bevor er geht, noch eine Bitte: Etwas mehr Licht!

[Aus dem Kasten ertönt eine Stimme, sie gleicht derjenigen Goethes in seinen besten Jahren:

Des Lebens Pulse schlagen frisch lebendig,
Ätherische Dämmerung milde zu begrüßen;
Du, Erde, warst auch diese Nacht beständig
Und atmest neu erquickt zu meinen Füßen,
Beginnest schon, mit Lust mich zu umgeben,
Du regst und rührst ein kräftiges Beschließen,
Zum höchsten Dasein immerfort zu streben.]


The understory, oder:

Goethes 'Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit'

Je älter man wird, desto weniger Freunde hat man. Das ist traurig, aber wahrscheinlich nicht zu vermeiden. Denn die einzig wahren Freunde, das merkt man nach und nach, sind die Kindheitsfreunde. Sie allein kennen das Wurzelgeflecht unserer Existenz. Ihnen muss man nichts vormachen, und ihnen kann man nichts vormachen. Es müssen gar nicht schöne gemeinsame Erinnerungen sein; nein, es reicht, dass man gemeinsam da war. Dass man das gleiche Kindheitshaus gesehen hat, den Kindheitsgarten, die gemeinsamen Schulen, die gemeinsamen Kindheitsfreunde. Die Eltern des Anderen natürlich auch; wie soll man jemand verstehen, wenn man seine Eltern nicht mehr kennenlernen kann? Das gilt in gewisser Weise sogar für die eigenen Eltern. Selbst, wenn man sich entfremdet hat, wenn man sich noch nie besonders nahe war, wenn das Alter der Eltern mit seinen Problemen die Beziehung vollständig umgegraben hat – die Eltern sind diejenigen, die von Anfang an dabei waren. Vielleicht haben sie einen nie verstanden, das ist schon möglich, aber sie waren dabei, und auch sie sind nun schon lang tot, und von der Oma hat man nur noch einen weißen Schatten mit Dutt im Kopf. Und auch die Kindheitsfreunde werden weniger, sie verlieren sich, durch den Zufall, durch ein ungewolltes Zerwürfnis, durch den Tod. Natürlich kann man neue Freundschaften schließen, aber die meisten werden nicht herabreichen zu den eigenen Wurzeln, die man selbst ja kaum erreichen kann. Das Zweitbeste ist noch, sich wenigstens lange zu kennen, wie es einem manchmal mit Kollegen geht. Man hat gar nicht so viel miteinander zu tun, aber man sitzt nebeneinander, jahrelang, und schwätzt dies und das; und am Ende, so sagen die Engländer: He has grown on me. Man hat sich nicht nur aneinander gewöhnt, sondern man ist irgendwie – zusammengewachsen, es muss nicht an den ganz tiefen Wurzeln sein, aber trotzdem: Es ist etwas gewachsen.

Vielleicht gibt es deshalb auch eine besonders enge Verbindung zu den direkten Generationsgenossen: Man teilt nicht nur das gleiche Geburtsjahr, sondern eine Art kulturelle understory; die gleichen Songs, die gleichen Katastrophen, die gleichen Politiker, all das, von dem man sich nicht aussuchen kann, dass es einen prägt, es tut es aber trotzdem. Es ist ein Milieu, und jedes Wachstum ist geprägt durch seine Umwelt, die es selbst dann wieder prägt. Goethe, dessen allergrößtes Genie wohl seine Empfänglichkeit für alles und jedes war, insofern er es irgendwie produktiv aneignen und verarbeiten konnte (weshalb die Mathematik und die Philosophie in einem schulmäßigen Sinn nie zu ihm sprachen); Goethe, der ganz sicher ein soziales Genie war, obwohl man ihn später als „kalt“ verschrie, er konnte jedoch sein Leben lang gut mit Kindern umgehen, war der Herzensvertraute vieler Frauen, der lebenslange treue Freund wirklicher Geistesgefährten, und er fand in Schiller die große Liebe seines Lebens; Goethe, für den die Natur Alles war und der sie deshalb kennenlernen wollte in ihren feinsten Verästelungen und ihren fernsten Mitteilungen; Goethe also hat immer wieder betont, wieviel er seinem Zeitalter verdanke. Und er hat, ab einem gewissen Alter, darunter gelitten, wie sehr ihn das neue Zeitalter nicht mehr verstand; er war out of sync geraten, und das ist für jemand, der so sehr mitschwingt mit allem Neuen und Unerwartetem, die schwerste Strafe (es lag aber nicht an Goethe, sondern an der manchmal sehr dummen und einseitigen Zeit, einem eher trocken-unfruchtbaren Milieu).

