Ganz am Anfang war Sokrates. Natürlich, es hatte schon vor ihm den einen oder anderen gegeben, der sich Philosoph genannt hatte, Liebhaber der sophia, der Weisheit; aber wenig war von diesen früheren überliefert, seltsame, beinahe unverständliche Bruchstücke. Sokrates aber war die Hebamme der Philosophia im eigentlichen Sinne, er selbst hat seine Lehre so bezeichnet: Maieutik, Hebammenkunst, und das war durchaus wörtlich zu nehmen (seine Mutter war Hebamme gewesen, er wusste schon immer, wovon er sprach). Denn lange bevor die Pythia in Delphi es in alle Welt hinausgeposaunt hatte, wusste er selbst, dass er der weiseste aller Menschen war: weil er eines mit Sicherheit wusste, nämlich, dass er nicht wusste, niemals etwas mit Sicherheit wissen könnte, weil er ein Mensch war. Aber er hörte nie auf zu fragen und weiterzufragen, er fragte den Leuten Löchern in den Bauch, nahm das, was zum Vorschein kam, wendete es einigemal und füllte dann ihre Köpfe damit (wo meist ziemlich viel Platz war); und es ist ein Wunder, dass die Athener ihn nicht schon lange vorher zum Schweigen brauchten, einfach, damit endlich Ruhe war auf dem Marktplatz. Selbst wenn die Dialoge, die sein etwas übereifriger Schüler Platon überlieferte, nicht ganz der historischen Wahrheit entsprechen, sondern ein in Inhalt und Form sehr freies Referat dessen waren, was tatsächlich Tag für Tag auf dem Athener Marktplatz stattfand, oder neulich beim Symposion der schönen Diotima, so zeigen sie doch den Hebammen-Meister in Hochform: Das Gespräch startet harmlos, bei irgend einer beliebigen Kleinigkeit, die man so dahinsagt, wenn man sich auf der Straße trifft oder beim Symposion zu viel von den sehr kleinen, aber dafür umso häufiger gefüllten Becher Weines getrunken hat: Also, ich meine ja, Sokrates, die Liebe ist – naja, eine Himmelsmacht, oder so ähnlich, wer hat das noch mal gesagt? Und mit einem Ruck wacht Sokrates auf – er hatte auch schon einige Becher intus - , zieht sich an seinem langen Bart, kraust die Philosophenstirn und sagt verdächtig freundlich: „Ach so, das meinst du, die Liebe sei eine Himmelsmacht, habe ich dich da richtig verstanden? Aber was meinst du eigentlich genau mit ‚Himmel‘, wenn ich fragen darf?“ Der jugendliche Sprecher gerät ins Stottern, der Gedanke will nicht recht heraus, es kreist im Bauch und im Kopf, aber die eifrige Hebamme hat schon ausgeholt: „Du meinst vielleicht mit Himmel – die Götter, den großen Zeus und seine Ehefrau, die liebreizende, wenn auch manchmal meiner Gattin Xanthippe etwas ähnliche Juno?“ Äh ja, wahrscheinlich, murmelt der junge Mann, aber Sokrates kommt jetzt erst richtig in Fahrt, und es macht auch gar nichts, dass der überforderte Gesprächspartner von nun an auf Sätze wie „Ja, das hört sich richtig an“ oder „Ich denke, darauf können wir uns einigen“ oder „Keine Ahnung, aber wenn du es sagst, wird es wohl richtig sein, es erscheint mir auf einmal auch ganz einleuchtend“ eingeschränkt wird. Denn hier hat die Philosophia ihr sehr ernsthaftes Geschäft begonnen, das darin besteht, einen konkreten Einzelnen, hier und jetzt, von der Ebene des unsicheren Meinens zu einem bessern Wissen hinzuführen; indem man sich nämlich über die Wörter verständigt und ihren genauen Sinn, und wie sie zusammenhängen mit der Welt und unserer Erfahrung in ihr, und wie man beides, Wörter und Welt, gemeinsam im schrittweisen Zurückgehen auf den Grund unserer Urteile zu einem temporär gültigen Gebilde namens „Wissen“ zusammenfügen kann – ohne zu vergessen dabei, dass man genau und für immer natürlich nicht wissen kann. Aber man kann zusammen, in gemeinsamer Anstrengung, eine kleine Wahrheit zur Welt bringen; noch etwas erschöpft von der schweren Geburt, ein klein wenig nach Wein riechend, aber beseelt von der großen Weisheit Sokrates und der Jugend und vielleicht sogar Schönheit des Schülers blinzelt sie ihre Eltern an: Liebt mich, pflegt mich! Ich bin ein Keim des Wissens in einer Welt des Meinens! Auf mich könnt ihr bauen!
Es gehört zur besonderen Ironie der Philosophia, das ausgerechnet der Mann, der mehr für die Erziehung der Jugend getan hatte als jemals einer vor ihm oder jemals einer nach ihm in all den kommenden Jahrhunderten, ausgerechnet wegen der Verführung der Jugend zum Atheismus zum Tode verurteilt wurde (aber natürlich war das nur ein Vorwand; er wurde verurteilt, weil er die Jugend zum Denken verführt hatte, und das kann kein Staat dulden, noch nicht einmal eine Demokratie). Und Sokrates, so überliefern es seine Schüler jedenfalls, nahm das Urteil an, obwohl er selbst seine lebenslange Speisung durch die Stadt Athen für gerechter gehalten hätte. Und er schickte seine weinende Frau und die Kinder nach Hause, er schlug die Fluchtpläne seiner Schüler in den Wind, und dann trank er wahrscheinlich noch einige kleine Becher Wein, bevor er den Schierlingsbecher leerte. Denn die Philosophia ist die wahre Himmelsmacht und die einzige Göttin, und wer nur von ihr redet, aber ihr in seinem Handeln nicht folgen kann bis in den Tod, der hat sie nicht verstanden. Sokrates‘ Tod war kein Opfer, es war sein letzter und stärkster Beweis, und er leerte ihn bis zum Grunde.
Ihre Gestalt ist zugleich statuen- und schemenhaft. Wir sehen sie, auf unzähligen Abbildungen, als griechische Frau mittleren Alters, einen strengen Kranz über dem idealisierten Antlitz, und sie bleibt ein Schemen. Allein ein Mosaik, es stammt aus einem Fresko in Pompeji, belebt die Züge etwas: Jünger ist hier dargestellt, farbig, ein wenig aufgeregt leuchten die roten Wangen, und – kann das sein? – sie kaut auf einem Schreibstift herum: Sappho, die Mutter aller Dichterinnen, die einzige Frau, die es je in einen literarischen Kanon geschafft hat (die neun berühmtesten Lyriker des Altertums), aber auch die leicht skandalumwitterte Namensgeberin der lesbischen Liebe wurde, benannt nach Lesbos, ihrer Heimatinsel, wo sie ihren Mädchenkreis um sich herum versammelte und man gemeinsam – ja, was genau weiß man denn nun eigentlich?
Sappho stammte aus einer wohlhabenden, politisch einflussreichen Familie. Sie wurde verheiratet, sicherlich ohne dass man sie nach ihren Wunsch und Willen fragte; man weiß von einer Tochter, genannt Kleis, die sie zärtlich liebte und in ihren Liedern pries. Zwischenzeitlich war die Familie ins Exil verbannt, aber man kam zurück, wahrscheinlich bereits ohne Ehemann. Und befreit von den Ehepflichten, seien sie nun lästig oder freudig gewesen, versammelte Sappho ihren Kreis um sich: junge Mädchen, aus guten Familien, wie sie selbst, die auf die Ehe vorbereitet werden, das große und einzige Schicksal der antiken Frau (wenn sie nicht Hetäre werden wollte, aber das ist eine ganz andere Geschichte). Und wahrscheinlich ist das Bild, das sich die Nachwelt von diesem Kreis gemacht hat, äußerlich im großen und ganzen richtig: Sicherlich wurden Kränze geflochten, Verse rezitiert, die Kithara geschlagen, anmutige Gruppentänze aufgeführt; sicherlich wurden die Jungfrauen in die Geheimnisse der weiblichen Kosmetik und Hygiene eingeführt, lernten, wie man sich Haare band und den Rock schürzte, wie man die Haut pflegte und sich mit verführerischen Wohlgerüchen balsamierte. Aber das Ganze war kein Ponyhof und auch keine höhere Töchteranstalt. Man huldigte nämlich den Musen und den Chariten, den weiblichen Göttinnen der Künste und der Anmut, der sanften Schönheit, der verführerischen Bewegung, und das war nicht irgendwie bildlich gemeint, sondern durchaus wörtlich: Diese Göttinnen waren real, allgegenwärtig, sie waren keine abstrakten ätherischen Figuren in einem fernen Himmel, sondern sie bestimmten den Alltag, sie lenkten die Geschicke der Menschen und sie bewegten das menschliche Herz – Aphrodite vor allem, die Schönste, die ewige Göttin der Liebe. Sappho besang sie in unendlichen Variationen: War die Liebe nicht wahrhaft göttlich? Setzte sie die Menschen, nein: die Frauen, nicht in einen außernatürlichen Zustand von Verzückung und Entrückung, dem Wahnsinn nahe, der körperlichen Krankheit ähnlich? Und Sappho beschrieb die Symptome dieser göttlichen Krankheit, ihre Wonnen und Leiden, und wie beide zusammen gehören, untrennbar für immer. Sie beschrieb es in detaillierten, bilderreichen, virtuosen Versen, denen sie eine eigene Struktur gab, eine wiedererkennbare Form, die als sapphische Strophe in die Weltliteratur eingegangen sind: drei längere Zeilen mit einem natürlich dahinfließenden Wechsel von betonten und unbetonten Silben, man konnte an weich dahinfließendes Mädchenhaar denken und den sanften Rhythmus der Wellen am Strand von Lesbos; und daran schloss sich eine kurze Verszeile an, die den Kranz zur strengen Form vollendete. Ob sie ihre Schülerinnen verführt hat, ob sie sie auf die Hochzeitsnacht und ihre dunklen Geheimnisse vorbereitet hat, ob man sich gegenseitig auch körperlichen Trost spendete – ist das denn wirklich so wichtig? Wichtig und wirklich waren der immer wiederholte Schmerz der Trennung, wenn wieder ein Mädchen den Kreis verließ, eine Lücke hinterließ im Kranz, eine im ersten Moment so schmerzliche Lücke, dass man meinte, sie nie wieder füllen zu können. Doch dann kam eine neue Gefährtin, mit dem gleichen weichen Haar und vielleicht etwas anders geschnittenen sanften Augen, und man nahm sie auf in den Kreis und man sang und tanzte und musizierte unter dem milden attischen Himmel, bei ewigem Sonnenschein und umgeben vom Wohlgeruch wilder Kräuter und Blumen, Aphrodite und die Musen und die Grazien sahen wohlwollend zu – bis auch dieses Mädchen wieder gehen musste. Die Zeit verfloss dabei, man merkte sie nicht; Statuen altern nicht, nur die Schülerinnen wechseln und bleiben immer jung. Dass dann aber boshafte Männer kamen, viel später, als Sappho schon längst entschwunden war und nur noch ihre Gedichte lebten (ganze neun Bücher sollen es gewesen sein!) und ihr eine Todesgeschichte andichteten, das hatte sie nicht verdient: Sie sei, aus verschmähter Liebe zum schönen Phaon, vom Felsen Leukate gesprungen, eine Verstoßene, eine Rasende (und recht geschah es ihr, sagt der Subtext dazu!). Das machte schon geographisch keinen Sinn, war aber natürlich eine gute Geschichte für die boshaften Athener. Nein, Flügel hätten sie ihr verleihen sollen, mit denen sie sich über Lesbos in den Himmel erhob, beflügelt von der eigenen Leidenschaft und dem Klang ihrer Verse! Doch sie wurde zur Skandalfigur; ihre Gedichte wurden verstreut, verbrannten in Alexandria, wurden zensiert im christlichen Mittelalter, und nur wenige Bruchstücke sind erhalten, zerrupfte Blüten, es reicht nicht einmal für einen Kranz. Behalten wir sie anders im Gedächtnis: Nicht als strenge Statue, blicklos, ideal, nicht als schwülstig verführerische Lesbe; behalten wir sie im Gedächtnis jung, mit aufgeregt roten Wangen, an einem Stift kauend.
Niemand weiß, wie sie ausgesehen hat. Doch wenn man sucht, findet man viele Bilder von ihr. In ihren eigenen Büchern hat sie sich verewigt, nicht nur im Wort, sondern auch im Bild, und man erkennt sie sofort: Immer trägt sie ein schlichtes, aber leuchtend blaues langes Kleid und eine strahlend weiße Witwenhaube auf dem Kopf. Ihr Gesicht sieht man kaum, aber ihre Hände fallen auf: Sie halten eine Feder oder ein Buch; oder sie zeigen den Menschen, die sie umgeben, etwas, mit erhobenen Fingern, aber nur sanft hinweisend, nicht streng belehrend. Zu ihren Füßen sitzt, man merkt es kaum, ein Hündchen, es schaut zu ihr hinauf. Ihr Ehemann hat sie verlassen, lange schon, die Kinder sind erwachsen, aber ein treues Hündchen ist geblieben, es wacht über die Frau und über ihre Bücher und ihre Schriften im Gehäus. Denn immer sitzt Christine im Gehäus: in einem engen Gemach mit gotischen Bögen, die Witwenhaube stößt mit den Spitzen fast an die Decke. Es hat zwar Fenster, aber man sieht nichts von einer Landschaft oder einem Himmel; nein, es ist eine Schreib- und Lesestube, oder es ist das intime Gemach einer fürstlichen Gönnerin, einer hohen Frau, der man das neueste Buch gewidmet hat und es nun überreicht. Wir befinden uns nämlich – sagten wir es eigentlich schon? – zu Beginn des 15. Jahrhunderts; im Gehäus ist Christine de Pisan, die erste bedeutende Autorin des Mittelalters, und das Gehäus ist ihr geistiger Freiraum und Gefängnis zugleich. Sie wird es erweitern im Laufe ihres Leben, sie wird immer neue Gemächer anbauen, so viele, dass es schließlich eine ganze Stadt der Frauen geworden ist – ein Frauenhaus, das erste der Geschichte, und die Männer müssen draußen bleiben, aber vielleicht darf ein Hund mit hinein.
Christine de Pisan wurde in Venedig geboren, einer reichen, hoch kultivierten Stadt; ihr Vater war ein berühmter Wissenschaftler, bald würde er an den Hof nach Paris berufen werden, als Leibastronom und Mediziner des Königs Karl V. Von ihrer Mutter weiß man – eigentlich nichts, und Christine hat ihr kein Denkmal gesetzt. Denn sie war, so viel kann man aus ihrer autobiographischen „Vision“ schließen, zweifellos auf den Vater fixiert: auf den Gelehrten mit all seinen Büchern, seinem Wissen von den Sternen und vom menschlichen Körper – ach, wenn man nur kein Mädchen gewesen wäre! Aber Christine ist klug, lebensklug, sie lebt von den Brosamen des Tisches der Weisheit, sie sammelt und stiehlt ihr Wissen zusammen, wo sie es findet; und man möchte gern denken, dass vielleicht, irgendwann, ihr kluger Vater gemerkt hat, dass er eine kluge Tochter hatte und was das für ein Geschenk war. Wahrscheinlicher ist aber, dass es immer nur das Hauptziel gewesen ist, Christine gut zu verheiraten – das einzige Lebensziel der Frau (nicht nur im dunklen Mittelalter, auch in der von der Vergangenheit gelegentlich allzu hell verklärten Antike war das so), ihr Sinn und Zweck, und nicht zuletzt: ihre Versorgung. Christine wird mit 15 Jahren verheiratet, das war üblich so; sie hat sich nicht gewehrt, sie hat drei Kinder geboren, und sie wird später nur Gutes über ihre Ehe sagen. Aber sie war kurz, und vielleicht (das klingt jetzt nicht schön) war es ein Segen für sie, als der königliche Sekretär, dem man sie angetraut hatte, an der Pest stirbt. Ihr Vater war bereits zuvor gestorben, und nun ist Christine eine kaum 25jährige Witwe, allein mit ihren Kindern, in einer ungeklärten Rechtslage im Blick auf ihre Erbschaft, sofort verwoben in juristische Streitereien, verfolgt von Männern, die ihre Notsituation auszunutzen wollten; nicht vorbereitet, nicht bevollmächtigt, überfordert. Und Christine krempelt die Arme des schlichten blauen Kleides auf, reißt sich zusammen und regelt nicht nur all ihre finanziellen und juristischen Angelegenheiten, sondern beschließt, aus ihrem Wissensdurst und ihrer verstreuten Lektüre ihren Lebensunterhalt zu machen. Natürlich braucht man dafür Mäzene, das ist klar; es gibt keinen Literaturmarkt, es gibt keine öffentliche Förderung, und die Buchproduktion ist teuer: Die Manuskripte müssen abgeschrieben werden, jedes einzelne, oft arbeiten Frauen daran mit, und Christine selbst soll gelegentlich Hand angelegt haben. Sie müssen, wenn sie schön und respektabel für den Mäzen sein sollen, mit wertvollen Illustrationen verschlungenen Initialen verziert werden; und dabei entwickelt Christine, von Anfang an, ihr eigenes Autorinnenbild, ihr Markenzeichen sozusagen: Es trägt ein blaues einfaches Gewand und die weiße Witwenhaube, und es sitzt im Gehäus und schreibt.
Christine aber wagt sich, Schritt für Schritt, immer weiter aus dem Gehäus heraus. Sie beginnt Balladen zu schreiben, eine leichte Gattung der mittelalterlichen Unterhaltungsliteratur; sie verarbeitet dabei auch ihren eigenen Liebesschmerz, ihre kurze Liebeserfahrung, und sie hat damit Erfolg. Und dann wagt sie sich noch ein Stück weiter hinaus, und nun passiert schon das, was ihr einen Platz in der ewigen Literaturgeschichte aller Zeiten sichern wird: Christine ärgert sich nämlich. Sie selbst hat die Szene beschrieben: Sie sitzt also mal wieder in ihrem Gehäus, bei der Arbeit, sie liest all ihre geliebten und verehrten Autoren von Aristoteles bis Augustinus, aber zwischendurch, zur Entspannung, auch einen zeitgenössischen Bestseller, den endlosen Rosenroman nämlich. Es ist die Geschichte eines Ritters, der seinen ideale Geliebte sucht, die unerreichbare Rose; und dabei erlebt er viele Abenteuer und lernt viele Frauen kennen und die Geschichte nimmt und nimmt kein Ende; denn nachdem der erste – natürlich männliche – Autor die Feder niedergelegt hat, ergreift sie der nächste und strickt neue Geschichten hinzu. Dieser aber, der Nachfolger, ist ein Misogyn, wie er im Buche aller Zeiten steht: von Grund auf und aus Prinzip frauenfeindlich, und die Frauen, die er schildert, werden immer schlimmer, charakterloser, verworfener. Und Christine liest und ärgert sich immer mehr: Es kann doch nicht sein, dass die Frauen wirklich so sind, wie sie hier geschildert werden? Sie kennt doch die Frauen, sie kennt jedenfalls genug Frauen, die nicht so sind. Warum aber schildert der Autor, der ja wohl ein gebildeter und gelehrter Mann sein muss, schließlich ist er ein Autor und hat ein berühmtes Buch geschrieben – warum also schildert dieser Mann die Frauen auf diese herablassende, boshafte, hämische Art und Weise? Und warum, so steigert sich Christine weiter in ihren Ärger hinein, hat sie diese Geschichte, mit nur etwas anderen Worten, schon so oft gelesen? Es kann doch nicht sein, dass Gott – und Christine ist von der Existenz und Güte des höchsten Wesens so durchdrungen wie man nur sein kann -, dass dieser allmächtige und allgütige Gott die Frauen böse und falsch erschaffen hat? Nein, das kann nicht sein. Und gerade, als Christine bereits an ihrem eigenen Verstand zu zweifeln beginnt – denn woran soll sie sonst zweifeln? an den verehrten Autoren? an Gott etwa? – hat sie eine Erscheinung: In strahlendem Lichterglanz erscheinen drei edle Frauen. Sie sprechen zu Christine mit all der Autorität strahlender Erscheinungen aus dem Nichts und sagen, wie noch jeder kluge Engel vor ihnen, wenn er sich einer Frau genähert hat, als erstes: Fürchte dich nicht! Aber danach beginnt ein sehr rationaler Dialog. Du hast begonnen zu zweifeln, sagt die eine von ihnen (und wir übertragen ins Moderne, was jedoch nicht besonders schwer fällt), das ist keine schlimme Sache an sich – aber du darfst nicht an dir zweifeln, an deinem eigenen Verstand! Du bist doch sonst eine kluge Frau, sagt die hohe Erscheinung, also glaub gefälligst nicht blind, was irgendwelche Männer gesagt haben, es waren halt Männer! Denk nach, und zwar selbst! (sapere aude!, würde Kant knappe vierhundert Jahren später sagen, und das ist in die Geschichte eingegangen; aber die meisten klugen Dinge haben Frauen schon vorher gesagt)
Und Christine beginnt mit dem Denken, zögernd anfangs, unsicher; immer wieder fragt sie nach, bittet die erleuchteten Damen um weitere Erläuterungen, lässt nicht locker. Die Damen lassen sich nicht lange bitten: Die erste, sie wird Vernunft genannt, fordert Christine auf, mit dem Bau einer Stadt zu beginnen – einer Stadt allein für die Frauen, einen eigenen Raum, in den sie sich zurückziehen können (a room of one’s own, würde Viriginia Woolf knapp fünfhundert Jahre später sagen, braucht die Frau; aber es hätte sie sicherlich nicht erstaunt, dass das schon eine Frau vor ihr gesagt hat). Die zweite, Rechtschaffenheit genannt, stattet mit Christine zusammen die Stadt aus; und die Dritte, die Gerechtigkeit, verleiht ihr ihren metaphysischen Rahmen: Die Mutter Gottes nämlich, Maria selbst, zieht an der Spitze aller Heiligen und Märtyrerinnen ein, und es wird ein Leben sein wie im Himmel fortan – aber ohne Männer. Aber nicht nur die Heiligen werden dort leben, sondern viele, viele Frauen aus der Geschichte, vergessen beinahe, aber doch nicht ganz: Denn Vernunft, Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit erzählen Christine die Geschichten all dieser mutigen, entschlossenen, selbstbewussten Frauen vor ihr. Zu ihnen gehört Minerva (denn Minerva war auch nicht mehr als eine besonders kluge und tatkräftige und wissbegierige Frau in Athen, leider Heidin) ebenso wie die legendäre Dichterin Sappho. Zu ihnen gehören die legendären Amazonen, die sich eine Brust abhackten, um besser kämpfen zu können, und was haben sie gekämpft und wie waren sie gefürchtet! Zu ihr gehören, schließlich, Fürstinnen und Herrscherinnen von der Königin von Saba an bis hin zu den edlen Frauen der eigenen Zeit. In diesen Geschichten purzeln Mythologie, Religion und Geschichte munter durcheinander, aber darauf kommt es gar nicht an, und ob man Dichtung und Wahrheit im Einzelnen so genau auseinander halten kann, wie es eine männliche Logik fordert, ist sowieso umstritten. Worauf es ankommt ist, dass Frauen eine Geschichte haben – und wenn sie nur in Fetzen überliefert ist, muss man halt hier und dort anflicken. Aber am Ende wird man nicht mehr herkunftslos, allein, verunsichert sein, sondern ein Glied in einer langen Kette, zusammengehalten und gefestigt im Vertrauen auf sich selbst von der klugen und tatkräftigen Weiblichkeit aller Zeiten.
Das Buch von der Stadt der Frauen ist Christines berühmtestes Werk; mit ihm hat sie das enge gotische Gehäus zu einer von hohen Mauern umgebenen Stadt mit in den Himmel wachsenden Türmen erweitert, einem Inbegriff von Frieden, Geborgenheit, Ruhe. Und dann, versichert durch diese Stadt im Rücken, schreibt sie weiter, Schritt für Schritt: schreibt politische Texte und fordert endlich Frieden, schreibt eine Herrscherbiographie (eine Frau! ein Skandal!), schreibt weiter über die Liebe und das lange Lernen und wie beides zusammenhängt. Aber sie wird schon undeutlicher; irgendwann, keiner weiß mehr genau, wann und wie, geht sie ins Kloster (und was sind Klöster anders als Städte der Frauen, unter der Herrschaft der Himmelskönigin, und die Klosterzellen ein Gehäus, und das schlichte blaue Kleid mit der weißen Haube könnte genauso gut ein Nonnenhabit sein). Am Ende noch ein Lichtblick: Sie erlebt Jeanne d’Arc, die Jungfrau von Orleans, die neue Amazone Frankreichs, und sie schreibt ein Lobgedicht auf sie, bevor sie schließlich ein letztes Mal den Wohnsitz wechselt und eingeht in die ewige Stadt der Frauen, ihre eigene Schöpfung und ihr Vermächtnis.
Sie war, so sagt man heute, eine protestantische Mystikerin. Das ist eine ziemliche Seltenheit der Naturgeschichte: Sicherlich, katholische Mystikerinnen hatte es gegeben, berühmte, energische, schreibende Frauen im Mittelalter. Ihr Glaube strömte aus ihnen in glühenden Versen, gespeist von der Glut ihrer sinnlichen wie übersinnlichen (und wer will da schon genau die Grenze ziehen?), auf jeden Fall jedoch: überwältigenden, im Erleben sprachlos machenden, aber hinterher zu nachglühenden Versen erstarrten Erfahrung der göttlichen Allmacht. Hildegard von Bingen gehörte zu ihnen, Mechthild von Merseburg, die Heilige Teresa von Avila – schreibende, lehrende, unternehmerische Frauen in Klöstern, die für sie ganz und gar nicht eine Zwangsanstalt waren, sondern ein Flucht- und Schutzraum. Aber protestantische Mystik? Zu welchen Höhen des sinnlichen (oder doch übersinnlichen?) Erlebens sollte eine Religion beflügeln, die den Bildern feind war wie den Symbolen, in der Blut und Fleisch Christi nur noch profaner Wein und eben gerade gesegnetes Brot waren? In der überhaupt alles immer weniger handgreiflich wurde, einer Wort-Religion, sola scritpura, allein die Schrift sollte zählen – aber wann hatten trockene Buchstaben jemals Feuer geschlagen, den Geist entzündet wie die lebendige Liebe, das Mysterium der Sakramente, die schiere Unerklärlichkeit, Allmacht und Wunderkraft Gottes? Ach, es wird nicht einfach gewesen sein als protestantische Mystikerin, zumal im katholischen Österreich, den stammkatholischen Kernlanden – doch andererseits: Hieß Protestantismus nicht, eigentlich, wörtlich, sola scriptura: Zeugnis ablegen, für etwas eintreten wie in einem Rechtsprozess, wo sich doch auch die Gemüter ereiferten und die Reden gelegentlich Feuer säten?
Catharina Regina von Greiffenberg war, so zeigt sie ein frühes Portrait, ihrem monumentalen Namen auf den ersten Blick vielleicht nicht ganz gewachsen: ein hübsches properes Frauenzimmer schaut einem entgegen, unbefangen, lebenslustig, belastet von keiner tieferen Bedeutung oder höheren Berufung. Und doch, als Protestantin im katholischen Österreich, muss ihr von Anfang an eine gewisse Fremdheit – nicht fremd gewesen sein. Jedenfalls sah ihr entfernt verwandter Onkel, der nach dem frühen Tod des Vaters zu ihrem Vormund bestellt wurde, offenbar etwas in ihr, eine Ahnung von zukünftigen Talenten, ein kleines überirdisches Grübchen sozusagen, nicht ganz von dieser Welt –er ließ ihr eine gute Erziehung angedeihen, kaum schlechter als die der Männer ihrer Zeit und ihrer Gesellschaftsschicht; sie lernte Sprachen, grundlegende Geschichtskenntnisse, ein wenig Singen, Tanzen, Malen, aber auch Reiten. Irgendwann zwischen dem Reitunterricht und der französischen Konversation wird Catharina Regina dann angefangen haben, Verse zu machen, das war durchaus nicht unüblich und eine nette Freizeitbeschäftigung für eine junge Adlige, die sie ja nicht vom Heiraten abhalten musste; und man konnte ja nicht wissen, dass sie eigentlich von da an niemals mehr aufhören würde, Verse zu machen, kleine Schmuckstückchen für die Nachbarschaft und die Verwandtschaft.
Doch dann passierte das, was Catharinas Versen lebenslange Nahrung geben sollte: Nach dem Tod einer Schwester hat sie in einem Gottesdienst ein „Erweckungserlebnis“. So steht es heute profan und schmucklos in den Biographien. Sie hat nicht versucht, es zu schildern, keine brennenden Büsche, keine Blitzschläge auf dem Weg nach Damaskus. Vielleicht wusste sie schon, dass dies genau das war, was ihr niemals gelungen würde; dass all die vieltausenden Verse, die sie aus sich herausströmen ließ in den restlichen Jahren, so scheinbar mühelos, sie doch nicht einen – doch jetzt müssten wir sie selbst sprechen lassen: einen Tropfen des unendlichen Meerwasser mehr, ein Sandkorn näher zu dem Allmächtigen, Allgegenwärtigen und Unaussprechlichen bringen würden, dem Ziel all ihres Denkens, Dichtens, Reimens, dem sicheren Hafen in ihrem wechselhaften Leben, dem Leuchtturm aller Leuchttürme, hin zu: Gott.
Und so ward Catharina Regina von Greiffenberg zur protestantischen Mystikerin. Sie selbst hätte sich natürlich nie so genannt, um Himmelswillen; sie hätte auch, wahrscheinlich, nie daran gedacht, ihre Verse jemals zu veröffentlichen. Ihr Vormund andererseits – nun ja, er hatte ihr inzwischen einen Heiratsantrag gemacht. 25 Jahre älter war er allerdings, er hatte ihr den Vater ersetzt, er war, vielleicht, auch selbst ihr Lehrer gewesen, und er hatte, vielleicht, ein kleiner Pygmalion steckt doch in vielen Männern, sich sein Geschöpf erziehen wollen. Es ist auch nicht recht überliefert, ob Catharina nun heiratswillig war oder nicht (man ist geneigt, es für unwahrscheinlich zu halten, auch wenn sie sich selbst nicht, wie so manche katholische Mystikerin, als Gottesbraut feierte und damit einem geistlichen Zölibat verpflichtet); aber auf jeden Fall war erst einmal der Staat dagegen, die Verwandtschaft war nämlich zu eng, und so geriet die Sache auf das weite Feld behördlicher und religiöser Streitigkeiten.
Vielleicht hatte ja der Vormund Hans Rudolf an dieser Stelle einen Geistesblitz. Das lyrische Talent der jungen Catharina hatte nämlich schon die Aufmerksamkeit anderer erweckt; sie stand sogar in Kontakt mit dem berühmtem Sigmund von Birken in Nürnberg, einem wichtigen Mann in der barocken Literaturlandschaft, hervorragend vernetzt, protestantisch wie sie. Und so erschien, kaum ein Jahr nach der ersten misslungenen Brautwerbung, plötzlich unvermutet ein Buch auf dem literarischen Markt; es trug den Titel Geistliche Sonette, Lieder und Gedichte, aber keinen Namen, sondern nur ein Titelkupfer mit dem Bild einer zur Lyra singenden Frau, „Uranie“ genannt. Aber kein geringerer pries es dem Leser an als der hochmögende Sigmund von Birken, auch genannt "der Erwachsene" in der Fruchtbringenden Gesellschaft; seinen Adelstitel hatte der gebürtige Pfarrersohn im Übrigen durch Lobgesänge auf die Spitzendiplomaten erwirtschaftet, die den Westfälischen Frieden ausgehandelt hatten. Und welches schwere Geschütz musste er hier auffahren, der arme "Erwachsene"! Denn nichts Geringeres als der Beweis der, jawohl!, biblischen Abkunft der hier präsentierten, von weiblicher Hand verfassten Klinggedichte lag ihm am Herzen, und mit welcher Inbrunst stürzte er sich in die Aufgabe! Nein, dieses christliche Weib, diese Uranie, brauchte keine Minerva, keine Musen, keine anderen Heidengebilde als Vorbild! Kannte nicht schon die Heilige Schrift Frauen, die – nun ja, nicht direkt Dichterinnen waren (so sagt es Birken natürlich nicht), aber: Prophetinnen, zweifellos, und klüger als ihre Männer dazu und beinahe so weise wie Salomo? Sprachen sie alle nicht heilige und unverbrüchliche Wahrheit (wenn auch vielleicht nicht in Klinggedichten)? Und überhaupt, waren denn Frauen als Mütter nicht der Ursprung des Höchsten, des menschengeborenen Gottes? Denn Christus hätte ja auch, so sinniert von Birken, sich wie die Eva "aus einem Manne Mensch-formen können; aber er hat Mensch-werden wollen von dem Samen einer keuschen Jungfrauen".
Das war viel Rhetorik, aber wichtiger war vielleicht das Titelkupfer: Es zeigte, zweifelsfrei, eine Frau, gehüllt in wallende Gewänder, vielleicht konnte man sich sogar eine entfernte Ähnlichkeit zum Jugendbildnis von Catharina Regina einbilden. Die Frau trug, zweifelsfrei, eine Lyra, das Instrument des Apoll, das Markenzeichen der Dichter von der Antike an – aber war das nicht seltsam? Von der Lyra aus führte ein Zeigestab gen Himmel, er reichte senkrecht hin an die Wolken, und auf ihm saß – eine kleine Taube, umstrahlt vom Heiligen Geist, ganz wie auf den Altarbildern! Und jetzt, wo man darüber nachdachte, umgab nicht die Frau mit der Lyra etwas Madonnenhaftes, wie sie sich so abzeichnete vor einer Felsenhöhle, und sie trug eben anstelle des Babys ein Musikinstrument? Zum Glück half die Inschrift auf dem Felsen etwas weiter: Es handele sich um die "deutsche Uranie", die "himmel-abstammende und himmelaufflammende". Und weil der träumende Betrachter gebildet ist, weiß er, dass Urania die Muse der Sternenkunde ist; also keine von den meist ja eher unziemlich nackt abgebildeten, ziemlich leichtfertigen Grazien. Urania hingegen ist eine sehr ernsthafte Muse, die ehrfürchtig – nun ja, in diesem Fall: nicht nach den Sternen blickt, sondern auf die strahlende Herrlichkeit Gottes am lichten Tage, aber dabei doch mit den (natürlich sittsam bedeckten) Füßen auf der Erde bleibt.
Ob der Trick mit einer Publikation als Verlobungsgebinde geholfen hat, ob es überhaupt einer war, wissen wir nicht – jedenfalls heiratete Catharina Regina ihren Vormund ein Jahr, nachdem ihr lyrischer Erstling in so außerordentlich ehrenvoller Form das Licht der Welt erblickt hatte. Die Ehe blieb auch im Weiteren rechtlich umstritten, kinderlos und wohl geprägt durch Urania-Katharinas beiden lebenslangen Passionen, die Hingabe an Gott und das Verfassen von Versen. Ihre geistlichen Klinggedichte hatten immerhin noch einige, wenige Spuren der Weltlichkeit; gelegentlich mischte sich ein Frühlingsgedicht unter die Lobgesänge, eine Spur persönlicher Trauer oder Not sprach aus diesem oder jenen Vers und beklagte den fehlenden Wind im Glaubenssegel oder das Nachlassen der Ruderknechte des Lebensschiffchens, der Sinne. Aber wie sie klangen, die Klinggedichte, die kunstvollen Sonette, die eine andere, fremde Literatur hervorgebracht hatte, um die Geliebte und alle ihre körperlichen Vorzüge zu besingen! Nichts könnte der protestantischen Mystikerin ferner liegen, die nur einen geistigen Geliebten hatte; aber auch sie liebte ihn in der Sprache, mit der Sprache, sie liebkoste ihn sola scriptura! Ein Gedicht wagt sie gar "Endschallende Reime" zu nennen. In ihm kommt all das zusammen, was zusammengehört, die Kern- und Wurzelwörter des Glaubens, und das Gedicht führt vor, wie sie zusammenklingen, sich gegenseitig widerspiegeln, der Reim ein Echo bildet: rühret-führet-spüret gehört natürlich zusammen, genauso wie giebet-übel-liebet; am meisten jedoch die heilige Dreiheit von richten – dichten –pflichten! Was die Welt im Innersten zusammenhält ist Gott; was die Sprache zusammenhält, ist der Gleichklang der Worte, sind die „endschallenden Reime“. Und noch wenn Katharina zum tausendsten Mal (nicht übertrieben!) „Safft“ auf „Krafft“ auf „schafft“ reimt, hört man doch jedesmal: Das ist der innerste Kern der göttlichen Schöpfung, die hier beschworen wird, und eben dass die Sprache diesen Zusammenhang in ihrem Gleichklang einfängt, ist der letzte Beweis für – die Göttlichkeit der Dichtung? Die Gedichthaftigkeit der Schöpfung? Ach, es kommt nicht darauf an. In der Sprache liegt ein großes Geheimnis verborgen, und wer es zum Klingen bringt, ist wahrhaft erweckt. Das ist protestantische Mystik!
Damit könnte man auch aufhören, denn in der Dichtung kommt nicht viel mehr nach: So sehr Klingdichterin wie hier wird die Greiffenberg nicht wieder werden. Aber ihr weiteres Leben! Nein, auch die große Liebesgeschichte kommt nicht mehr. Aber die Türken stehen vor Wien, Katharina muss mit ihrer Mutter nach Nürnberg fliehen, und sie schreibt ein umfangreiches Werk, 7000 Alexandriner lang (also, nur um der Vorstellung ein wenig auf die Sprünge zu helfen: 20 lange Verszeilen jeden Tag, ein Jahr lang, in einem präzise vorgegebenen Versmaß und natürlich mit klingenden Endreimen), genannt: die Siegessäule der Buße und des Glaubens wider Erbfeind Christlichen Namens! Das ist aber noch gar nichts gegen ihr anderes großes Lebensprojekt: Sie hat sich nämlich nichts Geringeres vorgenommen, als den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches der Nation, er heißt derzeit Leopold I, residiert in Wien und gilt als außerordentlich fromm, und ist im Übrigen natürlich: katholisch (ist der Papst katholisch?) zum Protestantismus zu bekehren. Ihr weiteres Leben ist eine frühe Pendlerexistenz zwischen Nürnberg, dem Dichterdasein, und Wien, dem Missionsprojekt. Was hätte aus ihr werden können, mit all der sprachlichen Energie, dem inneren Klingen, aber auch dem eisernen Willen, der Disziplin, dem Lebensmut angesichts eines wahrlich nicht leichten Lebens! Beinahe ironisch – oder eher tragisch? – mutet es an, dass sie 1677 wohl wiederum ohne ihr Wissen, in eine der bekanntesten Sprachgesellschaften der Zeit aufgenommen wurde, die "Deutschgesinnete Genossenschaft" in Hamburg. Ihr wurde der Ehrentitel "Die Tapfere" verliehen, dazu das Zunftwort: "Zwar Mutig, doch Züchtig", und in der gedruckten Ehrenrede heißt es, über Regina, die "reine Königin": Ihre "Gottseligkeit übertrifft Bischöfe, die Wohlredenheit Dichter, die Herzhafftigkeit Obristen; die Geschicht-anziehungs-mänge gelehrte Staats-Lehrer". Ein spätes Porträt, gedruckt zur Veröffentlichung ihrer Leichenrede, zeigt eine Dichterfürstin: asketisch, beinahe ausgemergelt schaut das Gesicht mit weit aufgerissenen Augen unter der immer noch modisch-zeitgenössischen Hochfrisur hervor und bildet einen seltsamen Kontrast zum kostbaren Schmuck und der immer noch eleganten schulterfreien Kleidung: ein altes Kind, ist man versucht zusagen, obwohl von Grübchen keine Rede mehr sein kann, das man in eine künstliche Weiblichkeit gepresst hat, über die es geistig schon Myriaden hinaus gewachsen ist. Das Gesicht wäre wahrhaft einer Prophetin würdig, oder einer Äbtissin, im Feuer von Glaubenskriegen abgehärmt, aber immer noch auf Gott vertrauend. Und unter dem Bilde steht: "Schau hier an Stand Verstand / die Edleste der Frauen / Das Engel-Tugend-Bild den Wunder-Kunst Palast / Die doch in Jesu nur hat ihre Ruh und Rast / Wer mehr will ihres Ruhms mag ihre Schriften schauen". Stand und Verstand – das Klingen hätte Katharina sicherlich gefreut; der Lobpreis wäre ihr vielleicht ein wenig allzu artifiziell erschienen, ein Wunder-Palast eben – das war genau so, wie in viel zu hohe Lockenfrisuren und viel zu weit ausgeschnittene Kleider gesteckt zu werden. Aber am Ende kommt es darauf nicht an; worauf es ankommt ist, in ihre Schriften zu schauen.
Was ist ein Salon? Wenn man sich noch etwas historische Phantasie bewahrt hat, sieht man vielleicht einen wohleingerichteten, etwas altertümlich und verstaubt wirkenden Saal mittlerer Größenordnung vor seinem inneren Auge; die Polster der verstreut herumstehenden Sessel und Sofas sind in Pastelltönen gehalten, hier und dort troddelt eine Quaste herab. Eine Seidentapete mit einem aufgeprägten unaufdringlichen Lilienmuster ziert die Wände; Gemälde kleineren Formats sind auf ihnen verteilt, liebliche Landschaften, neckische Genreszenen, ein wenig mythologisches Bildungsgut. Irgendwo steht ein Klavichord, vielleicht sogar eine Harfe. Einen Spieltisch mit Einlegearbeiten gibt es auch, ebenso einen Sekretär mit einer Andeutung von Geheimfächern für Liebesbriefe, Billets, Theaterzettel. Natürlich sind wir in einem anderen Jahrhundert, und die Damen, die jetzt auftreten, tragen vielleicht sogar noch Reifröcke, oder wenigstens, bodenlange Kleider über dem blauen Strumpf. Aber auch Herren sind zugelassen, nur sehr anständige natürlich. Sie treten selbstsicher, mit einem leicht tänzelnden Schritt hinein und machen den Damen ein höfliches Kompliment, gewürzt mit einer galanten Bemerkung, einem kleinen Scherz, vielleicht sogar, wenn der Abend schon fortgeschritten ist, einer subtil verbrämten erotischen Andeutung. Denn ist man hier nicht im Reich des anmutigen Spiels und der geistreichen Konversation, weit jenseits der Schlachtfelder des alltäglichen Geschlechterkriegs und der Machtpolitik; dort, wo geistreiche Männer und schöne Frauen den Abend vertändeln, so als wären sie wirklich in eine arkadische Idylle geraten und das Leben ein einziges großes Spielzimmer für poetische Dilettanten, Glücksspieler und Möchtegern-Casanovas?
Es gab ihn wirklich, den Salon, aber er war weit mehr als ein Spielfeld verwöhnter Adliger und aufstiegswilliger Bürger. Er war eine Aufstiegsstrategie für bessergestellte Frauen, er war ihr ganz eigener Raum, in dem sie die Regeln schrieben und das Gespräch dominierten und die Männer am Gängelband der Galanterie führten – genau so, als wäre man noch im Mittelalter, wo der heldenhafte Ritter sich der edlen Minne verschrieben hat, aber niemals wird er die hohe Frau bekommen, denn wenn er sie bekäme, ja – dann wäre sie ja keine hohe Frau mehr, sondern beschmutzt, vom Mann, von der niederen Liebe, vom körperlichen Liebesvollzug, von der schmutzigen Realität. Nein, Galanterie war ein Spiel, das kein Ende finden durfte, niemals. Ein berühmter Salon, es war das chambre bleu der Madam de Scudery mitten im Marais in Paris, erfand sich sogar ein Spielbrett dazu, das erstaunlich an moderne Brettspiele erinnert: Man zeichnete eine carte de tendre, eine Vermessung des galanten Kosmos, und ganz unten am Rande hatte sie sogar einen kleinen Maßstab, wie richtige große Karten. Drei Flüsse durchschnitten das Heimatland der hohen, der zärtlichen Liebe, sie trugen Namen wie „Neigung“ und „Achtung“ und „Wertschätzung“, aber jenseits von ihnen drohte das große böse unbekannte Meer, in das man geriet, wenn man es zu weit trieb mit der zärtlichen Liebe, Blieb man jedoch in der Nähe der freundlichen Flüsse, an denen Städte blühten wie „Wohlwollen“, „kleine Geschenke“, „galante Briefe“, "Gehorsam", "Großzügigkeit" und "Großherzigkeit", hielt man sich auch fern vom kreisrunden See der Gleichgültigkeit und dem felsigen Bergreich des Hochmuts und des Egoismus – ja, dann winkten einem das Lob und die Zuneigung schöner, edler, gebildeter Frauen, ihre zärtliche, aber nicht allzu leidenschaftliche Freundschaft und Zuneigung und, so es sich denn anbot: handfeste Förderung.
Als Madeleine de Scudery ihren Salon gründete, die berühmten samedis im chambre bleue, war sie schon nicht mehr ganz jung. Sie kam aus der Provinz, die Eltern waren in ihrer Jugend gestorben, und sie hatte nur ihren Bruder, Georges, der Schriftsteller war und mit ihr nach Paris ging, um sich einen Namen zu machen. Wie sie einer Heirat entgangen ist – man weiß es nicht, sie war weder hässlich (wenn auch nicht besonders hübsch) noch arm (es reichte für ein kleines Stadtpalais und ein sorgenfreies Leben, aber wohl nicht für eine attraktive Mitgift). Sie war allenfalls ein wenig – nun ja, zu gebildet; der Onkel, bei dem sie aufgewachsen war, hatte sie und Georges zusammen erziehen lassen. Und während Georges in Paris daran ging, sich einen Ruf als militärischer Haudegen und Autor mäßig erfolgreicher Theaterstücke zu machen, ging Madeleine schnurstracks in den berühmtesten Salon der Zeit, das Hotel de Rambouillet, und reüssierte dort; und wenig später schon eröffnete sie ihren eigenen, beinahe genauso erfolgreichen Salon (große Frauen machen sich keine Konkurrenz). Daneben schrieb sie, gemeinsam mit ihrem Bruder, ihren ersten Roman: Ibrahim, ou l‘illustre Bassa hieß er, vier Bände Liebes- und Entführungsgeschichten im Geschmack der Zeit, angesiedelt im beliebten orientalischen Milieu, Lesefutter für die unterhaltungsdurstige Gesellschaft der Salons und der Höfe. Ihr zweites Buch jedoch zeigte schon, dass mehr in ihr steckte: Les femmes illustres ou Harangues Heroiques heißt es, und in ihm gibt sie nicht nur Frauen aus Geschichte, Mythologie und Religion eine Stimme, sie gibt ihnen gleich einen heroischen Ton: Es sind Reden, rhetorisch durch- und ausgefeilte Reden, die man in jedem Lehrbuch abdrucken könnte, weil sie direkt ans Herz und an den Verstand gehen. In diesen Reden richten sich berühmte Frauen an Männer: Männer, die sie geheiratet und verlassen haben; Männer, die ihnen ewige Liebe geschworen haben und sie betrogen; Männer, für die sie sich geopfert haben, ihre Tugend, ihre Ehre, ihr Leben. Es sind heldenhafte Ehefrauen dabei und energische Mütter; barmherzige Herrscherinnen, die nicht ihr Volk in Kriegen verbrauchten, sondern Krankenhäuser bauten und Waisenhäuser; vorbildliche Christinnen folgen auf heidnische Kriegerinnen, römische Ehefrauen auf asiatische Konkubinen, die eine oder andere Göttin mischt sich unauffällig unter. Keine andere als Minerva ist ihre Schutzgöttin, sie steht auf dem vorangestellten Kupferstich, und unter ihrem siegreichen Speer windet sich die (deutlich männliche) Dummheit. Antik oder christlich, Herrscherin oder Ehefrau, Mythos oder Geschichte, das alles macht keinen Unterschied für Scudery. Denn es gibt nicht die eine ideale Frau, oh nein, das ist eine Idee, die nur in Männerköpfe kommen kann, die „wahre Eva“ heißt sie dann meistens oder „das Weib“. Aber können nicht die Frauen genauso unterschiedlich sein wie die Männer? Die einen bewähren sich im Krieg, die anderen bei der Kindererziehung, einige herrschen, anderen opfern sich, darauf kommt es nicht an. Worauf es ankommt, ist, dass sie unterschiedliche Stimmen haben und diese unterschiedlichen Stimmen, endlich, einmal in ihrer Unterschiedlichkeit gehört werden.
Das Buch erscheint, ironischerweise, noch unter dem Namen ihres Bruders, wie auch die nächsten Romane, die sofort Welterfolge werden (im Rahmen der damaligen „Welt“ natürlich): Der zehnbändige Cyrus-Roman Artamene, bis heute eines der längsten Bücher der Weltliteratur; Clelie, eine Geschichte aus dem antiken Rom, eigentlich aber ein Schlüsselroman über die französische Macht- und Bildungselite ihrer Zeit; Almahide, die Geschichte einer Sklavenkönigin. Niemand kann diese Bücher heute mehr lesen, viel zu viele Wörter, viel zu monotone Entführungen und Errettungen tugendsamer Heldinnen durch galante Kavaliere, viel zu galante Konversationen – aber für die Salons war es Lesefutter, war es ihr Betriebsstoff, sozusagen. Salon und Literatur gingen in diesen Texten sehr fließend ineinander über: Briefe, die im Roman geschrieben wurden, konnten in der Realität beantwortet werden, Spiele, die man im Salon erprobte, tauchten als Karten im Text wieder auf, und die Konversation, sowieso – ist nicht alles Konversation, beinahe das ganze Leben, beinahe die ganze Literatur, ein endloses Gespräch über Alles und Nichts, unerträglich eigentlich – wenn es nicht kultiviert, interessant, ironisch, humorvoll, gelegentlich gebildet und anspielungsreich, gelegentlich etwas sentimental oder erotisch aufgeladen ist? Bildete man sich nicht bei beidem, im Salon und beim Lesen, allein oder gemeinsam? Waren nicht die Salons eine Art gehobener Volkshochschule für den niederen Adel und das aufsteigende städtische Bürgertum, aber für die Frauen vor allem, die ja immer noch keine Erziehung bekamen und antike Philosophen nur lesen konnten, wenn sie ihren Brüdern die – meist ungeliebten – Klassiker vom Schultisch wegstahlen? Und bildeten nicht noch die geschwätzigsten heroischen Romane, die doch, in ihren endlosen Konversationen, ein Stück lebendiges Leben enthielten, und das Gespräch wieder zurückspielten in die Salons?
Madeleine de Scudery schrieb in der zweiten Hälfte ihres Lebens einige Sammelwerke, die genau diesen Titel trugen: Conversations, Essays im Konversationston, über die Bildungsthemen der Salongesellschaft: Wie schmeichelte man richtig, wie schrieb man einen guten Brief, was war das überhaupt, die rätselhafte und unübersetzbare aire galante? Derweil war sie, wenn man den Quellen glauben mag, taub geworden, und man mag sich nicht vorstellen, welche Dramatik in ausgerechnet diesem Befund für eine Salonniere lag. Denn sie wollte immer nur im Gespräch schreiben, sie lehnte es ab, akademische Definition zu geben und gelehrte Monologe zu führen; was das Galante sei, so schrieb sie in ihrem Essay über die air galante, ließe sich niemals in einer Begriffsbestimmung einfangen, sondern nur im lebendigen, sich entwickelnden, wandlungsfähigen Gespräch galanter Menschen. Doch es wurde ein Selbstgespräch, und die samedis nahmen ein Ende. Madeleine de Scudery wurde alt, sehr alt für ihre Zeit: Sie starb mit über 90 Jahren. In hohem Alter porträtiert sie später E.T.A. Hoffmann in einer der ersten deutschen Kriminalnovellen, Das Fräulein von Scudery, wo sie mit Charme und Weisheit und diplomatischem Geschick einen rätselhaften Mordfall löst. Geheiratet hat sie niemals, in ihrem ganzen langen Leben; sie war von Männern umgeben, in ihren Salonzeiten sicherlich auch von attraktiven, intelligenten, machtvollen Männern; sie wird geflirtet haben, sie war keine von denen, die im See der Gleichgültigkeit planschten oder sich auf ihre Ego-Burg zurückzogen; aber sie blieb für sich, und man kann nur spekulieren über den Preis, den sie dafür gezahlt hat.
Die Taubheit hat er E.T.A. Hoffmann ihr in seiner Erzählung erspart. Man würde sich wünschen, dass sie ihr auch die Boshaftigkeit einiger ihrer männlichen Zeitgenossen erspart hat. Denn diese waren irgendwann zu dem Schluss gekommen, dass diese neue weibliche Bildungselite, deren Salons sie natürlich gern und regelmäßig besuchten, um mit ihren neuen Werken und ihrem blitzenden Witz zu prunken, eine unliebsame Konkurrenz zu werden drohten. Bildung war bisher eindeutig männlich gewesen, die Eintrittskarte war der Besuch akademischer Ausbildungsstätten, ihre Eingangsschwelle die Bildungssprache Latein. Nun aber kamen diese Frauen, sie waren witzig, sie wollten lernen, sie begannen die Männer zu kontrollieren: Waren sie auch galant genug? Spielten sie sich nicht unangenehm auf gegenüber den Frauen, hielten sie sich an die Spielregeln, besonders an die ungeschriebenen? Und die Salondamen verfügten durchaus nicht nur über symbolisches Kapital, sondern auch über konkreten politischen Einfluss, sie hatten Zutritt bei Hofe, diskutierten mit um die großen kulturpolitischen Fragen der Zeit: Welche Kunst, welche Literatur ist die beste, die größte, die ruhmreichsten für die große französische Nation – die der Alten oder die der Neuen, unsere eigene, unsere Dramatiker, Moliere, Corneille, Racine? Was darf die Kunst, und was darf sie nicht? Und dann schrieben diese Salondamen auch noch all diese Romane, eine Gattung, die es eigentlich gar nicht geben durfte, weil sie keine antiken Vorbilder hatte; all diese Liebesromane, die die Leser und vor allem die Leserinnen in ganz Europa geradezu süchtig machten; die eine neue Mode aufbrachten, die Galanteriemode, einen blühenden Wirtschaftszweig von Accessoires bin hin zum Galanteriedegen und dem Galanten Wörterbuch! Nein, es ging nicht nur um symbolisches Kapitel, es ging um politisches Kapital, es ging um wirtschaftliches Kapital – und der Salon war auf einmal nicht mehr ein freundlicher weiblicher Raum, er wurde zum Kriegsgebiet.
Vielleicht hörte Madeleine de Scudery nicht mehr, als Moliere anfing, sie und ihre Mit-Salonnieren als precieuse zu verspotten: gezierte, künstliche, übersteigerte, sich Bildung anmaßende, aber eigentlich nur flachgeistige und oberflächliche Kunstwesen, vollständig aus Kunst gemacht, ohne Ende schwätzend, ewig flirtend, Gelehrsamkeit schwach vorspiegelnde, eigentlich aber vollständig überforderte Emporkömmlinge. Die Preziösen hieß die Komödie, die Moliere schrieb und die ganz Paris – und das hieß: die gesamte kultivierte Welt – zum spöttischen Lachen brachte; genauso waren sie, diese angeblich gebildeten Frauen, diese galante Welt des Scheins und der Oberfläche, Talmi, Gefühlskitsch, Sprachverzärtelung durch und durch! Aber bestimmt konnte sie es noch lesen, auf dem Theater sehen, in der Atmosphäre spüren. Es ist nur zu hoffen, dass sie trotzdem bis zum Ende in ihrem Inneren, wo sie niemand mehr hören musste, Sappho blieb: Unter diesem Namen verehrten sie die Zeitgenossen, unter diesem Namen sah sie sich selbst in ihren Romanen, und dieser Name steht über der letzten Eloge bei den Femmes illustres. In ihr wendet sich die antike Lyrikerin an ihre Nachfolgerin Erinna und ermutigt sie, sich nicht von der Dichtkunst abbringen zu lassen, egal, was die Männer dazu sagten: Sie sei talentiert, sie habe das Zeug zur Dichterin, und während alle Schönheit, selbst die größte, nur ein sehr vergängliches Gut sei, erwerbe man durch die Dichtung ewigen Ruhm. Konnte es denn überhaupt anders sein? Hatte nicht Gott selbst, der niemals etwas Entbehrliches, Überflüssiges, Sinnloses schuf, den Frauen dieses Talent gegeben, damit sie es ausprägten, zu ihrem und zu seinem Ruhm? War es nicht überall im Tierreich zu sehen, dass die körperlichen Schwächeren von dem allgerechten Gott dafür größere geistige Talente bekommen hatten, nicht um sie schlafen zu lassen, sondern um sie zu benutzen? Sei mutig, das sagte Scudery unter dem Gewand der Sappho im Wesentlichen zu Erinna und all ihren Nachfolgerinnen; seid mutig! Ihr seid nicht allein, und irgendwann irgendwo werden wir uns treffen, in einem großen Salon, und der Schönheit und der gebildeten Konversation und des heiteren Scherzes wird kein Ende sein – außer, jemand wagt sich doch einmal vor auf das Meer der Leidenschaft, was man ja niemals ausschließen kann, und wer weiß schon, wo der Tod ihn einholt.
Ein halbes Jahrhundert später waren die Salons auch in Deutschland angekommen, sogar die Galanterie-Mode, im damals kulturell ziemlich hinterwäldlerischen und nicht direkt für höfische Eleganz oder zivilisierte Feinheit der Umgangsformen bekannten Fleckenteppich deutscher Fürstentümer. Und das Zentrum der Galanterie wurde, ausgerechnet, eine betriebsame Stadt mitten in Sachsen: Vom „galanten Leipzig“ sprechen die Zeitgenossen bewundernd, es war eine Blütezeit der alten Buchhandels-, Messe -und Verlagsstadt mit ihrer aufstrebenden Universität und ihrem reichen Bürgertum. Und hier wurde auch Christiana Mariana Ziegler geboren, mitten in die Bildungselite der alten Lindenstadt. Ihre Mutter brachte eine schöne Mitgift mit, der Vater war angesehener Jurist an der Universität und wurde bald nach ihrer Geburt zum Bürgermeister gewählt, und man gedachte, den Ansehenszuwachs durch den Bau eines prächtigen Bürgerpalais mitten in der Stadt zu demonstrieren, dem heute noch Ehrfurcht gebietenden Romanushaus. Dann jedoch kam der Korruptionsskandal, die Umstände sind kaum noch genau zu rekonstruieren, der Bürgermeister sollte Geld unterschlagen haben; man einigte sich eher unter der Hand, dass er auf die Festung Königstein kam, als Staatsgefangener, wo er die letzten vierzig Jahre seines Lebens verbrachte. Natürlich war es ein Skandal für die Familie, aber das Vermögen der Mutter konnte gerettet werden, und die 16jährige Christiana – von deren Erziehung man eigentlich nichts weiß, außer dass sie irgendwann stattgefunden haben muss und gar nicht so schlecht war, vielleicht auch hier gemeinsam mit einem Bruder oder Neffen – wurde verheiratet und stieg auf in den niederen Adel. Alles scheint nach Plan zu gehen, ein Jahr später kommt schon das erste Kind – doch dann verstirbt, nach kaum zwei Jahren Ehe, der junge Mann. Wiederum zwei Jahre später heiratet Christiana wieder, zieht aufs Land mit ihrem ebenfalls adligen zweiten Ehepartner, zieht vielleicht sogar mit ihm in den Nordischen Krieg, aber das wird niemals mehr zu belegen sein. Sie bekommt auch wieder Kinder, der zweite Ehemann stirbt, die Kinder sterben – ein Frauenschicksal, gar nicht so außergewöhnlich. Christiana jedoch, und das ist das Außergewöhnliche, geht zurück zur Mutter, zieht wieder um ins galante Leipzig, ins pompöse Romanushaus, und eröffnet dort ihren Salon. Johann Sebastian Bach verkehrt dort, er vertont einige ihrer Kantaten. Und als Gottsched nach Leipzig kommt, schon eine Berühmtheit und Autorität in literarischen Kreisen, öffnet die Zieglerin ihm in Leipzig die Türen. Er revanchiert sich prompt: Auch dieser Salon ist eine Handelsbörse in Sachen literarischer Machtpolitik, aber er ist es in einem sehr deutschen, mehr noch: sehr aufklärerischem Gewand, das das galante bald verdeckt, überlagert, verdrängt. Im Zieglerschen Salon wurde zwar durchaus gelacht, gescherzt, getanzt, gespielt, gedichtet, musiziert – aber kann man sich einen Gottsched als galanten Komplimentendrechsler vorstellen, einen Bach als Salonmusikanten, ja auch eine Zieglerin als verliebte Schäferin, die sich auf der Karte der Zärtlichkeit verirrt hat?
