26 Alltagsbegriffe philosophisch durchleuchtet
Inhalt
All-Inclusive * Bonusmeilen * Cool * Design * Entsorgung * Formel 1 * Geiz (ist geil) * Heuschrecke * Innovation * Jogging * Korrekt, politisch * Leuchtturm * Monopoly * Netzwerk, soziales * O-Ton * Passwort * Quantensprung * Reality TV * Star Trek * Twittern * Umfrage * Visualisierung * Wikipedia * XXL * Yeti * Zickenkrieg
Leseprobe
Liebe Leserin, lieber Leser,
bei der Lektüre des Titels dieses Buchs mögen Sie ins Grübeln geraten sein: Ist denn mein Alltag wirklich philosophisch? Ist er nicht eher mausgrau, allzu alltäglich und gar zu trivial, immer viel zu stressig und höchstens dann und wann aufgehellt von einem unerwarteten Sonnenstrahl oder einer unverdienten Freundlichkeit – aber philosophisch, bedeutungsvoll oder tiefgründig? Und selbst wenn er das wäre, was nützt es mir bitte? Philosophie ist für alte Männer mit langen Bärten, die nichts Besseres zu tun haben, als sich mit dem Sinn des Lebens zu beschäftigen und darüber auch noch dicke Bücher zu schreiben!
Lieber Leser, dies ist kein dickes Buch, und die Autorin trägt keinen Bart, auch keinen philosophischen. Und Ihr Alltag ist und war schon immer philosophisch, egal ob sie das wollten oder wussten. Alles, was mit dem Menschen zu tun hat, ist von vornherein philosophisch, und zwar nicht nur sein Denken oder was er dafür hält, sondern sein Leben insgesamt (das wussten die „Lebens“-Philosophen aller Zeiten, und die „Schul“-Philosophen haben es nur nicht zugeben wollen). Und nichts ist so unbedeutend oder eintönig, dass man nicht den einen oder anderen, oberflächlichen oder tiefen, neuen oder schon etwas angegrauten Gedanken dazu fassen könnte. Ob diese Erkenntnis Ihnen allerdings nützt (und wozu?), ist eine andere Frage – die Sie aber besser nach Lektüre dieses Buches beantworten sollten (und dann hoffentlich positiv).
Nun ist es ja nicht so, dass es keine philosophischen Begriffswörterbücher gebe, im Gegenteil: Sie füllen Regalbretter, Bibliotheken,Kataloge, meterweise und höchstwahrscheinlich schwer verstaubt. Es ist allerdings sehr wahrscheinlich, dass Sie viele derjenigen Dinge, die Ihren allzu-alltäglichen Alltag prägen, gerade nicht in diesen Kolossen des Wissens finden werden - wir alle sind nämlich zu Beginn des 21. Jahrhunderts umgeben von einer Flut neuer Wörter. Sie brechen über uns herein, aus dem virtuellen Kosmos des Internet, der globalisierten Wirtschaft, dem Dauerfeuer der Medien - und täglich werden es mehr. Verstehen Sie Ihren Alltag wirklich noch?
