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Goethe-Straße 



The understory, oder: 

Goethes 'Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit'

Je älter man wird, desto weniger Freunde hat man. Das ist traurig, aber wahrscheinlich nicht zu vermeiden. Denn die einzig wahren Freunde, das merkt man nach und nach, sind die Kindheitsfreunde. Sie allein kennen das Wurzelgeflecht unserer Existenz. Ihnen muss man nichts vormachen, und ihnen kann man nichts vormachen. Es müssen gar nicht schöne gemeinsame Erinnerungen sein; nein, es reicht, dass man gemeinsam da war. Dass man das gleiche Kindheitshaus gesehen hat, den Kindheitsgarten, die gemeinsamen Schulen, die gemeinsamen Kindheitsfreunde. Die Eltern des Anderen natürlich auch; wie soll man jemand verstehen, wenn man seine Eltern nicht mehr kennenlernen kann? Das gilt in gewisser Weise sogar für die eigenen Eltern. Selbst, wenn man sich entfremdet hat, wenn man sich noch nie besonders nahe war, wenn das Alter der Eltern mit seinen Problemen die Beziehung vollständig umgegraben hat – die Eltern sind diejenigen, die von Anfang an dabei waren. Vielleicht haben sie einen nie verstanden, das ist schon möglich, aber sie waren dabei, und auch sie sind nun schon lang tot, und von der Oma hat man nur noch einen weißen Schatten mit Dutt im Kopf. Und auch die Kindheitsfreunde werden weniger, sie verlieren sich, durch den Zufall, durch ein ungewolltes Zerwürfnis, durch den Tod. Natürlich kann man neue Freundschaften schließen, aber die meisten werden nicht herabreichen zu den eigenen Wurzeln, die man selbst ja kaum erreichen kann. Das Zweitbeste ist noch, sich wenigstens lange zu kennen, wie es einem manchmal mit Kollegen geht. Man hat gar nicht so viel miteinander zu tun, aber man sitzt nebeneinander, jahrelang, und schwätzt dies und das; und am Ende, so sagen die Engländer: He has grown on me. Man hat sich nicht nur aneinander gewöhnt, sondern man ist irgendwie – zusammengewachsen, es muss nicht an den ganz tiefen Wurzeln sein, aber trotzdem: Es ist etwas gewachsen.

Vielleicht gibt es deshalb auch eine besonders enge Verbindung zu den direkten Generationsgenossen: Man teilt nicht nur das gleiche Geburtsjahr, sondern eine Art kulturelle understory; die gleichen Songs, die gleichen Katastrophen, die gleichen Politiker, all das, von dem man sich nicht aussuchen kann, dass es einen prägt, es tut es aber trotzdem. Es ist ein Milieu, und jedes Wachstum ist geprägt durch seine Umwelt, die es selbst dann wieder prägt. Goethe, dessen allergrößtes Genie wohl seine Empfänglichkeit für alles und jedes war, insofern er es irgendwie produktiv aneignen und verarbeiten konnte (weshalb die Mathematik und die Philosophie in einem schulmäßigen Sinn nie zu ihm sprachen); Goethe, der ganz sicher ein soziales Genie war, obwohl man ihn später als „kalt“ verschrie, er konnte jedoch sein Leben lang gut mit Kindern umgehen, war der Herzensvertraute vieler Frauen, der lebenslange treue Freund wirklicher Geistesgefährten, und er fand in Schiller die große Liebe seines Lebens; Goethe, für den die Natur Alles war und der sie deshalb kennenlernen wollte in ihren feinsten Verästelungen und ihren fernsten Mitteilungen; Goethe also hat immer wieder betont, wieviel er seinem Zeitalter verdanke. Und er hat, ab einem gewissen Alter, darunter gelitten, wie sehr ihn das neue Zeitalter nicht mehr verstand; er war out of sync geraten, und das ist für jemand, der so sehr mitschwingt mit allem Neuen und Unerwartetem, die schwerste Strafe (es lag aber nicht an Goethe, sondern an der manchmal sehr dummen und einseitigen Zeit, einem eher trocken-unfruchtbaren Milieu).