Auch als Christiana ihr Erstlingswerk publiziert, sicherlich gefördert von Gottsched, tut sie das bereits mit einem gegenüber der Scudery – die sie im Vorwort sogar als Vorbild erwähnt! – deutlich gestärktem Selbstbewusstsein; es ist, also ob sie die Rede der Sappho an Erinna und all ihre Nachfolgerinnen wirklich verinnerlicht hätte. Ihr eigener Name steht auf dem Titelblatt. Bisher sei es zwar, so wendet sie sich an den Leser (oder vielleicht doch eher die Leserin), durchaus üblich gewesen, dass schreibende Frauen ihre Texte vor der Veröffentlichung sicherheitshalber einer männlichen Korrektur unterzogen hätten (also sozusagen dem Gegenteil eines peer-review). Sie habe jedoch, wissend um ihre eigenen Schwächen und Unvollkommenheiten sowohl als Frau als auch als Autorinnen (wann werden jemals männliche Autoren ein solches Bekenntnis in einer Vorrede ablegen?), beschlossen, dies nicht zu tun. Dieses seien ihre eigenen Texte, genauer: Gedichte, Werke in gebundener Sprache, Ausfluss ihres Vergnügens und ihrer Freude am Verfassen von Poesie seit früher Jugend. Man kann das glauben, man sieht das auch an ihren Gedichten, von denen viele das zeitgenössische Gewand der Gelegenheitslyrik tragen – und damit einer Angelegenheit für Dilettanten, Nebenstundendichter, wie man das nannte: Hier ist eine geschickte Reimeschmiederin (ihr eigenes Wort) am Werk, die Verse fließen geläufig, geschickt, meist konventionell, gelegentlich originell, insgesamt: lebhaft. Natürlich wisse sie, so gesteht sie ebenfalls in der Vorrede, dass Frauen gelegentlich Briefe schreiben, die man nicht einmal als „Botage“, als herzhaften Eintopf, servieren dürfe, so drunter und drüber ginge es in ihnen; aber hat nicht ein gut gemischter Eintopf auch seine Vorzüge (das sagt sie nicht in der Vorrede, aber wissen wir das nicht alle)? Vor allem aber schmerze es sie, dass man als Frau nicht scherzhaft sein dürfe. Sie habe gleichwohl einige Versuche in scherzhaften Gedichten beigefügt, für den gewogenen Kritiker – dessen hilfreichen Hinweisen sie im Übrigen gern Folge leisten werde, wenn er sie denn vernünftig und ernsthafte kritisiere; wenn man sie allerdings nur schmähe und beleidige, werde ihr schon das Halstuch nicht verrutschen! (und plötzlich sieht man doch die Salondame im Hintergrund zwinkern)
Dabei könnte einem heutzutage durchaus gelegentlich das Halstuch verrutschen, wenn man sich in ihre Situation versetzt. Denn Christiana Mariana von Ziegler erfährt bald darauf die außerordentliche Ehre, als erste Frau in die von Gottsched geleitete „Deutsche Gesellschaft“ aufgenommen zu werden; eine Sprachgesellschaft, wie es sie an vielen akademischen Standorten gab, die sich der Säuberung und Vereinheitlichung der deutschen Sprache zum Zwecke ihres literarischen Aufstiegs verschrieben hatte – keine Fremdworte also, aber auch kein Dialekt, sondern eine in Maßen vereinheitlichte und für die nationalsprachliche Dichtung geschmeidig gemachte Hochsprache war das ambitionierte Ziel. Die „Deutsche Gesellschaft“ war, wie ihr Vorbild, die französische Academie francaise, und im Gegensatz zu den Salons eine geschlossene Gesellschaft: Die Mitgliedschaft wurde verliehen, und sogar wenn sie einmal an eine Frau verliehen wurde – wie an die Zieglerin -, dann durfte diese natürlich nicht in den heiligen Hallen erscheinen, um ihre Antrittsrede zu halten. War es ein Zufall, dass Christiana kurz darauf eine eigene literarische Gesellschaft gründete, die sie die „Scherzende Gesellschaft“ nannte, wo man vielleicht gelegentlich dann doch das Halstuch etwas verrutschen lassen durfte? Zumal ihr bald darauf, eine zweite, beinahe noch höhere Ehre erfuhr: Die Universität Wittenberg krönte sie zur „poeta laurata“ – und verlieh ihr damit den einzigen akademischen Ehrentitel, der einer Frau außerhalb der für sie verbotenen Promotion zugänglich war. Und natürlich durfte sie wiederum den Lorbeerkranz nicht persönlich entgegennehmen; eine Frau hatte in der Universität nichts zu suchen, selbst wenn sie sie mit ihrer höchsten Ehre auszeichnete.
Wenig später schrieb Christiana dann eine Abhandlung über die Zulassung und Eignung von Frauen zur Wissenschaft, einen kleinen Text, der sehr wenig aufrührerisch oder gar proto-emanzipatorisch daherkommt und einfach nur friedlich argumentiert: Es sei nicht zu ersehen, warum Frauen weniger geistige Gaben als Männer von Gott verliehen haben sollten; es sei im allgemeinen gesellschaftlichen Interesse einer Kulturnation, die vorhandenen geistigen Ressourcen optimal zu nutzen, zumal es den meisten Frauen (im Subtext meint man zu hören: im Unterschied zu den meisten Männern) nicht um die Befriedigung persönlicher Eitelkeit oder eines Gott wenig gefälligen Ehrgeizes ginge, sondern nur darum, nützlich zu sein und sich selbst ein wenig zu bilden. Schließlich, selbst wenn man nun der Meinung sei, die Pflichten des Frauenzimmers lägen auf anderen Gebieten – was sie durchaus nicht ablehne -, sei es erwiesenermaßen möglich, einen Haushalt zu führen und, in den Nebenstunden, zum Wohle des eigenen Geistes und des wissenschaftlichen Ruhmes der Nation tätig zu sein. Zeige das nicht – ihr eigenes Beispiel, nämlich ihre Aufnahme in die Hall of Fame, die „Deutsche Gesellschaft?“ Zeigten das nicht etliche gebildete, gelehrte, erfolgreiche Frauen, wie die Italienerin Laura Bassi, die in Bologna als Physikern reüssierte und auf die die Zieglerin eine eigene Ode verfasst hatte? Deren Tenor war: Wenn es überhaupt irgendeinen Sinn hat, dass die Musen den Sänger beflügeln, über wahrhaft hohe und edle Gegenstände zu singen, müssten wir dann nicht alle jetzt und sofort in einen Lobgesang über Laura Bassi und die edle Universität Bologna ausbrechen, die genug Größe hatte, einer Frau einen (zumal philosophischen) Doktorhut zu verleihen? Aber stattdessen: Stille im Walde, auch in der galanten Lindenstadt. Beim Geburtstag eines Generals, oh ja, da würden die Musen zum Sturmgesang rufen, so dichtete Christiana in einer anderen Ode nicht ganz scherzhaft; aber, um ehrlich zu sein, sie müsse nun wirklich nicht dabei sein, wenn dessen "- - Ruhm" besungen würde; und die beiden Gedankenstriche sagen es alles und mehr.
In dieser Zeit der zunehmenden öffentlichen Anerkennung und Ehrung hatte sie selbst ihren zweiten Sammelband verfasst, der diesmal nicht nur die bekannte Mischung aus Gelegenheits-, scherzhaften und religiösen Gedichten enthielt, sondern auch einen Teil von Texten in „ungebundener Rede“: Prosatexte, Abhandlungen, Reden, Essays, wie man heute sagen würde; sie übersetzte in dieser Zeit auch die Conversations der Madame Scudery ins Deutsche, unter dem bezeichnenden Titel der „Moralischen Gespräche“. Und in diesen Essays und Reden zeigte die Zieglerin nun das, was ihr wahrhaft am Herzen lag, gleich unter dem Halstuch, aber jenseits von Männlichkeit und Weiblichkeit und den Ungerechtigkeiten eines Geschlechterdiskurses, in dem Männer immer die Herren sind und Frauen nur ihre Schuldigkeit tun müssen (gern zitiert sie in diesem Zusammenhang aus der Bibel, „Das Weib schweige in der Gemeinde“, sie muss diesen Satz ernsthaft gehasst haben, hatte aber die Größe, ihn immer wieder anzuführen, wie einen Stachel im eigenen Fleisch, der löckt und nicht nachlässt): Sie ist eine Aufklärerin, bis zur Leidenschaft, bis zur Naivität. Und würde man nicht die Frauen, wenn man sie sich nicht bilden lässt, genau davon ausschließen: von der Aufklärung des Menschengeschlechts, dem großen Projekt einer Zeit, die die Menschheit noch für erziehbar hielt? Und war es nicht sogar so, dass Frauen, gerade in ihrem eingeschränkten weiblichen Leben oder auch in den Salons, alle Zeit und Muße der Welt zur Beobachtung des Menschen hatten? Gestand man ihnen nicht Menschenkenntnis zu und eine Begabung für das Gespräch, für die Konversation, ja hielt man sie in diesem Bereich nicht nur sogar für begabter als Männer? Warum aber sollten sie nur reden und nicht schreiben über das, was sie beobachtet und sorgfältig erwogen hatten? Gott taucht in dieser Argumentation kaum noch auf; an seine Stelle sind die Moral getreten, die menschliche Tugend, die philosophische Weisheit. Aber Christiana hätte sicherlich gesagt, dass man einen Menschen, dem man vom Prozess der Aufklärung ausschließt, letztendlich zum Fegefeuer verdammte: Denn wie sollte man moralisch handeln, ohne zu wissen, wie das eigentlich geht, wie es sich begründet, wie man sich selbst, in vielen kleinen Schritten, hin zur Moralität entwickelt? Nein, wahre Dichtung war keine Reimeschmiederei, kein galantes Gesellschaftsspiel, kein buntscheckiger Eintopf aus Themen, keine diffusen Ideen, irgendwo aufgeschnappten Formen, zusammengerührt und gewürzt mit ein wenig weiblicher Preziosität. Dichtung im Geist der Aufklärung war eine moralische Verpflichtung, so, wie es Gottsched lehrte, auch wenn er längst nicht mehr der „Deutschen Gesellschaft“ vorstand und sich weit weg in der Schweiz die Aufrührer gegen sein Papsttum in der deutschen Literatur schon längst formiert hatten; aber das war der Gang der Dinge und rührte nicht an die Grundfesten der Aufklärung und der Tugend und der Dichtung.
Spät hat Christiana Mariana Ziegler noch einmal geheiratet, einen Jura-Professor, sie kannten sich schon lange in Leipzig, gemeinsam zogen sie nach Frankfurt an der Oder. Danach hat sie nur noch übersetzt, aus dem Französischen vor allem; mit sechzig Jahren starb sie, da hatte Madeleine de Scudery noch ein Drittel ihres Lebens vor sich. Dass sie nach der Heirat verstummte – vielleicht war es ihr dann doch zu viel, der Haushalt und die Dichtung? Vielleicht meinte sie nichts mehr zu sagen zu haben, vielleicht war die Zeit über sie, wie über Gottsched, hinweggegangen? Wie Madame de Scudery war auch sie Opfer einer Rufmordkampagne geworden, auch wenn diese auf deutsche Verhältnisse herabgestimmt war: Nach ihrer Poetenkrönung schrieben vier lose Leipziger Studenten ein Schmählied auf die gelehrte Damenwelt. Es war auf eine einfache Melodie gesetzt und begann: „Ihr Schönen, höret an, erwählet das Studieren!“, und es endete "O schöne Musen-Schar, /continuiert drei Jahr. / Ich sterbe vor Vergnügen, /wenn ihr anstatt der Wiegen, /euch den Catheder wählt, /statt Kinder Bücher zählt". Das konnte natürlich nicht mit Moliere konkurrieren, aber ein wenig weh tat es sicherlich trotzdem. Aber die Zieglerin riss sich zusammen und verfasste eine Ode auf das "Das männliche Geschlecht, im Namen einiger Frauenzimmer besungen"; sie zeigt hier wieder gekonnt ihre scherzhafte Seite, man sieht das Halstuch geradezu verrutschten, aber zwischendurch klingt auch gar nicht wenig Bitterkeit mit, wenn es heißt: "Die Männer müssen doch gestehen, / Daß sie wie wir, auch Menschen sind. / Daß sie auch auf zwey Beinen gehen; / Und daß sich manche Schwachheit findt. / Sie trinken, schlafen, essen, wachen. / Nur dieses ist der Unterscheid, / Sie bleiben Herr in allen Sachen, / Und was wir thun, heißt Schuldigkeit".
Genutzt hat es nichts. Das Modell „gelehrte Frau“ blieb auf die frühe Aufklärung in Deutschland beschränkt, die Zieglerin und die Gottschedin waren seine Heldinnen, und niemals hätten sie es gewagt, sich die deutsche Sappho zu nennen; dafür waren sie zu ernst und zu modern und gleichzeitig zu bescheiden. Und ihr himmlischer Salon wäre wohl auch nicht das galante Spielparadies von Madame de Scudery gewesen. Es wäre wohl eher eine Art „Spiel des Wissens“ gewesen oder eine Art Moral-Monopoly, wo man moralische Bonuspunkte einsammeln konnte; mit viel Geld hätte man dann eine Akademie gebaut, für kleinere Budgets hätte es Volksaufklärung gegeben, und die Ereigniskarten hätten gesagt: Sie haben den zweiten Preis in einer akademischen Preisfrage gewonnen! Aber es wäre immerhin ein interessantes Gedankenspiel, wie ein moderner Salon aussehen würde, ein multikultureller, multinationaler natürlich, in dem sich Frauen treffen und spielerisch an ihrer Bildung arbeiten (und natürlich dabei heimlich an ihren Netzwerken stricken, das ist sowieso klar); in dem das gute Gespräch gepflegt würde und der Scherz, in dem Männer galant sein dürfen und Frauen auch, in dem zwar die Regeln des guten Geschmacks und der vernünftigen Argumentation gelten, aber die Wachhunde der politischen Korrektheit ebenso draußen bleiben müssen wie die Trolle der unsterblichen Schmähsucht (es wäre ganz sicher kein Chatroom.) Träumen wir weiter.
Sie waren Revolutionärinnen – und schon während man es schreibt, merkt man, dass es das Wort gar nicht gibt: Revolutionär sein und Frau sein, das verträgt sich offenbar nicht. Aber beide wären empört gewesen, wenn man ihnen dieses – ja durchaus moralisch zweifelhafte, aber durch tausendfachen Missbrauch in der Werbesprache reichlich verharmloste – Attribut verweigert oder sie gar vermännlicht und zu Revolutionären gemacht hätte. Schließlich waren sie beide dabei gewesen, als in Paris zum ersten Mal ganz ernst gemacht worden war mit diesem Wort. Auf den Barrikaden standen Männer und Frauen, und die Guillotine interessierte es nicht, ob den fallenden Kopf zierlich frisisiertes Frauenhaar oder zerzaustes Männerhaar bedeckte. Aber kein Zeugnis eines persönlichen Treffens ist überliefert, und so kann man sich nur vorstellen, wie es gewesen sein könnte. Vielleicht war es an dem Tag, als der König zu seiner Hinrichtung gefahren wurde, am zweiten Weihnachtstag 1792, sicherlich war ganz Paris auf der Straße an diesem Tag, Königsgetreue wie Revolutionäre und alles dazwischen. Und Mary stellte zu ihrem Erstaunen fest, dass ihre Tränen flossen beim Anblick des entwürdigten Monarchen, obwohl sie wenig Sympathien für die Monarchie hatte. Aber auch Olympe, zehn Jahre älter und die weitaus politischere, radikalere von beiden, hatte das nicht gewollt. Ansonsten waren sie eher verschieden. Die eine war philosophisch versiert, eine Aufklärerin im besten Sinne, eine erfahrene Erzieherin, weitgereist in Europa; und die andere hat Frankreich nie verlassen, aber sie war ungebunden, selbsterzogen, polemisch und streitbar durch und durch. Doch nur zusammengenommen ergeben beide, die Engländerin und die Französin, ein schärferes Profil dieser neuen Art in der Menschheitsgeschichte: der weiblichen Revolutionärin.
Beginnen wir mit der sanften Revolutionärin im Bürgerkleid, beginnen wir mit Mary Wollstonecraft, der Engländerin. Ihre Jugend war nicht leicht gewesen, der Vater trank und prügelte, sie übernahm früh Verantwortung für ihre jüngeren Geschwister – und eigentlich wird sie fast ihr ganzes Leben lang Verantwortung für Kinder tragen, eigene oder die anderer. Auch ihre Erziehung war nicht die Beste – und ihr ganzes Leben lang wird sie damit verbringen, die eigene Bildung zu verbessern und mehr Bildung für andere Frauen zu fordern. Fast überflüssig zu sagen, dass Geld ein Problem war. Mary musste schon früh für sich selbst sorgen, und sie durchlief geradezu bilderbuchmäßig alle Möglichkeiten für eine Frau (außer den unmoralischen, natürlich) zu Geld zu kommen: Verdingte sich als Gesellschafterin bei einer älteren wohlhabenden Dame, ertrug ihre Launen, bis es nicht mehr ging. Ging zurück, pflegte ihre sterbende Mutter. Eröffnete mit ihrer besten Freundin eine Schule. Wurde nach dem Scheitern der Schule Hauslehrerin bei einer wohlhabenden Familie in Irland. In dieser Zeit begann sie schon mit dem Schreiben; sie hatte reichlich Stoff gesammelt für einen Erziehungsratgeber, den sie Thoughts of the Education of Daughters nannte – Töchter, nicht Frauen; die Frau bleibt bei Mary Wollstonecraft durchaus ein Familienwesen, und das Buch ist gesättigt mit pragmatischen Hinweise für das Leben als Haushälterin und als Mutter. Aber sie hatte auch die großen Erziehungsbibeln der Zeit studiert, John Lockes Thoughts on Education und Rousseaus Emile, sie hatte Erziehungsbücher aus dem Deutschen übersetzt und aus dem Französischen, und aus all dem, Erfahrung und Denken, hatte sie ihr eigenes Konzept entwickelt. Es war das einer durch und durch rationalen, bürgerlichen, moralischen Erziehung für bürgerliche Frauen als rationale, moralische, für die Gesellschaft vielfältig nützliche Wesen. Und dann schrieb sie noch, weil sie gerade dabei war, ein Kinderbuch hinterher, sie nannte es: Original Stories from Real Life, genau darum ging es ihr nämlich: Nicht irgendwelche Ammenmärchen zu erzählen oder ideale Kinder zu erziehen, wie Rousseau es tat mit seinem utopischen Emile, sondern reale Kinder für eine reale Welt lebenstüchtig zu machen.
Bis dahin verlief, würde man heute sagen, ihr Leben halbwegs emanzipatorisch, wenn auch nicht gerade revolutionär. Doch dann begann sie ihre erste Liebesaffäre mit einem Künstler, leider verheiratet. Natürlich endete sie unglücklich, und Mary machte in ihrer Verzweiflung den ersten großen Schritt zu ihrer persönlichen Revolution: Sie entschied sich, nach Paris zu gehen, dort, wo gerade die ersten Akte des großen Menschheits-Revolutions-Drama uraufgeführt worden waren. Und sie führte sich ein in die intellektuelle Revolutions-Szene, indem sie ein umfangreiches, leidenschaftlich formuliertes, aber grundrational argumentierendes Pamphlet gegen den großen englischen Revolutionskritiker Edmund Burke schreibt, betitelt Vindication of the Rights of Men – men natürlich verstanden, im zeitgenössischen Sinne, als Menschen im Allgemeinen, nicht als Männer im Besonderen; aber gleichzeitig mit der Unterstellung verbunden, dass der Mann auch der Allgemeinfall ist und Weiblichkeit eine seltsame Besonderheit. In diesem Werk steht schon viel Bemerkenswertes aus weiblicher Perspektive betrachtet: zum Beispiel, dass es ein ziemlich mieser Trick war von Burke, der sich auch als Ästhetiker betätigte, dass er die beiden großen ästhetischen Kardinaltugenden, das Erhabene und das Schöne, so definiert hatte, dass die Erhabenheit mit ihrem moralischen Schwergewicht des Großen, Starken, Überwältigenden – nur dem Mann zukommen konnte. Für die Frau hingegen blieb der Trostpreis, die moralisch eher indifferente Schönheit, also: das Niedliche, Kleine, Passive; sie war das reizende Blümlein neben dem mächtigen Heros, allenfalls: der Efeu, der sich dem starken Stamm anschmiegt. Oh nein, so sah Mary Wollstonecraft sich selbst nicht: Sie war die erste einer neuen Art Frau, sie scheute nicht den rationalen Kampf mit den großen Männern der Aufklärung, sie ging mitten hinein ins Feuer der Ereignisse, und sie schrieb eine zweite Vindication, die sie unsterblich machen sollte, unsterblich und damit erhaben: die Vindication of the Rights of Women.
Die Vindication of the Rights of Women ist allerdings, trotz des kämpferisch anmutenden Titels, keine Kampfschrift, kein Pamphlet. Es ist eine umfangreiche Abhandlung, klar und argumentierend, belesen, ohne Schnörkel, durchaus kritisch auch gegenüber dem eigenen Geschlecht und wahrhaft originell in vielen Gedanken. Geht es Frauen nicht beispielsweise eigentlich genauso wie – Soldaten? Zugerichtet, ja: verstümmelt um eine gesellschaftliche Funktion zu erfüllen, Rädchen in einer großen Maschine, verpflichtet auf Sekundärtugenden und bezahlend mit dem eigenen Leben, dem Lebensglück wie dem Seelenheil. Oder: Was ist das eigentlich für eine Sache mit der Liebe, die die Männer uns da eingebrockt haben? Da wird uns erzählt, es sei unser ganzer Lebenszweck als Frau, den Mann zu bezaubern, einzufangen, ihn zu versklaven; alles sollen wir dafür geben, uns selbst ganz zu künstlichen Wesen machen, Verstand stört da nur, es ist der Putz, der zählt! Und wenn es uns dann gelungen ist und wir sind endlich verheiratet, das Lebensziel scheint erreicht, das Glück winkt – da beginnt unsere Schönheit schon zu welken, im fatalen Gleichschritt mit der Liebes-Leidenschaft auf beiden Seiten, vor allem aber der männlichen. Denn das ist das Schicksal aller irdischen Dinge, die in die Sinne fallen: Sie sind vergänglich, viel zu schnell vergänglich, und übrig bleiben zwei alternde Eheleute, die sich nichts zu sagen haben, schon weil der eine Teil nie gelernt hat, auch nur zwei Sätze sinnvoll miteinander zu verknüpfen, wohl aber, das Haar in unendlich viele verschiedene Locken zu legen. Natürlich gibt es die große, die exzeptionelle, die Liebe des Genies: Aber ist es nicht auffällig, dass sie immer unglücklich endet? So argumentiert Mary, immer mit Maß und Klugheit. Sie will nicht die Welt umstürzen, sie will noch nicht einmal der vermeintlichen Überlegenheit der Männer über die Frauen ein allzu plötzliches Ende bereiten; wohin allzu plötzliche Enden führen, kann man gerade auf den Pariser Straßen beobachten. Aber wäre es nicht eigentlich logisch, wenn wir einmal davon ausgehen (lassen wir die Männer ruhig in diesem Glauben), sie wären das überlegene Geschlecht, weil sie physisch stärker sind; und physische Stärke ist nichts, über das man leichthin hinwegsehen sollte, sie könnte sogar eine Grundlage für moralische sein; trotzdem, selbst wenn wir von dieser gegebenen Überlegenheit ausgehen, ist es dann nicht so, dass sie nur ein „mehr“ von etwas ist, eine kleinere zu überwindende Distanz hin zur Vollkommenheit, die doch für alle Menschen die eine und gleiche sein muss, da sie von Gott kommt, dem einen Gott, für sein eines Geschlecht, die Menschen? Und wenn dem so ist, bleiben wir noch eine kleine Weile bei dem Gedanken, auch wenn wir gern wieder abschweifen würden, weil die Frauen unter uns an so langes und anstrengendes Denken ja nicht gewohnt sind, wenn dem also so ist: dann sollten wir ihnen doch eine Chance geben, diesen Unterschied aufzuholen, die kleine Lücke zu schließen, sich selbst endlich energisch auf den Weg zur Vollkommenheit zu begeben – und nicht sie, wie bisher, geradezu böswillig in die andere Richtung zu schicken, auf den mit weichen Teppichen gepflasterten und duftenden Ölen balsamieten Holzweg der Perfektionierung der eigenen Verführungskräfte und nicht etwa der eigenen Moralität und damit: des Seelenheils?
Klug, so war sie. In ihren Schriften jedenfalls. Im Leben hatte sich nach der Veröffentlichung der zweiten Vindication schon in die nächste Affäre gestürzt, immerhin kein Künstler mehr, sondern geradezu ein Musterbeispiel des neuen Mannes: Er ist Amerikaner und Offizier, nebenbei ist er ein wenig Schriftsteller und Spekulant; er ist, immerhin, nicht verheiratet, aber auch kein Musterbild von Treue. Als Mary ihm bald darauf eine Tochter gebiert, Fanny, lässt er sie zwar in der amerikanischen Botschaft als seine Ehefrau registrieren, ergreift daraufhin aber wacker die Flucht vor der Verantwortung. Mary muss wieder für sich sorgen, und nun für ein Kind dazu. Sie unternimmt, man kann sich kaum vorstellen wie, als sie endlich aus dem inzwischen im Krieg mit halb Europa liegenden Frankreich fliehen kann, eine dreimonatige Reise durch Skandinavien und schreibt ein Reisebuch, das bringt wenigstens Geld. Ein Treffen mit dem Liebhaber in England nach der Rückkehr führt nicht zur ersehnten Wiedervereinigung, und Mary versucht ihrem Leben mit einem Sprung in die Themse ein abruptes Ende zu bereiten. Es gelingt ihr nicht, vielleicht war es auch „nur“ ein Akt momentaner Verzweiflung; aber die Not muss immens gewesen sein, wenn sie, eine rationale Frau, eine überzeugte Christin, eine alleinerziehende Mutter einer kaum zweijährigen Tochter, eine anerkannte Autorin und Übermutter der noch in den Windeln liegenden Frauenbewegung, zu einem solchen Mittel greift. Kaum ein Jahr später heiratet sie dann doch noch, den Schriftsteller William Godwin, aber es ist schon wie ein Nachspiel, gezeichnet von einer zunehmenden Daseinsschwäche. Sie wird schwanger, sie bekommt eine zweite Tochter, die nach ihr Mary genannt wird, und sie stirbt an Kindbettfieber – einen typischen Frauentod, eine unverdiente Ironie des Schicksals. Vielleicht hätte es sie ein wenig stolz gemacht, dass diese Mary auch eine Autorin wird. Und Mary Wollstonecraft-Shelley wird der Welt mit ihrem Frankenstein-Roman ein ganz besonderes Geschenk machen: der Geschichte eines Monsters, das ohne Eltern, vor allem: ohne Mutter aufwächst, das niemals die Liebe kennen lernt und sich doch so danach sehnt, dass es zum Serienmörder wird.
Wahrscheinlich wäre das ihrer eigenen Mutter, die sie nie kennenlernte, dann doch zuviel der Revolution gewesen: Sie wollte die Welt in kleinen Schritten verändern, man dachte ja auch nur in kleinen Schritten; aber dann konnte sich aus einem kleinen Schritt logisch der nächste ergeben und so fort. Man ist heute geneigt, das eher als reformatorisch denn als revolutionär zu qualifizierten– ein in der modernen Begriffsmühle ähnlich abgeflachter Begriff wie der der Revolution. Kehren wir aber zum Begriffsursprung zurück, dort, wo die Worte noch jung und lebendig und dicht bei den Sachen sind, dann sehen wir: Eine Revolution ist eine Umkehr, eine Wende; und das ist das Entscheidende, die Umkehr des Blickes zwischen Frau und Mann, die Wende hin zu einem neuen Verhältnis der Geschlechter, das daraus sich entwickelnde neue Bewusstsein – das zwar nicht so sehr das Sein bestimmt, wie das die Philosophen gern hätten, aber zumindest eine Hälfte in einer komplizierten zweiseitigen Wechselbeziehung ist.
Olympe war da ganz anders; sie war das Vollbild der Revolutionärin, wie es die Zeitungen und die Dramen seit jeher lieben. Allein der Name schon! Denn eigentlich hieß sie gar nicht Olympe; auch sie hieß Marie, ein treuer braver Frauenname, der nur noch von fern die Assoziation an die Himmelskönigin Maria, die Mutter des Heilandes hervorrief; Millionen von Frauen hatten ihn vor ihr getragen, hatte Söhne unter Schmerzen geboren, sie unter Schmerzen geliebt und unter noch größeren Schmerzen verloren, an irgendeine höhere Gewalt; nach ihrer Meinung wurde nicht gefragt. Aber Marie Gouze, von kleinbürgerlicher Herkunft aus Südfrankreich, strebte nach einem anderen Himmel: Nach dem Olymp, dem Sitz der Götter, der unsterblichen Götter – und waren dort nicht auch Frauen anzutreffen, Göttinnen nicht nur der Schönheit und der Liebe oder gar der ihr verhassten Ehe, sondern auch der Klugheit und der Künste? Olympe, so nannte sie sich, nachdem ihr ungeliebter Mann ihr den Weg freigemacht hatte – er war älter als sie, er war nicht vermögend, er machte ihr einen Sohn und verstarb daraufhin, und das wenigstens hätte sie ihm zu Gute halten können. Nach seinem Tod jedenfalls nahm sie mit aller Energie ihre Karriere als femme des lettres in Angriff (die deutsche Übersetzung muss plump bleiben: eine gebildete Frau, eine Frau des Wissens und der schönen Künste, eine weibliche Autorin). Sie verschaffte sie sich noch einen fiktiven Adel, indem sie ihrem Geburtsnamen ein „de“ voranstellte, und schon war ihr Markenzeichen geboren, ein selbstgewählter Name für eine Feuertaufe: Olympe de Gouges, Frauenrechtlerin, weibliche Autorin, Verfasserin von aufrüttelnden Theaterstücken über das Schicksal der Sklaven, eines autobiographischen Briefromans sowie eines philosophischen Erziehungsromans sowie unzähliger politischer Schriften – oder, wenn man die Männer fragte: Skandalnudel, Prostituierte, Hysterikerin; ein Freigeist in seiner schlimmsten Form, nämlich als Frau.
Natürlich kam all das nicht aus dem Nichts, und wenn Marie nur irgendeine Krämerstochter im fernen Okzitanien geblieben wäre, wüssten wir nichts von ihr. Nein, sie hielt sich vielmehr für die uneheliche Tochter eines mittelmäßig bekannten adligen Autors, der Marquis de Pompignan, der sich jedoch nicht zu ihr bekennen mochte; und ihr kurzes Leben lang hat sie immer besonders die Rechte unehelicher Kinder im Auge behalten. Aber er war trotz allem ein Vorbild: ein homme de lettres, ein gebildeter Mann, der in den besten intellektuellen Zirkeln von Paris verkehrte und Bücher schrieb; das, genau das, wollte Marie-Olympe auch, und als der kleinbürgerliche Ehemann endlich aus dem Weg war, warf sie sich mit ihrem ganzen Ehrgeiz (einer schier unerschöpflichen Quelle) auf ihre Bildung. Als erstes lernte sie Französisch; Hochfranzösisch, die Sprache der Eliten, nicht das sicherlich wohlklingende, aber provinzielle Okzitanisch ihrer Heimat. Und sie las, sie studierte, las wieder, historische Texte, literarische Texte, philosophische Texte, all das, was jeder junge Mann aus adligem Hause hätte lesen können, um seine Bildung zu vervollkommnen. Natürlich brauchte man Geld dafür; und Olympe wählte die klassisch französische Lösung: Sie wurde die – Mätresse? Konkubine? Lebensgefährtin? – eines angesehenen Parisers, der ihr wahrscheinlich ihren Bildungstrip – gegen eine gewisse Gegenleistung? – finanzierte. Denn heiraten wollte Olympe nicht mehr; oder vielmehr ganz sicher nicht, bevor es nicht eine neue Scheidungsgesetzgebung gab und Eheverträge, die eine Güterteilung ermöglichten – für all das warb sie in ihren Schriften, legte Gesetzes- und Vertragsentwürfe vor, wurde dabei sehr praktisch und sehr konkret. Konnte man nicht wirklich etwas für die Armen tun, für die unehelichen und rechtlosen Kinder, für die mittellosen Frauen, die ihre Kinder auf der Straße gebären und in Waisenhäuser geben mussten? Konnte man nicht die rechtliche und finanzielle Stellung der Frauen absichern, so dass sie nicht mehr abhängig von tyrannischen, gewalttätigen, brutalen Männern waren? Konnte man nicht, wenn man schon dabei war, auch die Gefängnisse reformieren, die Sklaven befreien und zur Finanzierung eine Art Vermögenssteuer bei den Reichen erheben? Und warum las man all das eigentlich nie bei Männern, die doch angeblich den großen politischen Durchblick hatten und alle wichtigen gesellschaftlichen und politischen Entscheidungen trafen – und im Übrigen gerade den gesamten stolzen französischen Staat in eine derartige Finanzkrise getrieben hatten, dass die Revolution einfach nicht mehr zu vermeiden war, sollte das Volk nicht auf den Straßen verhungern, alle, Männer, Frauen und Kinder – Kinder! -, während die Majestäten tanzten und jagten und gelegentlich einen sinnlosen Krieg vom Zaun brachen?
Olympes persönliche Emanzipation vollzog sich mitten in Paris, zeitlich parallel zur Französischen Revolution, und das merkt man ihr an. Es war keine Zeit für sanfte Zwischentöne, freundlich vorgetragene Bitten, subtile Argumente, für weiblichen Charme und reizende Augenaufschläge. Olympe meldete sich von Anfang an, wenn sie etwas zu sagen hatte – und sie hatte sehr viel zu sagen, sie schrieb wahrscheinlich noch schneller als sich sprach, und schon das stellte man sich sehr schnell vor -, schrill zu Wort. Sie griff zu den größten Worten, zu stärkstem rhetorischen Pathos, zu krassen Extremen und Beispielen; sie tat also genau das, was auch alle Männer der Revolution taten, wenn sie in dieser Kakophonie, diesem Wildwuchs der Entstehung politischer Parteien und Fraktionen, diesem testosteronstrotzenden Kampf um politischen Einfluss und Anhänger gehört sein wollten: Laut sein, schrill sein, übertreiben, den Teufel an die Wand malen (er trug die Züge des Königs), und dann noch ein wenig stärker auftragen (war er nicht der wahre Anti-Christ?). Allerdings, so muss man der Gerechtigkeit halber sagen – und Olympe hielt viel auf Gerechtigkeit, sie war ihr Hauptjoker im Geschlechterkampf, ihr ureigener Verbündeter: denn war nicht die Gleichheit von Frauen und Männern vor dem Gesetz die einfachste und grundlegendste Form von Gerechtigkeit überhaupt? – allerdings blieb Christine bei allem rhetorischen Feuerwerk durchaus mäßigend im Inhalt; sie verteidigte den König, der schon bald nur noch ein einfacher Louis Capet war, sie verteidigte sogar die ungeliebte Königin Marie Antoinette, die Österreicherin, die das Geld mit vollen Händen hinausgeworfen hatte; Olympe war nicht der Meinung, dass irgendetwas dadurch gewonnen würde, wenn man jetzt anfinge Könige – und Königinnen! – zu köpfen. Gelegentlich wurde ihr das verübelt, sowohl von den radikaleren Revolutionären, die gerade zu verstehen begannen, dass eine Guilottine das ultimative Gleichsheitsinstrument war, als auch von späteren radikalen Feministinnen: Ausgerechnet Marie Antoinette – die mit dem Kuchen, falls das irgendjemand vergessen haben sollte! -, ausgerechnet dieser Inbegriff des verabscheuten Absolutismus in weiblich-leichtfertiger Gestalt, ausgerechnet ihr widmete Olympe de Gouges die Erklärung der Frauenrechte; legte sie ihr zu Füßen, bat um ihre Unterstützung, appellierte an ihre gemeinsame Erfahrung als Frau, Tochter, Mutter. Wie konnte das sein?
An dieser Stelle muss die Geschichte ein wenig den Atem anhalten; war sie vielleicht doch hysterisch, die gute Olympe, nicht ganz zurechnungsfähig, vor allem an den besonderen Tagen der Frauen, ruhmsüchtig, typisch weiblich inkonsequent, flüstern die männlichen Stimmen im Hintergrund; seht doch, seht nur, wie sie einknickt, wie sie bei Marie Antoinette betteln geht und nicht bei den heroischen Frauen von Paris, die beim Sturm der Bastille dabei waren, die Röcke geschürzt, Mordwerkzeuge in den Händen, Blutdurst in den Augen! Den Atem anhalten. Ein wenig zurücktreten. Auf Olympe schauen, wie die Bilder sie zeigen, eine durchaus attraktiv hergerichtete Dame mittleren Alters mit modischer Frisur, gar nicht so unähnlich Marie Antoinette. Denn, das sieht man bei ein wenig Distanz und Gerechtigkeit und wenn man den Atem lang genug angehalten hat: Olympe appelliert nicht an die Königin – oder wenn, dann nur als zukünftige Herrscherin, als Modell einer geteilten Herrschaft, eines geschlechtergerechten Absolutismus (ein Paradoxon, wenn es jemals eines gab – und doch….). Sie appelliert an die Tochter und Mutter in der Herrscherfamilie; sie appelliert an die tugendhafte Frau, an die christliche Herrscherin, trotz allen äußerlichen Protzes; an eine Frau, die wie sie verheiratet wurde und Kinder gebären musste, ohne dass sie eine Wahl hatte; sie hatte nur einen Job. Und das, so Olympe, vereint die Frauen; vereint und verbindet sie und macht sie zu politischen Wesen. Ohne Familie gibt es keinen Staat. Ohne Moral gibt es keinen Staat. Was passiert, wenn man den Männern die Macht lässt, hat man genug gesehen: Unterdrückung (der Frauen, der Armen, der Sklaven, all derer, die schwächer sind, also: der allermeisten!); Brutalität (Kriege und Gewalt, exzessiv, immer wieder, ohne Erfolg, nur mit immer mehr Leichen) und Ungerechtigkeit (das endlose Machtgerangel, der niemals endende Krieg um Ehren, Ämter, Einfluss). Kein gutes Vorbild, sollte man meinen; und wenn man etwas auf die Untertöne in Olympes zweifellos grellen, zweifellos rhetorisch geradezu mit Prachtperücken und Schießgewehren aufgerüsteten Aufrufen hört, meint man etwas davon zu spüren, dass sie ahnte, es könne womöglich keine besonders gute Idee sein, so wie die Männer zu werden – nur damit man endlich auch die gleichen Rechte wie sie hatte. Nein, Frauen sollten Töchter und Mütter bleiben können; sie sollten gern weiter an Gott, ein höheres Wesen, die Moral, was auch immer glauben und danach handeln. Vermännlichung der Gesellschaft war keine Perspektive; es wäre ein Rückfall hinter die eigenen Ideale, hinter die Ideale der Aufklärung, hinter die Ideale auch des von ihr besonders verehrten Jean-Jacques Rousseau insgesamt gewesen.
Als die Nationalversammlung nun endlich, man schrieb das zweite Jahre der Revolution, mit großem Pomp die Erklärung der allgemeinen Menschenrechte verabschiedet hatte (und sogar der König hatte sie irgendwann unterzeichnet!), war vielleicht allein Olympe frustriert. Natürlich, homme war im Französischen das Wort für Mann und Mensch, wie in so vielen Sprachen, aber sie war sich sehr sicher, dass hier ausschließlich der Mann gemeint war, dem all die heiligen, unveräußerlichen Rechte garantiert wurden. Und deshalb ging sie hin und nahm den Text als Blaupause, aber verweiblichte ihn konsequent: Setzte „Mann und Frau“, wo von „homme“ die Rede war; definierte den Staat nicht einfach als Gemeinwesen, sondern als harmonische Gemeinschaft von Mann und Frau; rief die Natur dazu, wo nur von Gesetzen die Rede war; fügte Sonderrechte für die Schwächsten der Schwachen, die unehelichen Kinder und ihre Mütter ein; sicherte jedes einzelne, grundlegende Menschenrecht auch und explizit als Frauenrecht. Und der Textentwurf gipfelte in der großen rhetorischen Formel, die sie endgültig unsterblich machte: Wenn die Frau das Recht habe, den Schafott zu besteigen, dann könne man ihr auch das Rednerpult nicht vorenthalten! Das Argument war geradezu hinreißend in seiner wörtlich entwaffnenden und doch so militanten Logik: Wenn ihr uns für die Wahrheit sterben lasst, so sagte es, dann müsst ihr uns auch für die Wahrheit leben lassen. Für unsere weibliche Wahrheit, unsere öffentlich verkündete weibliche Wahrheit. Wir wollen so öffentlich leben können wie wir sterben müssen. Das ist Gleichheit vor dem Gesetz, das ist geteilte Verantwortung! Wir wollen keine Sahnestückchen; wir wollen den ganzen Kuchen, aber, bitte sehr, auch das Schwarzbrot.
Olympe hat, und das ist auch hier die sehr bittere Ironie der Geschichte, ihren Willen bekommen. Zwar hat die durchgehend männlich besetzte Nationalversammlung diese Erklärung nicht gebilligt, wenig überraschend. Aber als sie von den Meistern des terreur angeklagt wurde, bekam sie keinen Anwalt zugeteilt; man hielt sie für wortgewandt genug, sich selbst zu verteidigen. Unnütz zu sagen, dass natürlich niemand, ob Mann oder Frau und mit anwaltlicher Vertretung oder ohne, dem vorgefällten Urteil der Meister des terreur, Ankläger und Richter in einer Person, entkam: Die Anklage war der Schuldbeweis. Und so durfte Olympe de Gouges sich verteidigen – und das Schafott besteigen, nur knapp drei Wochen nach Marie Antoinette. Sie soll ihrem Ende ruhig entgegen gegangen sein, keine Spur von Hysterie. Sie hinterließ einen Sohn, eine immer noch nicht vollständig erschlossene Flut von Schriften und ein schlechtes Image. Bis heute ist ihr der Zutritt zum Pantheon, dem Himmel der großen französischen Nation, versperrt. Aber sie hat ihren eigenen geschaffen: Sie war Marie und sie ist Olympe geworden; und vielleicht war sie schrill, aber sie war vor allem nicht nur eigenwillig, sondern unbeugsam, mutig und konsequent (und von wie vielen Männern in dieser großen Wringmaschine der Geschichte, der Französischen Revolution, kann man das guten Gewissens sagen?) In ihrem politischen Testament hinterließ sie ihr Herz dem Vaterland, dass es ihr genommen hatte; und ihre Rechtschaffenheit den Männern, weil sie sie am besten brauchen konnten; ihre unbeschwerte Fröhlichkeit aber den Frauen – weil Revolutionärinnen wenigstens lachen sollten, solange sie es noch können.
Er war kein Dichter. Er konnte es nicht oft genug sagen, aber wie immer hörte keiner ordentlich zu. Er, der Erfinder des deutschen bürgerlichen Trauerspiels, einer der wenigen Heroen der Aufklärung in Deutschland, der Verfasser des Nathan, dieser Bibel der religiösen Toleranz – er sollte kein Dichter sein? Na gut, er war vielleicht keines dieser neuen jungen Genies, wie sie seit neuestem überall aus dem eher kargen deutschen Dichterboden sprossen, frühreif wie zu schnell in die Höhe geschossener Spargel oder gefährlich für die Verdauung, wie der früh und reichlich wachsende Rhabarber. Aber wenn Lessing, der große Lessing nun schreibt, er müsse alles in sich „durch Druckwerk und Röhren“ aus sich selbst heraufpressen, seine Gefühle an fremden Feuern wärmen und sein Dichterauge durch Brillen schärfen – war das alles nicht ein wenig seltsam, nun ja, technisch gedacht? Ganz genau, hätte Lessing gesagt, genau so! Er war ein Techniker des Dramas, ein Mechaniker der Seelenregungen, ein Klempner, der verstopfte Triebleitungen öffnete, damit die Mitleidstränen endlich ungestört fließen konnte, und oh, wie flossen sie, auf der Bühne (sogar bei Männern), vor der Bühne, bei der häuslichen Lektüre! Und wenn er einmal ein Gedicht schrieb (das tat er durchaus, vor allem am Anfang seiner Nicht-Dichter-Karriere), dann war es witzig und spöttisch; oder seine Fabeln, sie waren frech und flott und knapp. Aber niemals, noch nicht einmal in einer winzigen Erzählung, hat er sich an den Roman gewagt, die neue Lieblingsgattung der Zeit, und auch das hätte einen nachdenklich machen können: Da hatte offensichtlich einer keine Lust, keinen Antrieb, keine – mechanische Lösung dafür, von sich selbst zu erzählen (jeder Erstlingsroman tut das, wirklich jeder, und deshalb folgt auch oft kein zweiter nach; nicht jedes Leben entwickelt genug Stoff für zwei Romane). Die Röhren seines eigenen Innenlebens, er hielt sie verschlossen; nur gelegentlich, in Briefen, erlaubte er sich einen kleinen Druckverlust. Dazu passt, dass er erst im sehr fortgeschrittenen Alter von 47 Jahren heiratete, nach einer fünfjährigen Verlobungszeit; eine wohlhabende und ziemlich selbständige Witwe aus Hamburg, man hatte sich gefunden und lange korrespondiert, es war keine flammende Leidenschaft gewesen, oh nein; es waren zwei vernünftige Menschen in der Mitte ihres Lebens, die es noch einmal versuchen wollten, miteinander. Der Versuch ging schief. Immerhin war es ihnen gelungen, dass Eva, Anfang 40, bald schwanger wurde; am Weihnachtsabend 1777 konnten sie ihren gemeinsamen Sohn Traugott aus der Krippe nehmen. Am folgenden Tag verstarb das Kind. Drei Wochen später folgte ihm seine Mutter, sie überlebte das Kindbettfieber nicht. Das war durchaus nicht ungewöhnlich zu dieser Zeit, aber es war Lessings einziger Versuch gewesen, und er notiert lakonisch in einem Brief: „Ich wollte es auch einmal so gut haben wollen wie andere Menschen. Aber es ist mir schlecht bekommen". Es fällt nicht leicht an dieser Stelle nicht ein wenig zu weinen, ganz ohne Druck und Röhren.
So war das Leben eines der größten deutschen Dichter (oder wenigstens eines der meistgespielten Dramenautoren auf deutschen Bühnen, wenn wir seinem Einwand folgen wollen und ihn nicht als Dichter bezeichnen) nicht vom Glück gesegnet; aber wer weiß, vielleicht war er auch nicht recht für das Glück – gemacht, geeignet, begabt? Ohne Zweifel aber begabt war er für die Gelehrsamkeit, speziell für die schönen Wissenschaften; hochbegabt sogar für die gern geringgeschätzten literarischen Halb-Disziplinen Kritik und Polemik. Das waren, so sagte er, seine Krücken – technische Hilfsmittel auch das, aber wird nicht jede Technik, wenn man sie lange und gut genug betreibt, eine Kunst? Könnten so nicht die immer höher und besser entwickelten Krücken – eines Tages eine Art lebendige Organe werden, beinahe nicht zu unterscheiden von the real thing? Dichtung und Kritik, Analyse und Polemik, ach, sie gehen sowieso Hand in Hand, und wenn sie sich gelegentlich streiten und auf die Füße treten oder gar ein Bein stellen, umso besser! Die Dichtung kann Lebendigkeit gebrauchen wie die Kritik. Und lebendig, das war Lessing in höchstem Maße. Unvorstellbar, dass der aufgeweckte Pfarrerssohn in die Fußstapfen des Vaters treten sollte, so wie sich das der reichlich orthodox eingestellte Theologe ausgemalt hatte! Nein, das hochbegabte Kind durchlief zwar schnell alle Bildungsstufen und häufte Stipendien und Gönner an; als er dann aber erst einmal an der Universität war, interessierte er sich aber doch mehr für das Theater (skandalös!), das Glücksspiel (das ein Leben lang seine finanzielle Situation nicht eben verbessern sollte), und nebenher lief eher halbherzig ein Medizinstudium; er hörte aber ebenso Vorlesungen aus den schönen Wissenschaften, und wohl mit mehr Begeisterung. Er hatte auch schon seine ersten Dramen vorgelegt, kleine Einakter; und sobald er endlich nach Berlin kam, dem intellektuellen Zentrum der Zeit, stürzte er sich mit vollem Schwung in das literarische Leben und wurde das, was er am besten konnte: ein unerbittlicher Kritiker. Denn Kritik, war das nicht das Herz der Aufklärung, ihr gelegentlich durchaus dunkles Zentrum? Natürlich, die Vernunft hatte Licht in all die dunklen Ecken gebracht, wo sich der Aberglaube, die Unvernunft, der Mystizismus, die schiere Dummheit versteckten; aber ihre Lichtschwerter waren so gefährlich, dass sie gelegentlich auch Kollateralschäden anrichteten. Denn Kritik ist, das war Lessing durchaus klar, eine zerstörerische Waffe; sie analysiert, sie zergliedert, sie betrachtet Dinge unter dem Mikroskop, sie interessiert sich für Sachen, nicht für Menschen (was gern für unmenschlich gehalten wird, es ist aber nur sachlich); und sie ist es umso mehr, wenn sie sich dabei so freundlich anschleicht wie Lessing, um dann mit dem schlimmsten aller Lichtschwerter loszuschlagen, dem Spott nämlich. Nichts schlägt so tiefe Wunden wie gelehrter Spott (höchstens noch die gedemütigte Liebe); denn hier ist, um die Lessings so vertraute Dramenterminologie zu verwenden, die Fallhöhe am Höchsten: Der Gelehrte, der sich durch seine langen Studien erhoben hat über die Sterblichen, der sie belehrt mit seinem ebenso umfangreichen wie tiefgegründeten Wissen, seinen Einsichten in die Wunder der Welt und des Universums (und des Glaubens, natürlich) – er fällt am tiefsten und am schmerzhaftesten, und sein Fall wird dadurch noch dramatischer, dass er ihn in gewisser Weise selbst verschuldet hat (nur das, so Lessing, macht die wahre dramatische Wirkung: nicht nur der Fall aus großer Höhe, sondern die eigene vertrackte Schuld daran): Er, der Gelehrte, hat sich überhoben. Mit dem Gegner Lessing auf jeden Fall, der kein intellektuelles Leichtgewicht ist, das gelegentlich ein bürgerliches Trauerspiel aus dem Ärmel zaubert oder ein witziges Trinkgedicht, sondern ein geradezu in der Wolle gefärbter Altphilologe, Kenner der Alten und der Neuen, der über die Laokoon-Statue genauso tiefgründig schreiben kann wie über entlegene alte Münzen. Dann spielt er wieder ein wenig im Lotto, einer neuen Mode; er verliert, wie meistens, er arbeitet aber noch an einem System. Dann schreibt er wieder eine Kritik. Oder einen Bettelbrief an die Eltern. Oder sortiert die Bücher neu in der Wolfenbütteler Fürstenbibliothek, dem Brotjob, den er am meisten gehasst hat, eine wahre Verbannung in das tiefste niederländische Sibirien. Womit hat er diesen Fall nur verschuldet? (war es das Zu-Klug-sein? War es die meisterhafte Beherrschung manipulativer Interessen? War es – sagen wir, mit Nathan: sein demütiger Stolz?)
Natürlich aber hatte er es zuerst mit dem Theater versucht. In Hamburg hatten sich ein paar ambitionierte und kulturbegeisterte Privatleute zusammengetan: Sollte es hier, in den reichen Bürgerstadt Hamburg, nicht möglich sein, ein stehendes Theater zu schaffen, ein Haus mit Niveau, das sich abhob von den fahrenden Wandertheatern mit ihrem allzu bunten Programm für die Massen? Konnte man nicht einen der Besten anheuern, damit er ein Theater einrichtete, das mit den fürstlichen Bühnen konkurrieren konnte, aber nicht die Haupt- und Staatsaktionen zeigte, das große Märtyrerdrama, die Opera seria, das Ballett? Wäre es nicht genau das, was man brauchte, um Deutschland als Kulturnation endlich auf der europäischen Bühne zu verankern: ein deutsches Nationaltheatern, mit eigenen Stücken und einem eigenen – Dramaturgen? Und so wurde Lessing Dramaturg in Hamburg, eine Stellung mit im Übrigen relativ unklarer Stellenbeschreibung, schon ihrer Neuheit wegen; er hatte aber auch keine hohen Erwartungen. Das Unternehmen scheitert natürlich, relativ schnell sogar; aber Lessing bringt immerhin über ein Jahr hinweg seine Gedanken zum Drama im Allgemeinen, zur Aufführungspraxis, zur Schauspielerei, zu konkreten Stücken und Inszenierungen, zunehmend aber vor allem: zur Aristotelischen Poetik zu Papier, dem Grund- und Hauptbuch der abendländischen Theatergeschichte. Und hier fühlt Lessing sich natürlich ganz zuhause: alte Philologie, alte Philosophie, die Theatergeschichte der Zeiten und Länder, die Theaterpraxis der Gegenwart, die alte Leidenschaft für die Bühne (hat sie nicht vielleicht sogar etwas zu tun mit seiner Leidenschaft für das Glücksspiel? Die Hoffnung auf einen guten Ausgang, die Gefühlsdynamik, die Tragik des Verlustes und das Bewusstsein des eigenen – Ver-schuldens, im Wortsinn?)
Lessing wäre aber nicht Lessing, wenn er aus Aristoteles nicht – Lessing machen würde. Dabei verwischt er mit eleganter Hand die durchaus existierenden psychologischen, historischen, mentalitätsgeschichtlichen, geistigen Unterschiede zwischen der Blütezeit der griechischen Antike und der Aufklärung der Neuzeit (ein begnadeter Polemiker könnte durchaus etwas unternehmen gegen diesen im weitesten Sinne frei übersetzerischen Handstreich) und macht aus der medizinisch inspirierten Psychohygiene der griechischen polis (einer Kleinstadt, letztlich, wenn auch mit einer hochgebildeten Bildungselite, in kriegerischen Zeiten) eine Art weichgespülte Gefühlsreinigung für den deutschen Mittelstand in der kulturellen Provinz Deutschland: Natürlich müsse, da sei man sich ganz einig mit Aristoteles, das Drama Leidenschaften erregen, das ist sein einziger Seinsgrund, und vielleicht kann man sogar noch sagen (da streitet er aber schon mit seinen Freunden ein wenig): je mehr Leidenschaften, desto besser! Damit aber, und das unterstellt Lessing mehr als dass er es klar formuliert, handelt man sich ein aufklärerisches Kardinalproblem ein: Denn sind nicht gerade die ungezügelten Leidenschaften, die nicht zivilisierten Antriebe und Begehrungen des Menschen, das, was in ihm Will und Muss, dasjenige, was man mit den Mitteln der Vernunft und der Kritik – nun ja, vielleicht nicht besiegen, aber doch: zügeln, zugänglich machen, entwaffnen wollte? Denn der Leidenschaftliche ist immer verblendet, seine Triebe übertönen die Vernunft, sowieso ein eher schwaches Stimmchen; sie reißen dem Menschen die Zügel aus der Hand, sie machen ihn zum passiven Opfer seiner Bedürfnisse, sie führen ihn immer dorthin, wo er nicht hinsoll und wo die Gefahr und der Fall auf ihn warten. Erregt also ein Trauerspiel, virtuos, mechanisch klug, gemeingefährlich gut diese Leidenschaften – wird es zum Aufklärungsrisiko.
Aber Lessing hat schon den Schutzschild parat. Entwickelt hat er ihn im Briefwechsel mit den Freunden Nicolai und Mendelssohn, im Gespräch, wie es sich für einen Aufklärer gehört (und doch, ist es ein Gespräch, wenn man ganz ehrlich schaut? Man klärt sich selbst auf, ganz sicherlich, aber keiner der drei weicht im Endergebnis auch nur einen Deut von seiner Position; und vielleicht ist das auch schon das Beste, was man von Aufklärung erwarten kann: Selbstaufklärung?). Es ist eigentlich eher ein Antivirus, er wird injiziert bei jeder Aufführung eines bürgerlichen Trauerspiels nach Lessings neuem dramaturgischen Programm, und er heißt: Mitleid. Denn, so wird Lessing nicht müde zu wiederholen: Der mitleidigste Mensch sei der beste Mensch! Mitleid, das ist die einzige Leidenschaft, die sich nicht erschöpft, die uns von uns selbst weg- statt auf uns selbst hinzieht; Mitleid, die einzige Passion, die Menschen aller Arten, Rassen, Geschlechter verbindet; Mitleid, das uns automatisch ergreift, wenn wir einen Bettler sehen und nach unserer Brieftasche tasten, noch stärker aber, wenn wir die traurige Geschichte des Bettlers hören, wie er unverschuldet ins Elend kam, ein Opfer dunkler Schicksalsmächte, die über uns alle walten, und vielleicht besonders über dem besonders Verdienstvollen. Mitleid, das uns weinen lässt, aber eigentlich ein gemischtes Gefühl ist: Wir fühlen Trauer mit dem Schicksal, aber gleichzeitig eine gewisse Erhebung darüber – können wir es nicht besiegen, gemeinsam, das dunkle Schicksal? Ist nicht im mitfühlenden Menschen der mitleidende Gott mitgedacht?
So hat es sich Lessing jedenfalls vorgestellt, und er lag damit ganz im empfindsamen Zeittrend, obwohl er doch angeblich nur dachte und mechanische Kunstwerke schuf. Aber seien wir ein wenig aufklärerisch, fragen wir nach (und nicht hinter; das ist bei Lessing nicht nötig, er versteckt sich niemals), üben wir Kritik, und sei es nur zur Selbstaufklärung: Funktioniert das denn wirklich so automatisch und universell mit dem Mitleid? Werden wir wirklich zu besseren Menschen dadurch, dass wir ein wenig weinen im Theater, dem etwas unangenehm riechenden Bettler vor der Oper einen Obolus gönnerhaft in die Hand drücken und dann in unsere Wohlstandsburgen zurückfahren? Ist Mitleid, ein wenig polemisch formuliert im Sinne Lessings, nicht nur ein – Entlastungsventil zur Erleichterung des Gewissens, mit schwachen realen Folgekosten? Nicht alle großen Philosophen waren Freunde des Mitleides, und sie hatten gute Gründe: Mitleid entmündigt; es teilt die Menschheit in Spender und Empfänger von Wohltaten, und noch nicht einmal ist geklärt, wer letztendlich mehr davon profitiert, der ja nur temporär von seinem Elend entlastete Empfänger oder der sich moralisch in seiner Superiorität dauerhaft bestätigt sehende Spender! Ach, Mitleid, wenn es doch so einfach wäre. Aber vielleicht war Lessing ja doch klüger? Denn hatte er nicht eigentlich gefordert, vor allem die – heute würden wir zweifellos sagen: Mitleidskompetenz zu stärken, er sagte: die Fähigkeit und Fertigkeit, Mitleid zu empfinden? War es vielleicht gar nicht die noble Spende, auf die es ihm ankam, sondern eine –momentane Selbstdistanzierung, eine Besinnung auf unsere gemeinsamen Wurzeln und Schicksale als Mensch? Ist der mitleidigste Mensch vielleicht nur derjenige, der – gar nicht gefühlig, gar nicht „empfindsam“ potenziert – realisiert, dass die Menschheit eine Familie ist, inklusive der buckligen Verwandtschaft, der schwarzen Schafe, der Glücksspieler und entlaufenen Theologiestudenten, und dass man seiner Familie doch nie entkommt? Ist Mitleid vielleicht gar kein Gefühl, sondern eine große Vernunft?
Außerdem war es sowieso alles nur Theorie. Als Lessing dann endlich sein ultimatives bürgerliches Trauerspiel, einen Renner seit seiner Erstaufführung bis heute, fertiggestellt hat, die Emilia Galotti, da sieht die Sache schon ein wenig anders aus. Abgesehen davon, dass bemerkenswert wenig Bürger vorkommen in diesem Trauerspiel; auch abgesehen davon, dass der Prinz selbst ein ziemlich entschiedener Vertreter bürgerlicher Werte ist, in der Theorie jedenfalls und solange man nicht von schönen Frauen in Versuchung geführt wird; abgesehen davon, dass die böse Rachefurie Orsina gleichzeitig eine denkende Frau ist, während die tugendhafte Emilia als ziemlich tumbe Naive vom Lande daherkommt; abgesehen davon, dass der zukünftige Ehegatten Appiani am Tag seiner Hochzeit eher depressiv als feierlich überkommt; noch weiter abgesehen davon, dass der Tugendhafteste von allen, der Vater Odoardo, am Ende sich in den Mord an seiner Tochter geradezu hineinreden lässt – ach, man könnte noch ewig weitermachen, aber eines ist klar: In diesem angeblich „doch nur gedachten“ Stück geht nichts auf, rein gar nichts. Mitleid, man weiß gar nicht, mit wem man zuerst und zuletzt Mitleid haben soll! Oder haben sie es nicht doch alle verdient, alle miteinander, vor allem aber die Tugendrigoristen und Nichts-oder-Alles-Denker? Einzig die Mutter, Claudia, die unauffälligste Gestalt im ganzen Stück, bewahrt einigermaßen die Nerven: Aber Kinder, so sagt sie mehr oder weniger, das Eine tun und das Andere nicht lassen! Aber natürlich, sie möchte ihre Tochter gern gut verheiraten und bei Hofe reüssieren; das jedoch ist im Reigen der selbstverschuldeten Fehler noch so ziemlich der mildeste. Oder Marinelli, der Intrigant, wie er im Buche der großen Tragödie steht, skrupellos, geschickt, manipulativ – aber am Ende doch nur eine Spielfigur in den Händen der Mächtigen, der sich für sie die Finger schmutzig machen muss; am Ende, nein, kann es denn sein?, verspürt man nicht nur ein wenig Mitleid mit der Rachefurie und denkenden Frau Orsina, sondern auch mit der Schlange Marinelli! Mitleid, es hat in diesem Stück so viele Abstufungen und Varianten, dass man kaum noch sieht, wie sie in ein einziges, und ganz sicherlich ziemlich gemischtes, Gefühl passen sollten! Und war das, der Verdacht schleicht sich immerhin nach der wiederholten und noch einmal wiederholten Lektüre des Klassikers ein, vielleicht gerade der Trick des Bühnenmechanikers Lessing? Es ist schließlich kein besonderes Kunststück, Mitleid mit einem Vater zu haben, der seine Tochter aus einer (gefühlten) moralischen Extremsituation heraus umbringt; oder Mitleid mit einer jungen Frau, die ihr Lebensglück von einem Augenblick zum anderen verliert und sich einer ungewissen Zukunft gegenüber sieht, in der nichts weniger als ihr zutiefst religiös begründetes Seelenheil auf dem Spiel steht? Aber Mitleid mit einem Intriganten, einer Rachefurie, einer allzu ambitionierten Mutter; das erfordert schon ein wenig mehr Gefühlskompetenz (oder doch nur eine große und gleichzeitig demütige Vernunft?)!