Das Wurzelgeflecht seiner Existenz hat Goethe in einem Text dargelegt, der den endlos missverstandenen Titel trägt: Dichtung und Wahrheit. Schon dass der eigentliche Titel vollständig lautet: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, wird nur noch wenig erwähnt. Nein, Dichtung und Wahrheit hat es zur Berühmtheit als die Autobiographie-Formel schlechthin gebracht, weil man dachte, es bedeute, dass jemand sein eigenes Leben zu Dichtung gemacht habe; und zwar in einem durchaus romantischen Sinne, der immer unterstellt, dass die Dichtung das wahre, das eigentliche Leben sei, dass man nur im Phantastischen und Ausgedachten leben könne und dass das reale, das gelebte, das erlebte Leben – nur eine blasse Vorlage sei, zufällig, zusammengestückelt, von der Biederkeit des Realen infiltriert sogar bei den Ganz Großen. Nebenbei wird auch unterstellt, dass die Wahrheit ohne die Dichtung sozusagen nicht lebensfähig sei. Untrennbar vermischt treten beide auf, aber der Romantiker scheidet nur die Dichtung davon ab, das reine Gold, den Stein der Weisen; das Leben fällt zurück und bleibt Schlacke. Eine solche Dichtung aber wurzelt nicht mehr im Leben; sie bildet allenfalls Luftwurzeln im Unendlichen. (Und selbst Luftwurzeln, das hat auch Goethe beobachtet und beschrieben, kehren meist wieder zur Erde zurück).

Goethe aber, ich bin mir so sicher, wie man sich bei Goethe nur sicher sein kann, meinte es gerade andersherum. In der Beschreibung seiner Kinder- und Jugendjahre skizziert er mit einer erstaunlichen Frische und Detailverliebtheit des Gedächtnisses Orte, Erlebnisse und vor allem Menschen in Hülle und Fülle (Hülle und Fülle: ein Synonym für Natur?). Ein Porträt reiht sich an das andere, jedes ist liebevoll ausgemalt mit besonderen Charakterzügen, der Grundton ist der einer tiefen Dankbarkeit: All diese Menschen durfte ich kennenlernen, all diese Menschen haben mich geprägt; seht doch nur, es ist eine ganze botanische Sammlung von Menschentypen und -charakteren! Und während man noch überlegt, ob es möglich sein kann, dass Goethe wirklich so eine Fülle von Charakter-Prunkstücken, man könnte auch sagen: exemplarischen Individuen kennengelernt hatte, springt einen der Verdacht an, dass es genau anders herum ist. Es waren ganz normale Menschen, manche vielleicht etwas außergewöhnlicher als andere, aber Menschen, wie sie eben so kommen. Goethe aber hat Dichtung aus ihnen gemacht, nicht indem er sie nach dem romantischen Modell mit erfundenen, idealisierten Eigenschaften ausstattete, sondern indem jeden von ihnen zu dem machte, was er maximal, bei einer vollwertigen Entfaltung der in ihm angelegten Keime und einem günstigen Milieu, hätte im Leben aus sich selbst machen können. Goethe macht aus Leben Dichtung, indem er es wahrer macht, exemplarischer, konsequenter, und gerade nicht ausgedachter, fiktionaler, märchenhafter. Er sieht im Leben die Wahrheit durchschimmern, und als Dichter bringt er sie zur Entfaltung. Sieht man den Unterschied? Die Romantiker machen aus Menschen Helden oder Spießbürger, dazwischen gibt es nicht viel, und einer lebt auf Kosten des anderen. Goethe macht aus Menschen Charaktere, die tief im Leben wurzeln.

In Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit hat Goethe auch sein persönliches Wurzelgeflecht so weit offengelegt, wie man das nur kann (wer noch tiefer will, so hat er es in Faust II angedeutet, muss zu den Müttern gehen, und das ist ein Weg, der jenseits der Worte liegt). Es ist seine persönliche understory, und deshalb hat er den Text auch mit Recht „Bruchstücke einer großen Confession“ genannt. Bruchstücke: Niemandem ist sein gesamtes Leben, die gesamte understory, als Ganzes zugänglich; gerade die tiefsten Wurzeln sind jenseits der Reflexion, die immer nur auf die sich darüber wölbende overstory schaut, die Geschichte, die sich unser Gehirn gern von sich selbst erzählt und in der es immer gut dasteht und ganz. Im Falle Goethes sind es allerdings Berge von Bruchstücken, sozusagen, aus den verschiedensten Steinbrüchen gewonnen und den verschiedensten Persönlichkeitsschichten abgelagert. Goethe grows on you, weil man nach Jahrzehnten der Lektüre wirklich meint, ihn so gut zu kennen, wie man jemand kennen kann, den man nie gesehen hat (von seiner Kindheit und seinen Eltern ganz zu schweigen). Es sind aber auch Bruchstücke einer „großen Confession“; und auch hier muss man sich vor allzu leichten Missverständnissen hüten. Goethe war nichts weniger als katholisch und nichts mehr als zutiefst religiös; seine Ehrfurcht vor der Natur war unendlich, und seine Fähigkeit zur Dankbarkeit tief in ihm verwurzelt. Konfession, das ist für ihn: Zeugnis ablegen von dem eigenen Leben, insofern es produktiven Wert hat, und das heißt: für andere Anstoß werden kann, wiederum selbst produktiv zu werden. Sonst müsste man nicht davon sprechen. Nichts lag ihm ferner als Subjektivität, die romantisch eingefärbte Eitelkeit des modernen Ich auf seine vermeintliche Einzigkeit. Goethe wollte nicht von sich selbst sprechen, weil er so besonders war, sondern er musste von sich selbst sprechen, weil er exemplarisch war. Seine overstory war, dass er sich als Teil der Natur verstand. Wenn der Mensch jedoch meint, die Natur beherrschen zu können, wird er enden wie Faust: blind vor lauter Hybris, ein gescheiterter Greis, ein Geschöpf, das nur Luftwurzeln gebildet hat (dass er, ganz am Ende trotzdem gerettet wird, ist von einer derart menschenfreundlichen Ironie, dass man davon nur noch verstummen kann).