Aber, werden Sie sagen, liebe Leserin, dafür gibt es doch Google, Wikipedia, das ganze grenzenlose WWW! Wer braucht da noch verstaubte alte Bücher und noch verstaubtere bärtige Philosophen? Man braucht sie, so behauptet dieses Buch, eben dafür, den Bart unter dem topmodischen Bürstenschnitt und der hip eingefärbten und durchgesträhnten Lockenpracht zu finden und ihn sozusagen zu entstauben! Denn die Wörter mögen neu sein; schaut man ihnen aber unter das (sehr häufig englisch geschneiderte) Begriffsgewand, findet man erstaunlich häufig genau Probleme, die den Alltag im antiken Athen ebenso wie im „finsteren“ Mittelalter prägten, die im Europa der Aufklärung ebenso wie in der gerade sich selbst historisch werdenden Moderne auf der Tagesordnung stehen. Die Menschen sind scheinbar nicht ganz so veränderlich, wie ihre Sehnsucht nach neuen Wörtern und modischen Begriffen es suggeriert; und umgekehrt weisen gerade die allermodischsten Modewörter häufig auf ein darunter verstecktes traditionelles Problem oder Phänomen, das an Bedeutung nicht verloren hat. Man muss es nur finden. Google findet es (meistens) nicht (es hilft aber, das gibt auch die Autorin mit großer Dankbarkeit zu, ganz erheblich beim Suchen). Und wenn man es gefunden hat, dann kann man weiter suchen: Vielleicht haben die bärtigen Philosophen mit ihrer vielen Zeit und ihrem Expertentum für den Sinn des Lebens doch etwas dazu zu sagen gewusst, in ihrer ganz persönlichen Sprache und mit den Wörtern ihrer Zeit - die deshalb auch in diesem Buch nicht immer ins „Moderne“ übersetzt werden, sondern fremde Stimmen einer anderen Zeit bleiben dürfen, mit denen man aber in ein Gespräch treten kann.
Wenn Sie, lieber Leser, liebe Leserin, meinen, dafür keine Zeit zu haben: Nehmen Sie sie sich, in kleinen Häppchen, zwischen einem schnellen Twitter und einer Stippvisite bei Facebook, vor dem Zickenkrieg in der Reality-Show oder nach dem Joggen, im all-inclusive-Urlaub oder auf der Suche nach dem Yeti - all dies sind übrigens Stichwörter, die Sie in diesem Buch finden werden. Sie können es natürlich auch am Stück lesen, und vielleicht merken Sie dann sogar, dass es einen Zusammenhang gibt: Es ist der Zusammenhang unseres philosophischen Alltags mit der philosophischen Welt, die uns umgibt – in neuer begrifflicher Gestalt zwar, aber verbunden mit den alten und ältesten Fragen.
Und so grübelt Sokrates immer noch - nicht mehr auf dem Forum oder beim Symposion, sondern zwischen Leuchttürmen, Heuschrecken und Joggingschuhen; vielleicht googelt er sogar heimlich und hat einen Facebook-Account? Setzen wir uns für einen Moment zu ihm, vergessen wir unseren grauen Alltag – und entdecken wir unseren philosophischen!
Gebäude meist in Form eines Turms, das ein Leuchtfeuer aussendet und dadurch Schiffen den Weg weist und sie vor gefährlichen Untiefen warnt. Leuchttürme stehen meist an exponierten Stellen am oder im Meer; sie sind seit der Ausrüstung mit Fresnel-Linsen ab etwa 1820 durch eine bestimmte Frequenz der ausgesendeten Lichtzeichen eindeutig zu identifizieren. Metaphorisch wird der Begriff „Leuchtturm“ seit jeher gern verwendet, um etwas zu bezeichnen, das weithin sichtbar ist und orientierenden Charakter hat; so beispielsweise bei „Leuchtturmprojekten“ in Wissenschaft und Forschung. In ihrem Roman To the Lighthouse hat die englische Autorin Virginia Woolf den Leuchtturm zum Leitmotiv der modernen Suche nach Orientierung gemacht: „For they must go for the Lighthouse after all“. Es wird allerdings ein halbes Leben dauern, bis die Romanfiguren dieses eigentlich ständig in Sichtweite befindliche Ziel ihrer kindlichen Sehnsucht endlich erreichen.