Es ist zudem bemerkenswert, wie wenig Lessing auch in diesem Glanzstück selbst zu sehen ist. Ein wenig mag er sich in Conti verstecken, dem Maler, der sein eigentliches Kunstwerk als eine Art Liebeszauber verkannt sieht; ein wenig im alten Rat Rota, der dem Prinz das Todesurteil zur Unterschrift vorenthalten will – übereilt euch nicht, das ist die Botschaft, handelt nicht immer aus dem Impuls heraus, denkt ein wenig mehr, auch wenn es schöner ist, sich in Mitleid zu ergehen oder in moralischer Selbstgefälligkeit. Dann aber, am Ende, kommt Nathan, der Weise; kein bürgerliches Trauerspiel mehr, überhaupt eine ganz neue und ganz eigene Gattung von Drama, vielleicht sogar: ein Lehrstück, im allerbesten aufklärerischen Sinne (nämlich dem, dass die Suche nach der Wahrheit das Entscheidende ist, und nicht ihre politisch korrekte Formulierung oder ihre Zementierung als „Anspruch“ und „Grundrecht“!). Die Ringparabel ist so oft interpretiert worden, dass sie schließlich ganz in Deutungsnebel zu verschwinden droht. Dabei ist ihre Moral relativ einfach und handgreiflich – die Wahrheit wird niemals besessen, sie wird noch nicht einmal deutlich erkannt, und vor allem nicht von den Religionen; aber vielleicht braucht man sogar die Religionen, wenn sie nämlich das tun, was der Ring vor allem tun sollte: zum Handeln motivieren (möglichst: zum guten, natürlich). Der Worte sind genug gewechselt, der Deutungen übergenug. Und man meint nun doch ein wenig vom alternden Lessing in Nathan zu sehen, dem weisen Juden, dem nicht ein Kind gestorben ist: nein, sieben Söhne sind ihm getötet werden, gemordet von Christen; und es kommt gar nicht auf die Übertreibung an, sie ist ein Märchenmotiv, ein Bibelmotiv mehr, sondern auf Nathans Handeln, nämlich: die Adoption eines Christenkindes, zudem: ein Mädchen. Was es ihn gekostet hat, weiß er allein. Und nun gibt er auch noch dieses Mädchen her, und die Schlussszene mit der allgemeinen Wiedererkennung der verloren geglaubten Geschwister und der anstehenden Heirat und all dem großen Vereinigungsjubel – lässt Nathan allein da stehen. Saladin ist klug, seine Schwester einer der vielen überklugen und humorvollen Frauengestalten Lessings; aber Nathan ist weise, und niemand hat behauptet, seit Sokrates, dass Weisheit glücklich macht. Glück ist, wenn überhaupt, für die Klugen. Weisheit macht einsam; sie verleiht den Stolzen Demut, aber nicht Lebensglück.
Und so wird sich Lessing verabschieden wie diejenige Figur, die vielleicht noch mehr von ihm hat als der weise Nathan, wie der Derwisch nämlich. Er hat lange genug den Mächtigen gedient, er hat ihre Launen finanziert und hat mit Nathan Schach gespielt, das Spiel der Könige; er ist ihnen sogar ein wenig auf den Leim gegangen, weil auch noch ein gutes Herz hat und ein wenig empfindsam ist. Aber am Ende verabschiedet der Derwisch sich in die Wüste, an den Ganges; nur dort kann er noch ein Mensch unter Menschen sein, in dem er „leicht und barfuß“ mit seinen Lehrern Schach spielt. Ein Aussteiger, das ist oft und zu Recht betont worden; aber einer, der am Ende seines Lebens, nicht als jugendlicher Idealist und Schwärmer, die Welt flieht: weil er sie kennt. Vielleicht wäre Lessing auch am Ganges nicht glücklich geworden; denn Wolfenbüttel war ein wenig wie der Ganges (aber hatte dann doch noch einen Hof). Vielleicht hätte er auch dort nicht aufgehört, mit dem Glück zu spielen und nicht nur mit Schachfiguren. Aber er war bei all seiner Weisheit klug genug einzusehen, dass das die einzig konsequente Alternative war. Der Rest war Druck- und Röhrenwerk: das ewige Provisorium des Menschlichen.
Rousseau, der Paradoxenmacher
Sie nannten ihn Paradoxenmacher. Das war natürlich abwertend gemeint, es bedeutete: Dieser wirre Kopf versteht noch nicht mal sich selbst; all seine kruden Theorien, über den edlen Wilden, über die Rückkehr zur Natur, über das Eigentum als Quelle allen Übels im Zusammenleben der Menschen, das ist doch nur in der Einsamkeit – und was ist schon jemals gutes aus der Einsamkeit gekommen, nur der Böse ist einsam! – zusammengesponnenes Zeug, um sich wichtig zu machen, um sich an seinen ehemaligen Pariser Freunden zu rächen, um die Frauen zu beeindrucken, um die Philosophen zu kränken. Sprang sie einem nicht geradezu in die Augen, diese fatale Paradoxenmacherei, in seinem Leben: Predigt das völlig weltferne Ideal einer sog. natürlichen Erziehung und gibt seine Kinder ins Findelhaus, eines nach dem anderen, und rechtfertigt sich dafür sogar noch! Predigt die vollkommene Liebe, die reine platonische Seelenfreundschaft, unabhängig von gesellschaftlichem Stand und Konvention und Sitte – und unterhält ein Verhältnis mit einer Wäscherin, wenn er sich nicht gerade von einer seiner adligen Gönnerinnen aushalten lässt! Und preist er nicht am Ende, in seinen skandalösen Memoiren, die er sehr zu Recht „Bekenntnisse“ nennt, denn sie bekennen alle möglichen Missetaten, Diebstahl, Lüge, sexuelle Phantasien, Betrug – preist er nicht, ausgerechnet, seine absolute Redlichkeit. Er, Rousseau, werde in diesem Buch etwas vorlegen, was die Welt noch nie gesehen habe: Er werde einen Menschen zeigen in seiner ganzen Wahrheit, so wie die Natur ihn geschaffen habe, er werde nichts verschweigen, nichts verschönern, nicht auslassen – und dieser Mensch werde er selbst sein. Und niemand, der seine eigenen Taten und Worte, seine verdeckten und seine öffentlichen, mit der gleichen Wahrhaftigkeit prüfen würde, wie er, Rousseau, werde es dann noch im Angesicht Gottes wagen zu sagen: Ich war besser als dieser Mensch!
Nun, das war alles tatsächlich reichlich paradox; aber vielleicht ist ja die Wahrheit, zumindest die menschliche, wenn man ihr einmal unter den Schleier schaut, genau so: schockierend und erhebend, beschämend und großartig, mal dies, mal jenes, und noch viel häufiger beides zusammen und durcheinander? Rousseau hätte sich ja auch durchaus verteidigen können, er hätte an unser allzu menschliches Mitleid appellieren können und sich selbst als missbrauchte, verlorene Seele darstellen können. Er war krank, von Jugend an; er litt an einer Missbildung der Harndrüse, und die Not und die Peinlichkeit, die damit verbunden waren, waren grenzenlos. Seine Mutter starb bei seiner Geburt. Sein Vater, ein gebildeter Uhrmacher, kümmerte sich zwar vorbildlich um ihn und machte ihn zu einem begeisterten und unermüdlichen Leser, er musste jedoch eines Ehrenhändels wegen aus Genf fliehen und ließ seinen Sohn bei einem Pfarrer in der Obhut. Der junge Rousseau wurde geschlagen und misshandelt, wahrscheinlich seelisch und körperlich und wiederholt. Er wurde herumgereicht, nirgends ging es ihm besser, bis er schließlich das tat, was er sein ganzes Leben lang immer wieder tun wird: Er ergreift die Flucht. Er durchlebt Abenteuer, aus denen man einen eigenen Roman machen könnte, er fällt auf Betrüger herein und wird selbst einer, er konvertiert zum Katholizismus (und später wieder zurück), er wird Bestandteil einer seltsamen Ménage à trois bei einer Adligen, die er als „Maman“ verehrt, und die Seltsamkeiten hören und hören nicht auf. Trotz alledem findet er Zeit, an seiner Bildung zu arbeiten: Er ist musikalisch begabt und erfindet ein neues Notensystem; und er bewirbt sich mehr oder weniger zufällig bei einer Preisaufgabe der berühmten Akademie in Dijon und wird mit einem Schlag berühmt, in ganz Europa. „Hat die Wiederherstellung der Wissenschaft und Künste dazu beigetragen, die Sitten zu verbessern?“, hatte die ehrwürdige Akademie gefragt – und dabei wahrscheinlich auf Antworten gerechnet, die das enthusiastisch bejahen würden: Schließlich hatte man endlich, endlich die Antike mit ihrer ganzen lästigen Vorbildlichkeit überwunden, man war modern, man hatte ganz neue Wissenschaften und ganz neue Künste entdeckt – und war nicht die Aufklärung auf dem besten Wege, die Moral neu zu begründen, ganz ohne die Rückendeckung der Kirche, und ihr Licht bis in die letzten Winkel zu verbreiten, auf dass noch der letzte kleine Uhr- oder Schuhmacher von ihr erleuchtet und fortan moralisch und glückselig in gleichem Maße werden würde? Aber das, so antwortete Rousseau, stimmte doch gar nicht, oh wie sehr es nicht stimmte! Nein, frei war der Mensch nur so, wie ihn die Natur geschaffen hatte, als freien Wilden, der allein seiner Selbstliebe folgte – und das war ganz recht so, denn ohne Selbstliebe würde niemand überleben, ob Tier oder Mensch. Es war jenseits von Gut und Böse, es war mehr als Gute und Böse, es war die Wahrheit der Natur. Aber sobald die Menschen damit begannen, sich zu Gemeinschaften zusammenzuschließen – was irgendwann nicht mehr zu vermeiden war, die kulturelle Evolution hatte einfach zu große Vorteile im ewigen Überlebenskampf – entstanden die eigentlichen apokalyptischen Reiter der Zivilisation: Vergleich und daraus resultierender Neid; Eigentum und daraus resultierende Ungleichheit. An die Stelle der natürlichen Selbstliebe trat ihre degenerierte Zwillingsschwester, die Eigenliebe, und von da an ging es im wahrsten Sinne des Wortes bergab mit den Menschen, so sehr sie auch meinten, sich in einem immerwährenden Aufstieg zu befinden.
Immerhin, der Gedanke war neu und originell, und die Akademie hatte genug Größe, dafür einen Preis zu geben. Vielleicht wäre es aber besser gewesen, wenn Rousseau ihn nicht bekommen hätte, auch wenn das paradox klingt; denn die Berühmtheit bekam ihm nicht. Sofort begann er sich zu streiten, mit den etablierten Philosophen, den großen Pariser Enzyklopädisten, seinen ehemaligen besten Freunden – das Theater sei eine moralische Anstalt? oh nein, das Gegenteil sei der Fall, unsittlich sei es und gefährlich. Natürlich hatte er selbst kurz zuvor sogar eine Oper geschrieben, sie war ein Erfolg und es war ein Paradox mehr. Weiterhin gab er seine Kinder, trotz seiner wirtschaftlich deutlich gebesserten Situation, ins Findelhaus; in seinem Erziehungsroman Emile aber imaginierte er einen Erzieher, der geradezu symbiotisch mit seinem Zögling verschmilzt und alles tut, um ihn vor den verderblichen Wirkungen der Zivilisation zu beschützen. Negative Erziehung nannte er das, und meinte: Man solle der Natur möglichst wenig im Weg stehen, auch bei der Erziehung nicht. Die Zeitgenossen spöttelten bereits über seinen vermeintlichen Kampfruf „Zurück zur Natur“, der bis heute wie ein schlecht sitzendes Etikett an ihm kleben geblieben ist: Nein, Rousseau meinte nicht, der Mensch sollte, wie ihm Voltaire vorwarf, zurück in die Wälder gehen und auf allen vieren kriechen und sich von Eicheln ernähren, wie die Schweine. Aber er sollte wenigstens versuchen, sich möglichst weitgehend von den schädlichen Einflüssen der Gesellschaft, ihren Künsten der Verstellung und des schönen Scheins, ihrem Prahl- und Imponiergehabe fernzuhalten, es korrumpiere nicht nur die Sitten, sondern letztlich auch den Staat. Denn dieser gründe, so beschrieb es Rousseau nun in seinem contrat social, der später für die Französische Revolution mit verantwortlich gemacht wurde, auf dem gemeinsamen Willen aller, die sich zu einem Vertrag zusammengeschlossen hätte und freiwillig ihre natürlichen Rechte einschränkten, um sie so zu stärken : Alle Macht solle künftighin vom Volk ausgehen – aber von einem Volk vernünftiger Individuen, die selbstbewusst ihren natürlichen Rechten entsagten, ohne sie jemals ganz zu vergessen, und dafür Pflichten auf sich nahmen. Das war ausnahmsweise nicht besonders paradox, aber dafür leider, wie schon bald die historische Erfahrung zeigte, vollständig unrealistisch, von geradezu platonisch inspirierter Naivität; und vielleicht war es das gerade deshalb, weil es einmal nicht paradox war.
Rousseau aber blieb sich treu und ging zurück in die Wälder. Nach einer Odyssee durch die Güter des französischen Hochadels und einer panischen Flucht nach dem Verbot des Gesellschaftsvertrags durch die Zensur, die ihn sogar nach England führte, fand er zwischendurch für kurze Zeit seinen Frieden auf einer Insel im Bieler See. Er kleidete sich als Armenier, in einem langen schlafrockartigen Gewand, das durch eine imposante Pelzmütze gekrönt wurde, und streifte durch die Wälder, botanisierte und klöppelte; bis sie kamen und Steine nach ihm warfen jedenfalls, danach war die Ausweisung nur noch eine Frage der Zeit. Rousseau schrieb weiter, und jetzt schrieb er nicht mehr über Philosophie oder Politik oder Musik, er schrieb seine Autobiographie, die lang erwarteten Bekenntnisse, in denen es heißt: Ich bin nicht gemacht wie irgendeiner von denen, die leben. Ich bin der erste Mensch, der seine ganze Natur zeigt, der den Schleier hebt und zeigt, wie unter dem von der Gesellschaft und von der Erziehung, von den Eltern und von den Erziehern, von den Autoritäten und den Freunden verformten Maske, der natürliche Mensch aussieht, der kein edler Wilder mehr ist, oh nein! Eines jedoch habe ist mir geblieben und ich halte es heilig: Es ist die Wahrheit. Vitam impondere vero – ich habe mein Leben der Wahrheit geweiht, es ist meine eigene Wahrheit, und keiner kann sie mir nehmen. Und ist sie nicht das Einzige, was wir bewahren können, in dieser Welt der Täuschung und des Betrugs, in der wir von anderen genauso verraten werden wie von unserer eigenen fatalen Eigenliebe? Kann man also nicht der wahrste Mensch sein, und gleichzeitig der verworfenste – und damit eben nicht mehr der verworfenste, weil der allerverworfenste doch derjenige wäre, der noch nicht einmal seine eigene Verworfenheit anerkennte und offenlegte? Sind meine Paradoxien als schwacher Mensch nicht letztlich belehrender, aufschlussreicher, wichtiger als die große Philosophie mit ihrer unrealistischen Eindeutigkeit und ihrem logischen Hochmut?
Rousseau, der Paradoxenmacher, starb im Frieden mit sich und der Welt, nachdem er seine Bekenntnisse abgelegt hatte. Es ist überliefert, dass er vor seinem Tod noch in den Park hineinsah, in zwar künstlich-gebändigte, aber immerhin doch ein wenige Natur gebliebene Natur, und mehr konnte man nicht erwarten im Zeitalter der Zivilisation, und er war es zufrieden. Dass man seine sterblichen Überreste 16 Jahre nach seinem Tod, der terreur in Paris stand in der schönsten Blüte, ausgrub und ins Nationalheiligtum, das Panthéon nach Paris, überführte – vielleicht hätte er das Paradox geschätzt, das ihn am Ende zu einem Nachbarn Voltaires werden ließ, der so höhnisch die Nase über seinen Wilden gerümpft hatte. Aber es ist wahrscheinlicher, dass er lieber auf seiner Insel geblieben wäre, wo die Natur das Grab erobern kann und die Schmetterlinge in voller Freiheit über seine unsterbliche Seele flattern.
Natürlich hat die Geschichte eine Witzfigur aus ihm gemacht, wie aus noch jedem großen Mann. Man sieht ihn förmlich vor sich, den sorgfältig frisierten und etwas geckenhaft gekleideten, auf den Porträts langsam vor sich hin alternden Mann, wie ihn morgens sein Diener weckt, Lampe heißt er, pünktlich um 4.45 Uhr; wie er seinen Tagesplan pünktlich absolviert, jeden Tag genauso, wie er seine Spaziergänge unternimmt, nach denen die Königsberger angeblich ihre Uhr gestellt haben sollen. Zwischendurch aber, wenn er nicht an seinen monumentalen Werken arbeitet, darf er ein wenig Mensch sein: darf Gäste empfangen zu einem ausgiebigen Mittagtisch, plaudern und sie mit Anekdoten unterhalten. Allerdings soll er nie selbst gelacht haben über seine Anekdoten, und das kennzeichnet ihn vielleicht besser als all die anderen Legenden und Mythen, die sich selbst längst verselbständigt haben: Er hatte Pflichten als Gastgeber, die Gäste mussten unterhalten werden, und war das nicht ein Fall für den Kategorischen Imperativ? Wollte man nicht selbst gut unterhalten sein, wenn man seine Freunde aufsuchte und das Mittagessen sie wieder einmal in die Länge zog? Der Erfolg dieses Unternehmens jedoch lag außerhalb dessen, was noch der moralischste in seinem Pflichteifer leisten konnte; und niemand konnte einen verpflichten, die eigenen Scherze komisch zu finden. Dann aber kehrte man zurück in sein Studierzimmer, während Lampe vielleicht abräumte, und man revolutionierte die Philosophie, so wie damals Nikolaus Kopernikus, ein anderer Ostpreuße, der die Weltsicht seiner Zeitgenossen auf den Kopf gestellt hatte. So wie sich nämlich die Erde um die Sonne drehte, und nicht etwa umgekehrt, so waren es nicht die Dinge, die unser Verstand erkannte; es war vielmehr ganz umgekehrt, der Verstand gab den Dingen ihre Erscheinungsweise, und immer nur spiegelte der Verstand selbst sich in der Welt; die Welt aber war unberührbar, rein, ein Ding an sich, von dem der Mensch nichts wissen konnte. Um das jedoch zu zeigen, musste Kant Königsberg nicht verlassen, und er hat es auch nie getan: Rufe ergingen an ihn, ruhmvolle, an große Universitäten, er lehnte sie ab und blieb mit Lampe in Königsberg. Er wurde zum Mitglied der berühmtesten Akademien ernannt und blieb in Königsberg. Er wurde von der Zensur verfolgt und blieb in Königsberg. Seine Lehre verbreitete sich nach gewissen Anlaufschwierigkeiten geradezu rasend, man war Kantianer oder man war nichts mehr in der Philosophie; er hatte Jünger und Gegner, mit beiden korrespondierte man – und blieb in Königsberg.
Dort jedoch, in Königsberg, baute er immer weiter an seinem Werk, und das ist ein Bild, das er selbst immer wieder benutzt hat: Er errichtete einen architektonisch wohlgegliederten philosophischen Palast, mit endlich gesicherten und soliden Fundamenten, seinen drei Kritiken nämlich. Denn wäre er nicht selbst beinahe, als junger Mensch, den Verführungen eines haltlosen Skeptizismus anheimgefallen, nachdem er David Hume gelesen und verstanden hatte? Hatte der Schotte nicht demonstriert, dass all unsere Erkenntnis auf Wahrnehmung und Beobachtung beruht, und dass man niemals, kategorisch: niemals, auf dieser Basis eine strenge Beziehung zwischen Ursache und Wirkung, genannt Kausalität, herstellen könne? Denn woher sollte man wissen, ob ein oft beobachteter Kausalzusammenhang nicht doch nur eine Häufung von Zufällen, eine zeitliche Gleichzeitigkeit war, oder ob die Beobachtung mangelhaft war? Kausalität jedoch war nicht irgendetwas; Kausalität, die eindeutige Beziehung von Ursache und Wirkung, war die Basis der Philosophie seit der Antike, und ohne sie würde der ganze Bau der Metaphysik in sich zusammenbrechen, das Denken hätte keine Gesetz mehr und Anarchie wäre die Folge. Das konnte und das durfte nicht sein, fand Kant. Und er machte sich an die Arbeit, indem er ein neues Fundament suchte, es sollte die Zeit überstehen und ein- für allemal zeigen, dass Philosophie als ernsthafte Wissenschaft möglich sei! Und so machte sich Kant an seine ‚Kritiken‘, er arbeitete eine Architektonik aus, indem er einen Stein auf den anderen setzte und jeden auf seine Tragfähigkeit prüfte, und dann noch einmal prüfte, und wenn er nicht tragfähig war, weil er in Antinomien, Paralogien und andere Sackgassen führte, verwarf er ihn und suchte einen neuen. Er erfand dabei eine neue Sprache, es war notwendig, weil er sonst all die alten Missverständnisse mit eingebaut hätte, und sie hätten das Fundament unnötig geschwächt. Der Bau wuchs und wuchs, er war nicht schön, aber wohlgegliedert; er hatte viele Verstrebungen zwischen den einzelnen Teilen, die sich gegenseitig stützten, er war unglaublich kompliziert konstruiert, ganze Generationen von Nachfolgern sollten sich in ihm verlaufen; aber er war, im großen und ganzen, folgerichtig, und schließlich hatte keiner behauptet, Philosophie sei etwas, was das Denken leicht machte, im Gegenteil: Aber er machte es durchsichtig.
Aber noch nicht einmal darum ging es ihm in erster Linie, wenn auch ganz bestimmt in zweiter. Denn Kant war nicht nur ein guter Aufklärer, der mit dem sapere aude! – wage zu denken, und zwar selbst und ohne Autoritäten und ohne Risiko-Lebensversicherung – der Aufklärung ihr Motto gegeben hatte. Aber er war auch ein religiöser Mensch, wenn auch nicht im kirchlichen Sinne; er glaubte aber an die Vernünftigkeit der Welt, an ihre zweckmäßige Konstruktion, an einen großen übergeordneten logos, ob er nun Gott oder wie auch immer hieße; und nichts wäre schlimmer für ihn gewesen, als mit dem Beweis, dass wir die Welt niemals an sich selbst erkennen würden, auch Gott abzuschaffen. Aber leider wurden, als er sich der Spitze seines Palastes näherte, einige Tricks und Wendungen nötig, kleine kopernikalische Wenden sozusagen. So führte die Kritik der reinen Vernunft notwendig, über viele Stufen und verschlungene Wege, leider zu der Schlussfolgerung, dass eine spekulative Erkenntnis allein mit Mitteln der reinen Vernunft unmöglich, mithin kategorisch: unmöglich sei. Mit ihr konnte man nicht Gott beweisen, nicht die Unsterblichkeit der Seele, ohne die doch alles Leben in dieser Welt des Scheins und der Täuschung sinnlos war; nicht die Freiheit des menschlichen Willens, das, was den Menschen aus der Masse der Schöpfung hervorhob, ihn einzigartig, der Erlösung würdig machte, weil er ein Bürger zweier Reiche war, nicht nur der unfreien Natur, sondern auch des freien Geistes. Aber leider, leider würde man das alles niemals mittels spekulativer Philosophie beweisen können, und das war nun völlig gesichert und immerhin auch etwas.
Doch immerhin – und jetzt kommt der kleine Salto – konnte, nein, musste man die Ideen der Vernunft als regulative Prinzipien benützen; man musste dafür nur ein kleines, unschuldiges „als ob“ einsetzen. Es würde also niemals erweisbar sein, dass Gott die Welt vernünftig erschaffen hatte und den freien Menschen mit seiner unsterblichen Seele in ihr; aber unser Denken tut zwingend so, als ob dies alles der Fall wäre. Denn ohne diese Annahme würde alles Denken keinen Sinn machen. Alle drei Prinzipien waren, wie er es dann in der Kritik der praktischen Vernunft nennen würde, Postulate: unbedingte Forderungen, die sich absolut zwingend daraus ergeben, dass es eine intelligible Welt, eine Welt des Geistes, eine Welt der Vernunft, eine Welt der Zwecke gab, die unterschieden war von der Welt der Natur, der Empirie, der Sinnlichkeit und Täuschung. Denn wenn es sie nicht gab – dann war sowieso alles vergebens, dann würde es keine Philosophie mehr geben und keine Hoffnung. Der Bau der kritischen Vernunft würde zerfallen, wie noch alle Systeme vor ihm. Und als der Palast der Kritiken fertig war, als die Konstruktion stand, war Kant nicht etwa zufrieden, nein, er schrieb vielmehr unermüdlich weiter: Denn nun konnte er daran gehen, die Räume zu beziehen, sie auszustatten mit Inhalten, mit Rechts- und Religionsphilosophie, mit Anthropologie und Geschichtsphilosophie, mit dem, was er in einer eigentlich in ihrer Paradoxie originellen Formel die „Metaphysik der Sitten“ nannte. All das aber hat die Philosophiegeschichte, die ihn schon zu Lebzeiten in ihr Pantheon erhob, nicht so sehr interessiert: Berühmt wird man als Baumeister, nicht als Innenausstatter.
Mit 84 Jahren, gut 20 Jahre nach seiner ersten ‚Kritik‘, starb Kant in Königsberg, wo sonst, wahrscheinlich an Altersschwäche; er war schon seit längerem kränklich gewesen und hatte seine tägliche Routine aufgegeben, auch seine geistigen Fähigkeiten verließen ihn nach und nach. Seine letzten Worte sollen gewesen sein: „Es ist gut so“. Die Gedenktafel, die die Stadt Königsberg wenig später für ihren berühmtesten Sohn anbrachte, zitiert diejenigen Worte, die auch all die verstehen konnten, die sich in Kants philosophischen Palästen verlaufen hatten oder gleich an der Pforte wieder verschreckt umdrehten: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“. Sie gehen ein wenig ans Herz, zumindest was den Blick in die Sterne betrifft, während die Berufung auf das moralische Gesetz wohl heute in den meisten allenfalls ein Gefühl der Leere oder einer lästigen Pflicht hervorruft; Kant halt. Man versteht Kant aber nur wirklich, wenn man dieses Gefühl versteht. Denn beide bezeugen sich bei Kant gegenseitig, das unendliche Universum und das ewige moralische Gesetz, und mit dem einen fällt das andere. Und natürlich kann man Moralität auch ohne Vernunft denken, ohne einen Weltenschöpfer, ohne einen bis heute immer noch nicht recht nachweisbaren freien Willen und ohne die Aussicht auf Unsterblichkeit; aber es ist gefährlicher.
Johann Karl Wezel und das Leben als Spiel
Er kam aus Sondershausen, einer kleinen Residenzstadt im tiefsten Thüringen gelegen, und irgendwie kam er sein ganzes Leben lang nicht wirklich darüber hinaus und davon weg: nomen est omen, forever. Als Sonderling beschrieben ihn die wenigen, die ihn besser kennen lernten, von Freunden wagt man kaum zu sprechen. Seine Schriften hatten sonderbare Helden, wie gleich sein erster Roman: Tobias Knaut, ein Stotterer, missgestaltet von Geburt, misshandelt schon im Mutterleib, missbraucht von den eigenen Eltern und von den Frauen, missverstanden sein ganzes kurzes Leben lang. Und trotzdem, das war das wirklich Sonderbare daran, war Tobias Knaut eigentlich nicht missgelaunt, obwohl er jeden Grund der Welt dazu gehabt hätte und dann noch ein paar mehr. Nein, er war nur stoisch – er ertrug alle Widrigkeiten ungerührt, weil er von der Welt sowieso nie etwas Besseres erwartet hätte; sie war ein Ort, wo man besser ein Stoiker war oder wenigstens chronisch betrunken. Denn die Welt war, und das zeigte Wezel dann nur folgerichtig in seinem nächsten Roman, nicht etwa die beste, nein, sie war die schlechteste aller möglichen Welten: Und dafür brauchte man noch nicht einmal Erdbeben, es reichten schon die Mitmenschen. Neid und Vorzugssucht, so Wezel, das waren die wesentlichen Triebfedern des Menschen zu allen Zeiten und unter allen Himmeln, immer schon hatten sich die Menschen gegenseitig zerfleischt und beraubt und vergewaltigt und betrogen, und sie würden es auch zuverlässig weiter tun. Was sollte aus zwei solchen Ziehvätern auch schon für ein Geschlecht entspringen?
Aber es wurde noch sonderbarer. Denn während die Zeitgenossen die Menschenfeindlichkeit und den Nihilismus des Sonderlings aus Sondershausen beklagten, sah er sich selbst gar nicht so. Er war weder ein Stoiker noch ein Menschenfeind, auch übermäßiger Alkohlgenuss ist nicht überliefert, er hatte auch gar nicht genug Geld dafür; er behauptete vielmehr von sich, dass er den Frohsinn liebe und die gute Laune. Und weit davon entfernt, die Menschheit zu verdammen oder zu verfluchen, wolle er sie unterhalten, und erziehen natürlich auch, wie noch jeder Aufklärer – und ein Aufklärer war Johann Karl Wezel bis in die Zehenspitzen. Ja, er war es sogar so weit und so tief, dass er die Grenzen der Aufklärung sehen konnte: Sie lagen in der unveränderlichen Natur der Welt und der des Menschen, von dem er einmal schrieb, das beste Rezept für ihn sei gleich viel Verstand und gleich viel Empfindung, aber dann bitte noch einmal halb so viel Vorurteile, wie beides zusammen genommen, also ca. ein Drittel – denn ohne Vorurteile, das weiß der Sonderling am allerbesten, funktionieren Menschen nicht, ihr schwacher Verstand braucht eine Stütze, zumal seine Gefühle dazu neigen, bei jeder Gelegenheit dem Verstand gegen das Schienbein zu treten. Aufklärung ist allerhöchstens, dass man seine Krücken kennt und weiß, wann man sie kurz ablegen darf; aber der Mensch wird sie immer brauchen, und nur wenn er seine Krücken verleugnet, wird er ein Monster.
Derweil ging es dem Sonderling aus Sondershausen herzlich schlecht in der schlechtesten aller möglichen Welt, bei aller Bemühung um die gute Laune und ein fröhliches Gesicht. Denn er war ein freier Schriftsteller, und die damit verbundene Freiheit ist schon ein sehr sparsames Geschäft. Er versucht es mit allen möglichen Projekten, eine Erziehungsanstalt will er gründen, und sein Erziehungsprogramm liest sich genauso wie sein Rezept zu einem Menschen: Schulung für den Verstand, aber auch für die Empfindungen – und nicht zuletzt für den Körper! - und gelegentlich ein Zugeständnis an die unbeherrschbare Natur: Wenn sich die Knaben halt prügeln müssen, dann sollen sie es wenigstens unter Aufsicht tun. In einer Prügelecke. Mit Regeln. Das Projekt scheitert, wie so viele andere auch; und es zerreißt einem fast das Herz, wenn man Wezels Bewerbungsbriefe für andere Erziehungsinstituten liest: Er brauche wenig, ein Stuhl und sein Bett seien sein ganzes Eigentum, und ernähren würde er sich sowieso nur von Brot und Kaffee – mit ein wenig Zucker, wenn es denn möglich sei. Aber er hat keinen Erfolg, mit nichts hat er Erfolg. Auf dem kurzen Höhepunkt seines Erfolgs schreibt er noch einmal einen Roman, der es beinahe auf den Höhenkamm der Literaturgeschichte geschafft hätte, aber eben nur beinahe, er verschwand dann doch bald in einer Gletscherspalte: die Liebesgeschichte eines jungen Helden kleinbürgerlicher Herkunft (ja, natürlich, ein Wunschbild, wie der Großteil aller Literatur, die von Menschen geschrieben wird) und einer jungen Heldin aus dem Adel – aber wieviel mehr als eine Liebesgeschichte ist dieser Roman, er ist das erste wirkliche, realistische Bild der deutschen Ständegesellschaft mit all ihren überholten Sonderlichkeiten mitten im Herzen der Aufklärung. Und seine zwei jugendlichen Helden sind keine Sonderlinge mehr, aber auch keine blutleeren Idealgestalten; sie werden wie all die anderen auch getrieben von zweifelhaften Affekten, gehen in die Irre, machen dumme, sogar schwere Fehler – aber sie kommen zurück, sie finden sich wieder, und am Ende steht eine Idylle mittlere, bürgerlichen Charakters, ein bescheiden gewordenes Wunschbild, mit Krücken für die Illusion, etwas mehr Stühlen und gelegentlich auch Kuchen anstelle von Brot.
Doch danach ist es vorbei, es ist, als habe Wezel all seinen Optimismus und guten Willen verbraucht mit diesem Werk. Er wird sonderlingshaft streitsüchtig, er verzankt sich in Wien mit dem Direktor des Burgtheaters, er verzankt sich in Leipzig mit einem hoch angesehenen Leipziger Philosophieprofessor, er verzankt sich mit der Zensur, die sein philosophisches Hauptwerk, den Versuch über die Kenntniß des Menschen, nicht drucken lassen will; was soll man aber auch mit Leuten anfangen, die ein Buch verbieten, weil der Autor den berühmten Rousseau, in einem Bild natürlich, auf einem Fixstern wohnen lässt? Und dieses Verbot traf ihn hart: Denn er kannte die Menschen tatsächlich, als er sein Hauptwerk schrieb, mehrbändig war es geplant; er hatte sie beobachtet, über all die Jahrzehnte hinweg, illusionslos und aufmerksam, und dann hatte er all das Beobachtete und Erfahrene sortiert und kritisch gewendet und mit der Lektüre der einschlägigen Fachliteratur vertieft, es war eine Heidenarbeit gewesen. Und auch sich selbst hatte er beobachtet, mit der gleichen Intensität und Illusionslosigkeit und Aufmerksamkeit, aber es mag sein, dass ihm das nicht gut bekommen ist; manche Dinge bleiben besser unbeobachtet. Denn nun wird er psychisch krank; er muss zurück nach Sondershausen, in die Heimat, wo er als Kind nicht glücklich war und es jetzt noch weniger sein wird, es ist die letzte Zuflucht. Die Sondershausener sehen einen Irrsinnigen heimkehren, geplagt von einer grenzenlosen Hybris, in der er sich mit Gott gleichgesetzt: Ich, Gottmensch Wezel! Die Kinder werfen auf der Straße mit Steinen nach ihm, er spricht mit niemand mehr, verwahrlost, wird notdürftig durchgefüttert und die Welt vergisst ihn nach und nach.
Dabei hatte er noch in seinem allerletzten Roman, einem kleinen launigen Märchen, das Leben als eine Art Reise vorgeführt, in der man allen Illusionen der Welt der Reihe nach hinterherläuft und eine nach der anderen verliert. Aber etwas bleibt übrig, eine Art unzerstörbare Essenz des menschlichen Daseins in der schlechtesten aller möglichen Welten: die wunderbare, aber bewusste Illusion, die einem Bücher verschaffen können, eine bescheidene Lebensweisheit in Kenntnis der eigenen Beschränkungen, dazu der ganz kostenfreie Genuss der Natur in all ihrer Schönheit und Vielfalt – das ganze Leben ist ein Spiel, es gibt nur ernstere und weniger ernste, aber mitspielen müssen wir alle, und es gibt nur bessere und schlechtere Spiel – das ist die Moral, die spielerisch daherkommt und doch so mühsam erarbeitet ist. Ein letztes Mal hatte Wezel in diesem Buch mit seinem menschenfreundlichen Gesicht gelächelt, ein letztes Mal ein Lächeln auf das Gesicht seiner Leser gezaubert – um selbst, direkt danach, in Wahnsinn, Psychose, Armut, Verzweiflung zu versinken. Er lebt noch lange Jahre, sehr reduziert, in Sondershausen, er hat gute Zeiten und schlechte Zeiten; und als er stirbt, verzeichnet das Kirchenbuch: „Starb den 28. Januar 1819 nachts ein Viertel nach Zwölf, den 30. unter den Gottesacker, Herr Johann Karl Wezel, einer der vorzüglichsten Schriftsteller Deutschlands. Begräbnis gratis“. Immerhin, ein Gratisbegräbnis war der Nation einem ihrer vorzüglichsten Schriftsteller wert.Home
Sein Leben lang hat man ihm irgendetwas vorgeworfen. Erst war er zu schwärmerisch, wie man das damals nannte; auf eine beinahe peinliche Art religiös, verliebt in seinen Glauben, aber auch in die poetischen Möglichkeiten, die er ihm bot: Heilige Poesie, war das nicht das Höchste, was ein Dichter schaffen konnte, begeistert von der Größe des unerschöpflichen Gegenstandes, verdienstvoll für die Nation und das Publikum und von Bestand in alle Ewigkeit? Waren nicht die größten Dichter, ja sogar die größten Philosophen – und das meinte für den früh altklugen und literaturvernarrten Wieland immer: die der Antike – Heilige Poeten gewesen? Und bot ihm dieses Programm, wenn er es nur klug verfolgte, nicht die Möglichkeit, dem oberschwäbischen Biberach, seiner allzu kleinbürgerlichen Heimatstadt, endgültig zu entkommen? Immerhin, er hatte schon früh eine Eliteschule besucht, fern der Heimat, und er hatte ein wenig studiert. Lieber aber hatte er den Don Quijote gelesen, eines seiner Lebensbücher; und der Kontrast zwischen dem Ritter von der traurigen Gestalt und den altehrwürdigen Patriarchen des christlichen Epos hätte ihn schon damals stutzig machen können. Aber er war jung, er war verliebt (natürlich, das war er immer), und er quoll über vor ungenutztem Enthusiasmus. Einen Teil davon schüttete er in ein bücherlanges Hexametergedicht für die Geliebte, über, nichts Geringeres, „Die Natur der Dinge“. Aber den Rest gedachte er karriereförderlich in das Projekt Heilige Poesie zu investieren.
Der Coup gelang. Wieland kam in die Schweiz, und während er ziemlich begriffsstutzigen und sich gern einmal prügelnden Aristokraten-Kindern die Schönheiten der humanistischen Bildung zu vermitteln versuchte, schmeichelte er in der Freizeit den lokalen bildungshungrigen Damen ebenso wie dem ansässigen Literaturpapst, zu dessen Fahne er nun bedingungslos schwor. Das ging gut. Eine Zeitlang wenigstens. Dann wurden die Knaben allzu aufsässig, die Damen allzu anspruchsvoll – wenigstens die Eine, die Gebildete, aber leider nicht allzu hübsche, wollte ihn nicht heiraten! -, und die Heilige Poesie ein wenig, wie soll man sagen, am besten wörtlich: eintönig. Man warf ihm auch bereits allzu großen Opportunismus neben der zweifellos vorhandenen, ebenfalls großen dichterischen Virtuosität vor; schrieb er doch neben der Heiligen Poesie auch Loblieder auf den preußischen König! Aber der fatale Enthusiasmus, er musste schließlich irgendwo hin. Und es war nur in der äußersten Not, dass er doch wieder zurückkehrte nach Biberach, wo sich in der Stadtverwaltung ein vielversprechender Job als Kanzleichef anbot. Der verlorene Sohn kehrte zurück und warf sich in die Grabenkriege der traditionell bikonfessionell regierten Stadt: Es gab alles zweimal, einmal in katholischer und einmal in evangelischer Variante, und damit verdoppelte, nein, vervielfachte sich jedes einzelne Verwaltungsproblem der stolzen freien Reichsstadt, und Wieland saß mittendrin, schrieb, protokollierte, vermittelte, intrigierte, reformierte, es entstanden viele, viele Bände feinsten bürokratischen Schrifttums, im geschnörkelsten Kanzleideutsch der Zeit. Es hätte ihm das Schreiben verleiden können und den Stil verderben, und es ist ein Wunder, dass es das nicht getan hat. Aber als Gegengift schrieb er außerdienstlich, er schrieb einen kleinen launigen Roman, seinen Mini-Don Quijote, und die Dame seines Herzens war liebes katholisches Mädchen aus kleinen Verhältnissen, das er, der Protestant und Kanzleichef geschwängert hatte. Solche Probleme löste man diskret, ein wenig Geld konnte jedoch nicht schaden.
Danach war er geheilt. So nannte man das damals, in der Literatur jedenfalls: eine Schwärmerkur, die den allzu hochfliegenden Idealisten auf den holprigen Boden der Realität zurückbrachte. Das, was Don Quijote erst auf seinem Totenbett gelang, gelang Wielands Don Sylvio jedoch ganz gut, im Wesentlichen deshalb, weil er verstanden hatte, was Liebe ist, wenn sie nicht platonisch ist (Wieland selbst ging dann schnell eine Vernunftehe ein, zeugte 13 Kinder, und die Ehe war über Erwarten glücklich, und darin allein ist eine Lehre, die heute niemand lernen will). Und dann machte er gleich noch eine zweite Kur, bei der er seine metaphysische Schwärmerei austrieb, den Glauben an allzu heilige Ideale und Idole, an eine Welt jenseits der Sinnlichkeit, wo die Seelen direkt kommunizieren und jeden Morgen schon zum Frühstück platonische Ideen schlürfen. Dazu schrieb er, immer noch vom Biberachschen Amtsschimmel malträtiert, einen zweiten Roman, in dem er sie direkt gegeneinander antreten lässt, den Schwärmer und den Realisten, und zwar mit den härtesten Waffen, die die Philosophie nur bereithielt: Materialismus, Determinismus, all das, was den braven Zensoren die sorgfältig zu einem Zopf geflochtenen und gepuderten Haare zu Berge stehen ließ. Und Wieland wollte, dass der Schwärmer gewinnt, er wollte es immer noch und allzu sehr; aber etwas in ihm gab seinem Gegner, dem Materialisten und Deterministen, allzu gute Waffe. Der Roman musste enden mit einem Sprung aus dem Fenster, in dem der Autor seine Seele rettete, und es war eine Ironie, die weh tat, danach war das eine oder andere metaphysische Organ noch länger verletzt. Deshalb versuchte Wieland einen neuen Schluss, und dann noch, Jahre später, noch einen dritten, mit dem er halbwegs zufrieden war. Aber natürlich wurde er dafür kritisiert, die ganze Zeit; erst warfen sie ihm vor, dass er dem Materialismus huldigte, und dann, dass er eine allzu idealistische Utopie verfasst habe. Genau, hätte er gesagt, und zwar beides. Beides, habt ihr verstanden? Denn ich bin zwar kein Schwärmer mehr, sondern nur noch ein Enthusiast, der an die Möglichkeit des Guten glaubt (weil ich es spüre, hier, innen in mir, und niemand wird mir das nehmen!). Aber eben darum weiß ich, welche unendlichen Energien man dafür in Bewegung setzen muss, damit es in auch die Welt kommt, die eben materialistisch und deterministisch ist, jedenfalls solange man nicht energisch Einspruch dagegen erhebt.
In diesem Geist schrieb Wieland weiter, und endlich entlastet von der Fron des Amtes. Er schrieb weiter als Universitätsprofessor der Philosophie, aber keine philosophischen Kompendien, sondern Philosophenromane, in denen die antiken Philosophen neu auflebten und ihre Theorien in einer moderneren Welt erprobten, mit wechselndem Erfolg, aber immer unterhaltsam, immer anrührend, immer klug. Natürlich warfen sie ihm philosophisches Dilettantentum vor. Der Aufstieg Kants zur neuen philosophischen Großmacht stand unmittelbar bevor, und Wieland schrieb dagegen an – nicht gegen den Inhalt von Kants Philosophie, das interessierte ihn weniger; Inhalte waren verhandelbar und eng mit der Person des Philosophen selbst verknüpft, hatte er das nicht in seinen Philosophenromanen gezeigt, dass einer eben ein Diogenes war, der mit seiner Tonne glücklich war, und ein anderer ein Aristipp, der die Philosophie auch in bescheidenem Luxus leben konnte? Aber gegen die Form der kantischen Kritiken, gegen die Erfindung neuer, abstrakter Wörter, gegen die Unzugänglichkeit der langen, in sich kreisenden Sätze und Texte, vor allem aber: gegen ihren Alleinvertretungsanspruch, dagegen kämpfte Wieland mit aller Entschiedenheit. Denn war das nicht wieder, nur anders verkleidet, philosophisch gewandet, ein lebensfernes Idol, der Palast der kritischen Vernunft, zu dem nur die Eingeweihten Zutritt hatten? Hatte er nicht gezeigt, zeigte er es nicht weiter in seinen Romanen und Essays, dass Philosophie nur da wahre Philosophie sei, wo sie Lebenskunst sei, Aufklärung über die Natur des Menschen – nein, seine vielfältigen und unterschiedlichen Naturen - und seine spezifischen Zwecke in dieser Welt, war Philosophie nicht nur da sie selbst, wo sie Denkenlernen und Lebenlernen in einem war? Aber ihm wurde vorgeworfen, den Geist der neuen Zeit nicht verstanden zu haben, und der hieß Kant. Philosophie als System, für Fachleute. Weder enthusiastisch noch skeptisch, sondern transzendental, was immer das heißen sollte (es hieß, sehr vereinfacht: der menschliche Verstand ist begrenzt. Wir haben es jetzt endgültig bewiesen Ach so, hätte Wieland gesagt).
Und dann kam die Französische Revolution, und die Welt war nicht mehr die gleiche. Auch Wielands Welt. Seit langem schon, schon seit Biberacher Tagen, hatte er gründlich über die politische Verfassung menschlicher Gesellschaften nachgedacht: Er war zutiefst davon überzeugt, dass der Mensch ein geselliges Wesen war, von Natur aus und von Anfang an. Nicht der einsam umherschweifende Wilde Rousseaus, sondern eine freundliche Urfamilie schwebte ihm vor, seiner eigenen nicht unähnlich, in der all das Gute im Menschen, an das er so fest glaubte in seinem enthusiastischen Herzen, am besten und am reinsten zum Ausdruck käme. Und war es nicht natürlich und selbstverständlich, dieses Modell auszuweiten, auf kleine Gemeinschaften erst, und dann in immer größeren Kreisen bis hin zu einer kosmopolitischen Weltgemeinschaft, die eine einzige Menschheitsfamilie wäre, gesellig und gutwillig, aufgeklärt und tolerant, verbunden nicht nur durch das kalte Band der Gesetze (das natürlich auch), sondern durch die Blumenketten (so sagte man damals, und es ist eine schöne Vorstellung) von Liebe und Freundschaft? Denn bis dahin dachte Wieland, durchaus; der Kosmopolitismus war ihm keine schwärmerische Illusion, sondern er sollte – so hätte Kant es gesagt – eine regulative Idee sein, keine Utopie, sondern etwas, an dem man sein Handeln ausrichten konnte, mit der skeptischen Gewissheit, es selbst nicht mehr zu erleben, aber dem enthusiastischen Trost, dass es die eigenen Nachkommen, und sei es in fernen Generationen, verwirklichen und erleben würden. Schließlich war man eine Familie, auch mit der Zukunft.
Aber eben deshalb war es so durch und durch falsch, wie sich die anfangs so begeistert begrüßte Revolution in Wielands Lieblings-Nachbarland, dem Land mit der fortgeschrittensten Kultur, dem Land seines Helden Voltaire, nun entwickelte: Wer einen König köpfte, und wenn er es noch so verdient hatte, der hatte sich aus der Menschheitsfamílie verabschiedet. Und Wieland schrieb Artikel für seine Zeitschrift über die Revolution, über jeden einzelnen ihrer Schritte informierte er seine Leser; er las die französischen Zeitschriften, regelmäßig, er las die Proklamationen der Revolutionäre, er besprach das Gelesene mit Freunden und Bekannten in seinen täglichen Briefen; er war ein Augenzeuge dieser Revolution, so weit das eben aus dem Nachbarland in Zeiten vor Erfindung moderner Kommunikationsmittel möglich war. Er bildete sich sein eigenes Urteil, unendlich mühevoll, er korrigierte es hier und da, er verglich es mit allem, was er aus Geschichte und Literatur wusste – und das war viel und wurde immer noch mehr! -, und dann bildete er sich wieder ein Urteil und schrieb einen Artikel. Von Anfang an war er skeptisch gewesen, aber auch nicht wenig enthusiastisch. Doch die Skepsis nahm im Verlauf der Zeit überhand, sie wuchs mit dem Terreur, und irgendwann wurde es ihm zur sicheren Gewissheit: Die Zeit war nicht reif für die Demokratie, so sehr man sie auch begrüßen mochte; eine Demokratie, das zeigten alle Erfahrungen, die schon ihre Erfinder mit ihr gemacht haben, war eine schwierige Staatsform, für Fortgeschrittene, für gebildete Völker, für Bürger mit einem politischen Bewusstsein und einer geschulten politischen Urteilskraft; man konnte sie nicht einfach per Dekret verkünden und dann erwarten, alles würde gut. Nein, dann besser einen aufgeklärten König, der seinen Job gelernt hatte und ihn gut machte; das Volk würde gar nicht so unglücklich sein, und man hätte Zeit, den Staat in Ruhe zu reformieren. Gute Gesetze zu machen, eine fortschrittliche Verfassung, eine funktionierende Gewaltenteilung. Aber sie warfen ihm vor, reaktionär zu sein, ein uneinsichtiger Monarchist, der eine verjährte Ordnung ins Unendliche rechtfertigte. Schwärmer, allesamt, unheilbar. Ihre Schwärmerei wurde in Frankreich mit Blut bezahlt.
Aber sie lasen ihn ja sowieso nicht mehr, weder seine Romane noch seine Übersetzungen noch seine Zeitschrift. Eine neue Generation war gekommen, die nicht nur belächelte, sondern beleidigte, tief persönlich beleidigte: Unzeitgemäß sei er, ein Relikt überholter Zeiten und Formen; abgeschrieben habe er, bei der allzu sehr von ihm verehrten Antike (aber man war modern jetzt!), keine einzige originelle Idee, sondern nur Nachahmung, Wiederholung, Langeweile. Natürlich, sie taten nur das, was er auch als junger Mann gemacht hatte; das literarische Leben war keine Idylle, war es noch nie gewesen, sondern ein Kampf ums Dasein, in dem Polemik, Beleidigung, ja sogar Annihilation erlaubt waren. Und wer ihn, wer den ersten anerkannten Nationaldichter der Deutschen, der ihre Sprache verfeinert hatte wie ihre Kultur, der den barbarischen Deutschen die Grundtexte abendländischer Zivilisation durch Übersetzung und Kommentierung näher gebracht hatte, der ihnen die Philosophie der Antike wie der eigenen Gegenwart in Menschen übersetzt hatte – wer ihn stürzen würde, der hätte das höchste Podest für sich erobert (an Goethe wagten sie sich nicht. Das Podest war nicht nur hoch, es war breit und es war noch keine Waffe dagegen erfunden).
Das war zu viel. Wieland wurde schwach. Seine Frau war gestorben, es hat ihn unglaublich hart getroffen; er verließ sein kleines Rittergut nahe Weimar, wo er sich die antike Idylle des Dichters im Landleben verwirklicht hatte, Bäume gepflanzt und einen Rosengarten, umgeben von Schwiegertöchtern und Enkelkindern, besucht von Freunden und Bekannten aus aller Welt. Die Herzogin Anna Amalia war gestorben, die ihn damals nach Weimar geholt hatte, damit er ihren etwas schwierigen Sohn bilde und seiner zukünftigen Regierungsaufgaben würdig machte; sie waren über lange Jahre so etwas wie Freunde geworden, und das war viel in diesen standesfixierten und geschlechtergetrennten Zeiten. Er arbeitete, immer noch, er übersetzte Cicero, einen seiner Lebensautoren; vielleicht las er sogar dann und wann wieder im Don Quijote, man möchte es sich gern vorstellen, wie er sich verjüngt bei der Lektüre, wie er dann zur Feder greift und noch einen seiner kleinen Romane schreibt, einen Eheroman diesmal, und er ist so viel vernünftiger und lebenskluger als alles, was die jungen Romantiker gerade als „freie Liebe“ in die Welt schreien, das es fast wehtut. Denn man liest ihn nicht mehr. Man hat ihn annihiliert.
So verschwindet er immer mehr, bereits auf dem Weg in eine Unsterblichkeit, die er sich gern persönlich vorstellt, einfach weil es eine so schöne Vorstellung war und nicht mehr, weil er ein unheilbarer Schwärmer war: Dort würde er seine Ehefrau treffen, neben Anna Amalia und all den vorangegangenen Freunden und Gefährten. Und hatte nicht selbst Kant, wenn auch in seiner eigentümlich-unverständlichen Weise, gerade erwiesen, dass die Unsterblichkeit der menschlichen Seele ein Postulat der Vernunft sei, sprich: Alles mache keinen Sinn ohne sie? Natürlich, hätte Wieland gesagt und den Kopf geschüttelt. Natürlich kann man es nicht wissen, man kann nichts mit Gewissheit wissen in dieser sublunarischen Welt, hat das nicht schon die Skepsis gelehrt, zeigt sich das nicht jedem, der seinen Verstand einsetzt, ohne sich mit idealistischen Scheuklappen auszurüsten oder hochnäsig über den sogenannten „gemeinen Verstand“ herzuziehen? Und natürlich liegt es in der menschlichen Natur, es trotzdem glauben zu wollen; ich spüre es, hier, in meinem Herzen, und alle Vernünftelei dieser Welt wird mir diese Gefühlsgewissheit, diesen Enthusiasmus nicht nehmen. Seid skeptisch dort, wo man an euer Gefühl appelliert; seid enthusiastisch, wo man sich auf den Verstand beruft. Am Ende wird man euch sowieso kritisieren, und zwar von beiden Seiten; das ist der Nachteil, wenn man sich entschieden zwischen die Fronten wirft und angeblich opportunistisch ist, nur weil man Argumente von beiden Seiten betrachten kann, einfach indem man die Position wechselt. Denn deshalb bin ich von einem Schwärmer zu einem Skeptiker geworden; einem lachenden Philosophen, der nicht nur um die Standortgebundenheit menschlichen Wissens und Wollens weiß, sondern auch darum, dass alle diese unterschiedlichen Perspektiven auf das menschliche Wissen und Wollen, zusammengenommen, die nächste Annäherung an die Wahrheit ergeben, die der Menschheit jemals möglich sein wird. Und wenn jeder, Enthusiasten und Skeptiker und alle dazwischen, seinen eigenen Bildungsroman schreiben würde, ganz aus seiner Sicht, sehr ehrlich und aus einer gewissen Distanz gesehen, und mit einer Prise Laune und Ironie, die sich aus dieser Distanz ergibt – vielleicht hätten wir dann ein Bild der Welt, für das wir uns nicht zu schämen brauchten und in dem die unterschiedlichsten Typen und Sichtweisen in ein niemals endendes Gespräch geraten würden. Enthusiastisch und skeptisch.
Die Musterschülerin wird Lehrerin –
Wenn man sie doch hätte Latein lernen lassen! Aber der Vater, wohlangesehener Stadtarzt in Kaufbeuren, ließ seiner begabten Tochter zwar ein wenig Bildung angedeihen, neben der pietistischen strengen Religionserziehung natürlich. Sie durfte sogar in seine Bibliothek, das Schatzhaus; aber die wahre Bildung, die Bücher der Gelehrten, blieben ihr verschlossen: Latein. Mädchen, auch Bürgerstöchter lernten Französisch, die Sprache des Hofes und der eleganten Welt; dazu ein wenig Zeichnen, ein wenig Musizieren, ein wenig Haushaltsführung. Sophie war ein braves Kind und eine brave Schülerin, ganz sicher. Sie ging auch gern mit ihrer Mutter in die Natur hinaus und hatte zeitlebens ein Auge nicht nur für ihre Schönheiten, sondern auch ihre Eigenheiten, das Leben der kleinen Tiere, das Wachsen der Bäume und Blumen, für alles, was Gott in seiner unendlichen Güte und Phantasie erschaffen hatte; denn das alles war nicht nur schön und seltsam, sondern auch das konnte eine Lehre sein. Und auch ihr Verlobter, den ihr Vater ihr eines Tages vorstellte, da war sie gerade 17 Jahre alt, war ein gelehrter Mann und also durchaus nach ihrem Herzen. Italienisch konnte er ihr beibringen, und ein wenig Mathematik wollte man gemeinsam studieren; er war nämlich Italiener, aber leider war er auch Katholik. Und so ergab es sich während der üblichen Verhandlungen auf beiden Seiten, dass man doch eine gegenseitige Inkompatibilität feststellen musste: War es die Mitgift, die doch nicht ganz so groß war, war es die Unvereinbarkeit der tieferen Glaubensartikel, war es die Uneinigkeit über die konfessionelle Erziehung der zu erwartenden Kinder? Das Verlöbnis löste sich jedenfalls auf, da war man über die Anfangsgründe der Mathematik wohl noch nicht sehr weit hinausgekommen.
Kurz darauf machte Sophie einen Verwandtschaftsbesuch, der ihr Leben verändern sollte. Sie fuhr ins oberschwäbische Biberach, zur Familie ihres Vetters Christoph Martin Wieland. Zwei junge Leute, beide sehr schwärmerisch veranlagt, beide literaturbegeistert, beide unerfahren in der Welt und in ihrem Geschlecht – konnte es irgendjemand überraschen, dass es funkte? Natürlich wird auch Wieland sofort ein Lehrer für Sophie, er machte sie mit den Schriften der Alten bekannt, die er selbst so sehr verehrte. Und Sophie wird wieder die Musterschülerin gewesen sein, den bis ins hohe Alter zierlichen Kopf sanft geneigt, die schwarzen Augen blitzend vor Lerneifer und Ehrfurcht. Unter dem Lindele versprachen sie sich ewige Liebe, und Wieland schrieb für Sophie das pompösteste Liebesgedicht der Weltliteratur: „Die Natur der Dinge“ hieß es, wie ein berühmter Text aus der Antike; sechs ganze Bücher umfasste es (kaum weniger als das große Vorbild von Lukrez), und natürlich spielte die Liebe eine Hauptrolle darin, eine Himmelskraft, weniger aber die Geliebte selbst. Doch im wahren Leben musste man sich erst einmal trennen. Wieland entfloh der schwäbischen Enge der alten Bürgerstadt und ging in die Schweiz als Hauslehrer bei adligen Familien, vor allem aber, um sich bei den dort residierenden Literaturpäpsten einen Namen zu machen als junger, aufstrebender Literat. Man würde sich schreiben, so versprach man sich. Und geschrieben haben sie sich auch beide, bis ins hohe Alter, aber gekommen ist alles ganz anders, als man unter dem Lindele gedacht hatte. Nichts sei sicherer, so hat Wieland sehr viel später geschrieben, als dass er, wenn er Sophie damals nicht getroffen hätte, kein Dichter geworden wäre. Das ist vielleicht ein wenig übertrieben, aber ganz sicher hat die junge Liebe katalytisch gewirkt und nicht nur bei Wieland, sondern auch bei der jungen Sophie ein ganzes Feuerwerk hoher dichterischer Ideen geweckt. Es musste nur noch gebändigt werden.
Wieland wurde also ein Dichter, ein Vollblut- und später auch Vollzeitdichter. Überraschender war jedoch, dass auch Sophie eine Dichterin wurde. Geheiratet haben sie beide aber anderweitig. Sophie ist es, die nach langem Hin und Her und einem niemals offiziell gelösten Verlöbnis mit Wieland einen hohen Beamten von niederem Adel ehelicht, Georg La Roche. Sie geht mit ihm an den Mainzer Hof, erlernt das mühsame Geschäft einer Hofdame und gebiert ihm in den nächsten 15 Jahren acht Kinder, von denen fünf das Kindesalter überleben; da bleibt wenig Zeit für literarische Ambitionen und verliebte Briefe. Auch diese Ehe macht Sophie natürlich zu einem Bildungsprojekt: So lernt sie Englisch, und sie wird sich ihr Leben lang eine Vorliebe für das Volk und seine Sprache, für die skurrilen Lords und die melancholischen Verrücktheiten bewahren. Später hat sie auch erzählt, dass der Ehemann ihr morgens häufig Bücher auf dem Frühstückstisch liegenließ, in denen Stellen eingemerkt waren. Mit immer noch kaum gebremsten Bildungseifer hat sie sie gelesen, vielleicht neben einer morgendlichen Schokolade, die Kinder waren natürlich versorgt vom Personal. Abends war man dann gerüstete für die gebildete Konversation mit den gebildeten Männern, und Sophie wurde berühmt dafür, wie sie lebendig das Gespräch führte, schwebend von Thema zu Thema wechselte und alles Schwere leicht machen konnte.
Derweil war Wieland in der Schweiz gewesen und hatte versucht, eher handfesten Schweizer Bürgersöhnen die Antike nahezubringen, wie er es bei Sophie so erfolgreich getan hatte; sie prügeln sich jedoch zwischendurch, das kann nicht gutgehen. Aber er wird in die gute Gesellschaft eingeführt, und die dortigen Damen schließen den so hinreißend schwärmenden Schwaben schnell ins Herz. Sophie ist schon in weite Ferne gerückt, als er sich beinahe mit einer gebildeten Frau verlobt, Julie von Bondeli hieß sie und sie war eigentlich nicht so sehr am Heiraten interessiert, sondern mehr an der Philosophie, und so wurde auch das nichts. Als er dann einige Jahre später in seine alte Heimatstadt Biberach zurückkehrt, die ihm einen ziemlich langweiligen, aber angesehenen und gut dotierten leitenden Posten in der Verwaltung angeboten hatte, trifft er tatsächlich wieder auf seine Ex-Verlobte. Es mag durchaus ein wenig peinlich gewesen sein, wie man sich gegenüber stand auf dem nahe bei Biberach gelegenen Gut Warthausen. Dort residierte der Graf Stadion, ein einflussreicher katholischer Politiker, man munkelte, Sofies Ehemann sei sein unehelicher Sohn, den er nun zu sich nach Warthausen geholt hatte, als Privatsekretär; und auch Sophie ist einbezogen, sie führt die weitläufige französische Korrespondenz des Grafen. Warthausen ist weit weg von den politischen Zentren der Zeit, aber das wird für Wieland wie für Sophie durch einen wahren Standortvorteil aufgewogen: Stadion hat eine umfangreiche Bibliothek, und beide setzen ihr inzwischen recht unterschiedlich gewordenes Bildungsprogramm fort. Die alte Liebe, sie flammt wohl nicht wieder auf; Sophie ist glücklich verheiratet, Hofdame, Ehefrau und Mutter; und Wieland sieht sich, nachdem er eine unglückliche Affäre mit einem katholischen Bürgermädel samt ungewollten Folgen glücklich vertuscht hat, von seiner eigenen Vernunft geradezu dazu gezwungen, endlich zu heiraten. Eine Vernunftehe wird es auch werden, mit einer Augsburger Bürgerstochter aus gutem Hause. Anna Dorothea wird ihm 13 Kinder gebären, sie wird ihm bedingungslos den Rücken freihalten für sein Dichtertum (auch wenn sie ihn wahrscheinlich nicht in seiner Jugend zum Dichter gemacht hätte), sie wird ihm ein Halt sein in dunklen Tagen und als er sie verliert, verfällt er in eine tiefe Depression.