Goethe, das Monster. Gegen ein Vorurteil

Goethe ging nicht zu Schillers Begräbnis, er war krank. Er ging auch nicht zum Begräbnis seiner langjährigen Lebensgefährtin und späteren Ehefrau, Christiane, die unter unsäglichen Schmerzen ihrem Nierenleiden erlegen war. Sein einziger Sohn, August (die anderen Kinder waren Fehlgeburten, mehrere an der Zahl, es war eine seltene Rhesus-Unverträglichkeit zwischen Goethe und Christiane, aber das konnte damals niemand wissen, und die Leiden der Mutter werden auch hier unsäglich gewesen sein), starb fern von ihm in Rom. Aber Goethe war kein Monster, nicht der unnahbare Olympier mit dem kalten Götterblick, zu dem ihn die verängstigten Zeitgenossen gemacht hatten; noch nicht einmal die Freundschaft mit Schiller wollten sie ihm gönnen, es konnte nicht sein, dass er, der Größte der Lebenden, auch noch den besten Freund haben sollt; er musste kleingemacht werden, koste es was es wolle, also war er ein schlechter Freund und ein schlechter Ehemann und ein Monster. Aber Goethe trug nicht nur schwer an seiner unzweifelhaften Größe; er trug noch schwerer an seinem im wörtlichen Sinne mit-leidendem Herzen. Denn Goethe war, und das hat er allen verborgen und nur in seine Werke eingeschrieben, hoch emphatisch, vielleicht war er sogar der Emphatischste von allen. Er konnte mit allem fühlen, mit dem kleinsten und dem größten, mit Männern und Frauen, ja sogar mit Tieren und der unbelebten Natur; und sein Ausruf angesichts einer Seeschnecke am Lido von Venedig, „wie abgemessen zu seinem Zustand, wie seiend, wie wahr!“ war die reinste Wahrheit, ein Eindruck unmittelbarsten Gefühls wie fortgeschrittenster Erkenntnis (eine Idee, hätte Schiller gesagt, und Goethe hätte erwidert: Nein, eine Erfahrung, und tatsächlich war es das eine wie das andere und das eine durch das andere, aber das konnte niemand außer den beiden verstehen). Denn Goethe interessierte sich, lange bevor das „Interesse“ (Teilnahme, wörtlich gelesen) zu einem Stempel des Unverbindlich-Belanglosen geworden war, für alles, von Kind an; und dass jedes neu entdeckte Interesse ein verwandtes, aber doch wieder ein wenig anderes nach sich zog, von dem man aus Beziehungen spinnen konnte zu wieder anderen interessanten Dingen, von der Dichtung zur Mineralogie, von der Botanik zur Farbenlehre, von der Farbenlehre zu den bildenden Künsten (nur der Philosophie und der Mathematik hat er sich verweigert, der Große – das war nun wirklich zu viel Idee und zu wenig Erfahrung, zumindest für einen Uneingeweihten). Und zwischendurch ging es, von all dem, immer wieder zurück zur Dichtung, aber das war Goethe nicht das Wichtigste; er war alles, aber kein Literat oder Intellektueller gar. Und so wanderte er durch sein Leben und seine Zeit, wie sein Romanheld Wilhelm, der vom 18. ins 19. Jahrhundert stolpert, mit all der neuen teuflischen Velocität und Industrie; oder gar wie sein Faust, für den Raum und Zeit nur noch vage gültige Kategorien sind im Angesicht der Ewigkeit. Aber auch diese immer noch zunehmende Größe hatte ihren Preis: Es war die Einsamkeit, zumal nach Schillers, des Einzigen, Tod, und wenn er sich seiner Trauer überlassen hätte, er hätte nicht mehr leben können – wie sein Werther, den er statt seiner umbrachte, als er jung war, ein literarisches Menschenopfer, wenn es jemals eines gegeben hat. Aber Goethe selbst war nicht empfindsam, wie die Zeitgenossen den Giganten gern gesehen hätten, er protzte nicht mit seinen Gefühlen und Tränen. Er war empfindlich, und nur wer wahrhaft empfindlich ist, der kann sich für alles wahrhaft interessieren; und nur, wer alles mitempfunden hat bis zum bitteren Ende, der kann es lebendig gestalten.

Zuhause