Türme haben schon in der frühen Menschheitsgeschichte gleichermaßen die Erhebung des Menschen hin zu Gott symbolisiert als auch orientierende Funktionen ausgeübt. Ein erstes Leuchtturmprojekt in diesem Sinne war der wohlbekannte Turm von Babel: „Wohlauf, laßt uns eine Stadt und einen Turm bauen, des Spitze bis in den Himmel reiche, daß wir uns einen Namen machen! Denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder“ (Genesis 11, 4). Archäologen konnten beweisen, dass ein Turm von Babylon wirklich existiert hat. Es handelte sich wahrscheinlich um eine Tempelanlage in Form eines Zikkurat, im Format quadratisch-praktisch-gut: Seine Grundfläche betrug ebenso wie seine Höhe mutmaßlich 91 Meter. Im ersten Jahrtausend vor Christus wurde er mehrfach zerstört und wieder neu aufgebaut; der letzte in einer langen Reihe von Eroberern, die sich hier als Baumeister betätigten, war Alexander der Große. Die Sprachverwirrung, die Gott als Strafe für die menschliche Überhebung im unmittelbaren Anschluss an die Tat verhängte, war zu diesem Zeitpunkt bereits vollkommen, der Zerfall der Bausubstanz nur noch eine Frage der Zeit („There’ll be no landing at the Lighthouse tomorrow“ - so werden auch bei Virginia Woolf die sehnsüchtigen Kinder immer wieder abgewiesen).
Vor der Zeitenwende haben es aber bereits zwei andere, im doppelten Sinne „Leuchtturmprojekte“ in die Hitliste der Weltwunder geschafft: der Koloss von Rhodos und der Pharos von Alexandria. Bei ersterem handelte es sich um eine über 30 m hohe (also nur ein Drittel des Babel-Turms) monumentale Bronzestatue des Sonnengottes Helios, die an der Hafeneinfahrt von Rhodos in zwölfjähriger Bauzeit erreichtet wurde; die Rhodier glaubten, ihr Schutzgott habe sie vor der Eroberung durch Demetrios I. gerettet. Bis weit in spätere Zeiten war der angeblich mit von Mole zu Mole gespreizten Beinen dastehende Gott ein beliebtes Bildmotiv (er müsste allerdings dafür eine Schrittweite von ca. 750 m gehabt haben). Seine Lebensdauer war jedoch wie die des Babylon-Projekts begrenzt: Bereits 224 vor Christus stürzte er bei einem Erdbeben ein – was gleichzeitig diejenigen Autoren in der antiken Literatur bestätigte, die in ihm schon immer ein Symbol des menschlichen Größenwahns gesehen hatten („No going to he Lighthouse, James“, sagt der Vater immer wieder mit erhobenem Zeigefinger).
Während es nicht ganz zu klären ist, ob der Koloss wirklich auch als Leuchtfeuer diente, steht das beim Großen Leuchtturm von Alexandria fest. Er soll über 100 Meter hoch gewesen sein (also etwas höher als der Turm von Babel) und ruhte auf einer massiven Plattform aus Granit, die mit Götterbildern geschmückt war. Nach seinem Standort auf der Insel Pharos, gelegen am Hafeneingang nach Alexandria, wurde er auch pharus alexandrinus genannt; daraus leiten sich die Wörter für Leuchtturm in den romanischen Sprachen ab (frz. phare, it. faro). Auch er fiel einer Reihe von Erdbeben zum Opfer, hielt sich jedoch immerhin noch bis zum 14. Jahrhundert halbwegs aufrecht. Eine Anekdote, die Lukian von Samosata über seinen Baumeister Sostratus erzählt, thematisiert dabei bereits die Vergänglichkeit von ambitionierten Leuchtturmprojekten: „Erinnere dich, wie es jener knidische Baumeister machte, der den berühmten Leuchtturm auf Pharos,eines der größten und schönsten Werke in der Welt, baute, um aus dessen Spitze den Seefahrern bei Nacht ein Zeichen zu geben, um sich vor den Klippen von Parätonium hüten zu können, zwischen welche man ohne die äußerste Gefahr nicht geraten kann. Wie er dieses große Werk vollendet hatte, grub er seinen eigenen Namen in den Stein, woraus es erbaut ist; den Namen des damaligen Königs hingegen bloß auf den Kalk, womit er den Stein überzog; wohl wissend, daß diese Aufschrift in ziemlich kurzer Zeit mit der Tünche abfallen und alsdann jedermann die Worte lesen würde: ‚Sostratus, des Dexiphanes Sohn, von Knidos, den erhaltenden Göttern, für die Seefahrer.‘ – Dieser Sostratus sah also über die kurze Zeit seines eigenen Lebens hinaus, in die jetzige und in alle die künftigen Zeiten hinaus, solange der Leuchtturm von Pharos, als Denkmal seiner Kunst, dauern wird“.