Doch vorerst bleiben wir im idyllischen Warthausen, und Wieland, den sein Kanzleijob zumindest intellektuell nicht auslastet, arbeitet nachmittags an der ersten deutschen Shakespeare-Übersetzung, ein Mammutunternehmen im Nebenjob. Doch auch Sophie hat jetzt angefangen zu schreiben. Man hatte ihr ihre ältesten Kinder weggenommen, sie wurden in einem katholischen Pensionat erzogen, wie das üblich war. Und Sophie litt nicht nur still darunter, nein, sie ergriff die Feder und begann sich ein „papiernes Mädchen“ zu schaffen. Das „Fräulein von Sternheim“ nannte sie den entstehenden Briefroman, und natürlich trug er, wie noch jedes Erstlingswerk, die Züge seines Schöpfers oder seiner Schöpferin. Das Fräulein von Sternheim ist bildungshungrig, naturverliebt, eigenwillig, eine Musterschülerin; niemals glücklich bei Hofe, all die Verstellung und Unnatur ist ihr wesensfremd. Sie ist empfindsam, aber nicht überempfindlich, und sie blüht auf, wenn sie anderen, Ärmeren helfen kann, denn sie ist auch, wie ihre geistige Mutter, tugendhaft durch und durch. Als Sophie von einem befreundeten Pfarrer zur Veröffentlichung ermutigt wird, gibt sie das Manuskript zuerst Wieland; schließlich war sie schon so lange seine Schülerin. Wieland korrigiert hier und da ein wenig, schließlich ist er schon lange ein Lehrer. Aber er hilft auch dazu, dass das Werk schließlich anonym erscheint, mit einer von ihm namentlich gekennzeichneten Vorrede, die sicherheitshalber die Vorzüge und die Mängel des Werkes aus seiner männlichen Sicht gleich aufzählt, der Tenor ist: Es ist das liebenswürdige Werk einer liebenswürdigen Frau, sie ist kein Profi, habt Nachsicht; aber es ist ganz sicher – nun, individuell, originell, selbst erlebt, selbst formuliert; es hat seine Schrullen, aber es sind echte und natürliche.
Das Werk wird, zur Überraschung aller, ein Riesenerfolg, die Autorin bald enttarnt und Sophie wird für die nächsten Jahre als die Verfasserin der Sternheim reüssieren, es ist ihr Label. Inzwischen haben die La Roches das abgelegene Warthausen längst verlassen und sich in Ehrenbreitstein bei Koblenz repräsentativ eingerichtet, Sophie etabliert dort einen empfindsamen Salon, in dem die Größen der Zeit verkehren, sogar Goethe hat ihn erwähnt in Dichtung und Wahrheit. Sie schreibt weiter, Briefromane, moralische Erzählungen, Geschichten von Frauen, die so sind, wie es ihre Sternheim war und wie sie selbst immer noch ist: nach all den Jahren immer noch hungrig nach Bildung, weltoffen, aber auch tugendhaft, mit einer sentimentalen Note und einem unerschütterlichen Glauben – Sophie von La Roche ist keine Revolutionärin, keine Emanze, sie wird auch keine mehr, aber sie wird immer mehr eine Autorin, und das ist vielleicht auch eine Form von Emanzipation, auch wenn man keine blauen Strümpfe trägt und den Geschlechterkampf predigt. Wieland ist derweil wieder in die Ferne gerückt. Er ist Philosophieprofessor in Erfurt geworden, leidet unter der thüringischen Provinz und schreibt zur Entlastung philosophische Romane; auch sie haben launige, bildungshungrige und empfindsame Helden, und auch er ist kein Revolutionär und wird keiner mehr werden; auch er glaubt weiter eher an die Bildung, an die Erziehung des Menschengeschlechts, an seine Perfektibilität, aber eben: Schritt für Schritt.
So fliegen die Jahre dahin, Wieland erzieht und schreibt, er ist inzwischen Prinzenerzieher geworden, so wie es eine seiner Figuren war; er lebt in Weimar, neuerdings hat er auch eine Zeitschrift gegründet, den „Teutschen Merkur“. Sophie führt ihren Salon, erzieht (die jüngeren Kinder dann endlich selbst) und schreibt ihre moralischen Erzählungen. Alles hätte noch lange so weitergehen können, da fällt ihr eben noch geadelter Mann plötzlich in Ungnade: Er hatte sich doch ein wenig zu freizügig über die Nachteile des „Mönchwesens“ geäußert (wir befinden uns bereits im Vorfeld der französischen Revolution, die diesem Mönchswesen wie so vielem anderen ein abruptes Ende bereiten wird), und der katholische Fürstbischof entlässt ihn. Die Familie findet Asyl in Speyer, aber natürlich hat die Entlassung auch finanzielle Konsequenzen. Der Ehemann beginnt zu kränkeln, und vielleicht ist es erst an diesem Punkt, dass Sophie von La Roche zur Autorin in einem professionellen Sinn wird – getrieben durch finanzielle Not, befördert durch die Entlastung von familiären Pflichten, mit dem wachsenden Selbstbewusstsein der lebenserfahrenen Frau, die keinen Korrektor mehr braucht für ihre Texte. So gründet nun auch sie eine Zeitschrift, ein Art weiblichen 'Merkur'. Weder die heroische Minerva steht auf ihrem Titelblatt noch lieblich tanzende Grazien, sondern „Pomona“, die Göttin des Herbstes, der Ernte, der fröhlichen Apfelgärten. In der Vorrede weist sie ausdrücklich darauf ist, und das ist viel für sie, dass dies die erste Zeitschrift ist, die von einer Frau für Frauen gemacht ist – also nicht wie die anderen Frauenzeitschriften der Zeit, die von Männern für Frauen gemacht werden und meinen, dass sich Frauen eher für Fragen der Mode und der Haushaltsführung interessieren sollten und nicht für europäische Politik, Übersetzungen aus den europäischen Kultursprachen und fundierte Ehe- und Erziehungsberatung aus weiblich-solidarischer Perspektive.
Denn das alles bietet die 'Pomona'. Die Zeitschrift erscheint einmal im Monat, sie wird zu großen Teilen von Sophie selbst gefüllt: mit Geschichten, Auszügen aus ihrem umfangreichen Briefwechseln, Übersetzungen, Antworten auf Fragen der Leserinnen, der „deutschen Frauenzimmer“, an die sich die Zeitschrift explizit richtet – kein Nationalismus, sondern eine Aufbauarbeit am so lange vernachlässigten weiblichen Teil der Kulturnation. Es ist Sophie von La Roches wahrscheinlich ambitioniertestes Erziehungsprojekt. Und es ist natürlich ermutigend, dass die große Kaiserin Katharina einfach pauschal 500 Stück bestellt, um sie am russischen Hof zu verteilen, aber dann wird es Sophie nach zwei Jahren doch zu viel. Doch die finanzielle Lage wird immer schwieriger: Als ihr Ehemann stirbt, muss sie mit der Witwenpension auskommen, und sogar die entfällt, als die Franzosen in den Koalitionskriegen die rheinischen Gebiete besetzen. Inzwischen hat sie auch noch einige Enkelkinder zu versorgen; ihre eigene Tochter Maximiliane, verheiratete Brentano, war früh gestorben und Sophie springt ein. Sie erzieht die stürmische Bettine, ihr Leben lang ein wildes Kind, und auch Clemens Brentano geht bei ihr aus und ein. Wenn sie kann, geht sie aber auf Reisen, durch die Schweiz, durch Frankreich, England und Holland. Anschließend veröffentlicht sie ihre Reisejournale, das ist gut verdientes Geld, die Leser sind ganz wild auf Reiseberichte. Und sie macht aus ihren Erziehungsbriefen in der „Pomona“ ein eigenes Buch, einen veritablen Erziehungsratgeber, wahrscheinlich wieder: der erste von einer Frau für Frauen. „Briefe an Lina“ heißt er, der erste Band richtet sich an Lina als junges Mädchen, der zweite an Lina als Mutter.
Ein neues papiernes Mädchen also, dieses noch etwas musterschülerinnenhafter, zweifellos, aber manchmal muss man halt etwas dick auftragen. Auch die Ratgeberin kommt etwas hart als Übermutter daher: Was sie nicht alles weiß und rät, Lektürehinweise neben Wäschetipps, Ratschläge für die Kleidung, die Vorratshaltung und den Verstand! Von Raum zu Raum geht man gemeinsam durch das Leben, und die arme Lina wird geradezu überschüttet mit Weisheit und Lebenserfahrung. Aber was soll man machen, das hat sich alles angesammelt und will hinaus, und was hätte man selbst darum gegeben, eine solche Bildung zu bekommen? Die wesentliche moralische Lektion ist im Übrigen: Sei zufrieden, mit deinem Stand und deinen Talenten, die die Natur dir mitgegeben hat; nutze deine Chancen, sie sind alles, was du hast. Wer sich immer nur noch Größerem sehnt, macht nicht nur sich selbst unglücklich, sondern auch seine Mitmenschen; schlimmer noch, er verstößt gegen die göttliche Vorsehung, denn Gott hat sich schließlich etwas dabei gedacht, als er die Frauen anders gemacht als die Männer (ein wenig hört man, aber nur ganz leise, den Stoßseuzfer: Gott sei Dank!). Und er hat ihnen auch ihre Pflichten vorgezeichnet: Ehefrau, Hausfrau, Mutter! Nicht etwa Autorin; nein, so weit geht Sophie nicht, dass sie ihren, doch etwas von der geraden Bahn abweichenden Lebenslauf als Muster aufstellt. Andererseits, war sie nicht selbst auch all das gewesen, mit ganzem Herzen: Ehefrau, Hausfrau, Mutter (dazu aber auch Hofdame, Sekretärin, Salonniere, Zeitschriftenherausgeberin, Reiseautorin)? Und jetzt ist sie, am Ende, auch noch zur Lehrerin geworden, nach all den Männern in ihrem Leben, die sie belehrt haben; kann man es ihr übelnehmen, dass sie etwas über die Stränge schlägt und eine Musterlehrerin wird, so wie sie selbst immer eine Musterschülerin war? Und dass sie mit all dem nicht nach Selbstverwirklichung strebte, dass sie sich nicht emanzipieren wollte, sondern nur ihren Job machen, dort, wo Gott sie hingestellt hatte – das ist ein Vorwurf, der nur in moderne Köpfe kommen kann und Sophie sehr fremd gewesen wäre: Man lebte doch nicht für sich allein, man lebte für seine Freunde, für seine Familie, wenn es hoch kam: für die Nation? Was wäre denn gewonnen, wenn man sein zufälliges Selbst, was immer das sein sollte, verwirklicht hätte und dabei das seine Seele, seine Freunde oder das ewige Leben verloren? Sie ist niemals Minerva gewesen, die strahlende Kämpferin; sie ist die freundliche Göttin der Ernte und der Gärten, Pomona, die den Männern die schönen Äpfel reicht und nebenbei eine mittlere Großfamilie versorgt. Niemand erntet für sich allein, so wie niemand für sich allein gesät hat; und niemand ist genützt mit Äpfeln, die nur schön glänzen rotbackig prall, nahrhaft müssen sie sein und nützlich, und man backt besser einen handfesten Apfelkuchen aus ihnen anstatt eines luftigen Apfelsouffles.
Derweil hat sich der alternde Wieland als Gutsbesitzer in Oßmannstedt bei Weimar eingerichtet, ganz horazisch; er pflanzt Apfelbäume und übersetzt, Horaz, Lukian, am Ende Cicero, seine alten und immer noch jungen Helden. Sophie besucht ihn dort eines Sommers, mit ihrer nach ihr selbst benannten Enkelin Sophie Brentano. Es wird wieder ein wenig peinlich gewesen sein, so viele Jahre waren inzwischen vergangen; und Wieland kann sich nicht recht in seine alte Liebe finden, umso mehr jedoch hat er Augen für die aparte Enkelin, die sich eng an den freundlichen altersweisen Herren anschließt. Sophie von La Roche reist bald wieder ab, man wird sich in diesem Leben nicht mehr sehen. Sophie Brentano allerdings kehrt im darauf folgenden Jahr nach Oßmannstedt zurück, sie leidet an einer unglücklichen Liebesgeschichte, so wie damals ihre Oma und ihr Wahl-Opa, die nicht zueinander kommen konnten unter dem Lindele; und keiner konnte ahnen, dass sie Oßmannstedt nicht mehr lebendig verlassen wird, eine Hirnhautentzündung rafft sie nach einem perfekten Sommer schnell und schmerzhaft dahin. Wieland ist traumatisiert, mehr noch, als ihr ein Jahr später seine Ehegattin nachfolgt, die stille Anna Dorothea. Zu dritt ruhen sie noch heute am Ufer der Ilm bei Oßmannstedt, ein altes Ehepaar mit einer Wahl-Enkelin.
Sophie von La Roche wird wenige Jahre später in Offenbach, ihrem letzten Wohnort, begraben. Am Ende hatte sie noch ein Buch geschrieben, in dem sie erstmals unverhüllt von sich selbst spricht: "Melusines Sommerabend" heißt es, und herausgegeben hat es Wieland, wie damals ihren Erstling, die "Geschichte des Fräulein von Sternheim". Vorher jedoch hatte sie schon ein anderes, besonders originelles autobiographisches Werk verfasst: "Mein Schreibetisch" heißt es, und in ihm beschreibt Sophie von la Roche – ihren alten Schreibtisch, ihren liebsten Schreibort, und ihre selbst angefertigte Mappe mit ihren gesammelten Lesens- und Lebensfrüchten. Es ist die alte bunte, liebenswert skurille und sentimentalisch angehauchte Sophie-Mischung: Natur und Welt, Gott und Tugend, von eigener Hand eingebunden in die zufällig auf einer Reise gefundenen Seiten eines alten englischen Frauenmagazin. Rund zweihundert Jahre später wird Virginia Woolf fordern, dass Frauen einen eigenen Raum zum Schreiben brauchen. Sophie von La Roche hatte ihn gefunden. Es war ihr ganz besonderer Schreibtisch, und wo er stand, da war die Autorin zuhause. Im Vorwort zur "Sternheim" hatte Wieland ihre Qualitäten als Autorin noch sehr vorsichtig beurteilt. Handwerkliche Fehler seien ersichtlich, das Buch sei nicht glatt und geschliffen wie seine eigenen Werke (und die der Männer, so ist mitzudenken), es sei mehr interessant des tugendhaften Inhalts und der liebenswerten Schrulligkeit der Hauptperson wegen (aber waren seine männlichen Helden, die die Philosophie liebten und nur sie, etwa weniger schrullig?). Aber dann hatte er doch zugegeben, dass in der Ausdrucksweise etwas ganz besonderes läge. Sie sei nämlich nicht angelernt, übernommen, nein, sie sei so originell und persönlich und unverwechselbar, wie der individuelle Prozess, in dem sie erworben wurde. Er brachte diesen Unterschied auf den zeitgenössischen und etwas groben Gegensatz von Natur vs. Kunst: Die Frauen sind eben Naturwesen, und so schreiben sie auch. Aber, beinahe gegen seinen eigenen Willen und Wollen, gibt er schließlich zu: Nur so entsteht Individualität beim Schreiben, nur so – man baut sich ein Leben, und dann erfindet man sich eine eigene Sprache und Ausdrucksweise dafür, und je dichter beides nebeneinander liegt, desto unverwechselbarer – heute würde man sagen: authentischer – war man.
Sophie war ihr ganzes Leben für Andere dagewesen, so wie man ihr es beigebracht hatte, und sie war eine immer eine Musterschülerin gewesen, die des Lernens niemals müde wurde. Aber wenn sie sich an ihren „Schreibetisch“ setzte und die Feder nahm, war sie ganz bei sich selbst, auch wenn sie für andere schrieb. Hätte man sie Latein lernen lassen, vielleicht wäre sie eine Naturforscherin gewesen. Hätte sie Wieland damals geheiratet, vielleicht wäre sie trotzdem eine Dichterin geworden, auszuschließen ist es nicht. Aber wahrscheinlich wäre sie ihren Korrektor niemals losgeworden.
Die Krankheit überschattete alles. Es war ein langes, immer wiederkehrendes Übel; es stieg aus den Gedärmen auf und legte sich auf die Brust und es nahm einem den Atem und den Lebensmut. Es hatte schon begonnen mit seiner jugendlich-romanhaften Flucht vor dem Herzog in Schwaben, dem ungeliebten Medizinstudium, der Pflanzschule, in der sie Untertanen pflanzten; er aber war ein Räuber, ein großer Kerl, und er brannte durch in einer Nacht-und-Nebelaktion ins benachbarte Mannheim, die Freiheit, mit der sein Name später einmal beinahe synonym werden sollte: Schiller, der Dichter der Freiheit. Zunächst aber wurde er ein Professor der Geschichte, in Jena, und er erfand die Geschichtsschreibung neu: nicht die gelehrte Historie der Brotgelehrten, sondern eine Geschichte für den philosophischen Kopf, so wie er selbst einer war, auch und gerade als Gelehrter; und als er seine Antrittsvorlesung hielt, eine Glanzstunde akademischer Selbstreflexion, fasste der Hörsaal die Zuhörer nicht. Und dann wurde er wieder krank, und dann nahm er sich einen Urlaub von seinem Leben: Er wollte in Ruhe die kantische Philosophie studieren, an der niemand vorbeikam, egal ob Brotgelehrter oder philosophischer Kopf. Und dann kam er zurück und erfand er die Ästhetik neu, in dem er ihr einen Grund gab, der weiter nicht hätte entfernt sein können von seinem siechen Körper und seinen täglichen Kämpfen: das Spiel, ausgerechnet das Spiel. Der Mensch sei nur da ganz Mensch, wo er spiele, und auf das „ganz“ kam es ihm an, bei all den Widersprüchen und Dualismen, mit denen er, treuer Schüler des großen Meisters Kant, jonglierte, dass es einem den Atem nehmen konnte. Und mit dem Spiel war es ihm, dem großen Tragiker, aufs bitterste Ernst: Denn sein Spiel war gar kein Kinderspiel, keine regellose Ausschweifung vom Alltag, kein Urlaub vom Ernst des Lebens; es war der schwierigste denkbare Balanceakt von Geist und Körper, Freiheit und Regel, Form und Inhalt, und nur wenn die Waage aufs genaueste im Gleichgewicht war und die Gegensätze einen ebenso freien wie regelgebenden Tanz veranstalten konnte, war es das wahre, das ganze, das ästhetische Spiel. Und nur in diesem Spiel konnte man die wahre, die ganze Freiheit gewinnen – die aber nichts anderes war als das Setzen selbstgewählter, in vollem Bewusstsein anerkannter Regeln; was die späteren Nachbeter und Freiheitsapostel nicht einmal im Ansatz verstanden hatten, die immer nur dachte, Freiheit sei die Abwesenheit von Grenzen. Nein, das Gegenteil war der Fall; es gab keine strengeren Regeln als die der Freiheit.
Bevor der Tod ihn dann doch viel zu früh holte, hatte das Leben ihm jedoch am Ende noch einen wahren Freund geschenkt – den einzigen, der gewillt und in der Lage war, dieses riskante Spiel mit ihm zu spielen, es ganz zu spielen, und der in allem sein Gegensatz war und gerade deshalb sein einziger und wahrer Geistesverwandter. Und kein Freund hat jemals eine rührender, vertrauensvollere, intimere Bitte an seinen Freund gestellt als Schiller an Goethe: Er bitte um die große Gnade, in seinem Haus – krank sein zu dürfen. Zwischendurch jedoch, wenn es Schiller besser ging, schrieben sie ihre spitzen, gnadenlosen Xenien gegen den Rest des literarischen Deutschlands, so frech und schamlos wie nur je zwei junge, aber hochbegabte Schuljungen, sie gründeten Zeitschriften, kritisierten sich gegenseitig ihre Werke und spielten sehr ernsthafte Spiele mit der Schönheit, ihrer strengen Meisterin. Und als Schiller starb, erwartet und doch unerwartet – zu oft war er schon totgesagt gewesen -, sagte der Arzt nach der Obduktion, es sei ein Wunder gewesen, dass dieser Mann gelebt und produziert hätte: Der linke Lungenflügel war zerstört, die eine Niere beinahe aufgelöst, der Herzmuskel hatte sich zurückgebildet – ein Wrack. Aber Schiller hatte es immer gewusst, sein ganzes Leben war getrieben von der Furcht, nicht fertig zu werden mit dem, was er zu sagen hatte. Er hinterließ ein Textkorpus, unvergänglich und geschützt vor den Gebrechen des Körpers, und man könnte den Mann daraus wieder auferstehen lassen mit all seinen Werken, so voll Schaffenskraft sind sie. Er hat mit Einsatz seines ganzen Lebens auf Zeit gespielt – und gewonnen.
Goethe ging nicht zu Schillers Begräbnis, er war krank. Er ging auch nicht zum Begräbnis seiner langjährigen Lebensgefährtin und späteren Ehefrau, Christiane, die unter unsäglichen Schmerzen ihrem Nierenleiden erlegen war. Sein einziger Sohn, August (die anderen Kinder waren Fehlgeburten, mehrere an der Zahl, es war eine seltene Rhesus-Unverträglichkeit zwischen Goethe und Christiane, aber das konnte damals niemand wissen, und die Leiden der Mutter werden auch hier unsäglich gewesen sein), starb fern von ihm in Rom. Aber Goethe war kein Monster, nicht der unnahbare Olympier mit dem kalten Götterblick, zu dem ihn die verängstigten Zeitgenossen gemacht hatten; noch nicht einmal die Freundschaft mit Schiller wollten sie ihm gönnen, es konnte nicht sein, dass er, der Größte der Lebenden, auch noch den besten Freund haben sollt; er musste kleingemacht werden, koste es was es wolle, also war er ein schlechter Freund und ein schlechter Ehemann und ein Monster. Aber Goethe trug nicht nur schwer an seiner unzweifelhaften Größe; er trug noch schwerer an seinem im wörtlichen Sinne mit-leidendem Herzen. Denn Goethe war, und das hat er allen verborgen und nur in seine Werke eingeschrieben, hoch emphatisch, vielleicht war er sogar der Emphatischste von allen. Er konnte mit allem fühlen, mit dem kleinsten und dem größten, mit Männern und Frauen, ja sogar mit Tieren und der unbelebten Natur; und sein Ausruf angesichts einer Seeschnecke am Lido von Venedig, „wie abgemessen zu seinem Zustand, wie seiend, wie wahr!“ war die reinste Wahrheit, ein Eindruck unmittelbarsten Gefühls wie fortgeschrittenster Erkenntnis (eine Idee, hätte Schiller gesagt, und Goethe hätte erwidert: Nein, eine Erfahrung, und tatsächlich war es das eine wie das andere und das eine durch das andere, aber das konnte niemand außer den beiden verstehen). Denn Goethe interessierte sich, lange bevor das „Interesse“ (Teilnahme, wörtlich gelesen) zu einem Stempel des Unverbindlich-Belanglosen geworden war, für alles, von Kind an; und dass jedes neu entdeckte Interesse ein verwandtes, aber doch wieder ein wenig anderes nach sich zog, von dem man aus Beziehungen spinnen konnte zu wieder anderen interessanten Dingen, von der Dichtung zur Mineralogie, von der Botanik zur Farbenlehre, von der Farbenlehre zu den bildenden Künsten (nur der Philosophie und der Mathematik hat er sich verweigert, der Große – das war nun wirklich zu viel Idee und zu wenig Erfahrung, zumindest für einen Uneingeweihten). Und zwischendurch ging es, von all dem, immer wieder zurück zur Dichtung, aber das war Goethe nun wirklich nicht das Wichtigste; er war alles, aber kein Literat oder Intellektueller gar. Und so wanderte er durch sein Leben und seine Zeit, wie sein Romanheld Wilhelm, der vom 18. ins 19. Jahrhundert stolpert, mit all der neuen teuflischen Velocität und Industrie; oder gar wie sein Faust, für den Raum und Zeit nur noch vage gültige Kategorien sind im Angesichts der Ewigkeit. Aber auch diese immer noch zunehmende Größe hatte ihren Preis: Es war die Einsamkeit, zumal nach Schillers, des Einzigen, Tod, und wenn er sich seiner Trauer überlassen hätte, er hätte nicht mehr leben können – wie sein Werther, den er statt seiner umbrachte, als er jung war, ein literarisches Menschenopfer, wenn es jemals eines gegeben hat. Aber er war nicht empfindsam, wie die Zeitgenossen den Giganten gern gesehen hätten, er protzte nicht mit seinen Gefühlen und Tränen. Er war empfindlich, und nur wer wahrhaft empfindlich ist, der kann sich für alles wahrhaft interessieren; und nur, wer alles mitempfunden hat bis zum bitteren Ende, der kann es lebendig gestalten.
Am schlimmsten jedoch war die Einsamkeit am Ende. Nicht nur die meisten Freunde hatten ihn verlassen, seine Frau und sein Sohn, die wenigen geschätzten Kollegen, der verehrte Fürst und dessen Mutter, Anna Amalia, die ihn damals in ferner Vergangenheit nach Weimar geholt hatten. Nein, er fühlte sich verlassen von der Zeit. Er, der doch immer als erster die Zeichen der Zeit verstanden hatte, der ihr mehr als einmal die Richtung gewiesen hatte – und war er nicht der lang ersehnte deutsche Nationalautor, ihr erster Klassiker von Rang, der Revolutionär der Farbenlehre und so vieles mehr? –, er sah sich immer mehr nicht nur vereinsamt, sondern übergangen. Unverstanden. Abgelegt. Die Welt änderte sich auf einmal noch schneller als er selbst, wahrhaft veloziferisch. Es war kein guter Weg, da war er sich ganz sicher; und seinem zweiten Faust schrieb er all das ein, seine Ängste und Visionen, aber auch seine Hoffnung auf Erlösung, Verständnis, Rettung: „Wer immer strebend sich bemüht“. Und dann legte er alles, die vielen hundert Seiten, in eine Schublade und schloss sie ab; nach seinem Tode sei sie zu öffnen, ein Vermächtnis für eine kommende Zeit, die vielleicht reif sein würde zum Verstehen. Hatte er sich nicht immer strebend bemüht, mehr noch, als man von einem normalen Sterblichen erwarten konnte? Aber sie warfen ihm Kälte vor und Überheblichkeit; weil sie nicht zu ihm hinauf konnten, mussten sie ihn herabziehen. Als er, direkt vor seinem ruhigen Alterstod, nach „mehr Licht“ verlangte, meinte er wahrscheinlich: für die Anderen.
Geboren wurde er in Ostpreußen, einem der hintersten Winkel der Welt. Doch er holte die Welt zu sich heran, egal wo er war. Sein Studium absolvierte er in Königsberg, noch nicht weit von zuhause; aber immerhin, er hörte Immanuel Kant und verkehrte auch privat bei dem großen Revolutionär der Philosophie, der privat gern gesellig war und sich mit Männern nach seinem Herzen umgab. Er korrespondierte er bereits mit Gelehrten in aller Welt und schrieb selbst gelehrte Artikel, als er sich endlich auf die große Reise seines Lebens begab: Und auf dem freien Meer, irgendwo zwischen der Kurischen Nehrung und dem Atlantik, entwarf er bei schaukelndem Wellengang in einem Reisetagebuch nicht mehr oder nicht weniger als eine zu schreibende, genauer: von ihm, Johann Gottfried Herder aus Mohrungen in Ostpreußen, zu schreibende Enzyklopädie der menschlichen Kultur, die sich mit dem großen französischen Schauprojekt der Aufklärung messen konnte. Einige Jahre verbrachte er auf Reisen, als Prinzenerzieher und Reisebegleiter, wie es damals üblich war; aber dann wurde er wieder häuslich. Er lernte eine junge Dame kennen, um die er erfolgreich freite und die ihm sieben Kinder gebären wird; er trat in die Spuren seines Vaters und wurde Hofprediger in der Provinz, in Bückeburg. Zwischendurch aber war etwas passiert, was sein Leben von Grund auf ändern sollte: Er war einem vielseitig begabten, lebhaften jungen Mann begegnet, in Straßburg, wo er sich einer äußerst schmerzhaften, täglich wiederholten Prozedur zur Öffnung seiner chronisch verstopften Tränendrüsen unterziehen musste. Und dieser begabte junge Mann besuchte ihn, immer und immer wieder, er saß mit am OP-Tisch, er sprach mit ihm über seine großen Pläne, er erlitt geduldig seine abrupten Stimmungswechsel, er war bereit, von dem nur wenige Jahre älteren Mann zu lernen, der eine Enzyklopädie in seinem Kopf entworfen hatte, auf einer Seefahrt zwischen Ostpreußen und Frankreich. Und als der vielseitig begabte junge Mann dann in das Herzogtum Weimar berufen wurde, weil der dort regierende, ebenfalls noch junge Fürst sich in ihn vergafft hatte, da dachte er, da dachte Goethe an Herder und ihre großen Pläne damals in Straßburg; und er verschaffte ihm eine nicht nur ehrenvolle, sondern auch hierarchisch hoch angesiedelte, vor allem aber arbeitsreiche Stellung als Cheftheologe in einem kleinen thüringischen Fürstentum, das sich entschlossen hatte, als eine Art Kulturhauptstadt im unterentwickelten deutschen Reich zu reüssieren.
Und so kam Herder ins Herz der deutschen Klassik, er wurde einer der „Vier Großen“, neben Wieland, dem ehemaligen Fürstenerzieher, dem sich immer noch vielseitiger entfaltenden Goethe und dem ebenfalls von Goethe als Geschichtsprofessor berufenen Schiller. Aber er blieb immer der blasseste im Quartett; er schaute immer grämlich, egal wer ihn porträtierte, er überwarf sich der Reihe nach mit allen seinen Freunden und versöhnte sich nur mit einem kleinen Teil wieder, und er hasste Weimar von Herzen, aber er kam nicht davon los. Aber wenn ihm seine vielfachen Amtspflichten Zeit lassen, arbeitete er an seiner Enzyklopädie, unermüdlich, und Stein für Stein setzte er sein Hauptwerk zusammen, die „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“. Schon der monumentale Titel mit den vier monumentalen Substantiven war eine Herausforderung, eine Kampfansage an die traditionelle Philosophie. Immanuel Kant, sein alter Lehrer, hatte inzwischen ebenfalls die Grundlage seines enzyklopädischen Projekts veröffentlicht: die Kritik der reinen Vernunft; und seine Jünger wurden immer mehr und bekamen immer mehr Einfluss und bestimmten die öffentlichen Debatten. Aber Herder wollte nicht kritisieren, er wollte aufbauen und verstehen, und an eine reine Vernunft glaubte er schon gar nicht; nicht aus theologischen Gründen, bewahre, nein aus reiner Menschenvernunft: Da draußen war eine Welt, eine historisch gewachsene und empirisch wahrnehmbare Welt, und sie war weit jenseits einer reinen Vernunft, aber verstehbar, mit Gefühl und Verstand des Menschen, und nur mit beiden zusammen. Aber das interessierte Kant nicht, der das Ding an sich für irrelevant erklärt hatte und der Philosophie neben einem neuen Fundament auch eine neue Sprache gegeben hatte, die man mühsam lernen musste.
Und Herder schrieb und schrieb, er schrieb eine Metakritik gegen seinen ehemaligen Lehrer, die dicker noch war als das Original, aber niemand wollte ihm zuhören, nur einige wenige alte Freunde, und wer weiß, ob sie ihn richtig verstanden hatten; er neigte zur wortgewaltigen Ausdrucksweise des geübten Predigers, er liebte Bilder und Metaphern über alles, und er dachte in Analogien: Sie waren der Grund und die Wurzel der Welt für ihn, der gleiche logos, der sich in allem äußerte, Tieren, Pflanzen und Menschen, und dieser logos sprach sich in so vielen Sprachen und Gebärden und Formen, wie sie nur Gott sich ausdenken konnte, der größte Analogiker und Weltenschöpfer. Aber Kant war dagegen, und das war ein Todesurteil. Herder schrieb trotzdem weiter unermüdlich gegen ihn an, gegen seine Jünger und gegen eine neue Zeit, die heraufzog. Sie nannte sich „romantisch“, sie trat auf als jugendlich-übermütige Fundamentalopposition und ultimative Erneuerung, und dabei hatten sie doch nur von ihm abgeschrieben, diese konfusen jungen Leute; er war es gewesen, der auf die Wurzeln aller Dichtung in der Poesie und Mythologie der Völker hingewiesen hatte und die Texte zusammengesammelt hatte, mühsam, aus vergessenen Quellen, von den Eskimos bis zu den Peruanern, und übersetzt und veröffentlicht; er hatte dargelegt, dass alle Dichtung eigentlich Musik war, gestalteter Naturlaut, Seelensprache; er hatte, in tausendfacher Variation, auf die Natur als Lehrmutter und Amme einer Menschheit hingewiesen, die ohne sie niemals zu einer bloß eingebildeten geistigen Humanität vorgedrungen wäre. Aber es nützte alles nichts, sie vergaßen und verleumdeten ihn. Und Herder war immer schon kränklich gewesen, aber nun wurde er krank und immer kränker, die Kuren halfen nicht mehr.
Als er starb, hinterließ er „Zerstreute Blätter“ – so der Titel einer seiner vielen Zeitschriftenprojekte, in die er sein immer noch wachsendes enzyklopädisches Wissen, seine unendliche Gelehrtheit und seine bilderreiche Sprache investiert hatte. Nach ihm würden Schulen und Straßen benannt werden, und er würde einer der „Vier Großen“ sein – aber niemand liest mehr zerstreute Blätter oder Kritische Wäldchen, und wenn er nach seiner schmerzensreichen Operation damals in Straßburg wieder weinen konnte, hat er darüber bestimmt mehr als eine Träne vergossen.
Im 19. Jahrhundert, Großbritannien ist gerade dabei, die industrielle Revolution und das Empire zu erfinden, erobern die englischen Frauen den Roman. Jane Austen ist eine der ersten, und sie ist bereits so perfekt, dass man beinahe geneigt ist, sie nicht als schreibende Frau zu sehen: Sie ist ein geborener Autor, das Produkt einer langen literarischen Ahnenreihe; sie muss das Schreiben nicht lernen, sie kann es, und sie tut es, ohne Verbitterung und fernab vom Geschlechterkrieg (man könnte nur einwenden, dass ihre Frauen ein wenig zu klug sind, aber das ist eine mehr als verzeihliche Schwäche). Aber sie bleibt nicht die Einzige. Zwei Familien machen von sich reden, und sie könnten auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein: Mary Wollstonecraft-Godwin und ihre Tochter Mary Wollstonecraft-Shelley, romantisch, anarchistisch, erotisch abenteuerlustig; und die Brontë-Schwestern Charlotte, Emily und Anne, geboren in Hawthorne inmitten der Moore Yorkshires und dort gestorben, kaum vierzig Jahre alt ist die älteste von ihnen geworden, und Charlottes Ehe hatte ganz sicher nichts von erotischer Abenteuerlust. Und doch, auf den zweiten Blick –
Aber beginnen wir am Anfang. Mary Wollstonecraft, die Mutter, geboren noch mitten in der Blütezeit des aufklärerischen Zeitalters, durchlebte wirre Jugendjahren mit Reisen quer durch Europa (pünktlich zur Revolution war sie in Paris), diversen Jobs, diversen Männern, der Geburt eines unehelichen Kindes und zwei Suizidversuchen, bevor sie mit knapp vierzig Jahren einen anerkannten Anarchisten, den Philosophen und Politiker William Godwin, heiratete; das war das äußerste Zugeständnis, das sie an eine bürgerliche Existenz machte. Da hatte sie aber ihr Hauptwerk, die Vindication of the Rights of Women, schon geschrieben – eine messerscharf argumentierende, philosophisch fundierte Kampfschrift, die nicht nur allgemein gleiche Rechte, sondern vor allem eine bessere Erziehung für Frauen forderte. Denn wie sollten sie, so fragte Mary, wie sollten die Frauen die ihnen qua Grundrecht zustehende zweite Hälfte der Welt eigentlich tragen, wenn man sie von Geburt an nicht nur entweder verhätschelt oder vernachlässigt, sondern zur Förderung der besseren Heiratsfähigkeit geradezu körperlich und seelisch verstümmelt hatte: Indem man sie in ihren natürlichen Entwicklungsmöglichkeiten beschnitten hatte, verkünstelt wie eine exotische Zierpflanze, in beengende Kleider gestopft wie eine Anziehpuppe, damit sie nicht allzu klug, nicht allzu scharfsinnig, nicht allzu selbstbewusst den Männern gegenüber wurden, also: wie Mary Wollstonecraft selbst? Immer hatte sie für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen, hatte die Kinder anderer Leute erzogen, ohne selbst eine Erziehung genossen zu haben. "Genossen", das sagt man bis heute so leichthin: Wie gern hätten viele Frauen dieser Zeit eine Erziehung genossen, die ihre Brüder so oft leichtherzig verachteten und auf die leichte Schulter nahmen? Und es war nur logisch, dass sie, die Männer, auf diesen leichten Schultern die ganze Welt allein nicht tragen konnten; sie hätten Frauen benötigt, Genossinnen, aber sie hatten nur Zierpuppen, exotische Zierpflanzen, die wussten wie man seine Locken eindreht und das Korsett schnürt und nicht widerspricht. Sie hätte wenigstens ein kurzes Eheglück verdient gehabt, die tapfere Mary Wollstonecraft, und vielleicht hätte sie dann noch weitere Werke geschrieben; oder sie hätte eine Schule gegründet, für ihre Tochter und noch viele andere bildungshungrige Mädchen. Aber die Welt ist ungerecht, und so starb Mary Wollstonecraft, seit kurzem mit dem Zunamen: Godwin, zehn Tage nach der Geburt ihrer Tochter im Kindbett. Sie hinterließ ein mutterloses Baby und einen überforderten Ehemann, der allem theoretischem Anarchismus zum Trotz lieber schnell wieder heiratete, damit das Kind eine Mutter hatte.
Und so kam Mary Wollstonecraft, die zweite, in die Welt: mit einem alternden Anarchisten als Vater, der sich leider nicht in der Lage sah, die von seiner Kurzzeit-Ehegattin so wortreich wie leidenschaftlich entworfenen Erziehungspläne für die weibliche Jugend in die Tat umzusetzen, und mit einer Stiefmutter, die sie nicht lieben lernte. Und bei all dem sollte sie auch noch, womöglich, ein Wunderkind werden: So schön und selbstbewusst wie die leibliche Mutter, so klug und scharfsinnig wie der Vater. Geschichten sollte sie schreiben, so ermutigte der Vater sie von klein an; Mary aber dachte sich lieber Geschichten aus, lebte in Tagträumen, von denen sie später behauptete, dass sie selbst nicht in deren Mittelpunkt stand; oh nein, sie selbst sei gar nicht die Heldin, die Prinzessin, die unschuldige Jungfrau gewesen, dafür sei ihr Leben viel zu langweilig, zu common, zu – nun ja, vielleicht stiefmütterlich gewesen. Wenn sie jedoch schrieb – schreib doch endlich, hatte der Vater wieder gedrängt, zeig doch, was in dir steckt, deine Mutter hätte es so gewollt! -, dann geriet es ihr langweilig, common, plain, eine Nachahmung dessen, was die Männer seit jeher schrieben. In ihrer Phantasie jedoch war sie frei, vom Druck der Eltern, der toten Mutter wie des lebendigen Vaters.
Aber alles wurde anders, als der Märchenprinz kam, und das, obwohl sie nie eine Prinzessin gewesen war. Er war schon ein wenig berühmt geworden, als romantischer Dichter; er kam aus einem reichen Haushalt und war gebildet; er war so anarchistisch gesinnt wie ihr Vater, ein Freidenker auch er, und er konnte Gedichte machen, bei denen einem die Seele dahinschmolz. Auf dem Friedhof, so ist es überliefert, am Grab von Mary Wollstonecraft-Godwin, trieb die Jugendliebe von Mary Godwin und Percy Bysshe Shelley erste zarte Blüten; denn der Vater, dessen philosophische Liberalität auf einmal unerwartete Grenzen gezeigt hatte, war dagegen. Und so flohen Mary (sie war gerade 16 Jahre alt) und Shelley, hinaus aus England, nach Italien, Frankreich, in die Welt. Heiraten konnte man nicht, Shelley war schon gebunden; aber das störte keinen, sollte die Welt sich doch ändern, wenn es ihr nicht passte! Wichtig war, dass man zusammen sein konnte, man las Bücher und diskutierte, und jetzt war es der Geliebte, der immer wieder drängte: Schreib doch mal was! Es steckt in dir, lass es raus! Zeig dich der Welt, damit sie sich ändert!
Der Höhepunkt dieses romantischen Welt- und Selbsterkundungstrips lässt sich genau datieren. Es war Mitte 1816, in Europa trat die Restauration gerade ihren Siegeszug an, und es war das „Jahr ohne Sommer“ – später würde man lernen, dass irgendwo, weit, weit weg auf der Welt ein Vulkan ausgebrochen war, der Rauch war in die Atmosphäre aufgestiegen und hatte die Sonne verhüllt, die ganze Welt spürte die Folgen einer Mini-Klimakatastrophe. Die Patchwork-Family Wollstonecraft-Godwin-Shelley war an den Genfer See gereist; dort, in einer klassizistischen Villa mit Park und dem freien Blick auf den See, hatte sich Lord Byron eingemietet – Byron persönlich, die Licht- und Schattengestalt der neueren englischen Literatur schlechthin, der Mann mit dem Klumpfuß, der Sohn berühmter militärischer Ahnen, später selbst Held im griechischen Freiheitskampf; Lord Byron, der Mann, der seine Schwester liebte und der Vater von Ada Lovelace wurde, der ersten Programmiererin der Weltgeschichte; der von Goethe verehrt wurde und die armenische Sprache lernte, und den die Frauen liebten wider jedes bessere Wissen ("mad, bad and dangerous", sagte eine seiner vielzähligen Liebhaberinnen, es wurde zu seinem Marknezeichen, vielleicht hat er es sogar selbst in Umlauf gebracht, es wäre ihm zuzutrauen gewesen). Aber wir befinden uns vorerst im Jahr 1816, am idyllischen Genfer See; wahrscheinlich hatte man Pläne für eine erholsame Sommerfrische gehabt, man hätte Ausflüge in die Alpen unternehmen können, fröhliche Seefahrten und kleine Feste im illuminierten Park. Aber es war das "Jahr ohne Sommer", und es regnete. Man kann sich vorstellen, wie Lord Byron vor dem Kamin saß, den man hatte anschüren müssen, und unruhig mit dem Klumpffuß zuckte. Doch dann fand man ein Buch mit Geistergeschichten, aus dem Deutschen übersetzt ins Französische, wahrscheinlich sagte einer der anwesenden gebildeten Männer oder beide im Chor: „Boccaccio!“, aber zum Glück war es nicht die Pest in Florenz, wie damals beim Decamerone, sondern nur anhaltend schlechtes Wetter am Lac Leman. Und so saß man nun Abend für Abend vor dem Kamin und las sich entweder Geistergeschichten vor oder erfand neue. Denn darauf bestand Byron, der Meister der Runde: Jeder hätte eine Geistergeschichte zu erfinden, auch die Mary natürlich! Sollte sie nicht schon längst etwas geschrieben habe, murmelte wahrscheinlich der missmutige Noch-Nicht-Ehemann. Mary aber war zutiefst verschreckt. Natürlich konnte sie Geschichten erfinden, sie hatte ihre Jugend mit dem Erfinden von Geschichten verbracht, aber nun sah sie sich drei erwartungsvollen männlichen Gesichtern gegenüber (Byrons Arzt war noch dabei), und jeder Keim von Phantasie erstickte schon angesichts des dunklen Byronischen Heroenblicks. Sie war gerade zwanzig Jahre alt. Sie hatte eine Tochter geboren, eine Frühgeburt, das Kind starb wenige Tage nach der Geburt; und einen Sohn, die "Willmouse", vielleicht krabbelte er zwischen den Füssen der Erwachsenen herum, während sie ihre Geistergeschichten spannen und es draußen regnete.
Eines Abends jedoch, vielleicht war das Wetter besonders schlecht, ein Gewitter braute sich zusammen, sprachen die Herren darüber, ob und wie man eigentlich einen künstlichen Menschen machen könnte; es habe hier und da Versuche gegeben, die Galvanisten hätten tote Froschschenkel zum Zucken gebracht, und ein Herr Darwin, in England, hatte seltsame Experimente angestellt mit – aber da hörte Mary wohl schon nicht mehr genau zu. Als sie aber, überreizt und angespannt, gegen Mitternacht einzuschlafen versucht, hat sie eine Vision: Sie sieht einen jungen Studenten vor sich, er steht an einem Bett, an einer Liege, in einem Labor, und was liegt da vor ihm, sie kann es nicht genau erkennen, es bewegt sich nicht, noch nicht, doch plötzlich – und wahrscheinlich schlägt in diesem Moment ein Blitz ein, in einen der großen Bäume im Park ganz in der Nähe – springt der Funke des Lebens über: Das Wesen rührt sich, es streckt seine Glieder, und sein jugendlicher Schöpfer sieht – nicht den neuen Menschen, den er hatte erschaffen wollte, sondern ein Monster. Panisch ergreift er die Flucht, und zurück bleibt die Kreatur. Allein. Verlassen von seinem Vater. Mutterseelenallein (schon weil er niemals eine Mutter hatte, und Mary weiß, wie das ist). Unbekannt mit sich selbst. Einzigartig. Fremd. Bedrohlich. Furchtbar. Und als Mary damit aufgehört hat, zu zittern und sich zu gruseln, weiß sie, dass sie ihre Geschichte gefunden hat: Es ist die einer monströsen Männerphantasie, die sich anmaßt, den Schöpfer zu übertreffen und ein neues Wesen zu erschaffen, allein aus dem Geist eines Mannes, nicht aus dem Körper einer Frau. Und ihr Mann und wahrscheinlich auch der große Byron drängen sie, erneut: schreib doch, jetzt hast du eine Idee, schreib endlich!, und so schreibt sie die Geschichte zu einem ganzen Roman aus. Er wird in die Weltliteratur eingehen, Frankenstein heißt er, und entgegen einem verbreiteten Missverständnis ist das nicht der Name des Monsters (sagen wir lieber: der Kreatur), sondern seines Schöpfers (von dem wir, mit einem gewissen Recht sagen können: er war ein Monster).
Von diesem Moment an existierte eine Autorin namens Mary Shelley. Wenig später hat sie dann endlich Percy geheiratet, kurz darauf ertrinkt er bei einem Bootsausflug auf dem Genfer See, und damit endet die romantische Phase in ihrem Leben ein- für allemal. Drei ihrer gemeinsamen Kinder mit Percy waren gestorben, eine Fehlgeburt eines vierten kostet sie fast das Leben; ein Sohn nur wird überleben, und Mary wird ihr weiteres Leben seiner Erziehung und Versorgung widmen. Die Reisen hören auf; sie geht mit ihrem Sohn zurück nach London, man versöhnt sich nach und nach mit den Familien. Mary schreibt weitere Romane (die nicht mehr so berühmt werden wie Frankenstein, häufig behandeln sie schwierige Vater-Tochter-Verhältnisse). Sie verdient Geld mit der Serienproduktion von Biographien, geht spät noch einmal auf Reisen, mit dem Sohn (der niemals literarische Ambitionen zeigt, es ist wohl davon auszugehen, dass seine Mutter ihn nicht gedrängt hat), und schreibt noch einmal einen Reisebericht. Stirbt dann an einem Hirntumor, kein schöner Tod; und wahrscheinlich war die Kirche heimlich der Meinung, dass einem Gehirn, das ein Monster ausgebrütet und berühmt gemacht hatte, damit irgendwie recht geschah. Mary Shelley hatte aber gar kein Monster ausgebrütet; sie hatte nur eine Männerphantasie ausgesponnen (mad, bad and dangerous) und sie in ihren dramatischen Konsequenzen gezeigt. Frankensteins Monster, so wie sie es zeichnete, hatte im Übrigen durchaus weibliche Züge: Er liebte Musik, er hätte gern eine Familie gegründet und er litt unter seiner unendlichen Einsamkeit. Und während man den Roman liest und unter der unendlichen Einsamkeit des vermeintlichen Monsters leidet und sich über die unendliche Dummheit und den unendlichen männlichen Hochmut seines Schöpfers ärgert, hofft man immer wieder darauf, dass die Kreatur nur einmal eine Frau trifft, die ihn, wie der blinde alte Mann im Roman, nicht auf den ersten Blick hasst und fürchtet und verdammt. Aber das hat Mary Shelley ihm nicht gegönnt. Sie war zwanzig Jahre, als sie den Roman schrieb, und die Frauen sind in ihm vor allem als Lücke vorhanden, als schweigende Briefpartnerinnen oder als Heiratsmaterial; es sind die Männer, die handeln, reden, verurteilen, verdammen. Ihre eigene Emanzipation kam erst später – als sie Bücher schreiben durfte, zu denen niemand sie gedrängt hatte. Dass sie den Erfolg von Frankenstein damit nicht wiederholen konnte – sagte letztendlich mehr über den Erfolg von Männerphantasien als über ihr Talent als Autorin aus.
Und doch – wir kommen zum zweiten Teil. Die Schwestern Brontë musste niemand drängen, Bücher zu schreiben. Charlotte, Emily und Anne – samt ihrem etwas tragischen Bruder Branwell – waren Pastorenkinder, immerhin hatte sich auch ihr Vater schon als Amateurdichter betätigt, aber wie fern waren seine ländlichen Gedichte von den philosophischen Romanen und Pamphleten eines William Godwin oder den romantischen Phantasien eines Percy Shelley! Sechs Kinder zählte die Familie, und zwei von ihnen starben schon in ihrer Kindheit; man vermutet, dass sie sich die Tuberkulose, an der später auch die anderen Geschwister sterben sollten, in der Armenschule holten, und das hätte nicht nur Mary Wollstonecraft zutiefst empört: An einem Ort, an dem man sich fürs Leben ausrüsten soll, in dem man Bildung „genießt“, holt man sich den Tod, langsam, schleichend, auszehrend, wie man damals so anschaulich sagte. Aber die Armut war entsetzlich groß, nicht nur im Pastorenhaushalt, sondern in der ganzen Gegend, dem abgelegenen Yorkshire mit seinen Hochmooren, wo zumindest in der Phantasie die Sonne niemals scheint, jedes Jahr ist ein Jahr ohne Sommer und die Nebel ziehen und die Kohleöfen rauchen, wenn das Geld überhaupt für die Kohle gereicht hat. Schon London ist eine andere Welt; dass es einen See gibt in Genf, an dem man die Alpen sehen kann, wenn es nicht regnet, können die Brontë-Kinder nur in den Zeitschriften lesen, die ihr Vater abonniert hat. Doch sie sind hungrig, unendlich bildungshungrig; sie brauchen auch keine Geistergeschichten, oh nein, sie erfinden sich selbst ganze Welten. Alles, was sie dafür brauchten, war eine kleine Schar von Holzsoldaten, sehr kleinen Holzsoldaten, aber wieviele Fragen warfen diese kleinen Männer auf! Welche Kriege sollten sie führen, welche Heldentaten verbringen; wo lebten sie, wie lebten sie, wer herrschte in ihrem Staat, wo lag er, auf welcher imaginären oder realen Landkarten, schien dort die Sonne, oder war es wie in Hawthorne, wo man geboren sein musste, um die wilde Schönheit und die Farben der Moore zu schätzen – und so begann das große Epos von Angria, aufgeschrieben für die Holzsoldaten, in winzigen Notizbüchern, mit winzigen Zeichnungen dazu. Später würden Emily und Anne ein zweites Imperium erfinden: Gondal sollte es heißen, und es wurde von einer Frau regiert, und wer weiß, was dort noch alles möglich war?
Nein, niemand hatte die Bronte-Schwestern zum Schreiben gedrängt, und noch nicht einmal die eigenen Geschwister wussten alles; wussten zum Beispiel lange Zeit nicht, dass jede von ihnen heimlich Gedichte geschrieben hatte, unterschiedliche Gedichte, längere und kürzere, einige erstaunlich formvollendet dazu, andere von großer Ausdruckskraft. Und als Charlotte sie schließlich entdeckt und es wagt, sie an einen Verleger zu schicken, da denken sie sich als erstes neue Namen aus: Und Charlotte wird Currer, Emily wird Ellis und Anne Acton; ihr gemeinsamer Nachname ist Bell, und wenigstens die Initialen haben diese Geschlechtsumwandlung überlebt, vielleicht klingt auch im "Bell" der heimische Kirchhof ein wenig mit. Von nun an sind sie Männer in der Literatur, auch wenn ihr Gedichtband so gut wie unbeachtet bleibt; in der Realität aber bleiben sie Frauen, und sie tun das, was Frauen tun müssen, wenn sie nicht heiraten, aber leben wollen: nämlich unterrichten. Von gelehrigen Schülerinnen werden sie zu Lehrerinnen, Charlotte vor allem, die treibende Kraft in der Familie; Emily hingegen, unruhig, leidenschaftlich und kompromisslos wie ihre Charaktere, zieht es zurück, zum dunklen Moor, wo der alternde Vater immer schwieriger wird. Aber dann, zwei Jahre nach dem erfolglosen Gedichtband, wagen sich Currer, Ellis und Acton wieder an die Öffentlichkeit, diesmal mit getrennten Texten. Es sind drei Romane, jeder steht für sich und jeder ist unverwechselbar: Und Charlotte wird beinahe auf einen Schlag berühmt mit Jane Eyre, Emily wird ein Skandal mit Wuthering Heights, und Anne bleibt brav und unauffällig mit Agnes Grey. Und obwohl sie wirklich einigermaßen unverwechselbar sind, musste der Londoner Verleger erst überzeugt werden, dass es sich bei Currer, Ellis und Acton nicht nur um Frauen, sondern auch um drei deutlich unterschiedene Autorinnen-Charaktere handelte – erst ein Besuch in London beseitigte seine Zweifel: Vor ihm standen drei Frauen aus der tiefsten Provinz, die älteste gerade dreißig Jahre alt; sie sind wenig modisch gekleidet und so unsicher, dass sie kaum sprechen können, aber sie halten seinen Brief in den Händen. Ja, es waren die Brontë-Schwestern, und sie besuchten den Kristallpalast und gingen in die Oper; und dann fuhren sie zurück nach Haworth, wo bald darauf Emily stirbt, und nur ein Jahr später Anne. Charlotte immerhin darf ihren Ruhm noch ein wenig genießen; sie schreibt noch weitere Romane, ja, sie heiratet sogar, einen hartnäckigen Verehrer, und sie soll glücklich gewesen sein in ihrer späten Ehe. Aber sie bleibt kurz; Während der Schwangerschaft stirbt sie samt ihrem ungeborenen Kind – ob an der alten Tuberkulose, ob an Typhus, ob an Fehlernährung, wird niemals geklärt werden.
Und doch – wir kehren zurück zum Anfang: bei allen äußeren Umständen, bei allen charakterlichen Differenzen, bei allen schwerwiegenden und grundlegenden Unterschieden in Geburt, Erziehung, Lebenslauf, Tod – sind sich die Brontës und die Wollstonecrafts gar nicht so unähnlich. Sie alle wachsen mehr oder weniger mutterlos auf; auch die Mutter der Brontë-Schwestern starb bereits in ihrer frühen Kindheit, sie wurden von ihrer Tante großgezogen. Die beiden Väter sind, bei aller Unterschiedlichkeit, dominant, der Anarchist wie der Dorfpfarrer mit der ländlichen Poesie; sie verlangen Unterordnung, Aufmerksamkeit, Pflege im Alter. Die Mädchen fliehen in die Phantasie, erfinden Geschichten, ganze Phantasie-Kontinente; ihre Erziehung bleibt sporadisch, auch noch lange nach Mary Wollstonecraft-Godwins Forderung nach gleichberechtigter Mädchenerziehung. Und sie werden berühmt, man ist geneigt zu sagen: als Männer: als Currer, Ellis und Acton Bell und als der Autor – es kann sich doch nicht wirklich um eine Frau gehandelt haben, die diesen schauerlichsten aller Schauerromane geschaffen hat? – von Frankenstein, einem Buch ohne Frauen. Und wie ein dunkler Engel (man sah ihn schon zu Lebzeiten gern als den gefallenen Engel aus Miltons Paradise Lost, der rebelliert hatte gegen Gott, der Satan geworden ist, um sich ein für allemal an seinem Schöpfer zu rächen, und liest sich das nicht schon ein wenig wie Frankenstein?) schwebt über ihnen allen schließlich die Gestalt von Lord Byron: Seitdem die Brontë-Schwestern ihn aus ihrer fleißigen Zeitungslektüre kannten, nehmen alle ihre Männer eine dunkle byronische Seite an. Der nicht zu zügelnde Schurke Heathcliff aus Wuthering Heights, ist er nicht, in seinem unstillbaren Rachedurst und seiner unersättlichen Suche nach Anerkennung, ein dunkler Bruder von Frankensteins Monster und von Lord Byron, an dessen Kamin das Monster ausgebrütet wurde? Ja, hat nicht sogar der geheimnisvolle Mr. Rochester aus Charlottes Jane Eyre entschiedene Züge des unberechenbaren Manchilds und Freiheitskriegers? Byronische Helden, so würde man den Typus später nennen, der auch durch die Romane der englischen Frauen des 19. Jahrhunderts in einigermaßen verstörender Art und Weise geistert: ein unaufgeklärter Mann, ein wirrer Romantiker, mad, bad and dangerous (und ja, die Vermutung liegt nicht fern, dass darin auch etwas von ihren schwierigen Vätern lebt). Jane Austen konnte noch Sense und Sensibility versöhnen, auch wenn es dazu sehr kluge Frauen brauchte; aber Mary Shelley und den Brontë-Schwestern ist die Welt ein dunklerer Ort geworden, sei es im "Jahr ohne Sommer", auf der Yorkshire-Heide oder in der Welt des ewigen Eises, in der Frankensteins Schöpfer vergeht. Es ist eine Welt, in der ungeliebte Männer Katastrophen anrichten: Weil sie keine Mutter haben, weil sie zurückgewiesen wurden, weil sie romantische Träume und unbeherrschte Männerphantasien verfolgen ohne Blick auf die Kosten. Es ist auch eine Welt, in der Kinder sterben, viel zu früh sterben und ihre Mütter viel zu oft das Leben kosten; eine Welt, in der die Mädchenerziehung von selbst kaum erwachsenen jungen Frauen übernommen werden muss, die sich gerade erst selbst, aus mageren Resten und gelegentlichen Zeitungslektüren, eine Bildung zusammengekratzt haben. Ein wenig Hoffnung vermittelt allein Jane Eyre, die gleichnamige Heldin aus Charlotte Brontë Erstlingserfolg, die sich selbst "poor, obscure, plain, and little" nennt; und der reiche Rochester, der dunkle byronische Held mit der rätselhaften Vergangenheit, wird sie heiraten, die kleine, unscheinbare und arme Jane Eyre – aber erst, nachdem er selbst verwundet und ein wenig weniger byronesk vom Schicksal gemacht wurde, so viel Realismus muss dann doch sein. Zu hoffen bleibt jedoch, dass Jane Eyre der Frankensteinschen Kreatur gefasst ins Auge geblickt hätte; denn sie kennt sich aus mit Monstern und weiß, dass sie von Menschen gemacht werden.
Für eine kurze Zeit waren sie BFFs, wie man heute sagt: beste Freundinnen, forever. Es war in Frankfurt, der reichen Bürgerstadt, aus der sie beide kamen, sie waren jung, übermütig und die Ewigkeit eine Verheißung. Natürlich war forever dann doch eine verschwindende Zeitspanne im Angesicht der Ewigkeit, aber das ist heute in den meisten Fällen nicht anders. Nur kurz sollten sich ihrer beider Lebenslinien begegnen, die eher Flugbahnen waren: Für eine kleine Weile nur näherten sie sich an, überschnitten sich, verstärkten sie sich, bildeten nie zuvor gesehene Muster, trennten sich wieder, ein wenig, vereinigten sich erneut. Doch eines Tages, wahrscheinlich haben sie es selbst noch gar nicht bemerkt, begannen sie sich voneinander zu entfernen: Zuerst drifteten sie nur ein wenig in andere Richtung, irgendwann nahm die eine von beiden dann deutlich Fahrt auf und preschte voraus. Die andere jedoch hob ab in Richtung Himmel, sie versuchte aufzusteigen, verlor dabei an Schwung, wurde immer weniger sichtbar, bis sie schließlich abrupt abbrach: ein Stich, genau ins Herz, ein Punkt nur noch, das war alles, was von Karoline blieb, der Stiftsdame mit dem poetischen Naturtalent zur strengen Form und zum poetischen Extrem. Von Anfang an war sie ein verkappter Heldenjüngling aus den heroischen Zeiten der Menschheit gewesen, der nur irrtümlich in diese Welt der Missverständnisse und Kompromisse geraten war, einen Kerker für eine wahrhaft freie und poetische Seele; und ihr Tod war ihre Befreiung. Bettine hingegen, die quirlige, nicht zu bändigende, vor Lebenskraft überschäumende Bettine ging weiter, nein, sie hüpfte und sprang auf ihren nicht immer einfachen, nicht immer geradlinigen, aber immer bettineartigen Weg voran, der sie immer stärker ans Leben und an diese Welt fesselte: Sie heiratete, bekam sieben Kinder, wurde Großmutter, veröffentlichte Bücher, engagierte sich für die Armen, redete dem preußischen König ins Gewissen – und blieb bei all dem ein nicht zu bändiges Kind der Natur.