Das Wurzelgeflecht seiner Existenz hat Goethe in einem Text dargelegt, der den endlos missverstandenen Titel trägt: Dichtung und Wahrheit. Schon dass der eigentliche Titel vollständig lautet: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, wird nur noch wenig erwähnt. Nein, Dichtung und Wahrheit hat es zur Berühmtheit als die Autobiographie-Formel schlechthin gebracht, weil man dachte, es bedeute, dass jemand sein eigenes Leben zu Dichtung gemacht habe; und zwar in einem durchaus romantischen Sinne, der immer unterstellt, dass die Dichtung das wahre, das eigentliche Leben sei, dass man nur im Phantastischen und Ausgedachten leben könne und dass das reale, das gelebte, das erlebte Leben – nur eine blasse Vorlage sei, zufällig, zusammengestückelt, von der Biederkeit des Realen infiltriert sogar bei den Ganz Großen. Nebenbei wird auch unterstellt, dass die Wahrheit ohne die Dichtung sozusagen nicht lebensfähig sei. Untrennbar vermischt treten beide auf, aber der Romantiker scheidet nur die Dichtung davon ab, das reine Gold, den Stein der Weisen; das Leben fällt zurück und bleibt Schlacke. Eine solche Dichtung aber wurzelt nicht mehr im Leben; sie bildet allenfalls Luftwurzeln im Unendlichen. (Und selbst Luftwurzeln, das hat auch Goethe beobachtet und beschrieben, kehren meist wieder zur Erde zurück).

Goethe aber, ich bin mir so sicher, wie man sich bei Goethe nur sicher sein kann, meinte es gerade andersherum. In der Beschreibung seiner Kinder- und Jugendjahre skizziert er mit einer erstaunlichen Frische und Detailverliebtheit des Gedächtnisses Orte, Erlebnisse und vor allem Menschen in Hülle und Fülle (Hülle und Fülle: ein Synonym für Natur?). Ein Porträt reiht sich an das andere, jedes ist liebevoll ausgemalt mit besonderen Charakterzügen, der Grundton ist der einer tiefen Dankbarkeit: All diese Menschen durfte ich kennenlernen, all diese Menschen haben mich geprägt; seht doch nur, es ist eine ganze botanische Sammlung von Menschentypen und -charakteren! Und während man noch überlegt, ob es möglich sein kann, dass Goethe wirklich so eine Fülle von Charakter-Prunkstücken, man könnte auch sagen: exemplarischen Individuen kennengelernt hatte, springt einen der Verdacht an, dass es genau anders herum ist. Es waren ganz normale Menschen, manche vielleicht etwas außergewöhnlicher als andere, aber Menschen, wie sie eben so kommen. Goethe aber hat Dichtung aus ihnen gemacht, nicht indem er sie nach dem romantischen Modell mit erfundenen, idealisierten Eigenschaften ausstattete, sondern indem jeden von ihnen zu dem machte, was er maximal, bei einer vollwertigen Entfaltung der in ihm angelegten Keime und einem günstigen Milieu, hätte im Leben aus sich selbst machen können. Goethe macht aus Leben Dichtung, indem er es wahrer macht, exemplarischer, konsequenter, und gerade nicht ausgedachter, fiktionaler, märchenhafter. Er sieht im Leben die Wahrheit durchschimmern, und als Dichter bringt er sie zur Entfaltung. Sieht man den Unterschied? Die Romantiker machen aus Menschen Helden oder Spießbürger, dazwischen gibt es nicht viel, und einer lebt auf Kosten des anderen. Goethe macht aus Menschen Charaktere, die tief im Leben wurzeln.

In Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit hat Goethe auch sein persönliches Wurzelgeflecht so weit offengelegt, wie man das nur kann (wer noch tiefer will, so hat er es in Faust II angedeutet, muss zu den Müttern gehen, und das ist ein Weg, der jenseits der Worte liegt). Es ist seine persönliche understory, und deshalb hat er den Text auch mit Recht „Bruchstücke einer großen Confession“ genannt. Bruchstücke: Niemandem ist sein gesamtes Leben, die gesamte understory, als Ganzes zugänglich; gerade die tiefsten Wurzeln sind jenseits der Reflexion, die immer nur auf die sich darüber wölbende overstory schaut, die Geschichte, die sich unser Gehirn gern von sich selbst erzählt und in der es immer gut dasteht und ganz. Im Falle Goethes sind es allerdings Berge von Bruchstücken, sozusagen, aus den verschiedensten Steinbrüchen gewonnen und den verschiedensten Persönlichkeitsschichten abgelagert. Goethe grows on you, weil man nach Jahrzehnten der Lektüre wirklich meint, ihn so gut zu kennen, wie man jemand kennen kann, den man nie gesehen hat (von seiner Kindheit und seinen Eltern ganz zu schweigen). Es sind aber auch Bruchstücke einer „großen Confession“; und auch hier muss man sich vor allzu leichten Missverständnissen hüten. Goethe war nichts weniger als katholisch und nichts mehr als zutiefst religiös; seine Ehrfurcht vor der Natur war unendlich, und seine Fähigkeit zur Dankbarkeit tief in ihm verwurzelt. Konfession, das ist für ihn: Zeugnis ablegen von dem eigenen Leben, insofern es produktiven Wert hat, und das heißt: für andere Anstoß werden kann, wiederum selbst produktiv zu werden. Sonst müsste man nicht davon sprechen. Nichts lag ihm ferner als Subjektivität, die romantisch eingefärbte Eitelkeit des modernen Ich auf seine vermeintliche Einzigkeit. Goethe wollte nicht von sich selbst sprechen, weil er so besonders war, sondern er musste von sich selbst sprechen, weil er exemplarisch war. Seine overstory war, dass er sich als Teil der Natur verstand. Wenn der Mensch jedoch meint, die Natur beherrschen zu können, wird er enden wie Faust: blind vor lauter Hybris, ein gescheiterter Greis, ein Geschöpf, das nur Luftwurzeln gebildet hat (dass er, ganz am Ende trotzdem gerettet wird, ist von einer derart menschenfreundlichen Ironie, dass man davon nur noch verstummen kann).