Beginnen wir mit der kurzen Geschichte, mit dem Irrtum, mit dem Leben zum Tode hin. Karoline von Günderode war von altem Adel, die Familie verarmte jedoch nach dem frühen Tod des Vaters. Mit 17 Jahren kommt Karoline deshalb in ein Damenstift: eine soziale Einrichtung geboren aus dem Geist von christlichem Sendungsgeist und nobler Barmherzigkeit zur Versorgung von in finanzielle Not geratenen Frauen des lokalen Adels. Das ist nun eigentlich gar nicht so schlimm, wie es sich anhört: Es wurde zwar ein moralisch vorbildlicher Lebenswandel erwartet, aber die geistlichen Pflichten waren gering, und Karoline kann sich offensichtlich mit Muße ihren literarischen und philosophischen Studien widmen. Der junge Schelling vor allem ist ihr ein Geistesverwandter, aber auch Schillers Spuren sind unverkennbar: Idealismus, in jeglicher Form, gern auch hochdosiert philosophisch, das ist Karolines Lebenselement. Doch noch gibt es ein Gegengewicht: Sie freundet sich an mit Bettine aus der kinderreichen, wohlsituierten Kaufmannsfamilie Brentano, obwohl die Gegensätze kaum größer sein könnten: eine strenge Stiftsdame mit sorgfältig geheim gehaltenen dichterischen Talenten und philosophischen Leidenschaften - und ein Naturkind, in dessen Kopf die Ideen so übereinander purzeln wie die wilden schwarzen Locken an dem mädchenhaft kleinen Kopf. Doch gemeinsam erobert man sich das Reich der Poesie: Versüßt sich den dunklen Frankfurter Winter durch phantastische Weltreisen, liegt gemeinsam in der Wüste unter den Sternen mit den Pferden in der Nacht und macht sich über die Frankfurter Philister lustig; erwägt sogar die Gründung einer privaten Religion, eine Schwebereligion soll es sein, zwischen Himmel und Erde schillernd. Die Flugbahnen tanzen umeinander, umschlingen sich, steigern sich, schweben und oszillieren. Aber ist die eine nicht etwas dunkler als die andere, sind ihre Muster nicht von strengerer Art, während die zweite Arabesken bildet, immer neue, immer phantastischere?
Auch Clemens, Bettines kaum weniger wilden Bruder, lernt Karoline kennen. Clemens verliebt sich sogar in beste Freundin seiner Schwester – aber er verliebte sich leicht und schnell, das hat keinerlei tiefere Bedeutung; und wen er Karoline poetisch-erotische Briefe schreibt, deren Entdeckung ganz sicher zu ihrem Verstoß aus dem Damenstift geführt hätten, ist das kaum mehr als eine Schreibübung. Nun muss Karoline sich zwar auch verlieben - das ergibt sich geradezu mit logischer Notwendigkeit aus ihrer Situation, aus der fatalen Mischung von äußerer Disziplinierung, innerem Idealismus und noch gebremsten, aufgestautem Schaffensdrang; der einzige Ausweg aus dieser Malaise ist, sich möglichst schnell zu verlieben, ein Objekt zu finden, das man bis in den Himmel hoch idealisieren kann, an das man all seinen Enthusiasmus hängen kann – und das einem verwehrt bleibt, natürlich (sonst wäre der Idealismus schnell am Ende). Aber dass der Wirrkopf Clemens nicht der Richtige ist, dass weiß Karoline dann doch; und im schnell entstehenden Dreiecksverhältnis zwischen ihr, Bettine und Clemens wird sie immer die Vernünftige bleiben. Friedrich von Savigny hingegen, er verkehrt ebenfalls im Brentano-Kreis, ist geeigneter für ihre Zwecke: ein aufstrebender Jurist, schon mit 21 Jahren promoviert, von Hochbegabter von allgemein anerkannter Brillanz, Geistesschärfe und Bildung; ein ruhender Pol in diesem wirbligen Kreis, vielleicht sogar: sein geheimes Zentrum. Aber Savigny wird, wenig später, ausgerechnet Gunda heiraten, Kunigunde Brentano, die blasseste der schillernden Brentano-Schwestern; und sie wird ihm, als er noch vor dem dreißigsten Lebensjahr die erwartete Professur bekommt, eine würdige Professorengattin werden. Nein, hatte er an Karoline geschrieben, die ihm – für ihre Verhältnisse – eher zahme Liebesbriefe schreibt, es wäre ihm nicht recht, wenn sie ihn „Du“ nenne.
Beim zweiten Versuch klappt es besser, am Anfang zumindest. Friedrich Creuzer ist ebenfalls ein akademischer Frühstarter, doch entschieden romantischer gesinnt: Er ist Philosoph, er wird als Mythenforscher reüssieren, und schon das verbindet ihn mit Karoline, die sich gern als Ossianischer Heldenjüngling sieht und in der Vergangenheit die Vorbilder für ihr eigenes, allzu wenig weibliches Empfinden sucht, die sie im Damenstift nicht finden kann. Aber Creuzer ist, nun ja, verheiratet; natürlich ist die Ehe nicht glücklich, natürlich verspricht er ihr die baldige Trennung und ewige Liebe, selbstverständlich sie ist die Einzige, und irgendwann, ganz sicher, irgendwann – das reicht Karoline, vorerst. Allerdings, nun ja, mag er Bettine und den ganzen wirren Brentano-Haufen nicht recht und empfiehlt ihr Abstand zu dieser gefährlichen Person zu halten. Vielleicht hat Karoline ein wenig gezögert; immerhin, man war einmal BFF gewesen. Aber Bettine wird immer anstrengender. Sie schreibt Briefe, tage- und seitenweise, endlose phantastische Monologe, die von einem Bild zum anderen tanzen, Gedanken und Ideen versuchsweise durchspielen, sie aber schnell, bevor sie zum Begriff zu werden drohen, wieder freilassen, ins Offene, Unbestimmte – und Bettine schaut ihnen nicht einmal nach, wie sie fallen, sie hat schon wieder eine neue Idee geerntet, eine neue Blume gepflanzt, einen neuen Menschen ein wenig abseits von den anderen, allzu bekannten Philister-Gesichtern gefunden. Geradezu instinktiv widersteht sie allen Bildungsversuchen ihrer Umgebung. Sie soll den Kontrapunkt lernen von einem Musiklehrer; aber Bettines ganzes Sein ist ein ewiger Kontrapunkt, und Musik ist ihre natürliche Sprache, was gibt es da zu lernen, außer Fesseln und Regeln? Sie soll Philosophie lesen, Clemens gibt ihr Schiller, Karoline gibt ihr Schelling, Bettine schüttelt sich vor Abscheu, so wenig entspricht diese Begriffshuberei ihrem Wesen, das in der Philosophie lebt, Philosophie ist, aber ohne Worte: Philosophie ganz aus Natur, aus sinnlicher Erfahrung, aus unmittelbar erlebter Gegenwart. Bettine bindet lieber mit dem Gärtner Kränze, der ein wenig in sie verliebt ist, und er lehrt sie dafür das Propfen; oder sie stickt ein wenig mit dem Judenmädchen Veilchen kostbare Taschen für Clemens' Freunde; oder sie lauscht den Geschichten der Großmama aus ihrer Jugend; oder sie träumt von den Helden der französischen Revolution; oder sie schreibt nicht enden wollende Briefe an Karoline, die Eine, die jetzt in der Ferne ist, zunehmend: entschwebt.
Creuzer aber mag Bettine nicht, und irgendwann lässt Karoline den Briefverkehr einschlafen. Hatte sie selbst nicht inzwischen, zum Erstaunen aller, ihren ersten Gedichtband veröffentlicht? Er erschien unter dem Autornamen „Tian“: tian, das ist der Himmel im Chinesischen, wahrscheinlich wusste sie das von Creuzer; der fiktive Name mutet zudem vage androgyn an, und was hätte ein passenderer Name für einen aus dem Sagenhimmel verstoßenen Heldenjüngling sein können? Dem Himmel nähert sich Karoline jetzt sowieso immer mehr, auch in ihren Gedichten, ihren kurzen Dramenentwürfen und Prosastücken, die Bettines ausschweifendem Wortreichtum, ihrer endlosen Assoziationsmaschine, ihren ins Absurde und Paradoxe ausschweifenden Gedankenflügen virtuose Formenstrenge und philosophische Gedankenschwere entgegensetzen. Als die Welt lernt, wer sich hinter Tian verbirgt, will sie es nicht glauben: Niemals, so gibt Clemens, der selbst poetisch Hochbegabte, aber viel zu wenig Disziplinierte zu, hätte er gedacht, dass eine Frau so schreiben kann, so formen, so denken. Sogar Goethe ist des Lobes voll. Was hätte noch aus diesem Talent werden können?
Doch Karoline ist dem Himmel schon viel zu nahe gekommen. Als Creuzer schwer erkrankt, pflegt ihn seine Ehefrau treusorgend gesund, und der genesene Ehemann verpflichtete sich ihr erneut, sei es nun aus Dankbarkeit oder weil er bereits erkannt hatte, dass er mit dem Götterjüngling sowieso nicht würde mithalten können: Er schreibt den Abschiedsbrief. Man will ihn Karoline noch vorenthalten, aber aufgrund unglücklicher Umstände liest sie ihn doch. Sie reagiert gefasst. Sie entschuldigt sich, sie müsse kurz auf ihr Zimmer gehen, alle sind erleichtert, man hatte Schlimmeres befürchtet. Karoline jedoch kommt nicht wieder. Sie ist in ihr Zimmer gegangen, hat den kleinen silbernen Dolch geholt, für dessen Benutzung sie sich von einem Chirurgen hatte instruieren lassen, diszipliniert, planvoll, souverän wie immer; wahrscheinlich hatte sie ein poetisches Interesse vorgetäuscht, eine Heldin, die den Heldentod sterben sollte auf der Bühne, was auch immer. Und dann geht sie hinab an den Fluss, den Rhein, und erdolcht sich, ein gezielter Stoß ins Herz, in Winkel am Rhein, 26jährig. Welche Kraft dazu gehörte, den Dolch zu führen und zuzustechen und zu treffen, niemand kann es ermessen. Oder war es ihr doch ein Leichtes, endlich diesen irdischen Kerker zu verlassen, in der Gewissheit, dass danach der Himmel kam, tian, das bessere Leben, das ideale und poetische? „Meine Ansicht vom Sterben ist die ruhigste“, das hatte sie schon einige Zeit zuvor geschrieben, aber das schreibt sich unendlich viel leichter, als man es tut – und die meisten Romantiker schreiben nur romantisch vom Sterben (sie tun sich ein wenig schwer mit dem Leben, aber das ist nun wirklich kein Grund tatsächlich zu sterben).
In ihrem Nachlass fand man ein Gedicht, das zu den schönsten romantischen Gedichten überhaupt gehört; es erinnert an den anderen Heldenjüngling der Romantik, an Novalis, Friedrich von Hardenberg mit seinen androgynen Zügen, für den das Sterben ebenfalls der ultimative Beweis eines wahrhaft romantisch gelebten Lebens war. „Einstens lebt ich süßes Leben“, beginnt Karolines Gedicht; und wir sehen das Ich davonschweben in eine tiefes blaues Meer, wo es von der Somme umarmt wird und geküsst von den farbigen Himmelslichtern, weil es heimgekehrt ist; es sieht die ewigen Götter auf ihren Thronen, es sieht die Helden kämpfen gegen gewaltige Tiere – wie gern hätte Karoline diesen Kampf gekämpft! -, und über all dem schwebt eine Jungfrau, eine heilige Jungfrau. Aber sie kann nicht zu ihr kommen, zur heiligen Jungfrau, wo der ewige Frieden wäre – denn die Erde, die schwere Erde zieht sie immer noch an, die Erde ist die Mutter von allem, und unter Schmerzen verlässt das schwebende Ich den heiligen Äther mit den ewigen Göttern und den farbigen Lichtern, um zur Erde zurückzusinken, in ihren mütterlichen Schoß. Durfte Karoline selbst einziehen bei den ewigen Göttern, durfte sie wohnen neben der himmlischen Jungfrau, oder ist sie in den mütterlichen Schoß heimgekehrt, endlich heimgekehrt? Oder schwebt sie vielleicht zwischen beiden, ein unruhiger Geist, wie es sich Bettine für sie beide imaginiert hatte?
Bettine hat der Tod ihrer ehemaligen Freundin tief und bleibend erschüttert; es war ein Trauma mehr. Denn schon ihre Kindheit war nicht einfach gewesen. Zwar entstammte sie einer berühmten Literatenfamilie: Ihre Großmutter war Sophie von La Roche, die erste Verlobte von Christoph Martin Wieland, die berühmteste Autorin der deutschen Aufklärung, die einen Roman schrieb und eine Frauenzeitschrift gründete; ihre Mutter Maximiliane La Roche, verheiratete Brentano, die Goethe umschwärmte und deren schwarze Augen er seiner Lotte im Werther verlieh; und ihr Bruder Clemens sprudelte geradezu über vor romantischer Poesie und Spottlust. Aber was nützen all der literarische Ruhm, die großen Namen, wenn die Mutter stirbt? Bettine wird in einer Klosterschule erzogen, und das muss angesichts ihrer übersprudelnden Persönlichkeit noch schlimmer als der durchaus moderate Stiftskerker von Karoline gewesen sein; sie hat später berichtete, dass es keine Spiegel gab dort und dass sie deshalb nicht wusste, wie sie aussah. Wie vollständig unvorstellbar ist das in unserer Zeit der minütlichen Selfie-Selbstdokumentation, der allgegenwärtigen Schaufenster und Spiegel – nicht zu wissen, wie man aussieht! Vielleicht gehört auch das zu Bettine, zu ihrem pausenlosen inneren Überquellen von Geschichten, Phantasien, Erlebnissen: Man kann sich nur von innen kennen lernen, und wenn der innere Monolog aufhört, geht man sich selbst verloren.
Nach der Klosterschule, der strenge Vater war inzwischen auch verstorben, wird Bettine weiter herumgereicht: Eine Zeitlang lebt sie bei ihrer Großmutter, Sophie von La Roche; als Gunda Savigny heiratet, zieht sie mit ihnen nach Marburg. Aber vielleicht war diese unstete Lebensweise gar nicht so falsch. Denn Bettine war ein und blieb ein Schmetterling: Sie flatterte von Blüte zu Blüte, sie naschte mal hier, mal dort; sie lief tage- und nächtelang durch die Wiesen, sie himmelte den Mond an und konnte jede Blume beim Namen nennen. Am liebsten lag sie mit dem Gesicht nach unten auf der Erde; so konnte sie die Natur am besten spüren, riechen, hören, ihre Umgebung in sich einströmen lassen, sich durchfluten lassen von Empfindung und Verehrung eines Höheren – und danach schnell aufspringen und weitertanzen, Blumen pflücken, ein selbstgedichtetes Lied dazu singend, nach einer eigenen Melodie, ganz ohne Kontrapunkt. Sie saß ungern auf Stühlen; lieber hockte sie sich auf Tische, unter Tische oder gleich auf den Boden. Heute würde man wahrscheinlich eine krankhafte Hyperaktivität diagnostizieren und Ritalin verordnen; und es spricht viel dafür, dass Bettines Persönlichkeit tatsächlich in gewisser Weise krankhaft sprunghaft war. Ihre Familie und ihre Bekannten nannten sie einen Kobold, einen Irrwisch, wahrscheinlich auch, wenn sie nicht zuhörte, eine Nervensäge; Goethe nannte sie in einem seiner weniger freundlichen Olympier-Momente eine Tollhäuslerin. Aber einen Schmetterling kann man nicht einfangen; man muss ihn schweben lassen, tanzen lassen, von Blüte zu Blüte – bis er seine Eier ablegt, und der Kreislauf aufs Neue beginnt: Raupe, Puppe, Schmetterling, Ei.
Und deshalb wird Bettine tatsächlich, kaum kann es man glauben, irgendwann sesshaft; sie verpuppt sich erfolgreich. Sie heiratet Achim von Arnim, den Lebensfreund von Clemens; Abkömmling einer alten preußischen Adelsfamilie, studierter Naturwissenschaftler und ein sehr ernsthafter Romantiker von großer literarischer Produktivität; Romane hat er geschrieben, Dramen, Novellen, Gedichte, für Zeitschriften und Zeitungen hatte er gearbeitet und gegen Napoleon gekämpft. Bettine hat ihm sieben Kinder geboren, keines von ihnen stirbt, wie in dieser Zeit so häufig, in der Kindheit, und Bettine sitzt an ihren Betten, wenn sie krank sind, hält ihnen die Hand und erzählt ihnen Geschichten. Bettine wird sogar ländlich häuslich, für eine kleine Weile: Sie macht Butter und sammelt die Eier auf und kocht ein auf dem Familiengut Wiepersdorf. Aber sie ist, Schmetterling hin oder her, nicht fürs Landleben gemacht, und so trennt man sich bald: Bettine geht nach Berlin, und Achim bleibt in Wiepersdorf, es ist eine moderne Ehe, man zieht die Kinder gemeinsam auf, und das ist das. Und als Achim von Arnim unerwartet stirbt und die Kinder eines nach dem anderen erwachsen werden, entpuppt sich der Schmetterling wieder: Bettine beginnt Bücher zu veröffentlichen. Und sie verwertet all den Nektar, den sie in ihrer Jugend gesammelt hatte, aufs hausfraulich-rationellste – indem sie nämlich etwas erfindet, was mit "fiktiver Briefwechsel" nur unzureichend artmäßig bestimmt ist. Schon immer hatte sie Briefe geschrieben, Briefe an nun berühmte Leute: an ihren Bruder und Erzieher Clemens, an die frühverstorbene und unvergessene Karoline von Günderode, an Goethe, den großen, unendlich verehrten Übervater und heimlichen Geliebten Goethe (der zum Glück auch gerade gestorben war, man durfte nun unbeschwert an seinem Denkmal basteln), an seine altersweise und altershumorige Mutter, die Frau Rat im heimischen Frankfurt, die Ersatz- und Übermutter; und sie hatte Antworten empfangen, Briefe von nun berühmten Leuten. Aus diesen Briefwechseln beginnt sie Kränze zu knüpfen: doch nicht, indem sie einfach brav ehefrauen- und hausmuttermäßig die Briefe aneinanderreiht – nein, sie nimmt nur die schönsten Blumen, sie propft Fremdes und Eigenes aufeinander und schaut, was sich daraus entwickelt; sie zupft das Ergebnis ein wenig zurecht, und dann bindet sie sie in einen Kranz daraus, ein Kunstwerk, ein Naturwerk. Ist es denn wichtig, ob ein Brief genauso, wortwörtlich geschrieben wurde? Ist es denn von so großer Bedeutung, dass die Zeiten stimmen, die Orte, die Personen, die Details? Es sind doch Briefe von Menschen, von schwebenden Lebewesen, wie alle wahrhaft großen Persönlichkeiten schillernd zwischen Wahrheit und Dichtung. Verwandelt sie selbst sich nicht ständig schreibend? Ihre Texte laufen, wie in ihrer Jugend, ins Unendliche fort, wie die Natur selbst, die Bilder stürzen übereinander, schwanken zwischen dem äußersten Tiefsinn und dem oberflächlichsten Blödsinn, sind Nachtwandlungen und Tagschwärmer, Eintagsfliegen, verpuppte Raupen, von der Sonne bebrütet und vom Mond beschienen. Die Natur ist alles, das Gefühl ist alles, das Leben ist alles, und alles ist Gott; und das vermeintliche Wissen ist nichts, und die Philosophie eine Plage und Belästigung und die Amtskirche eine Verirrung (denn politisch wird Bettine auch noch, eine letzte Metamorphose auf ihre alten Tage).
Als sie nach längerer Leidenszeit nach einem Schlaganfall im Kreis ihrer Familie stirbt, soll sie auf ihren Entwurf eines Goethe-Denkmals geschaut haben. Eigentlich aber hat sie schon immer über alle hinausgeschaut, ins Freie, und das Sterben war nur ein kleiner Schritt zurück in die Natur. So oft schon war sie mit dem Gesicht zur Erde dagelegen, hingegeben für alle Eindrücke, demütig bei allem Übermut; nur dass sie diesmal nicht wieder aufgesprungen war und über die Tische getanzt hatte. "Einstens lebt ich süßes Leben", so hatte Karoline von Günderode, ihre BFF, ihren Tod vorweggenommen; sie selbst beschrieb sich gern als Biene, die den Blütennektar der Welt aufsammelte und den feinsten Honig daraus destillierte, ein Vorgeschmack des Himmels in seiner Süße. Bettine hingegen hat geschrieben: "Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt!" Sie hatte keine Paradiese nötig, keine fernen Himmel, keine Götter und kämpfenden Tiere; sie war schon immer im Schoß der Erde gelegen und hatte geruht und sich verwandelt wie ein Schmetterling, und was war schon eine Verwandlung mehr im Angesicht der Ewigkeit?
Hölderlin kam bis Bordeaux
Wenn es jemals einen trunkenen Dichter gab, dann war es Hölderlin. Nun wäre es allerdings grundfalsch, sich den ewig jungen, sanft blickenden Dichterjüngling als grölenden Bacchus-Anhänger vorzustellen; nein, es war eine heilige Nüchternheit und eine heilige Trunkenheit zugleich, eine trunkene Nüchternheit sozusagen; und so viel er auch von Dingen sprach, die einen solchen Rausch auslösen konnten – die Götter, die Feste, die Natur, das antike Griechenland, die Französische Revolution -, am meisten war und blieb er berauscht von seinem eigenen Metier: der Sprache, der Dichtung, dem Gesang. Immerhin, er kam aus einem Weinland, und alles, was er über das Schwaben seiner Jugend schreibt, über den Neckar und die Burgen, die Weinhänge und die Obstgärten – klingt so, als spräche er über das eigentliche Land seines Herzens, seine eigentliche Heimat, die er niemals sehen sollte: Griechenland (das Land der Griechen mit der Seele suchend, und Hölderlin lieferte den Beweis, dass das tatsächlich gelingen konnte!). Und war es nicht so, dass die wirklich wichtigen Dinge, die wirklich lebendigen Dinge, die Dinge, die man heilig-nüchtern besingen konnte, in allen Ländern zu finden waren? Brot und Wein, Bäume und Früchte, Berge und Flüsse, Inseln und Küsten, die Jugend, die Freundschaft, die Liebe, der Gesang – ach, es machte so wenig Unterschied, ob es der Neckar war oder der Skamandros, der Parnass oder die Burg Teck, Heidelberg oder Athen! Wichtig waren die Begeisterung, die sie auslösten in einem empfänglichen Gemüt, in einer Seele, die geboren war zur Begeisterung, leicht entzündlich, hoch aufflammend, weit leuchtend – und am Ende zögerlich verglimmend, langsam dahinsiechend, endlich vergehend. Hölderlin war überall zuhause, wo die Menschen sich noch begeistern konnten, am meisten jedoch in Zeiten der Frühe, der Jugend, des Aufbruchs: Und war nicht seine eigene Zeit eine solche, hatte nicht soeben die große Revolution in Frankreich gezeigt, dass die Menschheit neu beginnen konnte, wenn sie es nur wollte?
So wanderte Hölderlin durch seine Zeit, ein Fremder überall und überall zuhause. Das Einzige, in das er sich definitiv nicht finden konnte, war ein bürgerliches Leben. Gelegentlich arbeitete er als Hofmeister, so hieß das damals: Eigentlich aber war man ein überqualifizierter, schlecht bezahlter und unterprivilegierter Haushaltsangestellter, der unterschiedlich willigen und begabten Knaben aus besseren Häusern ein wenig Bildung andienen sollte, bevor sie ihren mehr oder weniger familiär vorgezeichneten Lebensweg antraten. Man möchte sich Hölderlin als sanften Lehrer vorstellen; vielleicht stand er, in den besten Stunden, mit einem schwärmerischen Glanz in den Augen vor seinen Zöglingen und erzählte ihnen vom alten Griechenland, von den Heroen wie Herakles, von den trunkenen und liebenden Göttern, Dionysos und Aphrodite, von den glänzenden Meeresküsten und den heiligen Hainen. Vielleicht mischte er gelegentlich dabei ein wenig christliche Religion unter, das war gewagt und die Eltern hätten es sicher höchst ungern gesehen: Aber war Christus nicht auch Heilig-Trunkener, ein Absoluter, ein Göttersohn, der genauso herbeigedacht und gesehnt werden konnte, wie die ihm verwandten antiken Götter? Aber es kam, wie es kommen musste: Eines Tages verliebte sich der schwärmerische Jüngling in die Dame des Hauses; Diotima, so nannte er sie, und sie war nicht unwillig, sich so nennen zu lassen, nicht unwillig, der Gegenstand einer so heilig-trunkenen Liebe zu sein, nicht unwillig, die begeisterten Gedichte zu empfangen schließlich, die er an sie richtete. In dieser Welt aber konnten sie nicht zusammenkommen; und man hat das Gefühl, dass dies der Bruch war, der zum ersten Mal einen Spalt in Hölderlins Seele jagte, einen Riss, der sich fortan durch jede neue Kränkung, jede neue Ablehnung vertiefen sollte. Es war seine persönliche, so könnte man es mit einem seiner eigenen, nie wörtlich genug zu nehmenden Worte, Ur-Teilung: ein Urteil, das über ihn verhängt wurde und das sein Leben in zwei Hälften teilte. Er kam noch ein wenig herum danach, er kam sogar, keiner weiß genau wie, bis Bordeaux. Es wird eine lange mühsame Reise gewesen sein für einen Reisenden, der über keinerlei finanziellen Mittel verfügte; man möchte sich wiederum vorstellen, wie Bauern und einfache Leute gelegentlich den schon etwas verwirrt wirkenden Wanderer aufnahmen, der nicht mehr ganz jung war, aber immer noch ein besonderes Leuchten in den Augen hatte und eine Unschuld ausstrahlte, der schwer zu widerstehen war. Und dann wird er eines Tages in Bordeaux gestanden haben, Rebenduft lag von den umgebenden Hängen in der Luft; und er wird aufs Meer geschaut haben, zum ersten Mal in seinem Leben, beinahe schon unter der Sonne Homers. „Wie Meeresküsten“, so beginnt eine seiner späten Hymnen, und in sanft anbrandenden Versen wird sie die Küste preisen, mit der das unendliche Meer, die Gabe der Götter, sich mit dem endlichen Land, dem Geschenk der Menschen verbindet; in immer neu auflaufenden Wellen wird er von Dionysos singen, der in einer Kiste auf dem Meer ausgesetzt wurde und an eine Küste schwamm, genauso wie Aphrodite, die Schaumentstiegene. Der Gesang kam vom Meer, da war sich Hölderlin ganz sicher, er war sein Geschenk; der Sänger aber war ein Küstenbewohner, der sang im Angesicht des Unendlichen und mit dem festen Land unter seinen weitgewanderten Füssen. Aber Hölderlin musste – umkehren, zurückkehren, ins Land der Deutschen, wo die Kindheit für immer verloren war und selbst die Jugend nur noch ein süßer, melancholischer Traum; Erinnerungen, das war alles, was er noch hatte, und einige wenige Freunde, die versuchten ihn zu versorgen und unterzubringen.
Hälfte des Lebens – so heißt eines seiner berühmtesten, meistzitierten, vielleicht sogar gelegentlich verstandenen Gedichte (man musste aber ein wenig trunken dafür sein, wie für alle seine Gedichte). In der Hälfte seines Lebens, ziemlich genau sogar, begab es sich, dass Hölderlin endgültig für verrückt erklärt wurde. Er kam nach Tübingen, in einen Turm am Neckar, ein Tischlermeister, der seine Werke bewunderte, versorgte ihn, man versuchte diese oder jene Therapie, aber Hölderlin war – unheilbar, auch wenn sich sein Zustand später deutlich besserte. Ein wenig tröstet der Gedanke, dass er auf den Neckar schauen konnte, den er besungen hatte; und dass er weiter dichtete, Frühlingsgedichte, eines nach dem anderen, nur leicht variiert; Gedichte in einer sehr einfachen Sprache, in denen aber immer noch, an einzelnen Stellen, das frühere Genie wie ein Blitzstrahl durchbricht und direkt ins Herz des Lesers geht. Scardanelli, so unterschrieb er einige, ein Phantasiename; von Schizophrenie sprachen die Ärzte, von Stimmen, die er hörte (natürlich war auch schwer depressiv, wahrscheinlich von Anfang an), aber vielleicht hatte er sich auch nur von seinem eigenen Ich verabschiedet; zu schwer war es ihm geworden, zu viele Erinnerungen an goldene Zeiten zogen an ihm, zu viele Verluste. Vielleicht war ihm noch dunkel bewusst, dass nur einige Straßen weiter, etwas weiter oberhalb am Hang des Neckars, er goldene Stunden im Tübinger Stift verbracht hatte, damals, mit den anderen jungen Begeisterten, mit Schelling und Hegel (beide inzwischen gesetzte deutsche Professoren mit Lehrstühlen und öffentlichem Ruhm und Embonpoint). Sie hatten sich die Köpfe heiß geredet über die Revolution und über die Philosophie, und Hölderlin hatte gezeigt, dass er ein exquisiter Theoretiker war, von einem blitzend hellen Verstand noch in der größten Trunkenheit der Begriffe! Und eines Abends, vielleicht war es ein heißer Sommertag gewesen und man genoss bei offenem Fenster die Kühle des Abendwindes, schleuderte er die Formel von der „Mythologie der Vernunft“ in die Welt – eine Idee, die so neu, so atemberaubend war, dass die Freunde ihn zuerst befremdet angeschaut haben mögen und Schelling, leicht schwäbelnd, gesagt haben mochte: „Mei, Hölderle, wasch hascht du nu wieder ausschgebrütet?“ Aber sobald man sich erst einmal selbst von den Fesseln der allzu nüchternen Vernunft freigemacht hatte, entfaltete der Gedanke seinen Zauber. Denn dass sie, die allzu nüchterne Vernunft, die Menschheit nicht weiter brachte, da waren sich die jungen Feuerköpfe ganz sicher; das hatte die Aufklärung gelehrt, ein großes, ein heldenhaftes Unternehmen, das zu scheitern drohte, weil es nur die Köpfe, nicht aber die Herzen revolutionieren konnte. Nein, das menschliche Herz brauchte den Glauben an etwas, es brauchte Gestalten und Geschichten, es brauchte Phantasie und ein wenig Trunkenheit – all das, was die Mythologien der Völker in ihrer naiven Weisheit so lange geboten hatten. Aber die Mythologie, sie brauchte auch – ein wenig mehr Vernunft, ein wenig Konstruktion, eine, ja, aufgeklärte Basis für all die luftigen Gestalten! Dann aber, wenn man Vernunft und Gefühl wieder vereinigt hatte, wenn das Gute und Schöne und Wahre ansichtig werden konnte und wenn die Anschauung nicht mehr haltlos, sondern vernünftig geworden war – dann erst würde die Revolution vollendet sein und der freie Mensch würde – aber soweit dachten sie nicht. „Mythologie der Vernunft!“, so mögen sie aus dem Fenster ins dunkle Neckartal geschrien haben, und der Nachtwächter schüttelte einmal wieder den Kopf, die Stiftler mal wieder!
Der Gedanke verließ Hölderlin nicht mehr, und er wurde ihm niemals untreu. Später hat er, in wenigen theoretischen Aufsätzen, die beinahe rauschhaft logische Sätze und Argumente aneinanderreihen, ihm ein Gerüst verliehen. Mythologie und Vernunft nämlich, so konnte man weiterdenken, waren nur oberflächlich Gegensätze; sie waren nur ein Beispiel für die fatale Wirkung des Ur-Teils als Urteilung, des reflexiven Spalts, der in die von Grund auf einheitliche Welt kam, sobald der Verstand sie in Begriffe presste. Denn der Verstand, das war seine Leistung und seine Grenze, konnte nur in Gegensätzen denken, er musste die Welt in zwei Teile trennen, damit er einen durch den anderen erkennen konnte: Weiß und Schwarz. Gut und Böse. Wahr und Falsch. Und jedes Urteil vertiefte den Spalt, der nun durch die Welt ging; und die Vernunft konnte ihn nicht heilen, nicht aus eigener Kraft jedenfalls. Aber eine andere Instanz konnte es; für Hegel sollte es später die historische Synthese des Weltgeistes sein, für Schiller waren es die Kunst und das Spiel, und das alles war schon gut und irgendwie richtig, aber nicht genug für Hölderlin. War das nicht ein viel zu einfacher Mechanismus? Am Anfang war die Einheit (die Natur, Gott, das Leben); dann kam die Differenz, die Trennung, die Ur-Teilung; und in einem dritten Schritt sollten die Kunst, die Synthese, das Spiel eine neue Einheit wieder herstellen, die nun aber nicht mehr naiv, unreflektiert, geschenkt, sondern reflektiert, begründet, gewollt war (wie genau, das blieb meistens unklar, es war ein wenig ein Zaubertrick und viel Wunschdenken). Aber dann hätte man doch, so argumentierte Hölderlin – am Ende doch die Differenz wieder – verloren, verschwiegen, vertuscht; im ewigen Kampf von Einheit und Differenz hätte die Einheit am Ende doch gesiegt, auch wenn sie sich ein wenig mit den Fähnchen der Differenz (Bewusstsein, Reflexion) schmückte? War nicht die wahre Einheit nur die – und nun wird es ein wenig kompliziert zu denken, aber Hölderlin hatte seinen Geist schon lange an diese Exerzitien gewöhnt -, in der auch die Differenz in ihrem eigenen Wert erhalten wurde, also eine Einheit von Einheit und Differenz?
War das schon der Gedanken eines Wahnsinnigen, oder war es die Ahnung eines heilig-Trunkenen, der über die Vernunft heraus war wie über die Mythologie und beides nur noch zusammen sehen konnte, im Guten wie im Bösen? Eine Mythologie der Vernunft, die nicht nur ein Konstrukt war, sondern auch das Gewalttätige, Unvernünftige, Willkürliche bewahrte, eine Vernunft der Mythologie, die auch das Künstliche, Helle, Konstruierte durchscheinen ließ, eines durch das andere? Ist der Wahnsinn nur eine höhere Vernunft, mit Elementen der furchtbarsten Krankheit und des tiefsten Leides an der Existenz ebenso wie mit Elementen der hellsten Einsichten und klügsten Begründungen? Ist das die andere, die dunkle Hälfte des Lebens, ist Scardanelli nur Hölderlins klügerer und kränkerer Bruder? Das sind Gedanken, die man nicht mit dem Leben beweisen wollen sollte; aber, vielleicht, in freier Wahl, auch mit dem Leben beweisen wollen kann. Und von denen, natürlich, zu singen wäre. Und Hölderlins Dichtungen werden in der Zeit vor seinem Wahnsinn gleichzeitig immer freier und hymnischer und wagemutiger; sie stellen die Grammatik auf den Kopf, die Inversion wird seine Lieblingsfigur, und ist nicht eine Inversion – nun, eine Voraussetzung dafür, die Gegensätze von hinten anzuschauen, sozusagen, eine notwendige Übung der geistigen Gymnastik des freien Geistes, der seine Ur-teile auch umkehren kann? Hart stoßen sich in ihnen die Gedanken, die Bilder, die Wörter aneinander, und das höchst Dichterische kann innerhalb einer Verszeile in das höchst Prosaische umschlagen. Einheit ist – Einheit und Differenz, nebeneinander, durcheinander, miteinander. Immer rauschhafter wird diese Sprache, immer verwegener; die Sätze werden durch ihren eigenen Rhythmus vorangetrieben, gelegentlich gepeitscht, man meint ihnen dabei zusehen zu können, wie sie sich auseinander hervortreiben, wie sich das Gedicht selbst schreibt und der Dichter nur noch Medium ist, heiligtrunken, von größeren Kräften. Hier spielt sich die Vernunft ein wenig auf und prangt mit einem Begriff, doch die Mythologie springt sie von der Seite an und stülpt ihr ein Bild über, und beide rangeln miteinander, verkehren die Sätze, schlagen sich die Wörter, eines wörtlicher zu nehmen als das andere und gleichzeitig symbolisch wie nur je ein Sakrament, um die Ohren; es ist gleichzeitig höchstes Kalkül und rauschhafte Versenkung. Solche Sätze werden nicht verstanden beim Lesen; sie haben einen Sound, sie gehen ins Blut, unmittelbar, und dann kommt wieder ein Begriff, wie ein Widerhaken bohrt er sich in den Geist, und Geist und Blut kämpfen und tauschen die Rollen, und die Begriffe werden Gestalt, und die Bilder werden Vernunft. Das Heilige aber bewahrt der Gesang. Hölderlin kam nur bis Bordeaux; aber sein Gesang umspannte die Welt in einer großen Feier.
Sein Schicksal waren die Frauen. Oder war es die Religion? Oder doch die Poesie? Wahrscheinlich aber alle zusammen, so wie sie ihm zusammenfielen in seinem Leben und Schreiben, und es war immer die gleiche Maria, die Mutter aller Mütter, die er verehrte, vermisste, verließ und doch nicht lassen konnte. Seine eigene Mutter, die schöne Maximiliane, in deren schwarze Augen sich schon Goethe verliebt hatte, starb, als er 15 Jahre alt war; sie hinterließ eine Wunde in ihm, die sich niemals schloss. Er wird ihr unzählige Denkmale setzen in seinem Werk, in dem immer wieder marmornen Frauengestalten auftauchen, deren Schönheit für immer versteinert ist und die der Liebende nicht zum Leben erwecken kann. Der Vater hingegen, der das erfolgreiche Handelsgeschäft leitete und sich eine repräsentative Bürgerexistenz in der freien Reichsstadt erarbeitet hatte, blieb ihm fremd; man kennt die Geschichte aus Wilhelm Meisters Lehrjahren, aber im Gegensatz zu Wilhelm fand der junge Clemens niemand, der sein Geschick mit Überblick und Wohlwollen leitete, sondern ging immer nur weiter in die Irre. Er versucht sich in einer Buchhändler-Lehre, er beginnt Medizin zu studieren und hört dann lieber ein wenig Philosophie, aber nichts bringt er zu Ende, gar nichts. Immerhin aber findet er in Jena, im Kleinmilieu des aufmüpfigen Romantikerkreises um die Brüder Schlegel, schnell Anschluss; man überschlägt sich dort vor Ideen und übermütigen Scherzen, man will die Literatur revolutionieren und das Leben poetisieren, man erfindet die Philosophie neu und experimentiert mit den neuesten naturwissenschaftlichen Techniken, und all das miteinander und durcheinander. Und man verliebt sich leicht, man wechselt die Frauen sogar gelegentlich, und Friedrich Schlegel schreibt einen Roman, der die freie Liebe verherrlicht, ein Skandal! Brentano allerdings, ein Außenseiter in dem illustren Kreis, nimmt das alles gleichzeitig ein wenig zu leicht – er schreibt noch frechere Satiren als Tieck, noch kompliziertere Romane als Schlegel und zieht über die „Philister“ so boshaft und gemein her, dass einem noch heute die Haare zu Berge stehen. Aber gleichzeitig nimmt er das alles auch ein bisschen zu schwer. Er verliebt sich sehr ernsthaft in Sophie Mereau, eine umschwärmte, schöne, aber leider anderweitig verheiratete Professorengattin und Autorin; sie soll ihn, den herumirrenden Poeten mit den schwarzen Locken, der so schmachtende Lieder zur Gitarre singt und dem die Liebesgedichte so leicht aus der Feder fließen wie seinem Vater die Handelsrechnungen, erlösen, sie soll seine verlorene Mutter ersetzen, die früh gestorbene Lieblingsschwester Sophie, ja sogar die eigensinnige Schwester Bettine, die sich so gar nicht von ihm erziehen und formen lässt nach seinem Bild.
Sophie Mereau jedoch ist nicht interessiert, anfangs jedenfalls nicht, an dem jungen Allzuwilden mit dem wunden Blick. Brentano zieht wieder in die Welt hinaus und verirrt sich, verliebt sich hier und dort, Kleinigkeiten, eine hübsche Wirtstochter, eine entfernte Verwandte von Sophie Mereau in der Provinz; er macht aus all dem Literatur, aber kein Werk kommt zu einem Ende, es bleibt bei Bruchstücken, dramatischen Versuchen und natürlich Gedichten, immer wieder Gedichten. Aber dann, in einem zweiten Anlauf, kehrt er zurück nach Jena und wirbt nun erfolgreich um die inzwischen geschiedene, so viel lebensklügere und reifere Frau; und Sophie heiratet ihn tatsächlich, und sie bringt ihm zwei Kinder zur Welt – bis sie, 35jährig, an den Folgen einer Totgeburt verstirbt, ein nicht allzu seltenes Schicksal in dieser Zeit; auch die beiden ersten Kinder werden nicht alt. Brentano als Familienvater – es hat nicht sein sollen, und seine nächste Beziehung ist eine völlige Katastrophe, die endgültig seine Beziehungsunfähigkeit demonstriert: Er war mit der erst 16jährigen Auguste Bußmann aus Frankfurt durchgebrannt, doch bereits kurz nach der überstürzten Trauung begann ein wahrer Ehekrieg, mit mehrfachen Trennungen und Wiedervereinigungen, die dramatisch in einem inszenierten Selbstmord von Auguste gipfelt. Erst nach vielen Jahren konnte die Scheidung vollzogen werden. Da war Brentano schon längst in Berlin, in Böhmen und anderswo gewesen, immer zu Besuch, immer auf der Durchreise, aber nirgends siedelt er sich so ganz an; auch in Wien, wo er sein Glück als Theaterdichter versucht, kommt es zu keiner festen Anstellung, sondern nur zu Streit, Ärger, Missverständnissen.
Da entschließt sich Brentano zu einem drastischen Schritt: Er schwört der Poesie ab, seiner einzigen wahren Geliebten, die ihm über all die Frauen hinweg treu geblieben war; und er ergibt sich wieder der katholischen Religion, die schon seine Jugend geprägt hatte, mit all dem Herz und all der Seele, die er geben konnte. Als er von der Nonne Anna Katharina Emmerick hört, die krank in Dülmen liegt und Visionen hat und Stigmata auf den Händen, macht er sich kurz entschlossen auf die Reise; näher kann eine Frau seinem Ideal der wahren Maria nicht kommen, sie ist beinahe schon von Marmor, aber noch mit Blutmalen, und sie ist keine erotische Bedrohung. Er wird an ihrem Bett sitzen, ganze sechs Jahre lang, und er wird ihre Gesichte und Visionen aufschreiben, 40 ganze Foliobände voll, bis zu ihrem Tod. Und dann wird er an ihrer Veröffentlichung arbeiten, weitere lange Jahre, während derer wiederum herumzieht, in Frankfurt lebt, in München, in Regensburg. Er kehrt ein wenig ins Leben zurück und verliebt sich sogar noch einmal, ein letztes Mal; er beginnt wieder zu schreiben, Liebesgedichte natürlich, aber auch Märchen, wunderbare phantastische Märchen, in denen die Tiere sprechen und die Welt wieder zu singen beginnt. Aber seine letzten Jahre sind schwermütig, er gilt als erzkatholischer Sonderling; und als er im Haus seines Bruders Christian stirbt, ist nur eine Handvoll seiner literarischen Werke veröffentlicht worden. Er war ein wahrer Romantiker gewesen, in seinem Herzen und nicht nur in irgendeiner jugendlichen Revolte; er litt an einer Wunde, die sich niemals schloss, sie hinterließ Stigmata in all seinen Werken, aber niemand kann die Marmorgestalt zum Leben erwecken, ohne dass sie das verliert, was sie zum ultimativen Sehnsuchtsziel macht: ihre Künstlichkeit und Perfektion und Unerreichbarkeit.
Er machte noch aus seinem Sterben ein Projekt. „Nun, oh Unsterblichkeit, bist du ganz mein!“ hieß es, und er glaubte daran, wie er an jedes der vielen Projekte in seinem Leben geglaubt hatte: In dem anderen Leben, dem nächsten, würde alles besser sein, ganz gewiss, es konnte gar nicht anders sein! „Die Wahrheit ist: In diesem Leben war mir nicht zu helfen“, so hat er seiner Schwester Ulrike in seinem Abschiedsbrief geschrieben, und das bedeutete nach der Logik des Heinrich von Kleist (und er war ein Logiker, bei allem Enthusiasmus): Dann wird ihm eben im nächsten Leben zu helfen sein, das war nichts anderes als – die Wahrheit. Die Wahrheit aber war dem jungen Selbstmörder immer noch das Höchste, das Einzige überhaupt, das all die Mühen und Schmerzen des Schreibens, des Lebens, des Fühlens, des Projektemachens gelohnt hatte. Und auf wie verschlungenen Wegen hatte er sie in diesem Leben gesucht und nicht gefunden! Wenn irgendetwas konstant war an diesem Leben, dann die – sozusagen enthusiastische Strenge, mit der bereits der junge Adlige auf sich selbst und alle die schaute, die ihm beigegeben waren. Natürlich sollte er Soldat werden, Offizier, am besten General, das schrieb die Familiengeschichte so vor; die Kleists waren es immer gewesen, auch wenn einer der näheren Vorfahren es zu Ruhm nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch in der Dichtung gebracht hatte. Doch gestorben war Ewald von Kleist als junger Kriegsheld, und kein Geringerer als Lessing hatte ihn beweint. Aber Heinrich stürzt sich lieber auf die Wissenschaften und die Philosophie, die zwei, das weiß er ganz gewiss, sichersten und kürzesten Wege zur Wahrheit. Nicht einmal vor der Mathematik fürchtet er sich, und die Methode seines Lehrers, dass die Schüler die Beweise selbst zu finden und vorzutragen haben, nimmt er in heiligem Ernst an: Nur so, wenn man die Dinge mit vollem Einsatz der Person und des ganzen Geistes in Angriff nimmt, wird man sie erobern, die elusive Wahrheit! Und wie oder warum sollte man überhaupt leben, wenn man das nicht versuchte? In großen Rechtfertigungsbriefen wendet er sich an die Herzensschwester Ulrike oder an die früh Geliebte, die Offizierstochter Wilhelmine Zenge: Zwar wüssten die Frauen wenig von der Wahrheit, sie verstünden auch definitiv nichts vom männlichen Ehrgeiz; aber wenigstens verstehen müssten sie doch, dass er sich mit nichts Geringerem zufrieden geben kann! Natürlich, man müsste auch von etwas leben, natürlich, das Militär – aber was wäre das für ein Leben, wenn man sich nicht, zumindest vorbereitend, auf die Wahrheit, und ihre Schwester, das präzise und verbürgte Wissen der Wissenschaften, konzentrierte? Zeit bräuchte er, nur etwas Zeit, und Ruhe – und nun ja, Geld, aber das sei ja wirklich eine Nebensache, es sei ja da, und man möge eben Vertrauen in ihn haben, das alles werde sich aufs Schönste rentieren, auszahlen, es sei eigentlich gar keine bessere Investition denkbar als in seine zweifellos glänzende Zukunft!
Der kaum 20jährige schreibt wirklich und wahrhaftig solche Briefe. Von Literatur ist er zu diesem Zeitpunkt noch weit entfernt, aber seine Sätze lassen schon aufhorchen: Hier schreibt einer, der es kann, der nicht stottert, stammelt und um Worte ringt, sondern Sätze meißelt (gern verwendet er auch Passagen aus einem Brief in mehreren anderen wieder, wortwörtlich; warum sollte man auch verwässern, was einmal in Stein gemeißelt dasteht?). Aber es ist schwer einzuschätzen, zumindest zu diesem Zeitpunkt, ob aus ihm die Marionette spricht in all ihrer natürlichen schwerelosen Anmut, oder der, der die Marionette führt, weil er ihren Schwerpunkt kennt und die Mechanik beherrscht. Man wird jedenfalls den Verdacht nicht ganz los, dass er zumindest Ulrike und Wilhelmine wie Puppen führt. Vor allem die von fern Geliebte, der die großartigsten Aussichten ausgemalt werden über die gemeinsame Zukunft, das traute Heim, die gemeinsamen Kinder, ein Leben voll bürgerlichen Glücks und im Vollbesitz der Wahrheit (sie wirkt ein wenig wie ein Einfamilienhaus, für das man gerade einen geistigen Bausparvertrag geschlossen hat, in den nun ratenweise eingezahlt wird): Was wird sie nicht erzogen, nein: in Form gezogen, manipuliert, auf die Probe gestellt wie ein unwissendes Schulmädel! Aber wer seine Geliebte nicht selbst formt, sie ganz zu seinem eigenen Geschöpf (einer Puppe) macht, der liebt sie nicht, da ist sich Heinrich ganz sicher; denn wie soll sie seine Gefährtin sein, seine Söhne erziehen, wenn sie nicht selbst – nun, wenigstens ein wenig an der Wahrheit und dem Wissen geschnuppert hat? Sie muss ja nicht Mathematik studieren oder philosophische Schriften lesen (na gut, ein wenig Rousseau, und schon sind die sechs Bände gekauft, es bleibt aber unklar, ob sie die Geliebte je erreichen)! es reicht schon, wenn sie ihre Aufmerksamkeit schult, an alltäglichen Kleinigkeiten, die doch voll Bedeutung sein können, an Menschen, ihrem Verhalten und ihren Sonderbarkeiten, auch an der Sprache selbst, ihren unter Bildern und Redeweisen versteckten Wahrheiten! Ganze Fragenkataloge schickt er ihr und erbittet sich ihre „Aufsätze“ zurück. Eigentlich aber stellt er sich natürlich selbst Fragen, wie noch jeder ambitionierte Lehrer; und er selbst ist gelegentlich so stolz auf seine eigene Antwort, dass er sich kaum zurückhalten kann, sie sogleich aufzuschreiben. Mit fremden Gedanken tut er sich sowieso schwer, er weiß nur, was er selbst ganz allein durchdacht, mathematisch bewiesen und ein- für allemal aufgeschrieben hat. Und dass Heinrich von Kleist, der unberechenbare Wanderer zwischen den Epochen, in diesem alternativlosen Selbstdenken wie seinem Wissens- und Wahrheitsglauben ein großer Aufklärer ist, kann man nur übersehen, wenn man ihn strategisch lieber für die Romantik vereinnahmen möchte, die nicht gerade reich gesegnet ist an großen und konsequenten Denkern (und sein Selbstmord, wie urromantisch! nichts haben sie verstanden davon, gar nichts; es war doch nur ein logischer Schritt weiter). Und Wilhelmine gibt sich sogar Mühe, erweist sich als biegsam, lange Monate hindurch, Jahre fast. Ulrike hingegen, die zumeist ferne Schwester (dann wünscht er sie herbei), gelegentlich allzu nahe Reisebegleiterin und Mitbewohnerin (dann wünscht er sie weg), die geduldige Wäschebesorgerin und Kreditgeberin, sie hat ihren eigenen Kopf; sie geht gern in Männerkleidern und hat eine gewisse Abenteuerlust, die Heinrich in Angst und Schrecken versetzt. Nein, so sollten Frauen dann doch nicht sein (außer sie sind Amazonen, dann küssen sie und töten)!
Derweil erlebt Heinrich durchaus das eine oder andere Abenteuer selbst. Es sind Kriegszeiten, und er kommt herum. Eine Zeitlang ist er als Spion unterwegs; er sendet Briefe mit geheimnisvollen, bedeutungsschwangeren Anspielungen aus der halben Republik an seine beiden Frauen, er verfolgt eine wichtige Mission, die ihm direkt aus höchsten Kreisen zukam, er kann nicht sagen was, top secret!, aber es wird ihrer aller Zukunft sichern, ihm die höchsten Lorbeeren eintragen, nur diese paar Monate noch, und den nächsten Brief bitte postwendend und postlagernd nach – Dresden, Erfurt, Wien – nein, doch nur Würzburg. Geld braucht er natürlich auch schon wieder, und einen Freund hat er angestiftet mitzukommen, er ist ihm eine unentbehrliche Stütze, auch, nun ja, finanziell, aber vor allem: welch große Seele, welch Freund, welch Mensch! Ach, wenn man genug von Kleists Briefen in diesen durchaus noch empfindsam eingetönten Superlativen gelesen hat, sieht man nur noch Marionetten, überall: Und er spielt sie, er sucht ihre Schwerpunkte, er berechnet ihre Bewegungslinien, er gibt ihnen ein wenig Freiheit, aber eigentlich ist das alles Mechanik, Seelenmechanik, Wortbewegung. Ein Brief, den er an Wilhelmine aus Würzburg schreibt, ist berühmt geworden wegen eines originellen technischen Gleichnisses (Rilke hat es geliebt, auch ein großer Beziehungsmechaniker mit gelegentlich ähnlich egomanischen Zügen und dem gleichen absoluten Anspruch an die Wahrheit der Dichtung): Warum, so fragt sich Heinrich, stürzt eigentlich der Schlussstein aus einem gemauerten Bogen nicht herab, wo ihn doch nichts hält, er frei über dem Grund schwebt, nur gehalten von seinen Nachbarn? Eben deshalb, so entfährt es ihm, eben deshalb: weil mit ihm alle stürzen würden. Das jedoch, so Heinrich, gebe ihm persönlich durchaus Halt. Das Gleichnis kann man freundlich lesen (wir sitzen alle im gleichen Boot, es lebe die Solidarität!) oder unfreundlich: Wenn ich, das Zentrum von allem, stürze, dann werde ich alle mitziehen; mit mir erhält sich die Welt oben, oder mit mir geht sie unter.
Tatsächlich kündigt sich der Untergang schon an, er ist verbunden mit dem Namen Kant, und irgendwann musste es passieren. Der Zusammenhalt der Steine war schon ein wenig bröselig geworden in den Zeiten des Herumziehens (auch in Paris war er gewesen, und er war entsetzt: wenn das die Zukunft sein sollte, diese Stadt, dann wollte er nicht dabei sein!) und der Suche nach der eigenen Bestimmung. So las Heinrich von Kleist also Kant, er las ihn so, wie Kant Hume gelesen hat, nämlich: existentiell auf der Suche nach der einzigen Wahrheit, und die Wahrheit sprang ihn vor vorn an, in einem Frontalangriff, sie schrie ihm ins Gesicht: Es gibt sie nicht, die absolute Wahrheit, nichts wissen wir von den Dingen an sich, von der Welt ohne den Menschen; wir können nur das wissen, was unser Gehirn uns wissen lässt, in den Grenzen von Raum und Zeit, in den Kategorien, die man auf Tafeln lesen kann; es gibt keine synthetische Anschauung a priori, auch wenn die Mathematik uns das glauben macht, aber es ist doch nur Mathematik! Marionetten, nichts als Marionetten sind wir, geführt von den Fäden unseres Erkenntnisvermögens, und das nicht einmal besonders elegant! Das war eine Wahrheit, die Kleist nicht verarbeiten konnte: nicht die Wissenschaft, nicht die Philosophie, niemand, kategorisch: niemand konnte die Wahrheit finden, so wie sie war, nackt und ursprünglich und göttlich und nicht durch die verzerrende Brille schwacher Geschöpfe verzerrt? Alle Steine stürzten ein, auf einmal, und sie begruben ihn.
Er rettete sich in die Schweiz, in das einfache Leben – Handeln statt Denken, das war die Devise, in einem freien Land, unter freien Menschen. Wilhelmine wollte nicht mit, aber zu diesem Zeitpunkt machte das auch keinen Unterschied mehr. Zudem erreichte die große Politik,also: die lebenslang innig gehassten Franzosen, gerade die Insel der Freiheit, aber es war wohl eher ein Vorwand für Kleist, das Experiment als Häuslebesitzer und Werktätiger bald wieder abzubrechen. Krank war er auch geworden, und gesund würde er niemals mehr werden; in diesem Leben war das schon zu viel erwartet. In Berlin kam er wieder in die gleiche Klemme wie schon vor so langer Zeit: ein immer noch überschwänglicher, wenn auch deutlich gedämpfter Wissensdurst, die Verpflichtung des Namens gegenüber dem Staat, die Selbstverpflichtung gegenüber hohen Gönnern, die endlosen Versprechungen gegenüber den Freunden und sich selbst: Nur ein wenig Kameralwissenschaft werde man noch studieren, danach werde man dem Staat umso nützlicher sein können. Inzwischen hatte er jedoch schon mit dem Schreiben begonnen; still, fast heimlich, nur gelegentlich erwähnt er einen neuen Plan in einem der nun etwas rarer werdenden Briefe. Es sind Dramen, recht konventionell noch in der Form, historische, schon von anderen bearbeitete Stoffe, mit denen er sich in eine Idealkonkurrenz mit den großen Dichtern stellt und ihnen seine eigene Version der Ereignisse entgegenhält: Diese aber ist radikal anders, sie ist gewaltsam, sie ist pessimistisch, und oft weiß man nicht mehr, ob man lachen oder weinen möchte oder einfach nur wegsehen. Ihre Helden sind Absolute, so wie Kleist selbst: ein Gerechtigkeitsfanatiker, eine mordende Amazone, ein Prinz, der aus Versehen eine Schlacht gewinnt. Nebenher arbeitet er für den Zoll und wird als Spion verhaftet; er ist eine Weile glücklich bei dem alten Wieland in Oßmannstedt, der ihm gebannt lauscht, als er aus seinem neuen Drama vorträgt, und ihn dann herzlich umarmt; das sei der höchste Moment seines Lebens gewesen, wird er in einem Brief schreiben, und man ist geneigt, ihm zu glauben; immerhin, ein Moment, was will man mehr? Und Anerkennung – geht es nicht doch eigentlich nur um Anerkennung? Ist das nicht die ganze Wahrheit, die ein armer Autor braucht?
Als Kleist schließlich ganz im literarischen Betrieb Berlins angekommen ist und eine Zeitschrift startet, versucht er die Großen zur Mitarbeit zu gewinnen; er verspricht noch einmal Ulrike eine goldene Zukunft, ganz sicher sei sie, und einen Verlag werde man gründen, man habe Zusagen und Privilegien von höchster Stelle, Erfolg und Dividende garantiert. Nichts wurde daraus. Goethe antwortet, als Kleist ihm eines seiner Dramen mit den Worten schickt, es sei eher für ein zukünftiges Theater denn für die jetzige Bühne: Nichts für ungut, aber er als Theaterleiter würde es doch vorziehen, wenn man sich der Aufgabe stelle und Dinge schriebe, die auch in der eigenen Gegenwart aufgeführt würden könnten. Alles andere erschiene ihm, man möge verzeihen – eine lahme Entschuldigung, eine Flucht vor der Wirklichkeit; das sagt Goethe natürlich nicht so, aber man liest es doch deutlich aus den marmornen Zeilen; Goethe konnte, das wusste auch Kleist, ebenso Sätze in Stein meißeln wie er selbst, und auch bei ihm waren sie nicht immer freundlich (aber: die Wahrheit, die Wahrheit….). Inzwischen waren zwar verschiedene seiner Dramen erschienen, auch zwei Bände Erzählungen, die mehr noch als die auch später weithin unaufführbaren Dramen zumindest in den deutschen Literaturkanon eingehen sollten: Geschichten von einer geradezu diamantenen Durchsichtigkeit, sowohl in der Sprache als auch in der erbarmungslosen Klarheit der Handlung und der olympischen Gerechtigkeit der Schicksale; Sätze, die die Grammatik zu einer ganz neuen Sprache machten, von mathematischer Prägnanz, in der sogar Worte wie „dergestalt“ zu schimmern begannen. Es waren Geschichten, die sich beim Erzählen wie von selbst verfertigten, aus sich heraus eine Logik und Konsequenz hervortrieben, die von ähnlicher Gewaltsamkeit sein konnte wie seine Dramen. Es waren Geschichten, in denen die Anmut der Marionette durch das Feuer der Reflexion hindurchgegangen war und auf der anderen Seite geschmiedet, geglättet wieder hervorgekommen; Geschichten, in denen häufig kaum gesprochen wird, Geschichten ohne Ich, mit Subjekten, die zu Objekten wurden und umgekehrt, bis es keinen Unterschied mehr machte. Sogar wenn Heinrich von Kleist nur eine Anekdote schrieb, schuf er Kabinettsstücke der Sprache, auszustellen in Schaukästen; man durfte sie nicht berühren, das nicht, aber sie waren – kleine Wahrheiten. Unpersönlich. Absolut in ihrem Kosmos.
Als Heinrich von Kleist dann den Entschluss fasste, dieses Leben, in dem ihm nicht zu helfen war, zu verlassen, suchte er sich eine Partnerin. Das ist nicht ganz einfach zu verstehen: Warum konnte er sich nicht einfach selbst erschießen, am Wannsee an einem kühlen Novembermorgen, in "Freude und unaussprechlicher Heiterkeit", wie er an Ulrike schreibt? Denn selbst erschossen hat er sich, zuvor jedoch erschoss er vereinbarungsgemäß Henriette Vogel, eine an einem unheilbaren Krebs erkrankte Ehefrau und Mutter, mit der er sich zuvor angefreundet hatte und die er, so sagte das gern ein wenig absurde Gerücht, Fechten gelehrt hatte. Doch Kleist hatte immer ein Gegenüber gebraucht; seine enthusiastischen Freundschaften wie seine wenig befriedigenden Liebschaften geben davon Zeugnis, wie sehr er angewiesen war auf ein Gegenüber, dem er seine Gedanken entwickeln konnte, so wie sie sich im Reden ergaben, mit der zwingenden Logik gesprochener – oder später niedergeschriebener Worte, mit ihrem energetischen Impuls, der einen in eine Richtung mitriss, ohne dass man sich je entschieden hatte, sie einzuschlagen. Denn das Reden redet sich selbst, wie das Schreiben sich selbst schreibt; aber nicht im leeren Selbstgespräch. Und als Kleist seine letzten Worte schrieb – sehr bewusst, sehr gemeißelt, wie immer -, da hatte er Henriette in Gedanken bei sich. Allein jedoch wäre es ihm ergangen wie einem seiner Helden, dem Prinzen von Homburg: Er hätte um sein Leben gefleht, auf einmal schwach, nur einer von vielen Steinen in einem großen Bogen, die ihn doch immer noch hielten und umfassten. Mit Henriette jedoch hatte er den Schlussstein gefunden; und als dieser stürzte, da konnte auch er sich erleichtert fallen lassen. Es war ja nur ein kleiner Schritt, den sie den anderen vorausgingen, und in einem anderen Leben würden die Bögen von einer ganz anderen Haltbarkeit sein.
Sie waren beide Realistinnen, obwohl sie beileibe nicht dazu geboren waren. Aber Frauen sind immer, mehr oder weniger, Realistinnen gewesen: Schon ihre Lebensweise erlaubte ihnen keine geistigen Höhenflüge, sie konnten sie sich einfach nicht leisten. Und ein wenig Eskapismus hier und dort, die Wunschträume der zu eifrig Lesenden – aber das war kein Idealismus, das war bitterste Lebensnotwendigkeit. Nein, Frauen hatten es schon immer mit der Wirklichkeit zu tun; so wie jeder Unterdrückte auf Erden, so wie jeder, der sich auf eine Ehe eingelassen hatte, so wie jede, die das wirklichste vom Wirklichsten erlebt hatte: ein Kind zu bekommen. Männer konnten sich Idealismus leisten; sie konnten die Welt erobern im Dienst einer Idee (die, bei realistischem Licht besehen, niemals die Todesopfer wert war), sie konnten die reine Liebe suchen (und damit geschickt verschleiern, dass sie eigentlich ausschließlich an ihrer unreinen Halbschwester interessiert waren), sie konnten sogar das eigene Leben opfern! Zurück blieben Frauen und Kinder. In der Wirklichkeit. Frauen opferten sich auch, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Aber sie taten es nicht für den Luxus einer Idee.
George Eliot wurde geboren als Mary Anne Evans; sie trug aber in ihrem Leben viele Namen, und berühmt wurde sie unter einem fremden, männlichen: George Eliot. Eigentlich hätte sie das, im Rückblick besehen, wirklich nicht nötig gehabt: niemals war sie eine von den Silly Lady Novelists, über die sie sich in einem ihrer ersten Essays gründlich und ziemlich schonungslos lustig machte: In verschiedenen Gattungen würden sie auftreten, so schrieb sie, es gäbe die schaumig-substanzlose, die evangelikale-betuliche, die pedantisch-historisierende und die pseudo-philosophische Variante, und eine sei so schädlich wie die andere für die Literatur, die doch wahrlich ein wenig weibliche Variation gebrauchen könnte! Denn hatten nicht die Salondamen in Frankreich gezeigt, dass man als Frau schreiben konnte, geistvoll, aus dem vollen Leben heraus, ohne Seitenblick auf die Männer oder den Nachruhm, sondern einfach schreiben, mit der ganzen Person, so wie man war als Frau -denn man schrieb entweder mit seiner ganzen Person, oder man konnte es genauso gut bleiben lassen? Aber nein, aus schierer Langeweile und Geltungssucht ergriffen ihre Zeitgenossinnen die Feder, so, wie man ein Kissen bestickt mit Blumen, die man nie gesehen hat, oder ein Liedchen am Klavier trällert, und anderswo komponieren Giganten Symphonien. Nein, erst musste gelebt werden, es musste gelesen werden, es musste gedacht werden; Gefühle mussten nicht nur erfahren, sondern erforscht werden, ganze Kontinente von Gefühlen und den unbekannten Ländern um sie herum. Die ersten Erzählungen von Mary Anne Evans erscheinen, da ist sie knapp 40 Jahre alt. Und dann kommen die großen Romane, einer nach dem anderen, im Zentrum: Middlemarch, das Bild einer Gesellschaft, eines Jahrhunderts, verpackt in einer Kleinstadt, so typisch, dass sie schon wieder originell war.
Bis dahin verlief das Leben von Mary Anne Evans so wie das so vieler schreibender Frauen vor und nach ihr. Ihre Mutter stirbt, als sie 16 ist; Mary muss die Verantwortung für die Kinder und den alternden Vater übernehmen. Ihre Geschwister verlassen das Haus, sie bleibt bei dem Vater. Die Familie ist streng kirchlich geprägt, und Mary ist mit ihrem ganzem Herzen und ihrem erwachenden Verstand religiös, tief religiös, schwärmerisch religiös: Die Heilige Teresa, so wird sie im Vorwort zu „Middlemarch“ schreiben, schwebte vor ihrem inneren Auge, eine Fanatikerin des Geistes, aber auch eine praktische Frau; eine Realistin, die nicht nur gute Taten und Selbstaufopferung predigte, sondern einen Frauenorden gründete, verwaltete, zum Erfolg führte. Wichtig sind nicht schöne Worte, sondern ein eiserner Wille. Schön sind nicht die Nichtigkeiten, mit denen Silly Lady Novelists ihre zutiefst unrealistischen Heroinnen schmücken, schön ist das Eintreten für die Armen, nicht aus Pflicht, sondern aus christlichem Mitgefühl heraus – Dorothy in Middlemarch, die wir uns wohl als junge Mary Anne vorstellen können, ist die Selbstaufopferung so natürlich wie das Atmen, und in welche Abgründe gerät sie damit! Mary Ann aber kommt zum richtigen Zeitpunkt, und damit wendet sich ihr Leben, in intellektuelle Zirkel. Gefährliche Freidenker treffen sich dort, und als sie dann damit beginnt, Das Leben Jesu von David Friedrich Strauß vom Deutschen ins Englische zu übersetzen, ist es geschehen um ihre Seelenruhe und den Familienfrieden. Sie beginnt eine Affäre mit einem verheirateten Mann – es wird eine eheähnliche, lebensprägende Beziehung werden, allerdings ohne den Segen der Kirche; sie schreibt für Zeitungen und Zeitschriften, übersetzt ein weiteres Skandalwerk, Ludwig Feuerbachs Das Wesen des Christentums, arbeitet sogar an einer Übertragung von Spinozas Ethik. Das alles ist aber nötiges Vorspiel, die Ouvertüre zu ihren Erzählungen, in denen sie ihren religiösen Fanatismus vom Himmel auf die Erde verpflanzt: Sie hat sich ihren Realismus erarbeitet, durch ihrer Hände und ihres unermüdlichen Geistes Werk. Niemals hätte sie nach dieser Rosskur, wie Dorothy, sich mehr damit begnügen können, den Worte des verehrten und über alle Begriffe gelehrten Gatten hingebungsvoll zu lauschen und dankbar für sie zu sein wie für Brosamen vom Tische des Herren. Hier wurde eine Selbstdenkerin geboren, und man mag sich kaum vorstellen, wie viele Häute sie dafür abstreifen musste.
In Middlemarch aber ist sie auf dem Gipfel ihrer Kunst. In einer englischen Kleinstadt, gebeutelt von den Reformwirren des viktorianischen Zeitalters in seinen entlegeneren Provinzen, versammelt sich ein Panoptikum von Gestalten, die damit leben müssen, dass ihre Autorin unendlich viel klüger ist als sie alle. Über ihnen allen schwebt der Erzähler, nein: natürlich die Erzählerin, souverän, humorvoll und niemals verletzend, als guter Genius: Sie kennt sie, sie hat sie erlebt, damals, in der Provinz, es war eine Erziehung, wie man im Englischen sagt, und trotz alledem – liebt sie sie immer noch. Sie können starrköpfig sein, vertrocknet und verbiestert wie Dorothys Ehemann Casaubon, sie können leichtlebig und unzuverlässig sein wie der junge Lydgate, alte Klatschweiber und junge Modepuppen, friedliche Dorfpriester und ambitionierte Dorfärzte, eine bunte Verwandtschafts-Mischpoke, die geierartig über dem soeben versterbenden reichen Onkel kreist; sogar die Kinder dürfen mitspielen und die Pferde haben einen eigenen Willen gerade wenn man sie verkaufen will. Hat man schon jemals zuvor eine Kleinstadt so gesehen, in ihren konfusen und doch charakteristischen Gesprächen, ihren kleinen Intrigen, ihren ebenso kleinen, aber doch, irgendwie: herzrührenden Heldentaten? Middlemarch ist die ganze Welt, gesehen durch die Augen einer klugen Frau, die ihre Ideale zwar verloren hat, aber ein wenig Teresa bleibt: Auch wer nicht mehr glaubt, kann immer noch einen Orden gründen. Vielleicht ist es sogar besser, wenn Orden von Skeptikern gegründet werden, wer weiß? Ihre Zunge bleibt im Feuer, so wie sie es von Teresa beschrieben hatte; aber man muss ein Salamander sein, um das zu ertragen. Nur so entgeht man der Albernheit. Virginia Woolf würde gar nicht so viel später über den Roman schreiben, er sei einer der äußerst seltenen Exemplare von „Romanen für Erwachsene“ – was letztlich eine andere Definition von Realismus ist: das Feuer erhalten, ohne Feuer gibt es keine Dichtung, aber es kann auch eine Zeitlang als Herdfeuer oder Nachtlicht glimmen, bevor es dann wieder hervorbricht, oft in einzelnen Sätzen oder Bemerkungen nur, und selbst die unbedeutendste Figur kann einen Funken davon auffangen. Realismus braucht keine Helden; aber Frauen, das ganz sicher
Marie von Ebner-Eschenbach wird gut zehn Jahre später als Mary Ann Stevens geboren, auch sie in der Provinz, in eine große Familie des böhmischen Landadels. Die Mutter stirbt noch früher als die Mutter von Mary Ann Evans; die erste Stiefmutter stirbt wenig später, und das schon früh lesewütige Mädchen wird erzogen von Ersatzmüttern (die zweite nimmt sie mit ins Burgtheater, es wird eine Liebe fürs Leben), der Großmutter (deren Bibliothek sie durchstöbern darf, ein wahrer Schatz), wenig geliebten Gouvernanten (die sie in weiblichen Tugenden unterrichten) und dem wahrscheinlich heimlich geliebten Dienstpersonal (von dem sie tschechisch lernte). Zwischen den Ständen wächst Marie auf und zwischen der Großstadt (Wien) und der Sommerprovinz mit all ihren Freiheiten; sie liest Perraults Märchen und Schillers Dramen mit der gleichen Begeisterung; sie beginnt früh mit dem Schreiben, heimlich, aber dann doch entdeckt und ermutigt von der Familie. Da schadet noch nicht einmal die konventionelle und frühe Heirat mit einem Cousin, der ihre literarischen Ambitionen sogar unterstützt; zudem bleiben Kinder, aus welchen Gründen auch immer, aus. Man lebt in Wien, recht kommod wahrscheinlich; und Marie versucht sich an Dramen in der Schiller-Nachfolge, eine Maria Stuart schreibt auch sie, aber der Erfolg bleibt am Burgtheater bleibt aus.
Marie lässt sich nicht entmutigen, und sie wird ein wenig unkonventionell: Knapp 50jährig machte sie eine Uhrmacherlehre; und so wird auch ihr erster größerer Roman heißen: Lotti, die Uhrmacherin. Denn mit ihren Erzählungen hat sie, wie Eliot, einen späten Erfolg, aber, wie Eliot, dann sogar einen großen. Die Zeitschriften reißen sich um ihre Erzählungen und Geschichten, die mal im Adel spielen, mal im Bürgertum, ja sogar gelegentlich auf dem Dorf und in den unteren Schichten; sie sind gut beobachtet, man beginnt das Psychologie zu nennen; sie sind mit leichter Hand erzählt, in lebendigen Dialogen, humorvoll, aber nicht platt, ein wenig tiefgründig gelegentlich, aber immer: menschenfreundlich. Denn Marie von Ebner-Eschenbach liebt ihre Figuren, wie auch George Eliot; sie verteilt ihre weibliche Weisheit gerecht über sie, so wie eine gute Mutter das Brot verteilen würde, und den besonders Bedürftigen gibt sie eine Scheibe mehr: Sie brauchen es doch! Kleine Hunde kommen darin vor, und Knaben, die kleine Hunde quälen – und man könnte es pompös eine Sozialstudie nennen, es ist aber ein psychologisches Profil, es zeigt, wie Soziopathen entstehen und wie die Gesellschaft sie fürchtet und nicht beherrschen kann. Zwei alte Damen werden durch einen Schicksalsschlag zu „Kapitalistinnen“: Ein Erbe raubt ihnen die Seelenruhe, und die vermeintlich so überlegenen Männer rauben ihnen durch ihre Unzuverlässigkeit und Überheblichkeit beinahe wieder das soeben erst gewonnene Kapital; es ist eine Studie über die Mechanismen der Warenbörse und ihre Auswirkungen auf die menschliche Psyche, über das Glück der Welt und das Glück der Seele. Zwei Autorinnen treffen sich bei einer gesellschaftlichen „Visite“, ein wenig unerwartet, zum ersten Mal; und es stellt sich heraus, dass keine das Werk der anderen gelesen hat, das sie doch in den höchsten Tönen gepriesen hatte; so sind Autorinnen eben, es sind auch nur schreibende Wesen, und die sind fehlbar, eitel, aber, im besten Fall: wenigstens humorvoll. Und wem das nicht genug an Lebensweisheit ist, der kann 500 Aphorismen lesen: sorgfältig gesammelte Weisheiten, aus dem tiefen, tiefen Nähkästchen der Selbstbeobachterin, der Selbstdenkerin, der gewordenen, nicht geborenen Realistin. Ihre Zunge stand niemals in Flammen, das war nicht ihre Art; und auch als Schiller-Epigonin war für sie nichts zu holen. Marie musste erst Lotti, die Uhrmacherin werden, so wie George Eliot zuerst Spinoza und Feuerbach übersetzen musste – dann konnten sie erzählen, dann bekamen ihre Geschichten einen Grund, dann erhoben sie sich über Albernheit und Provinzialität und das Platte im Realismus.
Es ist gut möglich, dass sie sich persönlich nicht viel zu sagen gehabt hätten, die englische Teresa und die böhmische Marie; vielleicht wären sie umeinander herumgeschlichen, wie die beiden Autorinnen in der Visite, solidarisch selbstverständlich, aber einander wesensfremd. Aber Realismus ist nicht, dass man die Welt genauso sieht, speziell ihr Elend und die Unterdrückung und die Armut (für die beide ein feines Auge und ein fühlendes Herz hatten). Es ist, dass man die Welt so sieht, wie man sie selbst sieht, wenn man ganz genau hinschaut und nicht an eine ferne Idee denkt oder das was andere Leute (Männer) darüber gedacht haben oder an den Nachruhm oder auch nur an den Glanz der eigenen Worte und Sätze – und sie dann immer noch genug liebt, um ihre Geschichte zu erzählen. Weiblicher Realismus ist: Literatur für Erwachsene (für das Kind im Mann gibt es genug andere Geschichten).
Natürlich hat er Goethe verehrt, welcher Dichter von Rang tut das nicht (zweitrangige allerdings reden ihn gern schlecht)? Das Komische aber war, dass sein zweiter Lieblingsautor Georg Christoph Lichtenberg war, der etwas kauzige bucklige Göttinger Professor der Naturgeschichte, der es niemals zu einem dichterischen Werk, sondern nur zu Bänden voller kauziger Aufzeichnungen über – und das ist sehr wörtlich zu nehmen: über Gott und die Welt und alles dazwischen und darunter gebracht hat, die er selbst "Sudelbücher" nannte. Nun war Mörike sicher kein Sudler; schon seine Bilder lassen einen behäbigen Schwaben vermuten, der sich zwar nie wohlfühlte im Priesterrock und ihn so bald wie nur möglich an den Nagel hängte; aber davor lag eine wahre Odyssee durch schwäbische Pfarrhäuser und Vikariate, anhand deren man noch heute eine schöne Rundwanderung durch die schwäbische Alb und die ihr angrenzenden Täler machen könnte, und vielleicht fände sich sogar die eine oder andere schöne schwäbische Pastorentochter – oder doch lieber eine unheimliche Zigeunerin, die in einer Höhle auf der Alb haust und dunkle Geschichten aus dem Handteller liest, worauf man überstürzt zurück ins Pfarrhaus eilt, wo die ungeliebte Sonntagspredigt wartet und ein angefangener Brief an die schöne Pfarrerstochter Luise Rau in Plattenhardt (ja, schwäbische Dörfer heißen wirklich so, heute noch!) und daneben ein angefangenes Gedicht mit anakreontischen Grundton, und man fühlt sich auch wieder ein wenig kränklich, die Luft ist eben doch zu rau auf der rauen Alb – doch wir sind vom Wege abgekommen, so wie es Mörike immer wieder selbst passiert in seinen Romanen und Geschichten, wo Episoden mit Einschüben über- und untereinander purzeln.
Lichtenberg und Goethe also: ein seltsames Paar an Hausgöttern für einen schwäbischen Biedermeier-Dichter mit gelegentlich diagnostizierten Abgründen und einem Kneifer im lebenslang etwas pausbäckigen Gesicht! Natürlich, Goethe; aber seltsamerweise war Mörikes absolutes Lieblingsbuch keines der großen literarischen Werke, weder der unglückliche Werther noch der überhebliche Faust, nicht der etwas verwirrte Wilhelm Meister oder der am Hofe leidende Dichter Tasso; nein, das absolute Lieblingsbuch war Mörike Goethes Briefwechsel mit seinem Dichterfreund Schiller, einem weiteren Schwaben, gar nicht weit von Mörikes heimatlichem Ludwigsburg war er aufgewachsen, und später würde Mörike das überwachsene Grab von Schillers Mutter auf einem Pfarr-Kirchhof in Cleversulzbach (ja, wirklich, siehe oben) entdecken und ein Gedicht darauf schreiben, in klassischen Hexametern, denn die antiken Klassiker liebte er beinahe ebenso wie Goethe und Lichtenberg – womit wir zum Briefwechsel von Goethe und Schiller zurückkommen, fünfmal soll er ihn gelesen haben, er legt die Lektüre seiner Braut innigst ans Herz (mit schwachem Erfolg), und was ihn daran fasziniert, hält er nur in Andeutungen fest: Er habe dort, so schreibt er, ohne unbescheiden sein zu wollen viele seiner eigenen Lieblingsgedanken wiedergefunden; und man mag ergänzen: bestätigt gefunden, mit allerhöchstem Siegel beglaubigt. Worüber jedoch schreiben Goethe und Schiller sich eigentlich? Es ist ein Dichterbriefwechsel; sie schreiben, natürlich, über ihre Werke, über ihre Pläne, sie kritisieren sich, regen sich an, lästern gelegentlich über Dichterkollegen; selten ist von ihrem Privatleben die Rede, nie von Christiane Vulpius, die Schiller geflissentlich ignoriert, häufig jedoch vom Alltag, von Krankheiten, von Erschwernissen des Dichtertums: Ja, auch die Größten, sie haben gelegentlich gelitten, sie haben gewusst, wie wichtig die richtige Stimmung ist, um etwas wahrhaft Großes und Freies zu schaffen, und wie sehr einen der Alltag und die Krankheit darniederdrückt; sie tun alles, um sich gegenseitig in diese Stimmung hineinzusteigern, sie wünschen dem Freund nicht etwa schönes Wetter oder einen guten Appetit, sondern einen fruchtbaren Tag; und wenn der Brief mal wieder gar zu unfruchtbar war, so versucht Goethe, und das ist für jeden empfindlichen Leser unendlich rührend, dieser Unfruchtbarkeit durch das beigelegte frische Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten abzuhelfen. Fruchtbarkeit, dichterische Stimmung, Produktivität – darum geht es in diesem Briefwechsel vor allem anderen, und man kann sich vorstellen, wie Mörike es gierig aufsog: Seht nur, auch die Großen haben Probleme, sind nicht immer so produktiv, wie sie möchten, sind kränklich, nennt sie nur Hypochonder, ich bin auch einer, und vielleicht ist sogar jeder Dichter ein wenig ein Hypochonder, nämlich: Jemand, der auf seinen Körper hört, hören muss, weil ohne den Gleichklang im Körper der Kopf nicht dichten mag, vor allem nichts Heiteres, Harmonisches, in sich Vollendetes: Schönheit. Und Schönheit, seht ihr, da steht es, bei den Großen, darauf kommt alles an; auf die befreiende Wirkung des schönen Kunstwerks, auf seine ausgleichende Wirkung, auf seine harmonisierende Kraft in unserem Leben, das doch meist das Gegenteil von all dem ist: zerrissen, zerstreut, unproduktiv, gehemmt (und immer muss noch eine Predigt geschrieben werden).
Mörike wäre, das wissen nicht nur seine langjährigen Freunde, selbst gern produktiver gewesen; das Werk macht sich ein wenig schmal für all die langen Lebensjahre, die nach dem Vikariats-Parcours durch Schwaben nicht eben ereignisreicher wurden. Denn das Dichten fiel ihm leicht, offenbar von Jugend an; er war nie ein guter Schuler, auch im Tübinger Stift schlug er sich mehr schlecht als recht, aber seine Gedichte waren formvollendet, mehr oder weniger von Anfang an; er brauchte keine Entwürfe, kein mühsames Feilen, sie flossen aus ihm heraus, bei Gelegenheit (aber eine Gelegenheit brauchten sie, und war es nicht Goethe, der gesagt hatte, alle Dichtung sei eigentlich Gelegenheitsdichtung?), und formten sich, ein "Kunstgebild der echten Art", wie es in einem seiner berühmtesten Gedichte heißt, das bezeichnenderweise "Auf eine Lampe" heißt. Größere Werke jedoch fielen ihm schwer; mühsam schrieb er einen Roman zusammen, den düsteren Maler Nolten, ein Künstlerroman mit schweren Todesfolgen: Am Ende ist das gesamte Personal samt der Titelfigur verstorben, und es ist noch nicht einmal ganz klar, warum das nun wirklich sein musste – außer, dass sie an dem Grundleiden aller Romantiker litten, nämlich dem Leben. Aber Mörike war eigentlich gar kein Romantiker, und gelegentlich wurde schon vermutet, er habe sich mit dem Maler Nolten ähnlich therapiert, wie schon Goethe in seinem Werther: Bringen wir die Hauptfigur doch einfach um, und dann sind wir sie los, das Leiden an der unglücklichen Liebe, an der unendlichen Sehnsucht, an dem ewigen Ungenügen des Lebens im Angesicht der Kunst! Wie auch immer, es hat funktioniert. Es bleibt aber auch der einzige Roman. Mörike träumt von einem Trauerspiel (große Dichtung!), versucht sich weiter an kleineren Erzählungen, Märchen – aber das Schreiben für Geld, der einzige Ausweg aus der Pfarrers-Misere, will ihm nicht gelingen: Es ist wie das ungeliebte Predigtschreiben, man steht auf einer öffentlichen Kanzel und soll die Menge unterhalten, dabei ist doch alles, was man zu sagen und zu schreiben hat, eher – intim, heiter, für die kleine, die gute Gesellschaft bestimmt, für Freunde und Wohlgesinnte, für zwanglose Konversationen auf dem einen oder anderen Landgut, im Hintergrund blühen die Orangen, gedankenlos greift man nach einer schönen Pomeranze – aber das ist Mozart, nicht Mörike, der nach Prag fährt, um seinen Don Juan zur Aufführung zu bringen, Mozart mit seiner heiteren, konversationsartigen Musik, die man sich gut im Hintergrund einer Mörikeschen Konversation auf einem horazischen Landgut vorstellen kann; man hat sich getroffen, es sind schöne Frauen anwesend und gebildete Männer, und man erzählt sich gegenseitig Geschichten, wunderbare und reale, so genau kann man das gar nicht entscheiden, und dann spricht man darüber und ist im besten Sinne des Wortes: miteinander vergnügt. Das ist Mörikes (ideale) Welt!
Natürlich hätte das auch Goethe und Schiller gefallen, Schiller, dem Theoretiker des schönen geselligen Spiels und seiner erzieherischen Wirkung auf den Menschen, und Goethe, in dessen Wahlverwandtschaften genau die gleiche gute Gesellschaft sich trifft und vergnügt, nur knapp dreißig Jahre vorher. Aber wo ist eigentlich Lichtenberg geblieben, der kauzige Spätaufklärer, der Physik-Lehrbücher schrieb, Experimentalvorlesungen hielt und Mitglied aller berühmten Akademien war; der einen Buckel hatte und ein Verhältnis mit seiner etwas zu jungen Aufwärterin; der Sudelbücher schrieb, Streitschriften und Polemiken, aber niemals einen Roman oder überhaupt ein literarisches Werk? In einem Fragment gebliebenen Romanprojekt Mörikes taucht eine Gestalt auf, ein Professor Killford, der ihm verdächtig gleicht: Er interessiert sich gleichermaßen für die Naturwissenschaften wie die schönen Künste, er macht Experimente mit Luftpumpen, ist der Frömmelei abgeneigt und einer polemischen Auseinandersetzung nicht ungeneigt, er hat skurrile Launen und spricht eine höchst anschauliche, witzige Sprache. Lichtenberg ist gewissermaßen der aufklärerische Gegenpol zu einer allzu heiteren, allzu harmonisierten Welt des Spiels und der schönen Geselligkeit: Er bringt die Dinge auf den Punkt, notfalls auch scharf; er hat Ideen, Einfälle, Erkenntnisse, Beobachtungen ohne Ende, sie sprudeln nur so aus ihm heraus in seine Sudelbücher – aber er bringt es zu keinem geschlossenen Werk. Ist er Mörike ein Trost? Schau, so könnte er gesagt haben, seht doch nur, er ist klug, gescheit, präzise, er steht mitten im Leben, er interessiert sich für alles, nichts ist ihm zu klein und nichts zu groß. Auch so kann man ein Dichter sein, auch so! Und wenn er Gedichte geschrieben hätte – hätte er vielleicht auch ein Gedicht auf eine Lampe geschrieben, warum nicht? Denn das Schöne, das "Kunstgebild der echten Art", verbirgt sich gern; keiner beachtet es, aber zum Glück braucht es das auch nicht: denn "selig scheint es in ihm selbst".
Man mag das Biedermeier schmähen (don't be bieder!). Man kann es auch klassisch nennen. Vollendet. "Unverrückt", wie die Lampe im fast vergessenen Lustgemach. Wer achtet sein? Rilke wird gut sechzig Jahre später angesichts eines anderen vollendeten Kunstdings schreiben: "Du mußt dein Leben ändern". Mörike war nicht stark genug, sein Leben zu ändern, der große Künstler zu sein, wie Goethe und Schiller, die er verehrte; aber er war stark genug, um zu wissen, was man achten muss und was nicht.
Er erzählte für sein Leben gern Anekdoten. Schon sein Vater hatte das getan, der Apotheker mit den hugenottischen Wurzeln und der fatalen Neigung zum Glückspiel. Auch Theodor lernte das Familiengewerbe, man mag ihn sich gar nicht ungern vorstellen, wie er in einer altertümlichen Apotheke steht zwischen ihren vielen Fächern, Schubladen und sauber beschrifteten Gläsern und der Oma mit dem krummen Buckel ein selbst zusammengerührtes Heilmittel verkauft; dazu erzählt er ihr noch, im schönsten Dialekt, eine Geschichte erzählt, von den Wunderkräften der Kräuter und den alten Sagen, die mit ihnen verbunden sind, und die Oma wird schon vom Zuhören beinahe wieder gesund werden. Aber Fontane wollte nicht Apotheker bleiben. Kaum war er verheiratet, entschloss er sich, sein Glück als freier Schriftsteller zu versuchen, und von da an war die Not ein Dauergast in dem kleinen bürgerlichen Haushalt, der schnell, im Jahrestakt, immer größer wurde. Sieben Kinder brachte Emilie zur Welt, drei davon starben kurz nacheinander. Fontane war zwischendurch in England und erfand den Korrespondentenbericht neu. Dann kam er wieder nach Hause, nach Berlin; und in Wanderungen durch seine Heimat, die Mark Brandenburg, erfand er den kulturhistorischen Reisebericht neu. Zwischendurch schrieb er politische Artikel für ein ziemlich reaktionäres Blatt, die Kreuz-Zeitung; 1848 war er noch selbst auf den Barrikaden gestanden bei der Revolution in Berlin und hatte einen launigen Artikel darüber geschrieben, wie man ihm ein Gewehr in die Hand gedrückt hatte, er scheitert jedoch schon daran, es zu laden. Später wurde er Theaterkritiker, danach wurde er Kriegsberichterstatter und berichtete von der Front aus dem Deutsch-Französischen Krieg. Gedichte schrieb er zwischendurch, häufig historische, anekdotische, die Schotten hatten es ihm besonders angetan. Aber er schrieb auch ein Gedicht über einen tragischen Unfall durch moderne Technik, die Ballade John Maynard über den heldenhaften Steuermann, der auf dem Eriesee fuhr mit seinem Raddampfer fuhr; und eines Tages fing das Gefährt Feuer, es war vollbesetzt, Familien mit Kindern und Frauen, in Freizeit- und Ausflugslaune. Und John Maynard hält das Steuer fest, er lässt sich nicht beirren im Maschinenraum, „noch zwanzig Minuten bis Buffalo!“, das Feuer greift um sich, doch John Maynard hält aus, unten tief und allein im Maschinenraum, zehn Minuten bis Buffalo, fünf – und dann setzt das Schiff endlich auf den Strand auf, alle werden gerettet – „nur Einer fehlt“. John Maynard ist wahrscheinlich der erste Held der Arbeit in der deutschen Literaturgeschichte, und nur jemand, der selbst hart für seinen Lebensunterhalt gearbeitet hat, der in der Welt herumgekommen war und sich den Neuerungen der Zeit nicht verschloss, aber gleichzeitig seine Heimat liebte und sehr, ach so sehr an der guten alten Zeit hing, konnte diese Geschichte schreiben mit ihrem drängenden Countdown nach, ausgerechnet, Buffalo.
Als er knapp sechzig Jahre alt war, also zu einem Zeitpunkt, wo die meisten an die Rente denken, hat sich Theodor Fontane noch einmal neu erfunden. Er schreibt seinen ersten Roman, mit einem historischen Thema natürlich; und er wird ein Erfolg. Von da an geht es Schlag auf Schlag: Jedes Jahr kommt ein neuer Roman; die meisten von ihnen spielen auf vertrautem Gelände, in Berlin, in der Mark, es sind Liebesgeschichten und Eheromane, Romane über Offiziere, Landjunker, Emporkömmlinge, aber auch einfache Leute, Gärtner, Handwerker, alles durcheinander, so wie es kommt. In vielen von ihnen geschieht nicht viel, jedenfalls nicht viel von dem, was man so unter „Handlung“ versteht. Aber es wird viel geplaudert, es werden Geschichten und Anekdoten erzählt, so wie es Theodor Fontane sein Leben lang gern getan hat, aber sie bekommen nun eine tiefere Bedeutung: Nur Geplauder, nichts als Geplauder – und doch, und coch… In vielen von ihnen spielen Frauen die Hauptrolle, die Romane heißen nach ihnen: Grete Minde, Cecile, Stine; und Namen sind wichtig für Fontane, der ein klein wenig abergläubisch ist, wie jeder guter Geschichtenerzähler, und an die tiefere Bedeutung auch von Namen glaubt, an ihren Geist, an ihre persönlichkeitsprägende Kraft. Durch vielfache Schullektüre unsterblich geworden ist vor allem, bezeichnenderweise eine Ehe- und kein Liebesroman: Effi Briest, die Geschichte einer fahrlässig zu früh verheirateten jungen Frau, die so gern schaukelt und sich vor der Chinesenfigur fürchtet, aber leider so gar nichts gemeinsam hat mit ihrem Ehemann, dem strengen Beamten Innstetten, und ihn deshalb betrügt, auch das mehr aus Fahrlässigkeit und jugendlichem Trotz. Generationen haben mit der armen Effi gelitten, sie für unschuldig erklärt und die böse Gesellschaft mit ihren unmenschlichen Konventionen beklagt. Fontane allerdings selbst sah das durchaus anders, auch Effi selbst: Was sollte er denn tun, der arme Innstetten? Sie hatte ihn betrogen, weil sie es nicht besser wusste, und er war vernünftig gewesen, er war von Anfang an vernünftig gewesen, und nur weil alle lieber die Vernunft anklagen und die jugendliche Unbesonnenheit lieben, statt sich selber den unendlichen Mühen moralischer Abwägung im Einzelfall zu unterziehen, haben sie noch lange nicht Recht damit. Es ist nur unendlich viel bequemer, „die Gesellschaft“ für schuldig zu erklären, es ist die leichteste Übung von allen. Das schwierigste an Fontanes Romanen jedoch, die so leicht und plauderhaft daherkommen, ist, dass sie eben nicht urteilen. Über niemand. Sie zeigen Figuren, reiche und arme, erzogene und ungebildete, junge und alte, Männer und Frauen, und keiner von ihnen schwimmt im moralischen Oberwasser, noch nicht einmal die ziemlich weisen Pfarrer, und wenn sie es doch tun, werden sie dafür bestraft. Nein, gerade Fontanes beste Figuren urteilen nicht – aber sie übernehmen Verantwortung, sogar für ihren eigenen Tod. Denn nicht mehr und nicht weniger tut Effi, als sie am Ende erkannt hat (mit leichter Hilfestellung durch einen weisen Pfarrer): Das Leben ist mitunter recht viel, und mitunter ist es recht wenig. Das sagt sich so leicht weg, man lacht kurz, aber das will erlebt sein: Das Leben ist mitunter recht viel, und mitunter ist es recht wenig. Mit beidem aber kann man leben. Oder sterben. Oder, um das bekannteste und meist unverstandene Zitat aus Effi Briest zu bemühen: Das ist ein weites Feld. Was weder bedeutet, dass das Feld deshalb nicht beackert werden kann oder dass man nicht versuchen kann, es zu erschließen; aber es ist mühevoll, und man wird nicht leicht damit fertig. Und am Ende weiß man nicht, ob die Mühe gelohnt hat, auch das. Das Leben ist mitunter recht viel, und mitunter ist es recht wenig. Davon handeln Fontanes Romane, nur davon.
Fontane hatte, kurz bevor er Effi Briest schrieb, schon fast mit dem Leben abgeschlossen. Er litt an einer Durchblutungsstörung im Gehirn, immerhin, er war 72 Jahre alt, und er wurde depressiv. Er konnte nicht mehr schreiben. Sein Arzt riet ihm – und man kann sich nur wundern, wie er darauf kam, lange Zeit vor Erfindung der Freudschen Psychoanalyse, aber wahrscheinlich ist es damit wie mit allem wahrhaft Wissenswerten über den Menschen, man wusste es eigentlich schon lange, bevor es jemand laut in die Welt schrie und ihm seinen eigenen Namen gab –, der wahrhaft weise Arzt riet ihm also, er solle doch seine Kindheitserinnerungen aufschreiben. Und Fontane fing ganz vorn an, bei Eltern und Vorfahren, er schrieb seine Kinderjahre auf, und dann seine Jugend; er holte sozusagen den Roman über sich selbst nach, den er nie geschrieben hatte, denn das tut man nicht mehr, wenn man mit sechzig Jahren seinen ersten Roman schreibt; das tun nur die jungen, die noch nichts anderes haben als ihre Kindheit und ihre Jugend und all ihre Verirrungen, einer mehr Werther als der andere. Aber mit sechzig Jahren sich seine Kindheit zurückzuerobern, war ein Lebenselixir; und es geriet nicht sentimental, sondern genauso detailverliebt, menschenfreundlich, weltgewandt und eben im allerbesten Sinne „realistisch“ wie all seine Romane. Und dann schrieb er noch seinen Stechlin hinterher, den Abgesang auf eine gute alte Zeit, die aber im Guten Platz macht für eine hoffentlich gute neue Zeit – und als der alte Dubslav stirbt, kann auch Fontane zur Ruhe gehen. Vielleicht hat an seinem Todestag, wie beim Tod des alten Dubslav, irgendwo die Erde gebebt, verhalten, keine große Erschütterung, aber doch spürbar im Mark der Erde; in der Mark Brandenburg jedoch ganz sicher.
Er war ein schwieriger Mensch. Er hatte wenige Freunde, mit denen er sich meist früher oder später überwarf. Er hatte Beziehungen zu Frauen, vor allem, weil er sie malte; Berührungen mied er, es war eine Phobie, und sie war ebenso ausgrenzend wie kennzeichnend. Nein, Menschen waren ein Problem für ihn. Aber er konnte Tischdecken zum Leuchten bringen und einfache Tonkrüge zum Singen; seine Äpfel waren der Inbegriff aller Äpfel, obwohl sie doch nicht einmal richtig gemalt haben. Das sagte jedenfalls die Akademie in Paris, und wer war er, Paul Cézanne, der Akademie zu widersprechen? Aber was bedeutete eigentlich richtig und falsch in der Malerei? Kam es denn darauf wirklich an?
Seine Jugend stellt man sich noch sonnig und unbeschwert vor: Er wuchs auf unter dem Licht der Provence, er badete in ihren Flüssen, er schmiedete Pläne mit seinen zwei besten Freunden, einem romantischen Dreierbund, wie er in so vielen Jugendbüchern steht; man las, Homer und Vergil, man disktutierte über die Kunst und das Leben, man schrieb Gedichte und die jugendlichen Ideen glitzerten im Sonnenschein auf dem Arc. Zwei von ihnen sollten berühmt werden: Der eine war er, Paul („ein Vater“, so würde ihn Picasso nennen), der andere Emile Zola, der Vater des Naturalismus in der Literatur; der dritte im Bunde blieb im Schatten. Noch vor dem Abitur gingen Paul und Emile nach Paris, in die Metropole; recht und schlecht machten sie ihr Abitur, und Paul wurde von seinem Vater, einem Bankdirektor in der Provinz, zur Juristerei gezwungen. Das war offensichtlich ein absurder Irrweg; man sieht ihn einfach nicht, den etwas groben jungen Mann aus der Provinz, wie er vor Gericht feinziselierte Worte setzt. Obwohl er vielleicht hätte ein Redner werden können, mit seinem dunklen impulsiven Temperament – wenn er sich nicht längst entschlossen hätte, mit seinen Bildern zu sprechen, mit den Farben, und oh, so laut und nachdrücklich und überzeugend zu sprechen, wie der beste Rhetor mit seinen Worten. Richtig oder falsch? Das Jurastudium, das konnte man mit Sicherheit sagen, war falsch.
Stattdessen stürzt sich der junge Paul in die Malerei. Das große Ziel für ihn wie für all die anderen jungen hoffnungsvollen Talente, die in die Metropole gekommen sind, ist natürlich die Hochschule der schönen Künste, das Heiligtum der französischen Malerei; und er bereitet sich vor, in einer anderen, kleineren Akademie, er lernt das Handwerk, er geht in den Louvre, unermüdlich, und kopiert die großen Meister. Paris bleibt ihm fremd, nur ein einziges Gemälde ist überliefert, und darauf sieht Paris aus wie ein großes Dorf. Sein Bilder aus dieser Zeit sind dunkel, ein wenig grob; sie zeigen ungeschickte Landschaften oder mythologisch überlagerte Szenen; in einigen wenigen kann man etwas spüren vom soeben beginnenden Realismus in der Kunst, aber auch in diese Schublade passt Cézanne von Anfang nicht ganz. Natürlich weist ihn die Hochschule zurück; er könne wohl ein wenig mit Farben umgehen, aber: „Er übertreibt!“ Was soll das nun sein: Kann denn Malerei überhaupt übertreiben? Und Cézanne arbeitet weiter, trotz wiederholter Demütigungen. Denn selbst wenn eines seiner Werke, das kommt selten genug vor, aufgenommen wird in eine der großen Ausstellungen, dann machen sich die Besucher und die Kritiker über ihn lustig, seine Schwere, seine Ungeschicklichkeit. Ausgerechnet der Freund Zola hat es beschrieben, in einem seiner vielen Romane, „Das Werk“ hat er ihn genannt. Er zeichnet einen Maler und einen Künstler, die aus der Provinz nach Paris geraten, mit allen ihren Träumen und Zukunftsplänen, und die nun erleben müssen, wie sie scheitern, tragisch scheitern; und es gibt wenige Szenen in der Literatur der Zeit, die so sehr ans Herz gehen wie diejenige, in der der Maler das Bildnis seines toten Sohnes, in das er all seine Energie und seine Überzeugung und sein ganzes Können gesteckt hat, im Louvre sehen muss: Ganz oben in einem der Riesensäle hat man es aufgehängt, die Perspektive ist grotesk verzerrt, der kleine tote Körper nur noch eine Absurdität, eine Narrheit eines Irren, so weit entfernt von einem „Kunstwerk“, wie man nur sein kann. Der Maler erhängt sich, aber tot war er bereits in diesem Moment.
Den Roman hat Cézanne Zola nicht verzeihen können, und man kann verstehen, warum: Denn war es nicht schlimm genug, zurückgewiesen zu werden, musste der beste Freund diese Zurückweisung, dieses Scheitern, auch noch ins Überscharfe der neuen Literatur vergrößern; und er, der Dichter überlebt, mit diesem Roman? Zudem stimmt es doch gar nicht, es war nicht wahr. Cézanne hatte längst einen weiteren Freund gefunden, Camille Pissarro, etwas älter als er, der ihn mit der soeben entstehenden Kunstrichtung des Impressionismus vertraut macht. Es ist eine Revolution in der Kunst, wie es wenige gegeben hat; sie stellt alle Regeln der alten, akademischen Atelierkunst einfach auf den Kopf. Die Impressionisten gehen hinaus aus dem Atelier, in die frische Luft, die ein Hauptthema ihrer Malerei ist: plein air! Sie befreien die Paletten von all den dunkeln Tönen; sie malen das Licht selbst, wie es tanzt auf den Dingen, auf Wiesen, Wellen und Heuhaufen, auf Frauen mit Sonnenschirmen und fröhlichen Kindern, wie es die Pariser Boulevards zum Schwingen bringt, sogar die neuen Eisenbahnen! Auch Cézanne bringt ein paar Lichter zum Tanzen, aber immer bleibt eine gewisse Schwere, Erdenschwere, auch bei den neuen leuchtenden Farben, die nun seine Palette dominieren. Aber hatte er nicht auch eine Frau gefunden in Paris, Hortense Fiquet, die den Malern in Paris Modell stand? Hatte man nicht einen gemeinsamen Sohn und lebte nun vom väterlichen Scheck (allerdings musste ihm die unstandesgemäße Heirat verheimlicht werden) auf dem Lande? Dort kann das Kind aufwachsen in den Wiesen, dort kann Cézanne hinausgehen, es ist heller als in Paris; dort kann er seine Malerei weiterentwickeln, in der Natur, vor dem Motiv, bei der täglichen Arbeit.
Das Kind wächst, die Frau entfremdet sich, aber Cézanne malt sie weiterhin, sehr sachlich, so wie man einen Sessel malt, einen Gegenstand. Die Flächen werden jetzt stärker auf seinen Bildern, einfacher, geometrischer, sie geben dem Bild einen festen Halt, nichts flirrt da mehr. Aus den Flächen wachsen Gegenstände heraus, Landschaften, Häuser, Wege, einfache Dinge, die immer da sind, wie der Montagne Sainte-Victoire. Aber sie sehen jeden Tag anders aus, in jedem neuen Licht, mit einem Schritt nach rechts oder links, mit einem anderen Ausschnitt, von einer neuen Straßenbiegung aus gesehen. Cezanne sieht Bilder, überall, Motive, wohin er nur blickt. Es ist dieser Blick, auf den es ankommt, der belebt wird durch sein ganz persönliches Temperament, so hat er es auf Befragen immer wieder erklärt – keine große Technik, keine Theorie für die Akademie und die Programmschriften, sondern ein einfacher Imperativ: schauen, genauer schauen, noch mal schauen. Arbeiten, arbeiten, arbeiten. Jeden Tag hinaus, egal bei welchem Wetter, das Motiv wartet, der Berg ist immer noch da, und sieht man nicht heute die geologischen Linien ganz anders, ihre Schichtung, ihre Ästhetik (aber das Wort wäre viel zu groß gewesen für ihn gewesen, es ging nicht um Ästhetik, es ging um einen Berg und einen Maler)? Dichter haben beschrieben, wie Cézanne arbeitete: selbstvergessen, unablässig, sich ganz in die Dinge versenkend und ein Ding schaffend, ein lebendiges Kunstwerk, festgefügt aus Flächen und Formen (nicht Gegenständen, das ist der alte Irrtum der illusionistischen Malerei gewesen, über den man hinweg ist, längst hinweg): Es gibt kein richtig und falsch, es gibt nur wahr und nicht wahr. Und wahr ist machbar. Wenn man nur genug arbeitet.
Und das Kind wächst, die Frau sieht man immer seltener, aber trotzdem heiratete man irgendwann; für den Sohn, damit er einen Platz in der Welt hat. Und der eigene Vater muss es jetzt endlich wissen, er ist böse, das war vorauszusehen, und kürzt den Scheck. Aber er ist ein alter Mann und bald stirbt er; man hat endlich sein Erbe, man erbt ein Haus, man kann in Ruhe arbeiten, arbeiten, arbeiten, und nur darauf kommt es an. Und langsam, Zolas „Meisterwerk“ mit seiner öffentlichen Demütigung liegt weit hinter Cézanne, beginnt der Erfolg. Einzelne Galeristen sind auf den einsamen Fanatiker aufmerksam geworden und stellen seine Werke aus. Die Kollegen erkennen, was da in der Provinz, weitab der Akademie, entsteht; Claude Monet ist einer der ersten Käufer eines Werkes von Cézanne, sogar die großen Museen beginnen bereits, seine Werke zu erstehen. Es ist der Erfolg, die Anerkennung, endlich. Aber der Vater ist tot. Emile Zola stirbt bald darauf, er hat immerhin noch sehen können, dass die Geschichte anders enden wird als in seinem Roman. Und Cézanne selbst wird alt, krank, depressiv. Er lebt allein in Aix-en-Provence und richtet sich ein Atelier ein, in das die Sonne, das Licht durch einen Spalt in der Mauer fallen kann. Er malt „Die Badenden“, eine monumentale Serie von nackten Frauengestalten an einem Fluss, im Einklang mit der Natur, eine große Hymne an die Schönheit und die Wahrheit und vielleicht eine kleine Erinnerung an seine Jugend, an das Baden im Fluss mit den Freunden, die nun auch schon tot waren. Die Äpfel schauen zufrieden zu, der Krug ist immer noch da, der Berg sowieso, die Montagne Saint-Victoire, die man niemals, niemals zu Ende malen kann. Und wenn es ein guter Tag ist, geht man hinaus, die Staffelei und die Farben auf dem Rücken, in die frische Luft. Aber an diesem Tag zieht ein Gewitter herauf, er hat es nicht kommen sehen, er war beim Motiv mit den Augen und in Gedanken; und Cézanne bricht zusammen, vorbeikommende Arbeiter müssen ihn in ihrem Karren nach Hause bringen. Am nächsten Tag steht Cézanne im Garten und malt weiter, als sei nichts geschehen; es ist das Bildnis des Gärtners Vallier, ein sachliches Bild eines alten Arbeiters, in sich ruhend, von sich selbst absehend, der nun seine Hände in den Schoß legen kann, weil das, was er in mühsamer, jahrelanger Arbeit gesät hat, wachsen wird. Cézanne malt, bis er zu schwach wird, es ist eine Lungenentzündung, und sie ist nicht mehr zu stoppen: Eine Woche später ist er tot. Aber sein Werk wird wachsen wie der Ruhm seines Namens, und niemals, niemals hätte er sich aufgehängt, wie es der Jugendfreund es in seinem Roman geschildert hatte, niemals hätte er freiwillig aufgehört mit der großen Arbeit. Heute wäre er ein Milliardär, seine Bilder erzielen Phantasiepreise auf Auktionen in aller Welt; aber wahrscheinlich würde er immer noch die Sainte-Victoire malen und die Äpfel und den alten Gärtner, wenn man ihn denn ließe. Denn es ging nicht darum, richtig zu malen; es ging darum, die Wahrheit zu malen.
Es ist ganz sicher der seltsamste Text dieses weltweit immer noch von Einigen so geliebten und gelesenen Autors, noch weniger gelesen als seine etwas befremdliche frühe religiöse Lyrik oder als die unbekannten Glanzstücke von Einzelgedichten, die es in keinen der veröffentlichten Gedichtbände geschafft haben. Ur-Geräusch heißt er, geschrieben wurde er in einer der sich immer länger hinziehenden Schaffenspausen in Rilkes Leben (waren es aber nicht eigentlich Reifungszeiten, in denen die Früchte heranwuchsen, die dann so unvergleichlich im Gedicht schmecken würden, in denen die Tiger um ihr Inneres schlichen und das Karussell sich immer weiter drehte, und dann und wann ein weißer Elefant?), und schon der Titel ist befremdlich: ein "Ur-Geräusch", was soll das denn bitte sein? Natürlich, Teilchenphysiker suchen so etwas heutzutage, das unendlich ferne, aber immer noch nachklingende Hallen des Urknalls in den Tiefen des Universums; also nichts weniger als das Geräusch, in dem alle Geräusche, alle Zeiten, alle Räume erst entstanden sind. Aber ein Lyriker, jemand, der sein ganzes Leben lang nichts anderen getan hatte, als Gedichte zu schreiben (na gut, gelegentlich schob sich ein Prosatext dazwischen, einmal sogar ein ganzer Roman, aber eigentlich war alles, was er je geschrieben hat, ein Gedicht, vielleicht sogar ein einziges) – da würde man wohl mit etwas schlimm Mystischen, hoch Spekulativem, schlimmstenfalls vielleicht sogar: tiefenpsychologischem, einem Widerhall des Urschreis sozusagen rechnen müssen?
Weit gefehlt jedoch. Denn Rilke beginnt den kleinen Aufsatz mit einer Geschichte aus seiner nicht besonders glücklichen Jugend. Seine Mutter hatte ihn zwar etwas länger als üblich in niedliche Mädchenkleider gesteckt und der Vater ihn dann in einen Militäranzug zwängen wollte, aber beides hatte nur zu den üblichen bleibenden Schäden geführt, es war, wie seit Anbeginn der Zeiten, das normale Drama des begabten Kindes. Das setzte sich in der Schulzeit fort, Rilke besuchte erst ein Militärinstitut und dann eine Handelsschule, man weiß kaum, wo er mehr fehl am Platz war, aber einmal muss es doch irgendwann zu einer Sternstunde gekommen sein: Denn ein Lehrer ließ die, wie Rilke durchaus selbstkritisch anmerkte, nicht direkt zu großer Aufmerksamkeit neigende Klasse eine völlig neue technische Erfindung nachbauen, den Phonographen. Das geht ziemlich einfach, und Rilke schildert es auch aus der Erinnerung einigermaßen korrekt. Das eigentliche Erlebnis, das Schlüsselerlebnis sozusagen, war jedoch nicht, dass der einfache Apparat sogar funktionierte, sondern dass er eine Art von Wunder vollzog: Übersetzte er doch in einen Trichter gesprochene Worte in eine seltsam gezackte Linie auf dem Papier, und wenn man die Linie anschließend abspielte, ergab sich, dass sie – wenn auch seltsam verzerrt und zerhackt im Klang – die gleichen Worte wieder hervorbringen konnten! Das ist wenig für eine Welt, in der gerade alles Sinnliche durch eine virtual reality ersetzt wird, aber für den jungen Rilke und seine auf einmal atemlos lauschenden Klassenkameraden war es ein ganz sicher Wunder, und man kann sich vorstellen, wie sie mit heißen Köpfen und etwas peinlich berührt die selbst gesprochenen Wörter wiederhörten, entfremdet und gleichzeitig vertraut.
Das war jedoch nur der erste Teil des Schlüsselerlebnisses. Der zweite begab sich Jahre später in Paris. Rilke war inzwischen ein halbwegs bekannter, gelegentlich schon berühmter Dichter geworden; er hatte geheiratet und eine Tochter gezeugt, aber das blieben eher unwesentliche Episoden in seinem Leben. Wichtiger war, für ihn jedenfalls, dass er inzwischen die größten Künstler seiner Zeit gesehen und erlebte hatte: Auguste Rodin, für den er eine Zeitlang ein etwas fragwürdiger „Sekretär“ gewesen war, der Bildhauer also, der die Bildhauerkunst revolutioniert hatte mit seinen monumentalen Skulpturen, die nicht mehr einfache Figuren zeigten, sondern zu Ideen geformte, erlebbare Oberflächen, die sich fragmentarisch aus dem dunklen Stein erhoben und von jeder Seite eine neue Idee, eine neue Oberfläche boten; mit Skulpturen, die "Lehren" waren, wie es Rilke zu dieser Zeit gern sagte, Lehren im Sehen, Fühlen, Tasten, Begreifen, entstanden durch die unermüdliche, tägliche, niemals abschließbare Arbeit eines Fanatikers der menschlichen Form. Und dann hatte er, es war eine Bestätigung und eine Steigerung zugleich, Paul Cézannes Bilder entdeckt. Und es war eine noch größere Lehre gewesen, wie der mürrische Meister aus der Provence, auch er ein unermüdlicher, alles Andere vergessende und dem Leben gegenüber rücksichtsloser Arbeiter, die Dinge erfasst hatte: die unscheinbaren Dinge der Natur, die hundertmal benutzten Dinge des Alltags, aber auch die einfachen Menschen seiner Umgebung. Einmal nur so arbeiten können, einmal nur jeden Tag in sein Atelier der Wörter gehen können und dann produzieren, produzieren, produzieren; nicht mühsam auf die bekanntlich sehr unzuverlässige Muse warten müssen, nicht auf den ach so seltenen Rausch der Inspiration, sondern einfach, wie ein Handwerker: ein Gedicht machen. Täglich.
Sobald man genug gesehen hatte, jedenfalls; denn das war die andere Lehre, die Rilke gezogen hatte aus seinen beiden Meistern: Zuerst musste man sehen lernen, und um das zu lernen, musste man, das war die eigentliche Kunst, zuallererst zu sehen verlernen. Das nämlich, was man nur zu sehen meinte. Das, was der Kopf in seiner ewigen Voreiligkeit einem zuflüsterte, damit man nicht aus Versehen doch ins Nachdenken käme: Das ist ein Hund. Das ist ein Tiger. Das ist ein Ball. Nein, wenn man richtig sah, dann sah man: eine Bewegung. Eine Beziehung. Bestenfalls eine Ausdrucksform. Wie man sie dann nannte, mit einem ungeschickten Wort, das war ziemlich egal. Wollte man sie aber genauer erfassen, ihren versteckten Eigenarten nachgehen, ihren tieferen Sinn erspüren: Dafür brauchte man Gedichte, eine ganz neue, eine ganz andere Art Gedichte; nicht solche, die doch ewig nur die gleichen Glanzbildchen von Wörtern aneinanderklebten und nur "Vorwände" waren (so hatte Rilke das schon früh selbst gesagt, hellsichtiger als er ahnte) dafür, hemmungslos von sich selbst zu sprechen! Deshalb nannte Rilke seine nun entstehenden Gedichte, und das war nur die reine Wahrheit: "Neue Gedichte". Niemand, na gut: fast niemand, hatte jemals so sachlich und gleichzeitig herzzerreißend über Dinge gesprochen in Gedichten. Niemand hatte jemals erkannt, dass man, wenn man über den Menschen sprechen wollte – was eine verständliche, aber auch enervierende Angewohnheit von Menschen ist -, am besten von ihm absah. Dass man alles vergaß, was man über ihn zu wissen meinte. Dass erst dann, in einem unbeobachteten Moment des Schauens, etwas plötzlich aus der Tiefe hinaufstieg, es konnte aus einem Tier sein oder aus einem Ball oder einer Blume, gelegentlich sogar: aus einem Menschen – und was man vergleichen konnte.
Nun also wollte Rilke sehen lernen, das war sein Tagesprogramm, als er durch das erschreckende und faszinierende Paris lief und die Bettler sah und die Blinden und die Wahnsinnigen und die Tiere im Zoo und die Hortensien in seinem Hotelzimmer und Kathedralen und überhaupt alles, was man sehen konnte, wenn man sehen gelernt hatte. Zu den eher befremdlichen Dingen – damit kommen wir endlich zum "Ur-Geräusch" zurück – gehörten seine Besuche im anatomischen Theater der Universität (auch so stellt man sich den feinsinnigen, immer so korrekt gekleideten Herrn, überzeugter Vegetarier in Übrigen und Anhänger der Freikörperkultur, nicht oft vor: im stickigen anatomischen Theater, vorn ein Kadaver umringt von Männern in weißen Kitteln und inmitten von Studenten, deren Gesichter wohl kaum weniger weiß waren). Das jedoch, was einen bleibenden Eindruck bei Rilke hinterließ, war eine unscheinbare Linie: Kronennaht heißt sie, sie verläuft in einer seltsamen Zickzacklinie quer über den menschlichen Schädel und zeigt die Stelle an, wo die unterschiedlichen Schädelteile zusammengewachsen sind. Irgendwie kam ihm die Linie bekannt vor, seltsam vertraut, und irgendwann fiel ihm auch ein, woran sie ihn erinnerte: an die seltsame Linie, die der Phonograph aufgezeichnet hatte damals im Schulzimmer, mit ihren bizarren Ausschlägen und Zacken. Und dann schoben sich beide Erlebnisse übereinander, und etwas in des Dichters Kopf dachte einen ungewöhnlichen Gedanken: Könnte man denn nicht, vielleicht – diese Kronennaht sozusagen rückwärts einspeisen in einen Phonographen, so dass man ein Geräusch erhielte, dass noch niemals im Universum gehört würde, eine Aufzeichnung direkt aus dem Inneren des menschlichen Schädels von noch gar nicht ahnender Tiefe und Bedeutungsfülle?
Aber dieses war, so weit es schon ausgreift ins Hochgemute, Spekulative, Weltbewegende, erst der zweite Teil des Schlüsselerlebnisses; es fehlt noch ein Mosaikstückchen, ein dritter Teil der seltsamen Linie, die damals im Schulzimmer mit einer blechernen Stimmenwiedergabe von einem Stück Papier begann. Der dritte Teil ereignete sich, als Rilke, der große Krieg war inzwischen fast vorbei, eines Tages arabische Gedichte zu lesen begann. Wer weiß, wie er dazu kam, wahrscheinlich wird er Goethe gelesen haben, der Hafis übersetzt hatten, einen alten persischen Lyriker, der es in seiner Klarheit und Originalität und Lebensweisheit durchaus mit dem ebenfalls schon älteren Goethe und dem immer noch vor sich hin reifenden Rilke aufnehmen konnte. Und Rilke hatte einen neuen Meister gefunden: Was war, was diese orientalisch-fremden Gedichte so viel – sinnlicher, wärmer, vielfältiger machte als die der europäischen Tradition? Wie war es möglich, dass sie zu allen Sinnen zugleich sprechen konnten und so einen Volllaut des menschlichen Erlebens reproduzierten? Und Rilke machte sich ein kleines Modell, es mag inspiriert gewesen sein von Goethes halb technischem, halb künstlerischen Farbenkreis: Dieser Kreis umfasste die Welt; und nur ein geringerer Teil von all dem war dem Menschen zugänglich über die schwachen Bemühungen seiner fünf Sinne, denen Rilke jeweils unterschiedlich große Tortenstückchen des Kreises zuwies – der größere Teil aber blieb terra incognita, schwarze Materie (und wie wir heute wissen, stimmt das, mehr oder weniger, sogar physikalisch). Wenn es jedoch möglich wäre, wenigstens die fünf Sinne zusammenzubringen, in einem Sprung, so formuliert es Rilke, in einem Sprung in einem Gedicht durch alle fünf Sinne zu kommen, dann wäre wenigstens der größtmögliche Teil des Kreises abgedeckt (das verbleibende Geheimnis würde natürlich immer noch größer bleiben, aber das war gut und ihm Recht); dann würde der Weltraum, den das Gedicht umfassen konnte, seine maximale Ausdehnung erreichen. Und damit schließt sich der Kreis, soweit er sich überhaupt schließen kann in solchen Dingen: Denn das Ur-Geräusch war natürlich genau so ein Sprung, der wenigstens den Abgrund zwischen zwei Sinnen, den beiden für die Dichtung bedeutendsten zumal, Sehen und Hören also, überbrücken konnte.
Von hier aus ist der Weg nicht mehr weit zu den Duineser Elegien, dem großen Weltsprung durch die Zeiten, Kulturen und in die Tiefe der menschlichen Psyche; und von da aus zu den Sonetten an Orpheus, den kleinen, hinterher springenden und dabei immer weiter und tiefer klingenden Brüdern und Schwestern mit ihren Früchten, Pferden, Bäumen und Tänzen, die mit einem Bein im Hiersein standen, das herrlich war, und mit dem anderen in einem Jenseits, das zwar ein Schrecken war, aber kein fremder und ganz sicher ein ebenso herrlicher (waren es vielleicht die dunklen Partien im Kreis der Sinne? war der Tod ganz einfach dunkle Materie, das notwendige Ergänzungsstück zu den abgebrochenen Tortenstücken des Seins?). Weiter kann man den Kreis nicht ziehen.
Für viele mag es wie Hybris geklungen haben und wird es auch heute noch so klingen, wenn Rilke in den letzten Passagen des Aufsatzes hofft, dass doch auf diese Weise auch die Dichter ihr Stück zur Erschließung der Welt, zur, so sagt er es, "aufgeschlagenen allgemeinen Karte" beigetragen haben könnten. Und er benennt das mit dem Wort, das er gern benutzt, wenn er vom Dichten spricht, also seinem Beruf, den er seit so vielen Jahren treu und arbeitsam ausgeübt hat: Es sei eine „Leistung“. Der Dichter leistet etwas; er ist kein Schmarotzer, kein unverbindlicher Schöngeist und auch kein Betrüger, der seinen Lesern schöne Scheinwelten vorgaukelt und ihren Sinnen schmeichelt, um ihren Verstand umso sicherer einzuschläfern. Nein, der Dichter ist an seiner Leistung zu messen; und das ist, wie jeder Hobby-Physiker weiß, der Quotient aus Arbeit und Zeit.
Rilke hat sich nicht weniger als sein ganzes Leben Zeit genommen für seine Arbeit, die unendlich mühevoll und von keinem anderen so zu leisten war. Es war ein unstetes Leben gewesen, wenn man vom Ende darauf zurückschaut. Durch ganz Europa war er gereist; er war in Russland und suchte das Land Tolstois mit der Seele, er war in Ägypten und sah die Wunder von Karnak, er war in Skandinavien und interessierte sich für Vegetarianismus und Reformschulen, Frankreich wurde ihm eine zweite Heimat, auch in der Sprache, und sein Leben beendete er in einem mittelalterlichen Turm im Schweizer Tessin (und wer meinte, das sei ein Elfenbeinturm gewesen, der hat nichts von Rilke verstanden, gar nichts). Vielleicht versuchte er am ernsthaftesten von all den Dichtern, die je großspurig behauptet hatten, man müsse die Dichtung und das Leben vereinen, das auch wirklich zu tun, und zwar nicht abstrakt und programmatisch, sondern konkret und jeden Tag aufs Neue. Deshalb wurde er auch kein Schriftsteller, der um das Brotes willen schrieb; er lebte, wie die Vögel auf dem Felde, von der Gunst der Stunde und reicher Mäzene. Und bei all dem sah er die Dinge und die Menschen so, wie sie nur gesehen werden können, wenn man all das Äußere, Konventionelle, Plakative wegnimmt; und wenn man ein Außenseiter wird, ein Einsamer, einer, der die Dinge schwer nimmt, denn das ist der Preis, den man dafür bezahlten muss. Rilke hatte gelernt das Leben zu sehen, wie es sich vollzieht im Blick des Hundes, im Wachsen des Grases, dem Aufsteigen der Kathedralen, einem Lächeln einer alten Dame vor dem Spiegel, dem Tod – und es dann in Gedichte zu pressen, die, je weiter er fortschritt, immer komprimierter, konzentrierter und gleichzeitig auf eine seltsame Art abstrakt und anschaulich zugleich waren. Seine Lebensleistung war die Verwandlung von Dingen in Dichtung, möglichst rückstandsfrei; damit sie nicht vergängen, so wie alle sterblichen und gemachten Dinge vergehen, so wie auch die Menschen vergehen. Dazu reichte es aber nicht, die Dinge einfach abzubilden. Oder sie zu verstehen oder zu erklären, wie die Wissenschaft das tat (aber all das war notwendig, auch: notwendig). Nein, das was ins das Gedicht eingehen musste war das Wahrnehmungssubstrat der Dinge, ihr Erfahrungspotential, physikalisch gesprochen: Nicht das Abbild des Tigers oder der Rose, auch nicht ihr metaphysisches Wesen, sondern – ihre Erlebbarkeit. Ihre Sichtbarkeit, Hörbarkeit, Fühlbarkeit. Ihre innere Bewegung, ihre unendliche Annäherungsmöglichkeit, ihre unerschöpfliche Vergleichbarkeit. Man kann das nicht in Begriffen sagen. Ein Gedicht ist ein Ur-Geräusch, aufgezeichnet mit dem sensibelsten Instrument, das die menschliche Sprache hervorgebracht hat: dem geduldig aufnehmenden, unermüdlich arbeitenden und immer wandlungsfähigeren Dichter.