Goethe, das Monster. Gegen ein Vorurteil

Goethe ging nicht zu Schillers Begräbnis, er war krank. Er ging auch nicht zum Begräbnis seiner langjährigen Lebensgefährtin und späteren Ehefrau, Christiane, die unter unsäglichen Schmerzen ihrem Nierenleiden erlegen war. Sein einziger Sohn, August (die anderen Kinder waren Fehlgeburten, mehrere an der Zahl, es war eine seltene Rhesus-Unverträglichkeit zwischen Goethe und Christiane, aber das konnte damals niemand wissen, und die Leiden der Mutter werden auch hier unsäglich gewesen sein), starb fern von ihm in Rom. Aber Goethe war kein Monster, nicht der unnahbare Olympier mit dem kalten Götterblick, zu dem ihn die verängstigten Zeitgenossen gemacht hatten; noch nicht einmal die Freundschaft mit Schiller wollten sie ihm gönnen, es konnte nicht sein, dass er, der Größte der Lebenden, auch noch den besten Freund haben sollt; er musste kleingemacht werden, koste es was es wolle, also war er ein schlechter Freund und ein schlechter Ehemann und ein Monster. Aber Goethe trug nicht nur schwer an seiner unzweifelhaften Größe; er trug noch schwerer an seinem im wörtlichen Sinne mit-leidendem Herzen. Denn Goethe war, und das hat er allen verborgen und nur in seine Werke eingeschrieben, hoch emphatisch, vielleicht war er sogar der Emphatischste von allen. Er konnte mit allem fühlen, mit dem kleinsten und dem größten, mit Männern und Frauen, ja sogar mit Tieren und der unbelebten Natur; und sein Ausruf angesichts einer Seeschnecke am Lido von Venedig, „wie abgemessen zu seinem Zustand, wie seiend, wie wahr!“ war die reinste Wahrheit, ein Eindruck unmittelbarsten Gefühls wie fortgeschrittenster Erkenntnis (eine Idee, hätte Schiller gesagt, und Goethe hätte erwidert: Nein, eine Erfahrung, und tatsächlich war es das eine wie das andere und das eine durch das andere, aber das konnte niemand außer den beiden verstehen). Denn Goethe interessierte sich, lange bevor das „Interesse“ (Teilnahme, wörtlich gelesen) zu einem Stempel des Unverbindlich-Belanglosen geworden war, für alles, von Kind an; und dass jedes neu entdeckte Interesse ein verwandtes, aber doch wieder ein wenig anderes nach sich zog, von dem man aus Beziehungen spinnen konnte zu wieder anderen interessanten Dingen, von der Dichtung zur Mineralogie, von der Botanik zur Farbenlehre, von der Farbenlehre zu den bildenden Künsten (nur der Philosophie und der Mathematik hat er sich verweigert, der Große – das war nun wirklich zu viel Idee und zu wenig Erfahrung, zumindest für einen Uneingeweihten). Und zwischendurch ging es, von all dem, immer wieder zurück zur Dichtung, aber das war Goethe nicht das Wichtigste; er war alles, aber kein Literat oder Intellektueller gar. Und so wanderte er durch sein Leben und seine Zeit, wie sein Romanheld Wilhelm, der vom 18. ins 19. Jahrhundert stolpert, mit all der neuen teuflischen Velocität und Industrie; oder gar wie sein Faust, für den Raum und Zeit nur noch vage gültige Kategorien sind im Angesicht der Ewigkeit. Aber auch diese immer noch zunehmende Größe hatte ihren Preis: Es war die Einsamkeit, zumal nach Schillers, des Einzigen, Tod, und wenn er sich seiner Trauer überlassen hätte, er hätte nicht mehr leben können – wie sein Werther, den er statt seiner umbrachte, als er jung war, ein literarisches Menschenopfer, wenn es jemals eines gegeben hat. Aber Goethe selbst war nicht empfindsam, wie die Zeitgenossen den Giganten gern gesehen hätten, er protzte nicht mit seinen Gefühlen und Tränen. Er war empfindlich, und nur wer wahrhaft empfindlich ist, der kann sich für alles wahrhaft interessieren; und nur, wer alles mitempfunden hat bis zum bitteren Ende, der kann es lebendig gestalten.

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