Vielleicht hat sie ihm am Ende das Leben gekostet, diese existentielle Leistung. Lange Jahre schon hatte er sich nicht gesund gefühlt; der Vegetarier und Frischluft-Fan beklagte eine schwer zu fassende Unruhe im Blut, die die befragten Ärzte wohl gern auf die bildliche Phantasie des hypersensiblen Lyrikers zurückführten. Und nun brach das Schreckliche aus ihm hervor, es war ein Blutkrebs, fortgeschritten, unheilbar. Und der schwache und sanfte und von Fürstinnen behütete und von großen Männern geschätzte Dichter erwartete ihn, in vollem Bewusstsein, ja er begrüßte ihn sogar: „Komm letzter, den ich anerkenne“. Er hatte seinen eigenen Tod gefunden, so wie er es in seinem einzigen Roman geschrieben und erbeten hatte; und wenn die Ärzte ihn schon Jahre vorher gefunden hätten, im vielsagenden und kreisenden und überempfindlichen Blut des Dichters, so steht es zu vermuten, wären weder die Elegien noch die Sonette an Orpheus geschrieben worden. Schon als ihn seine Freunde, in seiner Jugend bereits, zur Analyse zu Sigmund Freud schickten wollten, hatte er abgelehnt: Er fürchtete, dass mit seinen Dämonen auch sein Genius ausgetrieben werden würde. Wer seine Lyrik aber mit Blut geschrieben hat, der fürchtet nichts mehr.
Unsterblich sollte er werden mit dem Satz, das Gott tot sei. Dabei war das nun wirklich nicht sonderlich neu; längst hatte sich der Glauben aus der Welt sehr vieler Menschen verabschiedet, und die neuen Götter hießen „Wissenschaft“ oder „Technik“ oder „Krieg“ oder, der größte von ihnen allen, „Geld“. Aber das war wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass ausgerechnet dieser Satz an ihm hängen blieb: Die meisten seiner anderen Sätze, die wirklich neu und revolutionär waren, waren viel zu schlimm zu denken, und sie hätten noch viel weitreichendere Konsequenzen gehabt, wenn man sie ernst genommen hätte. Denn hatte Nietzsche nicht auch die Moral für tot erklärt, die religiös unverdächtige Schwester der in Verruf geratenen Religionen? „Jenseits von Gute und Böse“ erst finde das eigentliche Leben statt, so hatte er geschrieben; Moral sei für Schwächlinge, sie sei, wie auch das Christentum, Ressentiment – ein schwieriges Wort, so sperrig wie der Gedanke, den es transportiert: Es drückt das unangenehm-peinlich Gefühl von Zu-Kurz-Gekommenheit aus, dass nun in Rache an den Besserverdienenden, Besserdenkenden, Besserhabenden, Besserkönnenden umschlägt, indem es die eigene Schwäche verherrlicht, die ererbte Unfähigkeit übertüncht, die menschlichen Mängel zu Vorzügen erklärt; und der Heiland der christlichen Religion, der Sohn eines soeben für tot erklärten Vaters, ist nur derjenige, der diese neue Sklavenmoral am erfolgreichsten propagierte. In Zeiten politischer Korrektheit hätte Nietzsche nicht fünf Minuten überlebt, obwohl er wahrscheinlich ein begabter Twitterer gewesen wäre: Die kurze Form war seine Stärke, er schrieb keine gelehrten Abhandlungen oder dicken Bücher, noch nicht mal in seiner Frühzeit als hochbegabter Wunderkind-Altphilologe. Schon damals, als er noch Förderer und Freunde hatte, war er entschieden eigensinnig und unversöhnlich; er verehrte seine großen Vorbilder wie Helden – Schopenhauer gehörte dazu und Richard Wagner – und dann verachtete er sie, zutiefst. Der Ausgleich war seine Sache nicht, sondern das Extrem, die Zuspitzung des Gedankens in der auf tödliche Hochglanz polierten Form seiner Sätze und Absätze, die keinerlei Rücksicht nahmen, auf niemand, sondern in ihrem erbarmungslosen Glanz ebenso erschreckten wie faszinierten. Nahm er dann Rücksicht auf sich selbst? Nein, er hat seine Freundschaften dem Werk um den riesenhaften Fortschritten seiner Erkenntnis geopfert, wenn sie nicht mehr mithalten konnten oder wollen. Er hat nur einmal um eine starke Frau gefreit, sie hat ihn abgelehnt, und fortan verachtete er die Frauen; schwache Wesen, auch sie. Seine Familie, die ihn später, als er endgültig verrückt geworden war, pflegte und unterstützte – sie war ein Quell des Zornes und der Peinlichkeit. Sogar die Wissenschaft hatte er geopfert, weil sie sich vom Leben verabschiedet hatte; er macht Sokrates dafür verantwortlich und seine fatale Fixierung auf das Wissenwollen, wo es doch nun wirklich Wichtigeres gab: Lebenwollen zum Beispiel; später wird er es „Wille zur Macht“ nennen. Aber bevor er seinen Abschied aus der Wissenschaft nahm, malte er ein ganz neues Bild der griechischen Antike, die er so intensiv studiert hatte wie kaum jemand zuvor: Es war ein zwiespältiges Bild, eine Maske mit zwei Seiten, eine lachenden und einer weinenden; denn zwischen Apollo, dem jugendlichen Gott der Schönheit und des Lichts und des wachen Traumes, und seinem Widersacher Dionysos, dem bocksbeinigen Gott der Ekstase und des Rausches, fand ein ewiger Kampf statt. Und der Mensch war dabei nicht etwa ein unbeteiligter Zuschauer, sondern in ihm selbst tobte dieser Konflikt, mit Apollo wollte er erkennen, wollte er unterscheiden, wollte Individuum sein, unverwechselbar und einzigartig, und ewig leben; und mit Dionysos wollte er alle Unterschiede und sich selbst vergessen, wollte Eins werden in einem großen Rausch und vergehen, immer wieder lustvoll vergehen.
Heute würden all die Hobby-Psychologen wohl sagen, dass Nietzsche an diesem Konflikt zugrunde ging; aber Nietzsche war kein Freund der Psychologen, dieser Alles-Erklärer und -Versteher, obwohl er selbst einer der größten und erbarmungslosesten war. Zwei Dinge hingegen liebte er wirklich und grenzenlos, sie allein schienen seiner immer noch weiter wachsenden Zerstörungskraft gewachsen, mit der er weiter einschlug auf die unterschiedlichen Scheinwelten, in denen sich die Menschheit wohnlich eingerichtet hatte, um dem dionysischen Grauen des Lebens nicht mehr ungeschützt ins Auge sehen zu müssen: Das Hochgebirge, wo er auf endlosen Spaziergängen sein Werk heraufbeschwor; im Gehen, nur so konnte man denken, was bildeten sich all diese Stubenphilosophen eigentlich ein auf ihre künstlichen Konstrukte aus Stubenluft? Und das zweite war das Meer, das endlose, mal spiegelglatte, mal aufgewühlte Meer, der einzige Ort, wo er sich der Unendlichkeit Aug in Auge gegenüber sah. Es war der endlose Mittag der Erkenntnis, wo eine glühende Sonne schonungslos alles erhellte, und wo der Philosoph auf die härteste Probe gestellt wurde: Was bleibt im Angesicht der Unendlichkeit des Meers, des Weltraums, der Sterne, was in der unendlichen Wiederholung der Weltzeit, der immerwährenden Wiederkehr des Gleichen? Und Nietzsche kam, nachdem er alles zerstört hatte, woran er sich selbst hätte halten können, auf die verwegenste Lösung von allen: Nur dasjenige Leben sei es wert gelebt zu werden, dass auch noch zu dieser ewigen Wiederholung des Immergleichen in jedem Moment ja, ja, ja! sagen konnte. Es war nun nicht etwa so, dass Nietzsche ein Hedonist war, im Gegenteil: Er hatte lebenslang schwere Krankheiten, physische und psychische, erlitten; er war nicht etwa reich, er lebte nicht im Luxus, der einzige Luxus, den er sich gönnte, waren eben das Hochgebirge und das Meer. An ihnen konnte man wachsen, nicht an dem, was Stubenphilosophen auf akademisch gepolsterten Lehrstühlen absonderten. Und so rang Nietzsche mit dem Leben, so erfand er den Übermenschen: nicht die simple blonde Bestie, die die Nazis aus ihm machten, sondern ein freier Mensch, der tanzen konnte, oh, wie Zarathustra tanzen konnte! Und er machte Gedichte und sang, er lebte mit den freien Tieren in der freien Natur, abseits der Gesellschaft, und er hatte nur ein einziges Ziel: Das Leben zu steigern, immerfort zu steigern, es schöner zu machen und stärker und am Ende so groß, dass er der Wiederholung in der Unendlichkeit ins Auge blicken konnte mit der Gewissheit: Du machst mich nicht klein! Ecce homo, hier siehst du einen Menschen! – so nannte er eines seiner letzten Werke, mit dem er sich endgültig an die Stelle von Christus setzte.
Aber es ist nicht leicht, ein freier Philosoph und Weltenzertrümmerer zu sein, wenn man in dieser Welt der Kleingeister und Moralisten lebt. Man erntet zwar erste Zustimmung hier und da, in Kopenhagen soll sogar einer eine Vorlesung über das Werk halten! Man hat zwar keine Freunde, aber Kontakte, neue, vielversprechende. Es könnte alles noch gut werden, vielleicht ist die Zeit ja doch inzwischen reif für das, was man ihr vor die Füße geworfen hat und was sie mit Füßen getreten hat, anstelle es aufzuheben, mit freiem Geist zu betrachten und nicht nur seine Zerstörungskraft zu sehen, sondern seine befreiende Kraft, seinen Aufruf, das Leben zu steigern, seine ganze neue „fröhliche Wissenschaft“! Aber vielleicht hatte er doch das Universum beleidigt, vielleicht sah irgendwo ein düsterer Schicksalsgott auf ihn hernieder und beschloss, dass es genug sei. Und so begab es sich, dass einer der freiesten und mutigsten Lebensphilosophen aller Zeiten, nachdem er Gott für tot erklärt hatte und den Menschen im Allgemeinen für ein unbedeutendes Insekt in einem abgelegenen Winkel des Universums und allein dasjenige Leben für lebenswert, dass sich selbst feiern und steigern und ewig wiederholen will – es begab sich also, dass dieser Friedrich Nietzsche am 3. Januar 1889 in Turin einem von seinem Herrn geschundenen Kutschpferd weinend um den Hals fiel. Man sagt, dass er danach endgültig wahnsinnig wurde, aber zu vermuten ist, dass er in diesem einen Moment hellsichtig wurde und sein eigenes Leiden als das erkannte, was es war: ein Opfer für eine bis in alle Ewigkeit uneinsichtige und undankbare Menschheit, die lieber auf vermeintlich gefühllose Kreaturen eindrischt, als sich einmal nur am Riemen zu reißen und den Karren selbst aus dem Dreck zu ziehen, in den sie ihn aus Gedankenlosigkeit und Selbstsucht und Schwäche versenkt hat. Vielleicht ist er dionysisch geworden, und sein Wahnsinn war nur die zweite, rauschhafte Hälfte eines Lebens, das sich bis zu diesem Zeitpunkt in außerordentlicher apollinischer Hellsichtigkeit vollzog. Es wäre schön zu denken – aber wahrscheinlich dann doch zu versöhnlich. Lassen wir ihm seine Tragik.
Persönlich bleibt sie seltsam blass. Ist das nur die logische Konsequenz daraus, dass sie in all ihren Werken betont hat, das, worauf es ankomme, sei eigentlich der Mensch? Der jedoch habe kein Geschlecht, und der fatalste Irrtum der Geschichte sei es gewesen, dass man den Menschen immer als Mann gedacht habe (nein, mit Denken hatte das eher weniger zu tun; vielleicht besser: gewollt hatte?). Der Mann sei jedoch nur in zweiter Linie Mann. Für ihn gelte nämlich das gleiche wie für die Frau, die man Jahrtausende lang nur auf eben das reduziert hatte: ihr Geschlecht, auf Frausein, nicht Menschsein. Frauen sind auch Menschen, so könnte man leichthin scherzen, und Charlotte Perkins Gilman hat den Humor durchaus nicht verlernt bei all ihrem Engagement und beim Schreiben ihrer unendlich vielen Essays zum Thema FrauseinMannseinMenschsein; er ist jedoch gar nicht so leicht zu finden, ist er männlich, weiblich, menschlich? Denn wir leben ja alle in der ›man’s world‹; Gilman hatte es nicht ganz so griffig, aber präziser ›the manmade world‹ genannt. Der Grundgedanke ist ihr eigener und ihr wichtigster, dabei ist er sehr einfach und es war überfällig, dass frau ihn endlich einmal aussprach: Unsere Welt, unsere gemeinsame Lebenswelt ebenso wie unsere etwas elitäre geistige Welt, wurde von Männern gemacht. Das ist ein Faktum, und es ist (noch) kein Urteil. Es sagt nur aus, dass man gar nicht lange überlegen muss, wenn man sich fragt, wie eine Welt aussehen würde, die nicht von Menschen, sondern von Männern gemacht wurde: ganz genau so, wie sie aussieht nämlich! Die gesamte Geschichte der Menschheit ist zweifelsohne männlich, und wenn man schon werten will, dann kann man durchaus hervorheben, dass dabei in einigen Bereichen Spitzenleistungen erreicht wurden, dass es die Erfolgsgeschichte einer Gattung ist – aber um welchen Preis, das wäre natürlich auch zu fragen, und mit welchen Defiziten und welchen Opfern und welchen grandiosen Fehlentwicklungen. It’s a manmade world, Schöpfungsgeschichte in dreihunderttausend Jahren. Der Mensch erschien im Holozän, und wahrscheinlich war es ein Mann. Wie jedoch, so fragt Charlotte Perkins Gilman nun, und sie fragt es ganz sachlich, mit dem Notizbuch in der Hand und einem zwar nicht akademischen, aber eifrigen Studium der menschlichen Kulturgeschichte im Hinterkopf, wie jedoch würde eine womanmade world aussehen? Und dann gebiert sie, wahrscheinlich durchaus unter Schmerzen, obwohl beim Lesen die Leichtigkeit überwiegt, eine weibliche Utopie: Herland. Ein Land der Frauen. Es ist, das muss man sich vor Augen halten, ein Gegenbild (nämlich zur manmade world der historischen Realität); aber es ist kein Vollbild: Denn ein Vollbild wäre nur eine menschliche Welt, zu der Frau und Mann das jeweilig ihre, durchaus gern: Verschiedene beitragen. Eine humanmade world. Ein utopisches Anthropozän.
Frau-Mann-Mensch. Wer aber war Charlotte Perkins Gilman, wenn sie zuhause war? Wahrscheinlich kein glückliches Kind. Der Vater war immerhin literarisch sehr interessiert, verabschiedete sich aber früh von der Familie und hinterließ finanzielle Nöte und eine Schar von Frauen, Tanten, Verwandten, die sich um die junge Charlotte und ihren Bruder kümmerten, darunter auch eine weibliche Autorin: Harriet Beecher Stowe, berühmt geworden mit Uncle Tom’s Cabin, einem der wenigen Bücher der Zeit, die sich gegen die Sklaverei richteten. Charlotte selbst soll das gewesen sein, was man in Amerika mit einem schönen Wort einen ›tomboy‹ nennt (im Deutschen haben wir, ein schwacher Ersatz, ›Wildfang‹): ein Mädchen, das sich lieber an den Spielen der wilden Jungen beteiligt, als brav ihren Puppen die Löckchen zu striegeln, das Puppenhaus zu putzen und sich auf das Leben als Ehefrau, Hausfrau, Mutter vorzubereiten. Ein wenig sieht man das auch in den Fotos, die ein schmales Gesicht zeigen, mit einer markanten Nase, aber wenig weiblicher Anmutung: Klar sieht sie aus, energisch, aber weiblich-energisch; wenn man ihre Züge etwas ins Melancholisch-Hübsche verklärt, hat sie auch etwas von der jungen Virginia Woolf. Eigentlich aber sieht sie – menschlich aus.
Anfangs entgeht sie ihrem Frauen-Schicksal jedoch nicht: Sie wird jung verheiratet, sie bekommt ein Kind und sie bekommt eine schwere postnatale Depression. Den Begriff hatte man damals noch nicht, obwohl es das Syndrom zweifellos gab (es hat im wesentlichen hormonelle Ursachen); man nannte das eben, wie das meiste an Frauen, was man medizinisch nicht erklären konnte oder wollte, ›hysterisch‹ (von griech. hystera, der Gebärmutter) und kurierte es mit den üblichen Verlegenheitsmitteln: Ruhe, Zurückgezogenheit, bloß nicht das Haus verlassen, sich ganz auf sich, das Kind, das home, den Raum der Frau schlechthin, konzentrieren. Das Rezept war Gift für Charlotte, und vielleicht nicht nur für sie; es trieb sie an den Rand ihrer psychischen Belastbarkeit, sie befürchtete verrückt zu werden – aber es machte sie, in einem sehr weiblichen Berufungserlebnis, auch von einer eifrigen Leserin zu einer noch viel eifrigeren Schriftstellerin. Denn Charlotte schrieb ihre Geschichte auf, verschlüsselt, symbolisch, aber dadurch umso eindrucksvoller: Wie die eingesperrte Frau in ihrem Zimmer, abgeschnitten von allen äußeren Eindrücken, Impulsen, Ablenkungen, in dieser mentalen Einzelhaft eine Fixierung entwickelt, und zwar ausgerechnet auf – die gelbe Tapete, die das Zimmer auskleidet. Beraubt aller sinnlichen Anregung, wird die gelbe Tapete ihr einziger und übermächtiger Gesprächspartner: Sie riecht falsch und unheimlich; das Muster verwandelt sich in der Nacht, unter ihren Augen; sie hat Risse, aus denen etwas Fremdes und Bedrohliches zu kriechen scheint. Und immer genauer meint die Eingesperrte zu erkennen, dass hinter und unter den Mustern eine Frau verborgen ist, eingesperrt, auf allen Vieren versucht sie dem Muster zu entkommen. Kann man dem Muster entkommen? Das ist die Frage, die sich Gilman von nun an selbst energisch zu stellen beginnt.
Als erstes entkommt sie dem Muster, indem sie, die Frau, die Scheidung beantragt. Danach tut sie etwas noch Verpönteres: Sie übergibt dem Ex-Mann, der wenig später eine gemeinsame Freundin heiratet, das Kind, ihre Tochter, zur Betreuung und Erziehung; sie würden ihr ein besseres Heim bieten können (vielleicht war es die erste von einer Frau organisierte patchwork-Familie der Geschichte, wahrscheinlich aber nur die erste, von der man gehört hatte). Später wird sie einen Cousin heiraten, vielleicht mehr eine Vernunft als eine Liebesheirat, aber die Ehe hält. Da ist sie aber schon längst eine Vollzeit-Autorin und eine der ersten Feministinnen ihrer Zeit geworden: Sie reist auf Frauenkongresse und hält Reden; und sie schreibt, geradezu unermüdlich, politisch und literarisch und feministisch und eines durch das andere hindurch. 1909 gründet sie ihre eigene Zeitschrift, den Forerunner nennt sie sie, den ›Vorläufer‹, und es wäre schöner gewesen, man hätte das weiblicher formulieren können; aber wahrscheinlich meinte sie es einfach nur: menschlich, der Vorläufer eines neuen Geschlechts jenseits von Männlichkeit und Weiblichkeit als Konkurrenzmodellen.
Die Zeitschrift ist ein Baby, das niemals aufhört zu schreien; es schreit nach Artikeln, sieben lange Jahre füttert Gilman sie, eine alleinerziehende Herausgeberin, und sie schreibt Artikel über Schürzen und über den Sozialismus, über die reformatorische Kraft des Automobils und die Repression der Frauen durch das home, über Kleider und den Weihnachtsmann, über Darwinismus und die Negerfrage (das sind ihre problematischsten Texte, sie neigt, im Kontext der Zeit durchaus nicht untypisch, zu einem schwachen Rassismus bezüglich der Überlegenheit der weißen Rasse, die sie ganz biologisch denkt, eine treue Darwin-Schülerin). Und ganz am Ende schreibt sie über das Recht zu sterben; denn sie selbst ist an Krebs erkrankt, eine Heilung ist nicht abzusehen, sondern nur ein langes, unfruchtbares Leiden. In ihrem sehr sachlichen Abschiedsbrief (auch das erinnert tragisch an Virginia Woolf) heißt es: »Doch wenn jegliche Nützlichkeit hinter einem liegt, wenn man sicher ist, daß der Tod unausweichlich bevorsteht, gehört es zu den simpelsten Rechten des Menschen, einen schnellen, leichten Tod an Stelle eines furchtbaren und langsamen zu wählen«. Selbst kurz vor dem eigenen Tod hat sie ihre Rationalität, ihre durchaus sachliche Analyse auch in den allermenschlichsten Dingen, nicht verlassen; ebenso wenig wie ihr Glaube daran – und es war ihr wesentlicher Glaube! –, dass der Mensch vor allem eines zu sein habe, wenn er Mensch sein wolle: ein Nutzen und Segen für die Gemeinschaft. Dann inhalierte sie Chloroform.
Es gehört zum besonderen Charakter von Gilmans als Autorin, dass sie nicht oder nur schwach in den klassischen weiblichen Genres reüssierte – dem Roman natürlich, der klassischen Liebesgeschichte; oder in empfindsamen Gedichten. Nein, mit all ihrem klaren Geist und ihren durchaus nicht unbeträchtlichen sprachlichen Fähigkeiten schrieb sie scharfsinnige Essay, kleine und große (a manmade world gehört dazu, aber auch Women and Economics), satirische Gedichte (ein zu dieser Zeit fast vergessenes Genre) und, das vor allem hat ihr einen Platz in der feministischen Ahnengalerie gesichert: eine veritable Utopie. Nun sind Utopien so etwas wie das das größte denkbare Luftschloss nach dem Heiligen Jerusalem; sie sind das Kron- und Herzstück der politischen Philosophie, angesiedelt dort, wo sie sich mit der Literatur trifft: Gesellschaftsentwürfe für einen idealen Staat, meist auf einer Insel im Nirgendwo (Utopia, der Nicht-Ort), auf jeden Fall aber scharf abgegrenzt von existierenden Staaten, rein gehalten von fatalen äußerlichen Einflüssen, bis zur Überschärfe herausgetriebene Modelle dessen, wie der Mensch – der Mensch! nicht Männer oder Frauen! die Menschheit! nicht Individuen – eigentlich leben sollte. Utopien sind deshalb, das klingt ein wenig ironisch und vielleicht ist es das auch, selten besonders menschenfreundlich. Ihre Kernkompetenz ist die Konsequenz, nicht der menschelnde Kompromiss; ihr Ziel ist das größte Glück der größten Zahl, nicht das mehr oder weniger zufällige und allzu oft falsch irregeleitete Glücksstreben der Individuen. Utopien verzeihen nichts, kein Verbrechen und keine Abweichung; sie haben ein Staatsziel, das durchaus unterschiedlich gefüllt sein kann, aber diesem Staatsziel wird alles untergeordnet. Denn nur das, so das rational glasklare Argument, stellt sicher, dass es sich beim idealen Staat nicht nur um eine durch Gesetze formal verbundene Gesellschaft, sondern um eine wahre Gemeinschaft handelt. Und nur in einer solche Gemeinschaft, so die Logik der Utopie, in einer Ausrichtung auf eine geteilte Identität, auf geteilte Überzeugungen, auf geteilte Ziele wird sich der Einzelne als ganzer Mensch aufgenommen fühlen, und nicht nur als Bürger verwaltet. Totale Einheit ist das Geheimrezept der meisten großen Männer-Utopien, von Platons politeia bis hin zu Morus‘ Utopia (und gleichermaßen die Antwort auf die Frage, warum in der Moderne die Dystopien dominieren). Und selbst das ›Schlaraffenland‹, die einzige Form einer hedonistisch-individuellen Utopie, ist in einer gewissen Weise identitär und totalitär: Wer sich dem absoluten Gebot des Sinnengenusses und der Faulheit entzieht, weil er eine unbeherrschbaren Trieb zur Arbeit in sich spürt, wird bestraft; ebenso wenig wird beispielsweise das Alter akzeptiert, und wem nicht nach einem Bad im Jungbrunnen ist, wird schon sehen, wie das bei den Schlaraffengenossen ankommt.
Muss man noch sagen, dass die Utopie eine männliche Gattung ist, a manmade genre im besten und im schlechtesten Sinne, in ihrem Größenwahn und ihrer Hybris wie in ihrer Klarheit und Folgerichtigkeit? Und was mag passieren, wenn man diese Form nun – ins Weibliche transformiert, sich eine weibliche Utopie erdenkt, utopischer noch als alle männlichen, weil sie direkt von der historischen Abhängigkeit in die über-historische Alleinherrschaft springt, ohne Zwischenstufen (etwas schwach ähnliches hatte Christine de Pisan versucht, in ihrer Stadt der Frauen, aber das war nur eine Allegorie, in der es sich leicht gedeihlich einrichten lässt, weil man allein in den Gedanken wohnt)? Gilman macht den Sprung, und es ist ein Text, aus dem in besonderem Maße ihre gnadenlos klare Vernunft spricht. Und die erste Entscheidung, die sie dabei trifft, ist die folgenreichste und die vielleicht auch überraschendste: Denn das große Totale, das Gemeinschaftsbildende und verpflichtende in Gilmans Herland ist – Mutterschaft. Man mag das als Spätfolge ihrer schwierigen Kindheit sehen, in der der Vater abwesend war und die eigene Mutter dem emotionalen Kontakt zu ihren Kindern nicht sehr zugeneigt. Aber natürlich hat es auch eine große, primär: biologische Vernunft, denn bei aller Hin. und Hermäkelei über die biologische Unterschiedlichkeit oder Nichtunterschiedlichkeit von Frauen und Männern ist eines allein unbestreitbar: Noch kein Mann hat Kinder bekommen. Kinder aber sind, biologisch und vernünftig, das Lebenselement einer jeden menschlichen Gesellschaft: Sie mag harmonisch sein oder konfliktreich, dominiert von welchem Glauben und Wahn auch immer, eines ist sie mit Sicherheit ohne Kinder: tot, sogar ziemlich bald.
Wie also entwickelt sich eine Gesellschaft, bestehend rein aus Frauen, deren zentrales Ethos, Religion und Verhaltensmaxime das Wohl der Kinder ist (das Problem der Fortpflanzung ohne männlichen Beitrag löst Gilman übrigens, mit einem kleinen biologischen Handstreich, über die wundersame Entwicklung einiger Frauen zur Parthenogenese, also zur Jungfernbefruchtung allein der Eizelle ohne männliches Sperma, wie sie für einige Insektenarten belegt ist; aber das ist eine Lizenz, wie sie in Utopien nicht ungesehen ist)? Vernünftig zunächst, da unterscheidet sich Herland wenig von Thomas Morus’ Utopia oder Francis Bacons Atlantis; es sind Staaten, die die Erziehung, Bildung, sogar: die wissenschaftliche Förderung ihrer Bewohner zur ersten Staatsbürgerpflicht gemacht haben, die aber – im Unterschied zu den beliebten Sonntagsreden der letzten Jahrzehnte – weder ins Belieben des Einzelnen gestellt wird, noch seiner individuellen Förderung dient, sondern nur dem praktischen allgemeinen Wohl. Wissen ist nicht Macht, sondern Lebensnotwendigkeit in Staaten mit beschränktem Gebiet und keinem Kontakt nach außen; effiziente Bewirtschaftung des Bodens, gesunde Ernährung, bewusster Umgang mit natürlichen Ressourcen, all das ist höchst praktisch und klug geregelt, und das – utopische? – Ergebnis ist eine – nun, Gilman sagt: Rasse, sagen wir: eine Population starker, gesunder, schöner, selbstbewusster Frauen, die anpacken und sich auskennen und gemeinsam an ihrem Staat arbeiten, als sei es ihr größtes gemeinsames Kind, damit es gesund und kräftig und schön und selbstbewusst werde.
Interessanterweise ist demgegenüber der heikle Punkt der meisten politischen und Sozialutopien eher unterbelichtet, die Eigentumsfrage nämlich. Praktisch jede klassische Utopie enteignet als erstes ihre Einwohner; denn das Geld und mit ihm das fatale Privateigentum wird als Wurzel allen gesellschaftlichen Übels gesehen, erzeugt es doch Neid und Konkurrenzdenken, Verbrechen und Betrug, unverhältnismäßigen Reichtum und vermeidbare Armut. Dem ist, egal ob männliche oder weibliche Logik, mal wieder wenig vernünftig entgegenzuhalten – außer dem, was auch die drei Männer, die sich in unterschiedlichem Maße als Krone der Schöpfung dünkten, als es sie in Herland verschlug, auch vorbringen: So funktioniert der Mensch nicht. Der Mensch braucht Antrieb, Motivation, Wettbewerb, ohne diesen Motor kommt der Fortschritt nicht ins Laufen! Die Frauen in Herland finden das allerdings etwas erstaunlich: Warum sollte man denn nicht für seine Gemeinschaft – arbeiten wollen, ohne Zwang, ganz einfach, weil es eine Freude ist, und weil man einsieht, dass es vernünftig ist, und weil es ja sogar, wenn man es sinnvoll aufteilt und ein wenig darauf Acht gibt, welche Talente und Interessen jefraud habe, Spaß macht? Würden denn die Mütter in der anderen, der manmadeworld – die die Herlanderinnen gleichzeitig mit Ehrfurcht und dem geschulten Blick des Ethnologen betrachten –, nicht freiwillig für die Familie arbeiten? Wäre es nicht schön, gemeinsam mit all seinen Schwestern zu arbeiten, mit den Händen und dem kräftigen Körper und mit dem Kopf? Ach, wenn die Menschheit doch nur eine Familie wäre! Natürlich nicht eine dysfunktionale, aber gern mit jeder Menge Patchwork. ›Brüderlichkeit‹ war der Schlachtruf der französischen Revolution; Schwesterlichkeit ist die pazifistische Maxime der Herlanderinnen. Und die Liebe, wenden die Männer ungläubig sein, was sie aber meinen, ist natürlich: Sex? Ein Fremdwort, kaum kann man es erklären (Sex erklärt sich sehr viel leichter). Liebe, natürlich, was soll man Müttern schon von Liebe erzählen, sie kennen sie besser: Wahre Liebe braucht keinen Sex.
Das wirklich Interessante und Lehrreiche an diesem utopischen Gedankenexperiment ist, dass man – noch viel stärker als bei den männlichen Utopien, die nur an wenigen Stellschrauben drehen, Eigentum, soziale Hierarchien, Erziehung – schnell bemerkt, dass man sein ganzes Denken umkrempeln muss. Wenn man das jedoch einmal geschafft hat, entwickeln sich geradezu sprunghaft neue Logiken und neue Maßstäbe. Das alles aber wird den drei Männern in Herland nicht etwa aufgedrängt, sondern geradezu diätetisch, therapeutisch, in kleinen Dosen und Schritt für Schritt mehr vorgeführt denn vermittelt. Die Herlanderinnen sind, ihrer geistigen Mutter treu, gleichzeitig rücksichtsvoll und mitfühlend wie gnadenlos rational und folgerichtig. Sie sind, um bei einer schönen alten philosophischen Metapher zu bleiben, sehr, sehr gute Hebammen; sie helfen auch noch dem uneinsichtigsten Mann nach und nach, selbst zur Erkenntnis der Vernunft zu kommen; dabei geht es natürlicherweise nicht ohne Schmerzen ab. Und natürlich hat auch Herland seine totalitären Züge, gegen die sich die moderne Leserin zu Recht wehren möchte: strenge Geburtenkontrolle, eine Neigung zur Sozialeugenik und die relativ alternativlose Anerkennung der MutterIdeologie gehören dazu. Aber die Vernunft, die große Vernunft – hat eben ihren Preis, und wer immer noch glaubt, dass es irgendetwas in der Welt ohne Preis gibt, sei es gut oder schlecht – der ist wohl der wahre und unheilbare Utopist.
Zudem sollte man, um der wahrhaft salomonischen Gerechtigkeit einigermaßen gerecht zu werden, um die sich die Herlanderinnen bemühen, auch sehen, dass es eben nur die andere Hälfte ist, eine womanmadeworld, mit einigen notwendigen Extremen. Wie aber sähe nun eine humanmadeworld aus? Charlotte Perkins Gilman hat auch Gedichte geschrieben; satirische zwar, also ziemlich unfrauliche. Eines von ihnen hat ein ungewöhnliches Thema und eine ungewöhnliche Gedichtform. Es heißt: To the indifferent woman und ist eine Sestine – eine sehr altehrwürdige, sehr strenge Gedichtform, erfunden von den mittelalterlichen Troubadouren (kann man weiter weg von Herland sein?): Sie besteht aus sechs sechszeiligen Strophen, bei der die Reimwörter die ersten Strophen in jeder der folgenden Strophen wieder aufgenommen werden; am Ende steht dann eine schließende dreizeilige Strophe. Die Reimwörter in Gilmans Sestine sind die allgemeinsten der Welt: Es handelt sich um home, peace, life, love, care, world. Und nachdem sie sechs Strophen lang mit Hilfe dieser kleinen sechs Hauptwörter gegen die indifferenten Frauen lyrisch argumentiert hat, die meinen, das gehe sie doch alles nichts an, folgt eine dreizeilige Schlussstrophe, die einmal nur die Utopie der ganzen, humanmadeworld entwirft; in einer schwachen deutschen Übersetzung: »Und alle werden wir, in Freude und in Friede, / ein Heim finden, wenn Liebesmacht der Frau / vereint sein wird mit Mannes Sorge für die Welt«.
War sie ein Chamäleon? Eigentlich wirkt sie gar nicht so. Man sieht sie als energische Rednerin auf den Kongressen der inzwischen schon sehr organisierten Frauenbewegung, eine Frau, die weiß, was sie will. Man liest ihre feministischen Essays, in denen sie ihre Überzeugungen kundtut, sehr klar kundtut, beinahe überklar in dem Bemühen um Sachlichkeit, Rationalität, Unwiderlegbarkeit. Wie bei vielen ihrer schreibenden Zeitgenossinnen hat man das Gefühl, dass sie Jahrhunderte verleugneter Rationalität wieder aufholen müssen, und jeder einzelne Satz schreit: Ich bin eine Frau und kann denken! Widerlegt mich doch, wenn ihr könnt! Ihr könnt aber nicht, denn ich sage die Wahrheit, und ich kann sie beweisen! Und eigentlich ist sie sonnenklar für jedes denkende Wesen, außer es ist, nun: ein Herrenreiter oder ein Altgläubiger, ein männlicher Egoist oder ein Ritter der mater dolorosa. Denn das sind die fein säuberlich unterschiedenen vier Typen von Antifeministen, die Hedwig Dohm in einem ihrer bekannteren Essays unterscheidet, und man meint sie förmlich vor sich zu sehen, die Herren der Schöpfung, all ihrer Prätention entkleidet und auf die simpelsten Motive reduziert: Denkfaulheit und Gewohnheitsüberheblichkeit; Größenwahn aus innerem Kleinwuchs; schierer Egoismus aus Charakterschwäche und Furcht vor Konkurrenz; vorgeschobene Sentimentalität, verkauft als Schutz schwacher Geschöpfe. Viel bissige Satire läuft mit unter in diesem Text, gelegentlich auch Polemik, aber das ist nur die funkelnde Oberfläche; seine Sachlichkeit ist der Grundton, die verdichtete Essenz, der – vielleicht würde man sagen: konzentrierte Fond einer dreißigjährigen Analyse von Geschlechterverhältnissen. Ein Fond aber ist nicht immer schmackhaft; er kann zu stark konzentriert sein, und der Eindruck überfällt sogar Frauen leicht bei der Lektüre von Dohms Essays: Sie sind atemlos vor lauter Engagement, sie hämmern ihren Punkt nach Hause wie der bewunderte und ob seiner Frauenfeindlichkeit so geschmähte Übervater Nietzsche, sie sind ein wenig herzlos, aber immer reflektiert. Ein Chamäleon, dieses schreibende Energiebündel? Und doch –
Sie war, das kann man ganz sicher sagen, eine schöne Frau, und warum soll man das nicht sagen (Nietzsche hingegen war nie ein schöner Mann)? Ihr Jugendbild zeigt sie mit langen schwarzen Locken, großen melancholischen Augen und einem etwas skeptischem Gesichtsausdruck, so, als würde sie der eigenen Schönheit nicht trauen. Ihre Kindheit war, wenn man ihren eigenen Aussagen trauen darf, keine besonders glückliche, aber vielleicht auch keine besonders unglückliche: Geboren als drittes von achtzehn Kindern eines durchaus wohlhabenden Tabakhändlers, der vom Judentum zum Protestantismus konvertiert war. Man verkehrte in den intellektuellen Kreisen Berlins, aber die Töchter erhielten im Gegensatz zu den Söhnen keine besondere Ausbildung. Die junge Hedwig setzt es immerhin durch, ein Lehrerinnenseminar besuchen zu dürfen, einige der wenigen Berufswege, die Frauen Mitte des 19. Jahrhunderts offenstanden. Die baldige Vermählung ist eher ein Glücksfall: Sie heiratete Ernst Dohm, Herausgeber der bekanntesten Satirezeitschrift Deutschlands, des Kladderadatsch. Innerhalb kurzer Zeit bekam sie fünf Kinder, der einzige Sohn überlebte die Kindheit nicht, die vier Töchter jedoch erhielten eine solide Ausbildung, und eine ihrer Enkelinnen war Katia Pringsheim, die nicht nur die Schönheit, sondern auch das Talent ihrer Großmutter geerbt hatte und als ›Frau Katia Mann‹ in die Literaturgeschichte einging. Gemeinsam gründete das Ehepaar Dohm einen Salon in Berlin, den Hedwig auch nach dem Tod ihres Ehemannes fortführte; es ist wohl auch nicht viel spekuliert, wenn man davon ausgeht, dass die satirischen Tendenzen ihres Schreibens ein wenig ein Milieuprodukt waren.
Ihre Schwangerschaften nutzte Dohm im Übrigen zur eigenen akademischen Weiterbildung, und ihr erstes Geistesprodukt war eine umfangreiche philologische Monographie mit dem Titel Die spanische NationalLiteratur in ihrer geschichtlichen Entwicklung; geschrieben ohne Studium, ja ohne Abitur, autodidaktisch im besten Sinne. Aber ihre eigene Autorenkarriere beginnt erst mit ihren Schriften und Essays zum Frauenrecht in den 70er Jahren. Der Frauen Natur und Recht heißt der bekannteste, aber der Titel könnte über all ihren feministischen Texten (den Begriff gab es aber noch gar nicht) stehen: Es geht ihr immer um beides, um Praxis und Theorie der Emanzipation ebenso wie Brot und Bildung für die Frau – nur so, durch wirtschaftliche Selbständigkeit und eigenständige Bildung, so ihr Mantra, könnten Frauen ihre wahre Bestimmung jenseits des ominösen, von Männern entworfenen und durchgesetzten einheitlichen ›Geschlechtercharakters‹ erreichen. Denn zur Frau, da war sich Dohm weit vor Simone de Beauvoir sicher, wird man gemacht. Dabei gesteht sie durchaus zu, dass sie an die Unterschiedlichkeit der Geschlechter glaubt; aber – und ist das nicht ihr allerfortschrittlichster Gedanke? – worin diese bestehe, das wisse man einfach noch nicht. Vielleicht, ja sogar wahrscheinlich würden das die Wissenschaften einmal klären können. Vorerst aber müsse man sich bescheiden: Es gebe wohl Unterschiede in der Natur – aber daraus könnten keinerlei Unterschiede in der Rechtsstellung hergeleitet werden, im Gegenteil! Da ist Hedwig Dohm ganz bei ihren revolutionären Vorgängerinnen, bei Olympe de Gouges und bei Mary Wollstonecraft – die Menschenrechte sind unteilbar, und sie gelten für alle Menschen gleichermaßen. Was dann, im Übrigen, und das ist der Punkt, den sie wieder und wieder macht, weil er der springende ist für ihre eigene Zeit, auch für das Wahlrecht als das zentrale politische Selbstbestimmungsrecht gilt. Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass Frauen wählen nicht etwa dürfen, sondern sollen, können, müssen, und hier sind die Gegner in der Beweispflicht, nicht die Befürworter!
Der Gegner waren viele, und Hedwig Dohm nennt sie gern beim Namen, auch wenn sie deshalb der boshaften Personalsatire, des Pasquills angeklagt wird. Aber kritisiert sie denn Personen, so wird sie, wie üblich energisch und ein wenig polemisch, argumentieren? Nein, sie kritisiert Ideen, gedruckten männlichen Blödsinn (das sagt sie so natürlich nicht); beispielsweise das, was die Herren Mediziner gerade in umfangreichen Büchern zu sagen hatten, Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes, beispielsweise. Das sind dankbare Opfer. Aber sie nimmt es auch mit größeren Gegnern auf; mit Nietzsche und Schopenhauer beispielsweise, die sie wie so viele Zeitgenossen – eigentlich schätzt, verehrt, die unersetzlich sind für das eigene Selbstverständnis, für die neue Zeit, die Moderne; aber leider sind beide, ausgerechnet, zertifizierte Misogyne. Das kann einen schon ein wenig zerreißen. Noch schlimmer aber wird es, wenn sie – Frauen angreifen muss, die doch eigentlich solidarisch sein sollten im großen Kampf der Zeit, der Frauenbewegung. Das zerreißt einem nun wirklich das Herz, aber Dohm, analytisch grundehrlich, sieht: Auch die Frauenbewegung hat notwendig Flügel, linke und rechte, radikale und konservative; das ist, so Dohm mit einem ihrer hübscheren Bildern, das »Perpendikel, das in dem Uhrwerk der Kultur ein Vorgehen oder Nachgehen verhütet«. Sie selbst entwickelt sich über die Zeit hinweg durchaus hin zu einer gewissen Radikalität; als 74jährige ist sie an der Gründung des ›Bundes für Mutterschutz und Sexualreform‹ beteiligt, kurz vor ihrem Tod engagiert sie sich noch pazifistisch vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs. Aber sie weiß, dass die Frauenbewegung so verschieden sein wird wie die Frauen, die sich für sie engagieren – und wenn die einen vor allem Mutter sein wollen und die anderen vor allem Amazone, dann ist das ganz in der Natur der Dinge und dient letztlich sogar dem größeren Ziel hinter all den notwendigen Polaritäten, den polemisch wogenden Fronten im Geschlechterkampf: die Entwicklung der eigenen Individualität, mit und in seinem Geschlecht, aber auch darüber hinaus.
Ist es diese Auseinandersetzung mit der Individualität, die über den Geschlechtern steht, die sie relativ spät in ihrem Leben (ihr Mann ist inzwischen gestorben und sie geht in ihr sechstes Lebensjahrzehnt) auf einmal dazu bringt, Romane und Novellen zu schreiben? Eine literarische Spätstarterin, vergleichbar Theodor Fontane, dem zwölf Jahre älteren Generationsgenossen, der nach einer langen journalistischen und essayistischen Karriere sein literarisches Alterswerk beginnt? Die Verirrungen typischer Jugendwerke bleiben der Leserin so erspart. Sie begegnet einer reifen Autorin, die souverän über ihr Handwerk verfügt und nur zu einem anderen Papier, einem neuen Schreibgerät, einer anderen Technik gegriffen hat: Geschichten statt Analysen, Erzählungen statt Pamphlete – wobei jedoch auch in den Romanen die Reflexion immer wieder durchscheint, ja sogar die alte Neigung zur Typenbildung und Kategorisierung. Aber sind es nicht die besten Gesellschaftsromane des 19. Jahrhunderts, wie die Fontanes, aber auch die Dohms, in denen die menschliche Gesellschaft nicht als totes Abstraktum auftaucht, sondern in einer Vielfalt von Typen mit Variationsbreite, einer kleinen Naturgeschichte des Menschen, Männer und Frauen, Alte und Junge, Reiche und Arme, Sympathische und Unsympathische? Romane müssen gar nicht darunter leiden, dass ihre Autorinnen ein wenig nachgedacht haben über das Leben und die Welt an sich; solange sie kein Pamphlet werden jedenfalls. Es schadet jedenfalls nicht, erst gelebt und gedacht zu haben und sich erst dann an einen Roman zu wagen.
Ihre drei Romane bilden eine Art Trilogie der Weiblichkeit, und der letzte ist der Vollendetste. Er heißt Christa Ruland, und wenn es jemals einen weiblichen Bildungsroman gegeben hat, dann ist das einer. Christa ist ein Chamäleon, wie es noch jeder Held eines Bildungsromans war, von Wilhelm Meister an: den jugendlichen Kopf voll wirrer Ideen, das Herz empfindsam und die Phantasie definitiv überproportional entwickelt. Daran ist natürlich das Lesen schuld: Denn Romane machen ›Schwärmer‹, so nannte man das früher, und die Schwärmerei ist eine sehr gut dokumentierte Nebenwirkung von Lektüre und tatsächlich nicht ohne Gefahren für den persönlichen Lebenslauf und das Glücksempfinden. Was will Christa nicht alles werden! Hauptsache groß, Hauptsache bedeutend, Hauptsache – anders als die anderen. Natürlich stehen die Eltern dabei im Weg, Eltern stehen immer im Weg, vor allem wenn man nicht erkennt, dass man eben seinen eigenen finden muss, der nicht aus lauter Widerspruch und Trotz und Verneinung aufgebaut sein kann. Natürlich hilft die Schule dabei nicht, zudem wenn man sie nicht recht besuchen darf, sondern nur ›Graziekurse‹ und Hauswirtschaftslehre. Aber die wahre Bildung findet sowieso innen statt, das behauptet der Bildungsroman wenigstens; das äußere Leben ist nur die Kulisse, die Bildung profitiert aber davon, dass die Kulissen möglichst bunt und vielseitig sind. So bekommt Christa zwar wenig Chancen, ihre Träume in irgendeiner Praxis zu erproben, aber dafür hat sie ihre Freundinnen: ein bunter Schwarm sehr verschiedener junger Frauen, von denen man sich zwar kaum vorstellen kann, dass sie auch nur eine FacebookFreundschaft länger als ein Jahr durchhalten könnten. Aber dafür sind sie – Typen, geradezu Katalogmodelle von neuen Frauenbildern der sich ankündigenden Jahrhundertwende. Eine femme fatale ist dabei, die dämonische Malerin Anselma Sartorius (und trägt nicht schon der Name den Spalt im Charakter?), eine femme fragile, die Mystikerin Klarissa Wendler (natürlich eine ›Klarissa‹), eine demivierge, die scheiternde Möchtegernschriftstellerin Julia, ein radelndes Sportsmädel und ein an Emanzipation wenig interessiertes Vollweib, die Schwester Christas. Der Text sympathisiert jedoch eindeutig mit dem Modell der ›Neuen Frau‹, Maria Hill (eine emanzipierte Marienfigur sozusagen, nach englischem Vorbild); sie ist eine berufstätige Chemikerin, die leider Schwierigkeiten mit den Männern hat und irgendwann, grundehrlich wie ihre Autorin, zwei Dinge zugeben muss: Die Erwerbsarbeit ist auch nicht direkt das, was man sich vom (männlichen) Leben versprochen hatte; und sie alle, mit ihren träumerischen Höhenflügen wie ihren Weltumradlungen, sind nur ›Übergangstypen‹ – etwas auf dem Durchgangsweg zu einer wirklichen weiblichen Individualität, die dann, vielleicht, auch ohne Typisierung auskommen wird. Denn die wahre Ironie liegt darin, dass all diese jungen Frauen energisch das alte Geschlechtermuster abgestreift haben – um sich umso williger in neuen Mustern wieder einzusortieren. Sie stehen immer noch, so sagt das Maria Hill, unter einer »Glasglocke«, sie hat nur verschiedene Formen und Muster (Jahrzehnte später wird eine amerikanische Autorin diese Glasglocke zertrümmern, unter Einsatz des eigenen Lebens).
Christa aber, die Haupt und Titelfigur, ist gleichzeitig die blasseste von allen und diejenige, die sich einer Einordnung ins Typenmuster bei aller Blässe am energischsten entzieht: Sie bleibt das Chamäleon, auch über ihre Jugendträume hinaus, über ihre mit vielen guten Vorsätzen und unter gar nicht so schlechten Vorzeichen begonnene und dann doch gescheiterte Ehe hinaus, über ihre Anfälligkeit für politische und religiöse Extremitäten bis weit ins mittlere Lebensalter hinein. Am Ende steht sie ein wenig verloren in der Welt, als sie eine Gruppe von Kindern an sich vorbeiziehen sieht; und in einem Augenblick entschließt sie sich, ihr Leben künftig den Kindern zu widmen. Sie ist in diesem Moment klug und erfahren genug, um selbst zu erkennen, dass das auch nur eine vorübergehende idealistische Idee sein kann, deren Desillusionierung bisher noch jedes Mal auf dem Fuße gefolgt ist. Aber immerhin gelingt es ihr nun, einen Schritt von der Fixierung auf ihre eigene, persönliche ›Selbstverwirklichung‹ (man muss das Wort manchmal neu betrachten, bevor man es wieder unter den verbrauchten Wortmüll zurückschiebt, wo es hingehört: Es meint, ›wirklicher‹ zu werden, nicht einem nur ausgedachten Idealbild seiner selbst zu frönen) zurückzutreten: Vielleicht wird man sich ja gerade dann finden, wenn man von sich selbst absieht? An diesem Punkt wird Wilhelm Meister Arzt, und Christa Ruland wird Volksschullehrerin. Kein Künstlertum, um Gottes willen; Künstlertum ist die größte Versuchung und die größte Verirrung für chamäleonhafte Charaktere. Erst wenn sie sich für eine Farbe entschieden haben, werden sie ein wenig in Ruhe und in der Wirklichkeit leben können und nicht immer nur in Träumen.
Sie waren beide Töchter aus gutem Haus. Zwar war die eine jüdisch, und die andere katholisch, die eine Deutsche und die andere Französin; die eine lebte im verstockten 19. Jahrhundert, die andere im selbstbewusst modernen 20. Jahrhundert, aber das waren nur Äußerlichkeiten – Schicksal, würde es Simone de Beauvoir später nennen, die jüngere von beiden. Aber Schicksal ist für sie nichts, was einen verdammt; es ist etwas, über das man sich erheben kann, ja, von dem man sich frei machen muss! „Man wird nicht als Frau geboren, man wird zur Frau gemacht!“, mit diesem Satz wird sie zur großen Mutter des modernen Feminismus werden, auch wenn sie die Metapher wahrscheinlich abgelehnt hätte; aber so ist das mit dem Nachruhm, er macht etwas aus einem, gegen das man sich dann endgültig nicht mehr wehren kann.
Doch so lange man lebt, als Frau insbesondere, kann man sich wehren. Fanny Lewald und Simone de Beauvoir, die beiden Töchter aus gutem Hause, sollten in ihrer Jugend zur Frau gemacht werden, und zwar genau so, wie es sich zu ihrer jeweiligen Zeit gehörte. Das Ziel war klar bestimmt, man nannte es den „Beruf der Frau“ (und gemeint war Beruf im Sinne von vorherbestimmter Berufung, nicht etwa im Sinne freier Wahl): Sie sollten heiraten, möglichst gut; sie sollten sich ihren Männern unterordnen, sie sollten ihnen den Haushalt führen und Kinder gebären (vorzugsweise männliche), dabei ein wenig am Klavier klimpern, zeichnen oder sticken, vielleicht sogar ein Gedicht schreiben, dann und wann; aber das war allerhöchstens ein Nebenberuf, eine reizende Marotte, etwas für den erweiterten Familienkreis. Fanny und Simone aber waren klug, oh wie waren sie klug, und sie waren wissbegierig, energisch, zielbewusst dazu – eine ziemlich unweibliche Mischung für die Zeitgenossen. Nein, sie wollten sich ihrem Schicksal nicht unterwerfen, sie rebellierten gegen den angeblichen „Beruf“ der Frau, sie wollten nicht schmückendes Beiwerk und willige Sklavinnen sein. Sie wollten selbst etwas aus sich machen – und das nicht nur für sich privat, sondern für alle Frauen, für ihre Geschlechtsgenossinnen zu allen Zeiten und in allen Ländern (das erst macht sie zu Feministinnen)! Sie waren die Anderen, und es war an der Zeit, dass die ganze Welt auf die Anderen schaute, und nicht nur auf die Einen, die immer dominiert hatten, unbezweifelt, egoistisch, gewaltsam: Mann ist Mensch. Nein, er ist nur die Hälfte der Menschheit!
Fanny Lewald trat dabei unter erschwerten Umständen an: Sie war nicht nur Frau, sondern auch Jüdin, also sozusagen doppelt unterdrückt und als gehorsame Tochter dreifach emanzipationsbedürftig. Ihren Eltern zuliebe war sie zum Christentum konvertiert, in der Jugend schon, aber es wollte ihr einfach nicht eingehen: Zwar war sie gläubig, zutiefst sogar, überall sah sie Gottes Spuren auf Erden – aber dieser christliche Wunderglaube, diese seltsame heilige Trinität, dieser etwas schwer zu fassende Sohn Gottes, all dies ging ihr gegen ihre jüdische Vernunft wie ihren praktischen Verstand, und von beiden hatte sie überreichlich. Aber nein, sie sollte christlich werden und gut heiraten; sie sollte Klavierspielen und Handarbeiten machen, ein wenig mehrsprachig parlieren und den Ruhm ihres Mannes mehren! Was dachten sich die Eltern bloss dabei, dass sie einen zum Objekt auf dem Heiratsmarkt machten, zu einer Ware, die man vorzeigt und deren Vorzüge man preist: Seht nur, eine Tochter aus gutem Hause, sie ist nicht hässlich und hat gute Manieren, sie ist ein wenig künstlerische ambitioniert, aber in Maßen, in bescheidenen Maßen, und ihre Mitgift wird nicht gering sein! Wie sollte man unter diesen Umständen seine Würde bewahren, seine Intelligenz und seine psychische Gesundheit? Konnte man es den Frauen wirklich verdenken, wenn sie zu preziösen und unpraktischen Schmuckstücken wurden, zu verzärtelten Modepuppen, seicht daher plappernden Schwätzerinnen, missgünstigen Hyänen und rachsüchtigen Ehefrauen? Hatte man sie nicht selbst – dazu gemacht?
Fanny jedoch war zum Glück ziemlich, wie man heute sagen würde, resilient. Sie überstand ihre ersten unglücklichen Verliebtheiten ebenso wie die langen Jahre, während derer sie die Tochter aus gutem Haus war und die eigenen Eltern mit ihr handelten wie mit immer saurer werdenden Gurken; sie ließ sich einfach nicht verheiraten. In ihrem ersten Roman Jenny (autobiographisch wie noch jeder Erstling, egal ob männlich oder weiblich) hat sie die Hauptfigur mit einem kleinen grünen Kaktus verglichen: Er ist unbeugsam, er kann sich den stürmischen Winden des Schicksals nicht anschmiegsam und demütig beugen, sonst würde er brechen; er ist stachlig und etwas unansehnlich, aber er kann blühen, wenn man ihm nur die Gelegenheit dazu gibt, oh wie er schön er blühen wird! Und Fanny hat irgendwann, endlich – nun ja, das Quäntchen Glück, das man sogar braucht, um einen Kaktus zum Blühen zu bringen: Ein Vetter gibt eine angesehene Zeitschrift heraus, er veröffentlicht etwas von ihr, anonym natürlich (die Heiratschancen der unterordnungswilligen Schwestern sollen nicht gemindert werden, das wäre eine schlechte Investition); und das ist der Beginn einer ansehnlichen Schriftstellerkarriere. Von nun an wird Fanny mit dem Schreiben nicht mehr aufhören, sie wird Romane, Erzählungen, Essays, Reiseberichte, Kampfschriften für die Emanzipation schreiben (aber niemals Gedichte oder andere Sentimentalitäten). Schreibend befreit sie sich von ihrer fatalen Unverheiratbarkeit, schreibend verlässt sie das Elternhaus und geht nach Berlin, schreibend macht sie die Frau aus sich, die sie selbst werden wollte, trotz und gegen das Schicksal. Und sie schreibt so, wie sie ist: klug, pragmatisch, reflektiert, ein wenig allzu männlich-energisch für eine Frau; stilistisch wenig originell, aber mit einem soliden Realismus und scharfer weiblicher Beobachtungsgabe; unsentimental, aber trotzdem gelegentlich leidenschaftlich.
Ja, Fanny wird schließlich sogar eine Wortführerin der internationalen Emanzipation: Sie hat Netzwerke, Programm und Pflichten, sie reist durch die Welt, hält Vorträge, sammelt Geld für gute Zwecke, fördert und fordert. Aber niemals wird sie eine unkritische Feministin: Für und wider die Frauen heißt einer ihrer bekanntesten Texte, und es gab ja tatsächlich Gründe, gegen die Frauen zu sein: wenn sie sich nämlich dem männlichen Bild von ihnen unterworfen hatten, wenn sie Schmuckstücke geworden waren, ohne Sinn und Verstand, ohne Bildungswillen; Frauen, die gar meinten, man könne einfach so schreiben oder wählen ohne irgendeine Ausbildung, Befähigung, Übung! Nein, Emanzipation muss erarbeitet werden, wie Fanny sie sich erarbeitet hat, davon ist sie zutiefst überzeugt. Man konvertiert so wenig zum Feminismus wie zum Christentum, und man bekommt ihn auch nicht geschenkt. Das jedoch ist nur möglich, wenn man wirtschaftlich selbständig ist, also einen richtigen „Beruf“ ergreift, von dem man notfalls leben kann, auch ohne Mann. Frau muss sich den Herausforderungen der modernen Arbeitswelt aussetzen, ihren Versprechen wie ihren Bedrohungen, der damit verbundenen Verantwortung wie der damit verbundenen Freiheit, nur so kann sie die gleichberechtigte Partnerin des Mannes werden. Dadurch wird man vielleicht, nun ja, ein kleiner grüner Kaktus und keine exotische Orchidee, noch nicht einmal eine blühende Lilie oder ein verstecktes Veilchen. Aber man kann trotzdem Frau bleiben, ja, man kann sogar durchaus wertkonservativ bleiben. Bis ans Lebensende ist Fanny zutiefst religiös. Sie ist eine geradezu erbarmungslose Moralistin, für die die Tugend der deutschen Frau, die Heiligkeit der deutschen Ehe, die Vorbildlichkeit der deutschen Familie unantastbar sind; aber sie müssen als persönliche Wahrheit gelebt werden können, sonst sind sie nur Fassade, Tand, Lüge. Ihre späte Ehe (nach einer Scheidung des Partners, so lange schon hatte sie auch dafür gekämpft!) stilisiert sie als Arbeits- und Denkgemeinschaft, als Verbindung gleichberechtigter Partner (sie selbst war aber deutlich stärker als der Gymnasiallehrer, der aber immerhin den Mut hatte, sie zu heiraten). Am Ende sammelt sie ihre mühsam erworbene Lebensweisheit in Aphorismen, einer auf den ersten Blick männlich zugespitzten Form, aber es sind männliche dabei und weibliche. Einer von ihn würdigt sogar die Männer auf ungewohnte Weise: Vielleicht sind sie das liebensfähigere Geschlecht, und die Frauen haben dafür die größere Rationalität; die Frauen, die es immer mit realen Dingen zu tun hatten, mit Räumen, Tieren, Kindern, praktischen Dingen. Frauen kennen sich damit aus, wie man Dinge macht. Wenn man sie nur lässt, wenn man sie ermutigt statt einsperrt, wenn man sie freisetzt aus dem goldenen Käfig – dann machen sie ihre Hälfte der Welt, und zwar so, wie sie selbst es wollen.
Bei Simone de Beauvoir, der erheblich berühmteren höheren Tochter, ist gut fünfzig Jahre später alles verschärft und gleichzeitig beschleunigt. Das begabte Kind behauptet sich schon in der Ausbildung selbst, es setzt sich dem urfranzösischen Elitewettbewerb aus, es gewinnt sogar, aber: gemeinsam mit Jean-Paul Sartre, sie die zweite, Er der erste. Und sie verweigert das Heiraten, viel entschiedener noch als Fanny, ein Leben lang: Sie wird Beziehungen eingehen zu Frauen und Männern, natürlich auch: sexuelle (wie fern hätte das Fanny Lewald gelegen, und man sollte nicht zu schnell damit sein, dass für überholte Prüderie zu erklären: es ist auch eine Form von Selbstbestimmung). Die notwendige Beziehung zu Sartre war, das haben beide immer wieder beteuert, ein Vertrag, mehr nicht: man braucht sich, unendlich, für die gemeinsame Arbeit, für das gemeinsame Denken, für die politischen und intellektuellen Ziele; daneben jedoch gibt es Begehren, gibt es Freiheit, gibt es die Anderen.
Früh auch erreicht Simone die wirtschaftliche Selbständigkeit: Sie wird Lehrerin, sie selbst zahlt den Preis einer Pendlerbeziehung, bevor man endlich wieder in Paris zusammen kommen und den Existentialismus erfinden kann. Wo und wann das geschehen ist, in welchen Gesprächen, an welchen Orten, den berühmten Cafés oder doch gelegentlich im Bett, beim Flanieren oder beim Diskutieren, man kann es nur vermuten. Nach Marx stellt er ein zweites Mal die Philosophie vom Kopf auf die Beine stellt: nicht das Wesen ist es, die Essenz, die Substanz, das Ewig-Unvergängliche, auf das es ankommt beim Menschen; an allem Anfang steht vielmehr die Existenz, das konkrete, individuelle Dasein, die damit verbundenen Erfahrungen und Erlebnisse. Sinn ist nicht gegeben, von oben oder wo auch immer, Sinn muss erarbeitet werden, Identität muss konstruiert werden, denn das Absurde, die Sinnlosigkeit, die Vergeblichkeit lauern hinter allen Ecken (da wäre Fanny wieder dabei gewesen; jawohl, man muss arbeiten an der Emanzipation, jede für sich, ganz individuell; man bekommt sie nicht geschenkt wie ein kostbares Schmuckstück, denn dann wäre man ja wieder – gefangen, behängt, beschwert!). Als der Weltkrieg kommt und noch einmal ganz anders alles vom Kopf auf die Füße stellt, politisieren sich Jean-Paul und Simone, auch das natürlich gemeinsam: Man muss Stellung beziehen im Geist, auch wenn man doch eigentlich nur denken wollte, nur sein, reflektieren, entwerfen, versuchen. Sie werden ein Sprachrohr, ein Inbegriff, die Speerspitze einer Bewegung, etwas später sogar Kult: der Mann in schwarzen Rollkragenpullovern, die Frau die unvermeidliche Zigarette, die Emanzipationstrophäe der frühen Feministin, cool in den Fingern, und die Weiblichkeit versteckt hinter Kurzhaarfrisuren und Turbanen (ist das noch der freie Entwurf, oder hat einen die Realität von hinten nun wieder eingeholt und einen Mythos aus einem gemacht, bevor man sich versehen hat?)
Aber es sind immer zwei, Jean-Paul und Simone, wie sie sitzen bei Fidel Castro, auf dem Sofa, ein altes Ehepaar, ohne Ring und Schein, aber mit einem gemeinsamen Werk. Irgendwann jedoch macht Simone den ersten Schritt zu ihrer ganz speziellen Emanzipation: Sie schreibt ihr Jahrhundertwerk, es trägt allein ihren Namen, und betitelt ist es „Das zweite Geschlecht“ (nicht das „andere“, wie die deutsche Übersetzung verfälschend wiedergibt; es ist das zweite, und das impliziert immer auch, dass das erste eben das Erste, der Gewinner, ist, und das Zweite nur ein Trostpreis, allerhöchstens). Man könnte sagen, dass Simone nun endlich wahrhaft und wirklich existentialistisch praktisch wird, indem sie fragt: Was heißt es eigentlich, eine Frau zu sein? Wenn es kein biologisches Schicksal ist, wenn es kein weibliches Wesen gibt, wenn Gott nicht die Frau als Anhängsel aus einer Rippe schuf, sondern die Männer die Frauen gemacht haben, von Anfang an, gemacht mit Worten und Taten, und zwar genauso, wie es ihnen am liebsten war, also: demütig, unterordnungsbereit, niedlich, schwach und trotzdem irgendwie verführerisch? Und Simone begibt sich entschlossen an die wahre Sisyphos-Arbeit, die Enttarnung der Mythen von der Frau, das Wegräumen der Vorurteile, der Konstrukte, der Bilder von Männern über Frauen, wie sie geschrieben und festgehämmert wurden über Jahrtausende in Biologie und Geschichte, in Literatur und Philosophie, und nicht zuletzt: im Alltagsleben – und wieder ein Stein mehr, er wird zertrümmert, manche sind klein, manche wirken riesenhaft, und es sind noch so unendlich viele, immer wenn man meint, man habe einen zertrümmert, wächst ein neuer nach, es ist so anstrengend und die Arbeit nimmt kein Ende (Sisyphos ist sowieso, das wurde bisher übersehen, ziemlich sicher eine Frau). Das Buch wird ein Bestseller, es wird das Fundament des modernen Feminismus, auch wenn wahrscheinlich nur wenige die beinahe tausend Seiten gelesen haben, die von wahrlich grundlegender Recherche und Arbeit, von den redlichen Mühen der Argumentation, von Klarsicht und Energie, aber auch von den unvermeidlichen Risiken der Voreingenommenheit durch die ganz eigene Prägung zeugen. Nur eine Frau wie Simone konnte dieses Buch so schreiben, wie es geschrieben ist, und es ist, durchaus, in Teilen ein Buch für und wider die Frauen, genau wie bei Fanny Lewald. Denn nur so wird man dem Geschlechter-Thema gerecht und nicht selbst im Schreiben zum Mann, zum Einen und Ersten, zum ewigen Gewinner. Befreien müssen sich sowieso beide Geschlechter selbst.
Später wird Simone Sartre in seiner langen Krankheit pflegen, bis zum Tode – und man fragt sich, unwillkürlich: Hätte er das für sie getan? Sie hat alles getan, damit sie nicht zu einer Mythen-Frau „gemacht“ wird; sie hat nicht geheiratet, keine Kinder bekommen, keinen Haushalt gegründet. Und doch, und doch, immer sind sie zu zweit, bis heute, Sartre sagt, es gebe ihn nicht ohne Simone, und umgekehrt, und sie bestätigt ihn. Der Existentialismus jedoch trägt das männliche Markenzeichen, den schwarzen Rollkragenpullover; wäre es nicht denkbar, dass er auch Simones Turban tragen könnte? Vielleicht ist es ein Gewinn, dass sie untrennbar waren, dass sie Gedanken teilten, politische Ziele und eine Zeitlang das Bett. Vielleicht ist es aber auch, man wagt es kaum zu denken, ein Verlust, für den Simone bezahlen musste: die Gefährtin, die Geistes- und Kampfgenossin, die ewige zweite. Was wäre gewesen, wenn sie es gewagt hätte, ein Kind zu bekommen – nicht, weil es die Norm verlangte, sondern aus freier Wahl, als letztes Argument gegen die Absurdität? In Das zweite Geschlecht kommt das Kinderbekommen nicht gut weg; es behindert die Frau in ihrem freien Selbstentwurf, es belädt sie mit einem zweiten Wesen, es erinnert sie an ihren Körper, der sie an die Immanenz fesselt, immer noch, immer wieder: Sisyphos darf nicht schwanger werden, noch nicht einmal als Frau. Vielleicht hätte er es trotzdem wagen sollen. Fortan würde er Kinderwägen bergauf schieben, denn auch das kann man aus freier Wahl tun – für einen Anderen. Einen dritten.
Irgendwann würden sie zum Leuchtturm fahren. Er war gewöhnlich gut zu sehen von ihrem Haus an der Küste aus; außer es war Nebel, oder die Wellen schlugen so hoch ans Ufer, dass man gar nichts mehr erkennen konnte. Natürlich musste der Vater oder die Mutter mitkommen, aber das würde sich doch einrichten lassen. Eines Tages würden sie ganz sicher dorthin fahren, mit dem Boot. Die Eltern hatten es ja versprochen.
Aber man konnte sich nicht auf die Eltern verlassen. Die Mutter – sie war eine berühmte Schönheit gewesen - starb, als sie dreizehn Jahre war, Virginia erlitt ihren ersten Nervenzusammenbruch und das Haus an der Küste wurde verkauft. Der Halbschwester Stella führte nun den Haushalt und wurde auch die Ersatzmutter für Virginia – bis Stella selbst heiratete und auszog und wenig später starb, noch auf der Hochzeitsreise, an einer Bauchfellentzündung. Einige Jahre später starb der Vater; er war ein bekannter Literat und Biographist gewesen, die Queen hatte ihn geadelt und im Haushalt verkehrten berühmte Leute; er war nicht einfach gewesen, eine dominierende Persönlichkeit, und Virginia bekam wieder einen Nervenzusammenbruch. Dass dann aber noch zwei Jahre später der Lieblingsbruder starb, bei einer Griechenlandreise an Typhus, war mehr als man tragen konnte; fortan würden sie die Depressionen begleiten, ein dunkler Schatten auch über den hellsten Zeiten.
Aber in gewissem Sinne war der Tod des Vaters auch eine Befreiung. Die junge Virginia war zuhause unterrichtet worden, und seit sie denken konnte, wollte sie das gleiche wie ihr Vater: Schriftsteller werden – und das war ein Beruf, der zu dieser Zeit allein in männlicher Form existierte. Man lebte natürlich noch im viktorianischen Zeitalter, selbst als liberal gesinnte Intellektuelle; und der Platz der Frau war im sitting room, wo sie die Gäste empfing. Natürlich konnte sie gebildet sein, brillant sogar, aber ihr Platz war im Haus. Ihre Brüder gingen hinaus ins Leben und studieren und in den Krieg, aber Virginia, die nach Bildung hungerte wie selten eine Frau vor ihr, durfte nicht studieren. Aber als der Vater gestorben war, zog sie zu ihrem Bruder nach London; hier versammelten sich die jungen Intellektuellen, eine ganz neue Generation, und man diskutierte, rauchte, reiste, dachte sich wilden Schabernack aus. Natürlich bekam sie den einen oder anderen Heiratsantrag, schließlich war sie nicht umsonst die schöne Tochter einer schönen Mutter. Aber man konnte nun zum Beispiel, und genau das tat Virginia, einen Mann heiraten, dem man zwar sehr zugetan war, der klug war, freundlich und so großzügig, dass es gar nicht nötig war, in ihn verliebt zu sein. Nein, Virginia und Leonard waren Geistesverwandte, sie leben und dachten und arbeiteten gemeinsam, sie kauften ein Haus, sie gründeten einen Verlag und sie schrieben. Von Kindern hatte der Arzt abgeraten – Virginias Gesundheit sei zu schwach. Man weiß nicht, ob das vielleicht einer der Gründe war, aber der dunkle Schatten kam wieder, und diesmal versuchte Virginia zu ersten Mal sich das Leben zu nehmen. Sie wurde gerettet, und es war ein Glück für die Literatur – denn sie hatte zwar bisher schon erfolgreich für Zeitungen und Zeitschriften geschrieben, aber noch keiner ihrer großen Romane war erschienen.
Nun aber schrieb Virginia, sie druckten die ersten Romane auf ihrer eigenen Presse, handgesetzt, in kleiner Auflage. Ihre Romane wurden immer größer, sie zogen immer weitere Kreise; sie waren erzählerisch neu und gewagt, sie benutzten die Technik des Bewusstseinstroms, die James Joyce eben erst berühmt gemacht hatte – aber was war das für ein Unterschied, dass es nun ein weibliches Bewusstsein war, durch den die Dinge strömten, Gedanken, Gefühle, Erlebnisse, Träume; in einem weiblichen Kopf, in dem so viele andere Dinge ihren Platz finden mussten wie in dem eines Mannes? Mrs. Dalloway will eigentlich nur ein Fest ausrichten, es ist ein großer Tag, was ist nicht zu alles tun und zu bedenken, es ist nicht mehr oder nicht weniger als ein Feldzug im Krieg! Und während Mrs. Dalloway all die kleinen Dinge tut, die erforderlich sind, zieht ein ganzes Leben vorbei, nein, mehrere Leben, eng miteinander verknüpft, und noch die kleinsten alltäglichen Handlungen gewinnen unendliche Bedeutung in diesem klugen, selbstbewussten, originellen und gefühlvollen weiblichen Kopf! Es waren sensationelle Romane; und sie waren es nicht, weil sie von einer Frau geschrieben wurden, sondern weil sie von einer klugen, sensiblen, künstlerisch mutigen und menschlich reifen Frau geschrieben wurden, die sich nicht eine Minute dafür schämte, dass die Literatur jetzt weiblich wurde, dass ein Einkauf die gleiche Bedeutung bekommen konnte wie ein Feldzug; oder dass jetzt endlich der Körper zu seinem Recht kam, auch der kranke, empfindliche, fragile Körper der Frau; oder dass die Herstellung eines Menüs so sprechend sein konnte wie ein ganzes Parlament voller Männer, die sowieso nur immer dasselbe sagten und dumm genug waren, um immer wieder den gleichen Krieg zu führen. Es waren Romane, die von einer anderen Welt erzählte – aber diese andere Welt war immer da gewesen, es hatte nur keiner von ihr erzählt, und alle Frauen, begeisterte Romanleserinnen seitdem der Roman erfunden war, hatten damit leben müssen, dass immer nur Männergeschichten erzählt wurden, von Männern für Männern, und dass diese Männer ihnen vor-schrieben, wie sie sein sollten, denken sollten, fühlen sollten.
Virginia aber schrieb über Dinge, über die noch nie ein Mensch in einem Roman geschrieben hatte. Sie schrieb gerne auch Essays, wie ihr Vater, eine besonders männliche Form der Literatur: gedankengeladen, formvollendet und doch leicht sollten sie sein, Glanzstückchen des gehobenen Literaten, kleine funkelnde Meisterwerke, denen man die Mühe gar nicht ansah, die in sie geflossen war, das Denken, das Erleben, die mühsame Arbeit mit der Feile. Virginias Essays waren nicht nur brillant und klug, sie waren auch poetisch. Sie konnte beschreiben, wie man in den Straßen nach London nach einem neuen Bleistift jagt – und es war nicht nur ein neues unverbrauchtes Thema, es war auch ein wichtiges: Denn man trifft die unterschiedlichsten Menschen auf der Straße und ihre Geschichten, und hinter jeder Straßenecke, in jedem Schaufenster wartet eine andere Welt, wenn man nur genau hinschaut und ein wenig Phantasie hat. Virginia konnte schauen, oh, was hatte sie schauen gelernt! Das, wenigstens, war ein Vorteil, wenn man keine Schulen und Universitäten besuchen musste und nicht in sinnlosen Kriegen abstumpfen und in öden Brotberufen geistig verhungern. Der sitting-room war zwar eine Plage gewesen, aber auch, wie man im Englisch so schön sagt, eine education, ein ganz besonderer Bildungsakt, eine Schule der Beobachtung und Menschenkenntnis. Man kennt das alltägliche Leben hinterher nicht wie seine Westentasche, sondern man kennt die Westentaschen des Lebens; man hat sie gekauft, gewaschen und geflickt, vielleicht sogar gewendet, und was hatte man dabei erlebt und gefunden! Ein Essay, so schrieb Virginia, sollte den Leser verzaubern; er sollte einen Vorhang um ihn ziehen, der ihn von der Welt isoliert und ihn ganz in seinen Bann zieht. Noch nie hatte ein Mann einen Essay so definiert; Männer wissen einfach zu wenig von Vorhängen.
Nachdem sie endlich genug Frau und Schriftstellerin hatte sein dürfen, wurde Virginia noch freier und machte einen Schritt weiter. Konnte man nicht auch Frauen lieben? Man konnte, und es waren andere Liebesbeziehungen als die, über die die Männer schrieben. Konnte man nicht auch sein Geschlecht wechseln? Man konnte; und Virginia schrieb den ersten Roman der Weltliteratur, in dem der Held zuerst ein Mann war und dann eine Frau wurde; und er/sie durchlebte die Geschichte aus wechselnden Perspektiven, durchwanderte die Länder und die Zeiten wie die Geschlechter, ein wahrhaft freier Geist – denn war es nicht so, dass in jeder Frau ein Mann steckte und in jedem Mann eine Frau, und bei manchen Menschen war die eine Seite dominant und bei manchen die andere, aber nur beide zusammen ergaben ein Ganzes. Konnte man nicht schließlich fordern, dass es eine Selbstverständlichkeit sein sollte, dass Frauen schreiben? Sie brauchen dafür nur, so schrieb Virginia Woolf in dem Gründungsmanifest weiblicher Autorschaft bis heute, nur zweierlei: finanzielle Unabhängigkeit (offensichtlich) und ein Zimmer für sich, a room of one’s own. Männer haben immer genug Räume, wo sie für sich sein können; Frauen aber haben nur Räume, in dem sie arbeiten müssen, Funktionen erfüllen, Erwartungen entsprechen. Aber in der Küche kann man so wenig schreiben wie in der Wäschekammer; und auch im sitting room oder dem Schlafzimmer gehört man nicht sich selbst allein, man gehört dem Geliebten oder der Gesellschaft. Um zu schreiben, muss man jedoch sich ganz allein gehören können. Man muss bei sich sein, und nicht bei den anderen, und zwar ungestört, ohne ständige Unterbrechungen und Ablenkungen. Und dann kommt vielleicht, vielleicht jener wundersame Genius, den man niemals mit Gewalt bezwingen oder herbeibefehlen kann, und lässt die Gedanken strömen und die Worte – bis es wieder an der Türe klopft und jemand etwas will, die Wäsche geholt werden muss oder das Abendessen vorbereitet.
Mehrere Romane später kam der Zweite Weltkrieg, und die Schatten wurden tiefdunkel. Der Ehemann war Jude, es hatte niemals eine Rolle gespielt in ihrer langen, ruhigen Partnerschaft. Gemeinsam würde man aus dem Leben gehen, wenn die Nazis kämen, so beschlossen die beiden, und man kann sich vorstellen, dass sie auch dabei ganz ruhig blieben. Die Nazis kamen nicht, aber Virginias Depressionen wurden wieder stärker; sie hatte psychotische Phasen, in denen sie Stimmen hörte, sie war dann nicht mehr sie selbst. Und so entschloss sie eines Tages, ihrem Ehemann ein Stück voran zu gehen. Sie füllte sich die Taschen ihres Mantels mit Steinen und ging zum Fluss, und dann ging sie in den Fluss, und erst drei Wochen später fand man ihre Leiche. Und das sagt sich so sachlich, aber es ist unendlich furchtbar, sich das vorzustellen, aber das muss man tun, wenn man davon schreibt, man muss es ganz tun und ehrlich, und man hätte diese Frau nicht verdient, wenn man sich nun davor drückte die Szene innerlich auszumalen: Wie sie die Steine wählt, sie müssen schwer sein, aber auch in die Tasche passen (was trägt man für einen Selbstmord?). Es muss ein unbeobachteter Moment sein, aber man kennt die Umgebung, man wählt den Zeitpunkt klug, man will niemand belasten, der zufällig Zeugen sein könnte. Und dann schreibt man die letzten Zeilen an den Mann, mit dem man sein Leben geteilt hat, man schreibt vielleicht mit der gleichen Feder – nein, wahrscheinlich gab es dafür eine Schreibmaschine. Aber Schreiben war Virginias Leben, und nun schreibt sie: „Ich glaube nicht, dass zwei Menschen glücklicher hätten sein können, als wir es waren“. Es gab sicherlich keinen Leuchtturm am Fluss Ouse, in dem Virginia Woolf ihr Leben beendete; aber vielleicht wird die Szene erträglicher, wenn man sich vorstellt, dass sie einen Leuchtturm sah, als letztes, in der Ferne; und dass sie ganz sicher war, dass sie ihn nun, endlich, erreichen würde.
Er war einer der wenigen Ingenieure in der Literaturgeschichte. Tatsächlich, er hat ein Maschinenbau-Studium nicht nur angefangen, sondern es auch vollendet, er war ein richtiger, diplomierter, österreichischer Ingenieur, und er hat sogar etwas erfunden, den nach ihm benannten Musilschen Farbkreisel nämlich. Er war auch beim Militär, und er hat, tatsächlich, im Ersten Weltkrieg gekämpft, am Ende war er Landsturmhauptmann und hatte mehrere militärische Auszeichnungen bekommen. Vorher aber hatte er eben noch Philosophie und Psychologie studiert, und, tatsächlich, sogar promoviert; die ihm angebotene Habilitationsmöglichkeit, die allergrößte Ehre der Gelehrtenwelt, hat er aber abgelehnt. Er wollte lieber freier Autor werden. Aber davon, so fleißig er Theaterkritiken und Rezensionen und hochintelligente Essays schrieb, konnte man nicht leben, noch nicht einmal, wenn man nur sich selbst und eine Ehefrau versorgen musste. Die Sorge ums tägliche Brot wurde ihr täglicher Begleiter; manchmal fanden sich Unterstützer, im Freundeskreis, mit wachsender Bekanntheit auch anderswo; aber es war immer zu wenig, und es war demütigend für einen hochintelligenten Menschen, der sich leicht mit einem Brotberuf hätte ernähren können, dass er um Geld betteln musste, nur weil er all seine Klugheit und Energie und sogar sein technisches Wissen auf die Literatur verwenden wollte. Er hasste Thomas Mann, den Großschriftsteller, obwohl der Kollege sich sogar persönlich für ihn einsetzte: Der residierte, sogar im Exil in der Schweiz, schon wieder in einer Villa mit seiner Großfamilie, während er, Musil, mit seiner Martha – auch seine Schriften waren in Deutschland natürlich verboten worden – in ärmlichsten Verhältnissen in einem Dorf bei Genf lebte.
Musil aber arbeitete weiter an seinem großen Roman, seit Jahren nun schon, die Jahrzehnte wurden und die die Geduld und die Vorschüsse seines durchaus großzügigen Verlegers erschöpften: dem Mann ohne Eigenschaften, und was war das schon für ein Titel! Romanhelden haben Eigenschaften zu haben, am besten sogar besonders ausgeprägte und ausgefallene, sonst interessiert sich doch kein Leser für sie! Aber eigentlich war Musils Mann ohne Eigenschaften auch kein richtiger Roman, die Welt hatte nur noch keinen richtigen Titel für dieses Projekt gefunden, das der Ingenieur und Offizier mit all der Energie, der geschulten Analysefähigkeiten, dem Sinn für komplizierte Konstruktionen und einem geradezu mathematischen Kalkül verfolgte, viele tausend Seiten lang, mit Entwürfen, Schemata, Varianten, Notizen. Es war eine Analyse des Menschen, der Gesellschaft, der Kunst und der Liebe; es war eine Analyse des Verbrechens, des Wahnsinns, der Kunst und der Liebe; es war eine Analyse von Männern und Frauen, Schöngeistern und Industriellen, Philosophen und Musikern, ja sogar ein verschmitzer Neger mit lief durchs Bild, der Königssohn Soliman, und Kammerzofen und Serienmörder und junge Radikale und Nymphomaninnen und Oberlehrer, und eine der allerklügsten Gestalten unter lauter Möchtegern-Intellektuellen war ein kleiner, dicker General, der sich selbst für dumm und ungeistig erklärte hatte, und es wurden immer mehr, es hörte nicht auf, alles drehte sich wie ein Musilscher Farbenkreisel. Doch während Musil an diesem Monumental-Panorama der österreichischen Gesellschaft vor und nach dem ersten Weltkrieg schrieb, begann sich der zweite drohend am Horizont abzuzeichnen; und der Roman wurde immer düsterer, aber es zeichnete sich immer noch kein Ende ab, weder ein gutes noch ein schlechtes – wie sollte ein Roman über einen Mann ohne Eigenschaften auch ein Ende finden? War ein Ende nicht eine definitive Eigenschaft? Was sollte danach noch kommen?
Musil verschrieb sich weiter in seinem Textlabyrinth, und sollte er verhungern und die Zivilisation nebenbei zugrunde gehen, für die er so sehr kämpfte, auch in ihren technischen, sportlichen oder militärischen Aspekten, über die seine schöngeistigeren Kollegen, bei aller prätendierten Modernität, meist herablassend hinweggingen, um den Geist und das Schöne zu predigen. Musil war nicht eigentlich interessiert an Literatur, ebenso wie seine Figur Ulrich, eine Mathematiker, der sich ein Jahr Urlaub von seinem Leben genommen hatte, aber dann nicht wieder in sein Leben zurückfindet. Ulrich liest nicht und Ulrich schreibt nicht, aber Ulrich redet, er redet mit allen, mit dem kleinen dicken General besonders gern und dem Großindustriellen und den Mächtigen, aber auch der Kammerzofe. Und er kann mit allen reden, eben weil er ein „Mann ohne Eigenschaften“ ist in einer Welt, in der die Eigenschaften sich selbständig gemacht haben und aufeinander losgehen und ihre Konflikte mit immer tödlicheren Waffen austragen. Bei Ulrich weiß man zwar niemals genau, ob er jetzt ironisch ist oder nicht, aber es macht gar keinen so großen Unterschied, denn alles, was er sagt, ist wohldurchdacht und originell formuliert, und man kann daran anknüpfen und es weiterdenken – und dann hat man sich schon selbst in das Romanlabyrinth verstrickt, es ist einem ganz egal, ob der Roman ausgeht oder wie er ausgeht; jede Sackgasse ist es wert, sie zu gehen in solcher Gesellschaft. Denn ein außerordentlich kluger Mann hat diesen Roman geschrieben, und er ist sogar so klug, dass er niemals direkt sagt, was er sagen will – das führt nur zu Eigenschaften und Streitigkeiten und in Sackgassen. Nein, Musil und all seine Gestalten sprechen in Bildern, Analogien, Vergleichen – aber den ungewöhnlichsten Bildern, Analogien und Vergleichen, die die Literaturgeschichte je gesehen hat; sie sind modern, Rennwägen tauchen in ihnen auf und Turngeräte. Aber sie sind nicht etwa dazu da, eine Erkenntnis irgendwie zu bebildern, zu schmücken, es sind keine Kränze, die man um eine Erkenntnis flicht, damit sie freundlicher aussieht, keine honigsüßen Pillen, die eine bittere Moral übertünchen – die Bilder sind die Erkenntnis ganz, sie sind gleichzeitig genau und anschaulich, wer die Bilder nicht versteht, wird weder zur Moral noch zur Erkenntnis vordringen.
Denn das war Musils größte Einsicht von Anfang an, und er hat sie seinem Roman und seinen Essays in so vielen Formen und Varianten eingeschrieben, dass sie kaum zu übersehen ist. Aber sie ist schwer zu verstehen. Es ist die Erkenntnis, dass man nicht alles wissen kann, im positiven Sinne, wie ein Ingenieur eine Formel weiß oder ein Offizier ein Gewehr kennt. Aber das, was man nicht wissen kann, kann man erfahren, sinnlich, anschaulich, lebendig – wie in der Kunst, in der Religion, in der Liebe, aber auch im ganz normalen Leben oder im Wahnsinn. Und das eine – jetzt erst kommt die eigentliche Einsicht! - ist nicht besser oder wichtiger als das andere; der Mensch, das Leben, die Welt existieren zwar in zwei kategorial getrennten Zuständen, die aber nur für praktische Zwecke und wegen der einfacheren Handhabung voneinander getrennt sind, weil Menschen Schubladen brauchen und Eindeutigkeit, das ist ganz in Ordnung und lebenswichtig. Eigentlich jedoch gehören sie vom Ursprung her zusammen, die beiden „Zustände“, wie sie der gelernte Naturwissenschaftler nennt, und das ist ein seltsam charakterloses Wort, wie die „Eigenschaften“; aber wenn man sich vorstellt, dass es Aggregatszustände gibt, chemische oder physikalische Eigenschaften, die miteinander interagieren, sich ineinander verwandeln, kommt man der Sache schon ziemlich nah. Der eine ist, wie Musil es nennt, der „ratiode Zustand“ – unser Standardmodus, in dem wir uns für vernünftige Menschen in einer wissenschaftlich durchschaubaren Welt halten und nach Gründen und Zielen handeln und moralische Entscheidungen über Gut und Böse treffen. Aber sein heimlicher, versteckter Zwillingsbruder (und es ist kein Zufall, dass Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, im Roman eine versteckte Zwillingsschwester hat, die ebenfalls seltsam konturenlose Agathe) ist der „andere Zustand“ – in dem die Grenzen auf einmal zerfließen, in dem die Zeit stehen bleibt, in dem unsere Vernunft versagt und wir ganz im Augenblick auf eine seltsame Weise einig mit uns selbst und der Welt sind; und dieser Zustand ist gleichzeitig berauschend und gefährlich wie notwendig und unentbehrlich für eine Menschheit zur Entwicklung ihres gesamten, sagen wir auch das im naturwissenschaftlichen Sinn: Potentials. Das jedoch zeigt uns Musil – und deshalb hat er sich der Literatur verschrieben, allein deshalb – vor allem in einer Sprache, in der Bilder und Begriffe auf eine seltsame Art und Weise interagieren können. Und wenn uns es jemals gelänge, die Bilder sprechend zu machen und die Begriffe anschaulich, wenn beide Welten in kleinen gelungenen Formeln oder gar in großen, unabschließbaren Romanen interagierten, aber nicht nur irgendwie interagierten, sondern so miteinander kommunizierten, dass der eine Zustand vom anderen lernt, an ihm partizipiert, das Denken bildlich verflüssigt wird und die Anschauung begrifflich verfestigt – dann wäre es vielleicht, vielleicht möglich, beiden Zuständen zu ihrem Recht zu verhelfen, bevor der große Krieg kommt: mit Gewalt, der stärksten Eigenschaft von allen, und mit zur Propaganda vereindeutigten Sprach- und Feindbildern.
Und so schrieb und schrieb Robert Musil, gegen die Zeit, gegen die Armut, gegen die Gewalt, gegen den immer weiter anwachsenden Textberg. Und an einem Apriltag, vielleicht war der Frühling schon in der Luft, schrieb er, wie schon an den Tagen zuvor, an einem besonderen Kapitel: „Atemzüge eines Sommertages“ hieß es, und er schildert, wie ein Strom weißen Blütenschnees durch den frühsommerlichen Garten schwebt, und wie Ulrich und Agathe bei seinem Anblick plötzlich im „Tausendjährigen Reich“ angekommen sind, wo das Wollen und das Denken, wo Leben und Tod zusammenfallen und die Zeit stillsteht, und es gibt keine getrennten Zustände mehr, sondern nur noch diesen einen, definitiven Moment der Vereinigung. Und über dem Schreiben ausgerechnet dieses Kapitels stirbt Robert Musil, 62jährig, an einem Hirnschlag, von einer Minute zur anderen. Sein Roman blieb unvollendet und seine Asche wurde in einem Wald am Genfer See verstreut; und vielleicht hat sie, falls es ein schöner Apriltag war, einen Blütenzug durch die Luft angetreten und sich dann in alle Winde verstreut.
Er hatte immer ein schlechtes Gewissen, sein Leben lang. „Hinter die Schule gelaufen“ sei er, der Patriziersohn aus dem traditionsreichen Handelshaus, im wörtlichen Sinne wie im übertragenen: kein Abitur, dafür zwei Jahre Italien mit seinem Bruder; kein Studium, keine Ausbildung – aber dann ist doch, tatsächlich, ein Dichter aus ihm geworden, der mit dem Nobelpreis seine verdiente Dichterkrone bekam. Aber ein bisschen ist er immer, das sah er selbst so, ein Hochstapler geblieben, und sein Felix Krull hat ihn sein Leben lang als Schatten begleitet. Und was hat er gearbeitet, dieser durch und durch bürgerliche Dichter, mit welcher Disziplin, mit welchem Arbeitsethos, welch moralischem Verantwortungsbewusstsein: die Tage säuberlich eingeteilt wie noch jeder Kontorist, jeden Morgen zur gleichen Zeit saß er an seinem Schreibtisch (später auf seinem Sofa), um die immer größer werdende Familie um ihn herum zu ernähren. Die Familie hingegen hatte Rücksicht zu nehmen, wenn der Zauberer, wie sie ihn halb liebe-, halb respektvoll nannten, arbeitete – an seinem kontinuierlichen wachsenden Werk, der stetig sich einstellenden öffentlichen Anerkennung, aber auch dem Geld für die Villen, die Reisen, die Autos. Und als er den Nobelpreis bekam, endlich, endlich, und die vielen Ehrungen, sogar mehrere Ehrendoktorwürden waren dabei für den verbummelten Schüler ohne Abitur, da war es nur der gerechte Lohn, nicht mehr. Und er ging von Lübeck in die Welt und wurde, beinahe gegen seinen Willen, ein Weltbürger; aber sein Schreibtisch begleitete ihn überall hin, auf dem die „Sächelchen“ ihre strenge Ordnung hatten und das Werk geschah – und ginge dabei die Welt zugrunde in dem großen Weltkrieg, in dem seine Söhne kämpften und seine älteste Tochter, auf ihre je unterschiedliche Art und Weise, meist jedoch mit der Feder und dem großen Namen im Rücken.
Aber nichts davon wäre möglich gewesen ohne die Eine, die er in jungen Jahren umworben und, man muss es tatsächlich so sagen, gefreit hatte: die apart dunkeläugige und verdächtig kluge junge Frau aus besten Elternhaus, der die Welt offen stand, mit ihrer Schönheit, ihrer Klugheit, ihren Verbindungen und dem eisernen Willen, den sie nun, nach reiflicher Überlegung, in den Dienst des großen Mannes gestellt hatte; und sie sah niemals zurück. Man könnte sagen, dass dies die größte Leistung des Hinter-die-Schule-Gelaufenen war: sich klug im Bürgerlichen zu befestigen mit eisernen Banden, mit wachsender Kinderschar (und war es nicht hinreißend, wie sie pärchenweise zum Vorschein kamen, immer Mädlein und Büblein, und so talentiert und charmant!), und, weil es sich so gehörte, auch mit wechselndem Dienstpersonal, aber immer einem Hund an seiner Seite, dem Hausherrn untertan. Es war das Opfer, das er dem Werk bringen musste, sonst wäre er ein Hochstapler geblieben und hätte haltlose Literatur geschrieben, wie so viele vor und um ihn herum: ästhetizistische Traum- und Scheinwelten, von keiner tieferen Bedeutung, Schaumblasen auf dem Geschmack der Zeit tanzend und mit ihr vergehend. Und es wäre so viel einfacher gewesen, hinter die Schule zu laufen; aber er gab jeden Tag am aufgeräumten Schreibtisch ein Stück seines eigenen Lebens dahin, und welches Opfer es ist, sich als Bruder Hitlers zu sehen oder mit dem leibhaftigen Teufel über die Liebe seines Lebens zu verhandeln, haben sie niemals verstanden, all die Literaten mit den großen Worten und den großen Ideen und ihrer Hochnäsigkeit gegenüber dem braven Bürger und seinem biederen Alltagsleben. Als er nach einem reichen Leben eher unspektakulär an einer Arteriosklerose starb – er selbst hatte noch gar nicht damit gerechnet -, da war auch das ein bürgerlicher Tod: Einmal bereits war er dem Tod von der Schippe gesprungen, es war ein Lungenkrebs gewesen, den man ihm sorgsam verschwiegen hatte, die gerechte Strafe für sein Zigarren-Laster. Aber Katia hatte es nicht zugegeben: Das wäre kein Tod für einen Bürger gewesen, sondern für einen Hochstapler, der unverbesserlich mit seiner Zigarre hinter die Schule läuft, weil er es nicht lassen kann.
Er hätte es ganz sicher nicht so gewollt: Dass sein Name in aller Munde ist. Dass ein Adjektiv nach seinem Namen gebildet, wird, kafkaesk, und keiner weiß genau, was es bedeutet, es kann alles oder nichts bedeuten, das ist eben das Kafkaeske daran, aber er hat sein Leben lang gekämpft um die genaue Bedeutung, das präzise Wort. Dass Bücher über ihn geschrieben werden, Berge von gelehrten Abhandlungen, Deutungen über Deutungen, und schlimmer noch: über ihn selbst, über sein kleines verborgenes Leben, das er selbst so schwer genommen, aber auch tapfer gelebt hat. Dass Abiturienten Schulaufsätze über sein schwieriges Werk schreiben müssen, junge Menschen, die das Leben noch vor sich haben und die nun verführt werden, alle ihre jugendlichen Sorgen und Nöte auf einen dunklen Andern zu projizieren: der Vater ist schuld, immer der Vater, oder die Gesellschaft mit ihren starren, unmenschlichen Normen, alles eine große imaginäre Versicherungsanstalt, schlossartig bedrohlich. Und so stehen sie vor dem Tor, wartend, hoffend, dass ihnen geöffnet wird und dass dann das richtige, das eigentliche Leben beginne; und nicht einmal kommen sie auf die Idee, einfach am Türhüter vorbeizugehen und das Tor zu öffnen und ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Kafkaesk.
Nein, er hatte das alles nicht gewollt. Denn Kafka, das wissen nur wenige und es wird in der Schule auch nicht gelehrt, war gar nicht so kafkaesk. Er ging regelmäßig schwimmen, auch im Winter; er besuchte gern das jiddische Theater und liebte das Kino. Seinen Job bei der Versicherungsanstalt hat er ganz sicher nicht geliebt, aber das hat man damals auch nicht erwartet; seine Vorgesetzten jedenfalls waren sehr zufrieden mit seinen Leistungen, beförderten ihn regelmäßig und akzeptierten seine häufige krankheitsbedingte Abwesenheit. Natürlich, das Verhältnis zu dem autoritären Vater war eine Katastrophe, aber er war sicherlich nicht das Einzige mit einem dominanten Vater in dieser Zeit, und Freuds Theorien darüber nahm er zur Kenntnis, ohne sich sonderlich dafür zu interessieren. Ja, Kafka hat sogar, es ist bezeugt, gelacht; als er seinen Freunden – und ja, er hatte Freunde, gute sogar! – das erste Kapitel seines Romans Der Prozeß vorgelesen hat, konnte er vor lauter Lachen nicht mehr weiterlesen. Den Roman, in dem die ganze Moderne ihr eigenes Elend so unvergleichlich geschildert und symbolisch aufs höchste verdichtet fand, fand sein eigener Autor unsterblich komisch. Und war es nicht auch zum Totlachen, wie ihm alle auf den Leim gingen? Wie sie sich in seine komischen Protagonisten vergafften, wie sie alle zu hilflosen, ausgelieferten K-Clones wurden, weil es ja so einfach war, sich dem verführerischen Sog des Geschehens hinzugeben, sich ausgeliefert zu fühlen, ganz Opfer zu werden – und dabei all die Signale zu übersehen, die der Autor so sorgsam eingebaut hatte: „Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hatte, wurde er eines Morgens verhaftet“ – ja, was war denn das um Himmelswillen für eine Logik der Paranoia? „Just because you’re paranoid doesn’t mean they are after you?” Nein, es war durchaus auch möglich, das alles lustig zu nehmen und sich nicht von der eigenen Paranoia einfangen zu lassen.
Denn schließlich ging es ihm sowieso um etwas ganz Anderes. Kafka war auf der Suche nach dem perfekten Satz; und dann nach dem perfekten Anschluss für einen zweiten perfekten Satz – und danach nach dem Dritten. Seine Tagebücher verzeichnen Satzembryonen und Fehlgeburten; ein Satz nimmt einen Anlauf, scheitert, nimmt einen neuen Anlauf, ändert den Rhythmus ein wenig, scheitert; nimmt wieder einen Anlauf, diesmal mit größeren Schritten – und so fort, und nur selten schafft es ein Satz bis zur eigenen Vollendung, von Anschlusssätzen ganz zu schweigen. Kafka war selbst sein strengster Richter, und er ließ nur sehr wenige seiner Texte vor diesem Urteil passieren. Dass ihn am Ende ausgerechnet sein allerbester Freund verraten würde und all das Versuchsweise, Gestrichene, Verworfene, ja beinahe noch Ungeborene nicht weisungsgemäß verbrennen, sondern der Öffentlichkeit in ihren gierigen Rachen werfen würde, damit sie es wiederkauen und wiederkauen ohne Ende – er hätte es nicht gewollt, genauso wenig wie den ganzen kafkaesken Rummel um seine Person. Lieber ein Käfer bleiben und in Würde sterben.
Aber Kafka war auch kein Käfer geblieben; er hatte sogar sein so lang verteidigtes Junggesellentum am Ende aufgegeben, als er Dora Diamant traf. Das war ein Name, wie er ihn nie in einem seiner Texte verwendet hätte, ein Name voll Klang und Versprechung; und sie war 25, sie war keine ambitionierte Intellektuelle, sondern eine jüdische Kindergärtnerin, und sie versöhnte ihn endlich mit dem Leben. Sinnesfreudig sei er gewesen, hat sie später berichtet, als er schon immer kafkaesker gemacht wurde, verspielt, lebenslustig. Er hatte viel nachzuholen, aber die Zeit war ihm nicht vergönnt. Seine Tuberkulose verschlechterte sich, und Dora pflegte ihn, bis zu seinem Tod. Kafka starb mit 41 Jahren, und es ist zu hoffen, dass der große Torhüter vor dem Gesetz ihn mit diesen Worten empfangen hat: „Diese Tür war nur für dich bestimmt, und ich öffne sie jetzt für dich; denn du warst brav und tapfer dein Leben lang“. Vielleicht hätte er, wenn ihm noch einige Jahre mit Dora Diamant geblieben wären, endlich den großen komischen Roman geschrieben: „Die Erlösung“ hätte er heißen können, und es wäre so kafkaesk in ihm zugegangen, dass alle vor Lachen vor den Stühlen gefallen wären. Die Moderne hätte einen tragischen Helden verloren und die Literaturwissenschaft einen ihrer liebsten Gegenstände, an dem sie sich abarbeiten wird, bis sie selbst zu einem Käfer geworden ist, schrullig und unverständlich, mit dem keiner mehr spielen will; und am Ende hätte sie sich aus ihrem Elfenbeinturm gestürzt, weil ihr das Urteil gesprochen war, und der unendliche Datenverkehr wäre über sie hinweg gegangen. Aber Kafka hätte es so gewollt.
Wie viele Tode muss man gestorben sein, bevor man, endlich, wirklich sterben darf? Das ist eine Frage, die vermeintlich nur Romantiker stellen – also Menschen, die ihre Wahl zwischen Leben und Sterben längst getroffen haben: Nur der Tod kann die letzte und größte Sehnsucht von allen erfüllen, nämlich die nach Unendlichkeit, nach ewiger Fortdauer, nach dem Sieg des Geistes über das verrottende Fleisch; das Leben hingegen ist eine Reihe kläglicher Kompensationsversuche, eine schwache Vorübung, eine einzige Enttäuschung. Aber vielleicht stellen doch nicht nur Romantiker, die vom Leben allzu viel erwarten, diese Frage? Vielleicht sind es auch Menschen, die im Gegenteil vom Leben allzu wenig erwarten, die sich in gleichem Maße zum Tode drängen, am Tode hängen, also: Melancholiker, Depressive? Denn das Leben, im kalten Licht der Vernunft betrachtet, ist eine einzige Wiederholung: zu oft gesehen, nichts rührt sich mehr in einem, gar nichts, warum soll man empfinden, wenn man doch genauso gut sterben kann und endlich, endlich Ruhe haben vor den Zumutungen, die das Leben täglich stellt, Wiederholungen, Entscheidungen, Gefühle, alles Aufwand, sinnloser Aufwand, und wofür? So, wie es verschiedene Lebensarten gibt, gibt es auch verschiedene Todesarten. Man hat die Wahl (falls man, jemals, wirklich die Wahl hat).
Ingeborg Bachmann war eine der letzten Romantikerinnen, zweifellos. In ihren ersten Gedichten schon beklagt sie, dass die Welt ihr nur eines einflößt: ein Lastbewusstsein, kein Selbstbewusstsein. Sie türmt Fragen über Fragen, häuft Klagen über Klagen, aber sie findet keine Antwort dazu, weder von Gott noch von sonst einer metaphysischen Instanz. „Ich frage“ – das ist ihre lyrische Kampfansage an die Welt, eine Variante des „J’accuse“: zwei Sätze ohne direktes Objekt, sie formulieren nur eine Haltung, eine Forderung, dass nämlich endlich Sinn sein soll, egal welcher: Sinn, Antwort, Bedeutung, nur so kann die Last des Lebens gestemmt werden, nur so ist Erhebung möglich (wenn Erhebung, jemals, wirklich möglich ist). Aber die Antworten bleiben aus. Obwohl: Die Liebe, natürlich, sie scheint eine Antwort zu versprechen: Und Ingeborg Bachmann, ein junges Talent aus Österreich, eine Denkerin und Dichterin von Jugend an, wirft sich ihr geradezu an den Hals. Mit sicherem Gespür wählt sie die intellektuellen Alpha-Wölfe ihrer Zeit, Dichter, Komponisten, Literaturkritiker; sie raucht die unvermeidlichen Zigaretten, sie trägt die unvermeidliche Perlenkette zum Kostüm und sie ist dabei, wenn die ganz Großen reden, denken, urteilen, so wie das Männer eben tun. Sie ist auch dabei, wenn sie sie dann verlassen, so wie das Männer eben tun. Aber immerhin, sie lebt ihre Freiheit, in Wien, Rom, Zürich, sie erhält die großen Literaturpreise (wenn auch nicht den größten, den Nobelpreis; aber sie wird wenigstens vorgeschlagen). Sogar der SPIEGEL setzt sie auf sein Cover, den weiblichen Popstar der Nachkriegsliteratur: Es ist ein wohlkalkuliertes Autorenbild, keine Perlenkettchen und Dauerwellen, sondern schwarze Kurzhaarfrisur und existentialistischer Rollkragenpullover, dazu ein androgyner Blick, sehr fern, sehr dunkel. Ist sie eine Frau oder ist sie ein Mann? Es scheint gleichgültig, in diesem Moment; sie ist eine Autorin, sie schreibt Gedichte, die beinahe so hermetisch sind wie die ihres Ex-Geliebten Paul Celan, aber dann doch – weiblicher, bildlicher, ohne auch nur eine Spur versöhnlich oder friedlich zu sein. Denn sie fragt immer noch, fragt und fragt, und sie ist immer noch keinesfalls zufrieden mit den Antworten der Welt. Aber zwischendurch scheint das Meer durch in ihren Gedichten, und man sieht Schiffe, die wagemutig in See stechen. Es gibt schwarze Pferde, gefährlich und kaum zu bändigen, die mit dem lyrischen Ich losstürmen, und wer sich nicht von Ingeborg Bachmann zu der Überzeugung erführen lässt, dass Böhmen doch am Meer liegt, manchmal, irgendwann, der ist für die Lyrik endgültig verloren. Sie kann sich in die Sprache retten, gelegentlich immerhin (wenn man sich, jemals, wirklich in die Sprache retten kann); aber am Ende bleiben es Worte, schöne Worte, Metaphern mit Mandelblüten, Delikatessen für den Connoisseur.
Reisen, Reisen, Männer, Männer, das Verlassenwerden. Krankheit, Depression, man findet keinen Schlaf mehr, auch nicht mehr mit Tabletten, kein Vergessen, keine Ruhe. Es wird ein endloser Kreislauf, kein Entrinnen ist mehr möglich. Und so wendet sich Ingeborg Bachmann den „Todesarten“ zu, ihrem letzten literarischen Projekt. Ein ganzer Zyklus sollte es werden, aber es blieben Fragmente. Eines nur ist vollendet, der Roman Malina, und er endet mit den lakonischen Worten: „Es war Mord“. Aber es ist nicht klar, wer genau tot ist; es ist auch nicht klar, wer der Mörder ist; es ist eigentlich überhaupt nichts klar in diesem Roman einer fatalen Dreierbeziehung zwischen Malina und Ivan und einer Frau, die „Ich“ heißt und keinen Namen hat: Sie ist, allerhöchstens, ein Konsonant, ein Mitlaut zwischen den beiden lauten, nur leicht variierten Selbstlauten A und I, Malina (und liest man nicht Anima, die Seele, mit?) und Ivan, und niemals, niemals bringt sie es in dem ganzen Text dazu, ein Selbstlaut zu werden, ein eigener Ton, eine eigene Erzählung. Und heißt doch „Ich“. Aber ist „Ich“ nicht der allgemeinste Name überhaupt, jenseits aller Identität und Persönlichkeit, für die ein einzelner Name steht? Und sind nicht die Frauen, die liebenden Frauen, genau solche namenlosen Wesen, die den jeweiligen Geliebten aufnehmen und sich in ihm spiegeln und seinen Namen annehmen? „Ich“ verliert sich in der Liebe. „Ich“ ist schon jung von diesem Dorn verletzt worden. „Ich“ ist Schneewittchen, aber Schneewittchen kann nicht mehr schlafen, sie blutet und blutet, rote Tropfen auf weißem Schnee, die Männer sehen nur ihre Schönheit, ihr schwarzes Haar und ihre roten Lippen, sorgfältig nachgezogen mit dem Lippenstift, aber sie sehen nicht, wie Schneewittchen stirbt, wie „Ich“ stirbt, weil es kein Selbstlaut wird. Und als, in einer anderen Erzählung von Bachmann (eine der wenigen mit einer weiblichen Sprecherin!), Undine ihr Abschiedslied anstimmt – Undine, eine Märchenfrau, verführerisch und tödlich für die Männer, die ihr verfallen, aber sie selbst bekommt nur eine Seele, wenn sie liebt, wenn sie ein Mitlaut wird, und wer mordet hier eigentlich wen? -, preist sie die Männer sogar noch ein wenig: Sie haben gut und viel gesprochen, von Motoren und Maschinen zum Beispiel; aber nicht vom Meer und Schiffen und wilden Pferden. Undine aber geht für immer; am Ende von Malina verschwindet „Ich“ in einer Spalte in der Mauer, und es heißt: „Es war Mord“. Und noch einmal: Wer war schuld an dem Mord? Oder ist das nicht die falsche Frage, die fatale falsche Frage des ganzen Jahrhunderts, immer nur: Wer war schuld? Waren nicht eigentlich alle Schuld, oder auch niemand, aber ganz sicher jeder und jede für sich selbst? Ich frage! Keine Antwort. Die Mauer schweigt. Undine ist gegangen.
Sylvia Plath ist so etwas wie die amerikanische Variante von Ingeborg Bachmann, ihre Modulation vom Genre der hohen deutschen Literatur in das der etwas trivialen amerikanischen: ein College-Girl, mit Dates und Plänen und einem Boyfriend. Und sie will sogar eine Zeitlang leben, ganz normal leben – nachdem sie nämlich entdeckt hat, dass sie schreiben kann, wie Bachmann schon in ihrer Jugend. Zwar weiß sie auch bald, dass sie niemals Sekretärin werden will und Kurzschrift lernen (wozu Kurzschrift? Literatur ist das Gegenteil von Stenographie!) oder eine brave soccer mum in den Suburbs, aber sie versucht es mit dem Leben, eine Zeitlang, ganz ernsthaft. Geht nach New York, versucht es mit dem Schreiben und den Männern, es ist wie Sex and the City in Schwarzweiß, und sogar Freundinnen hat sie, gute und böse. Aber irgendwie, irgendwie funktioniert es nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte, die Welt des Glamour und der Autorschaft. Aber sie klagt nicht darüber, sie fragt auch nicht, oh nein, das ist nicht ihre Art. Sie macht einen Scherz daraus, einen bösen, aber gleichermaßen sehr, sehr lustigen Scherz; sie sieht die Welt zwar wie unter einer Glasglocke hervor, aber man kann lachen über das, was man da seltsam verzerrt jenseits der Glasglocke sieht, seht doch, ist es nicht komisch, wie sie sich alle abstrampeln, jeden Tag aufs Neue und doch immer das Gleiche, nur man selbst bleibt allein und sieht, wie komisch ist es, urkomisch, todtraurig, und warum soll man eigentlich noch aufstehen aus dem Bett, wenn alles am nächsten Tag sich wiederholen wird, urkomisch und todtraurig, eine einzige sinnlose Strampelei? Da hilft es nichts, dass sie alle ihre Möglichkeiten vor sich sieht, alles, was man werden könnte: Das Leben ist ein – und das Bild ist seltsam rührend und originell und unpassend zugleich - ein Feigenbaum, die Zweige streben alle noch oben, weit auseinander, und sie tragen Früchte, Werke oder Kinder. Aber wie soll man wissen, welches der eigene Zweig ist, wenn man doch alle Zweige haben will – oder keinen? Wie soll man sich überhaupt entscheiden, wenn es doch keinen Grund gibt, nichts, in dem man wurzelt, sondern nur beliebige Verzweigungen?
An diesem Punkt – und er liegt sehr viel früher als bei Ingeborg Bachmann, die wir noch auf der anderen Seite des Ozeans als Covergirl der Literatur flirten und rauchen sehen –, beginnt Sylvia Plath sehr konkret über Todesarten nachzudenken. Es gibt so viele Möglichkeiten sich selbst von diesem Leben zu befreien, das eben nicht zu wenig Möglichkeiten bietet, sondern zu viele, wie die Äste des Feigenbaumes, und an jedem Ende sitzen ein Tod und ein Leben. Und macht das überhaupt einen Unterschied? Bleibt nicht alles, Leben und Sterben, seltsam entfernt, gedämpft, unattached? Schauen einem, wenn man in den Spiegel schaut, nicht viel zu viele Gesichter an, jeden Tag ein anderes, und niemals stellt sich spontan die Empfindung ein: Das bin Ich! Denn Sylvia Plath ist, und man kann nicht genug betonen, wie klinisch und pathologisch und wie wenig eingebildet oder irgendwie psychosomatisch, nein, sie ist im Vollsinn des medizinischen Krankheitsbildes: depressiv; so wie ihre Mutter es war, so wie ihre eigenen Kinder es werden – ein Stoffwechselproblem im Gehirn, eine genetische Anlage, was auch immer, eine Ungerechtigkeit auf jeden Fall und doppelt fatal für eine Autorin. Denn eine Depression ist nicht etwa ein Leiden an zu viel negativer Emotion: Es ist ein Leiden an dem Fehlen jeglicher Emotion, eine erbarmungslose Rationalität, die die Wirklichkeit all der freundlichen Schleier entkleidet, mit der sie sich der „normale“ Mensch lebbar und verträglich macht: Positiv denken, es geht immer wieder bergauf, es gibt eine Lösung für alles und ein gutes Ende, und morgen ist auch noch ein Tag – oh nein! Es geht weder bergauf noch bergab, es geht immer im Kreis, und dafür gibt es keine Lösung, auch kein Ende, sondern nur das ewig Gleiche, die ewige sinnlose Wiederholung, und der nächste Tag ist die schlimmste aller Drohungen! Und ein Schmerz wäre so willkommen wie eine Freude, vielleicht noch willkommener; aber beides bleibt draußen, jenseits der Glasglocke, fremd, abstrakt, unattached.
Sylvia Plath nimmt es mit Humor, und zwischendurch zerreißt es einem das Herz, ihr dabei zuzusehen, in ihrem einzigen Roman, ihrer eigenen Geschichte, der Bell Jar. Man folgt einem Zweig des Feigenbaumes, man versucht es, wirklich. Man begibt sich in Behandlung, man versucht es (und die Ärzte wissen nichts, stellt sich heraus, sie können die Glasglocke nicht durchbrechen). Man bekommt sogar Kinder, dieses Wirklichste von allen. Nichts. Man schreibt Gedichte, ziemlich gute, und findet Anerkennung. Nichts. Man schreibt einen Roman, unter falschem Namen nichts, nichts, nichts. Der Mann ist schon länger fort, er hat einen betrogen. Nichts. Man versucht in der Wand zu verschwinden, die Glasglocke zu zerstoßen, Böhmen zu suchen, Todesarten, Selbstmordversuche, nichts, nichts, nichts. Bis es am Ende doch gelingt, vielleicht sogar aus Versehen, man wird es nicht mehr wissen. Sylvia Plath ist verschwunden, sie hinterlässt zwei Kinder, einen verzweifelten Ex-Ehemann und eine Reihe von Tagebüchern, die die Hölle auf Erden schildern, die Depression, Tag für Tag für Tag.
Vielleicht treffen sie sich, außerhalb der Wand und jenseits der Glasglocke, die beiden ungleichen Schwestern: die romantische Deutsche, die nicht aufhören konnte mit dem Fragen und die die Liebe niemals aufgab, auch wenn es immer die falschen Männer waren; und die zynische Amerikanerin, die sich kaltblütig zu Tode scherzte und das Wagnis eines Familienlebens auf sich nahm, auch wenn es nicht ihres war, sondern nur ein kleiner Zweig an einem belanglosen Baum, den sie selbst am Ende absägte. Und wenn sie sich gefunden haben, besteigen sie ihre wilden Pferde und ziehen nach Böhmen, das am Meer liegt, niemand wird sie finden dort, und ihre Werke werden einsam dastehen in der Weltliteratur, mutterlos und ohne Nachkommen, mit der Aufschrift: Mein Teil, es soll verloren gehen.
Die Welt ist eine Scheibe. Die Scheibe ruht auf dem Rücken von vier Elefanten. Die vier Elefanten stehen auf dem Rücken einer Riesenschildkröte. Wir haben es geglaubt, wir glauben es noch, wir werden es noch lange weiter glauben – wir, die Fans des unsterblichen Terry Pratchett in allem Erdteilen, inklusive der von ihm erdachten weiteren Welten, und das waren nicht wenige. Terry Pratchett war ein Universum für sich, er ruhte auf dem Rücken aller großen Epiker der Weltliteratur, wie diese auf dem Rücken aller überlieferten und nur ausgedachten Mythologien der Völker, und dann ging er noch ein Stückchen weiter und tiefer. Denn was macht das schon für einen Unterschied, ob eine Welt wirklich existiert oder ob sie ausgedacht ist? Terry Pratchett wurde nicht müde seinen Lesern zu erklären, dass Geschichten nicht etwa aus dem gemacht werden, was irgendwo irgendwie geschieht und hilfsweise „Wirklichkeit“ heißt, sondern dass es gerade umgekehrt ist, dass Geschichten Wirklichkeit machen: Etwas wird wahr (was die Steigerungsform von wirklich ist), weil es erzählt werden kann; und es kommt nur darauf an, die richtige Erzählung zur richtigen Zeit zu finden und sie auf die richtige Art und Weise zu erzählen. Und jeder und jede kann eine Welt durch Erzählen herbeizaubern, egal welchen Geschlechts, Alters, Berufs er ist oder welcher Spezies er mehr oder weniger zufällig angehört; Menschen sind dabei nur eine, nicht eben überlegene, sondern eher banale Spezies neben vielen anderen.
Terry Pratchett aber lebt in all seinen Gestalten, den kleinen, ungewaschenen, der Sprache kaum mächtigen underdogs (kein Speziesmus beabsichtigt, Hunde sind auch nur Zombies!) ebenso wie in dem Tyrannen Vetinari, der so weit jenseits von gut und böse ist, dass er selbst ständig darüber Scherze macht, und niemals weiß man genau, ob man lachen oder sich sehr, oh so sehr fürchten muss! Und Pratchett zaubert allein mit der Sprache; aus jedem Satz kann er eine Pointe machen, ohne jemals albern, obszön oder trivial zu sein; er kennt die Sprache in- und auswendig und wieder zurück und dann ein Stückchen weiter, und gerade wenn seine Figuren stammeln oder stottern oder die Grammatik so verletzten, dass es wehtut, könnte man es nicht besser sagen, sondern nur korrekter. Ganz nebenbei hat er in seinen 37 Romanen jede gesellschaftliche, politische, ökonomische, technische, kulturelle, religiöse Entwicklung von einiger Bedeutung auf unserer partiell-realen Kugelwelt in allen ihren Gründen und Folgen ebenso wie ihren Folgen und Gründen (denn Kausalität ist in der Scheibenwelt nicht die künstlich versperrte Einbahnstraße, die sie auf der jämmerlichen realen Welt ist, damit wir einfache Gehirne es verstehen) so einleuchtend vorgeführt, dass niemand ein Studium oder selbst ernannte Experten dafür braucht, auch wirklich komplizierte Dinge zu verstehen. Es ist ein Triumph des Verstehens und Erklärens, der allein einen Nobelpreis wert gewesen wäre, nicht für Literatur, ach was, sondern für das Verstehen und Erklären der Welt, für das die Literatur nur ein Mittel unter vielen ist. Und es hat schon seinen besonderen Witz, dass in der Scheibenwelt keine Dichter oder gar Literaten vorkommen, wozu auch? Die Wahrheit kann man nicht erfinden, man muss sie erzählen.
Terry Pratchetts wichtigster Gedanke jedoch ist gleichzeitig der schwierigste, und nur wenige Figuren dringen zu ihm vor: Es ist der Gedanke vom Denken der Welt. Es gibt nämlich nicht nur erste Gedanken – das was einem so in den Kopf kommt, wenn man nicht besonders aufpasst und glaubt, die Welt sei eine Scheibe und man selbst ihr natürliches Zentrum, aber ansonsten zu nichts verpflichtet und für nichts verantwortlich. Darunter schlummern die zweiten Gedanken. Sie sind das, was der Kopf aus dem Kraut-und-Rüben-Brei der ersten Gedanken macht, nachdem er darüber besser nachgedacht hat und erkannt hat, dass die Scheibe auf dem Rücken von vier Elefanten steht und er vielleicht doch nicht ganz ihr Zentrum ist, sondern nur ein vergängliches Wesen von sehr begrenzter Einsicht. Am verborgensten aber sind die dritten Gedanken. Sie sind Gedanken, die die Welt in unserem Kopf denkt. Man kann sie nur hören, wenn man über all dem Lärm der ersten und die etwas ruhigeren Stimmen der zweiten Gedanken hinweg sehr sorgfältig lauscht und dabei, für einen Moment nur, ganz vergisst, wer und was man ist und was man eigentlich genau wollte und ob nicht eigentlich ganz jemand anders dafür zuständig ist – dann, nur dann spricht die Welt zu einem, sie spricht die Wahrheit (warum sonst sollte sie überhaupt sprechen?), und man ist bis zur Schildkröte auf dem Grund vorgedrungen, zu einem wahren Schüler von Terry Pratchett und einem wahren Philosophen geworden.
Dann, aber nur dann kann man es vielleicht auch mit dem TOD aufnehmen, so wie es Pratchett gemacht hat, vom ersten seiner Scheibenwelt-Romane an: nicht ohne Schrecken, aber gelassen, humorvoll, verzeihend – der TOD hat auch nur einen Job, und den macht er schon ziemlich lange ziemlich gut, und wo wären wir schließlich ohne ihn? Jemand muss ihn erzählen, es hilft nichts. Terry Pratchett aber, und das ist das wahrhaft Unausdenkliche und ein Beweis dafür, dass die Geschichten, die die phantasielose Wirklichkeit selbst schreibt, nicht immer die Besten sind, erkrankte mit knapp sechzig Jahren an der Alzheimer-Krankheit; er, der von der Queen zum Ritter geschlagene Jongleur von Welten, der Schöpfer unsterblicher Gestalten und Geschichten, der Zauberer der Worte, der Philosoph der dritten Gedanken, musste es erleben, dass er nach und nach die Herrschaft über seine eigene Sprache, seine eigene Erinnerung, seine eigene Welt verlor. Es ist nahezu sicher, dass er sich nicht vor dem TOD fürchtete; es war sein guter Bekannter, er hatte einen schwierigen Job, und er machte ihn gut. Aber seine eigene Geschichte hätte ein besseres Ende verdient gehabt.