aktualisierte, mit mehreren neuen Artikeln ergänzte Version:
Inhalt
All-Inclusive
Blaustrumpf
Blondine
Bonusmeilen
Bullshit
Cool
Dagobert Duck
Design
Engel
Entsorgung
Fasten
Formel 1
Fremdgehen
Fun Fact
Galanterie
Gentleman
Geiz (ist geil)
Guillotine
HAL9000
Heuschrecke
Innovation
Jogging
Judas
Korrekt, politisch
Kulturbeutel
Lemminge
Leuchtturm
Moorhuhn
Monopoly
Nerd
Netzwerk, soziales
O-Ton
Passwort
Poesiealbum
Quantensprung
Reality TV
Sexy
Shopping
Star Trek
Supermom
Tamagotchi
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Winnetou
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Zehn Gebote, Die
Zickenkrieg
Leseprobe
GUILLOTINE,
während der Französischen Revolution entwickeltes und bis Mitte des 20. Jahrhunderts in vielen europäischen Ländern eingesetztes Fallbeil zur Vollstreckung der Todesstrafe durch Enthauptung. Benannt ist sie nach dem Arzt Joseph-Ignace Guillotin, der jedoch nicht ihr Erfinder ist. Guillotin hatte vielmehr nur im Rahmen der Beratungen über ein neues Strafgesetzbuch einen Antrag auf Einführung eines mechanischen Enthauptungsgeräts eingereicht, die für eine gleichzeitig humanitäre und revolutionäre Hinrichtungspraxis sorgen sollte: „Die Guillotine ist eine Maschine, die den Kopf im Handumdrehen entfernt und das Opfer nichts anderes spüren lässt als ein Gefühl erfrischender Kühle“. Zwar war im 18. Jahrhundert im Gefolge einer Schrift des italienischen Strafrechtsformers Cesare Beccaria (Von den Verbrechen und den Strafen, 1764 erschienen und bald in ganz Europa verbreitet und diskutiert) erstmals die Abschaffung der Todesstrafe ernsthaft und kontrovers diskutiert worden. Die französische Nationalversammlung war sich jedoch einig, dass sie – wie alle menschlichen Kulturen und politischen Systeme vor ihr und nicht wenige nach ihr – nicht auf die ultimative Strafe verzichten wollte. Der spezifisch revolutionäre Beitrag zur Debatte um die Todesstrafe liegt deshalb allein im Bemühen, den Vollzug zu humanisieren, zu rationalisieren und mit einer revolutionären Begründung zu versehen. Tugend nämlich sei, so verkündete Maximilien de Robespierre im fortgeschrittenen Stadium des grande terreur, machtlos ohne den Terror: „Der Terror ist nichts anderes als unmittelbare, strenge, unbeugsame Gerechtigkeit; er ist also Ausfluß der Tugend“. Dass Robespierre am 28. Juli 1794 selbst seinen Kopf unter der Guillotine verlor, ist das schlagendste Beispiel für die von Horkheimer und Adorno vertretene These der „Dialektik der Aufklärung“: Eine rein formal und instrumentell begründete Vernunft schlägt zwangsläufig um in totalitäre Herrschaft und eine Mythologie der Vernunft. Oder, wie der Revolutionär Danton in Georg Büchners Revolutionsdrama Dantons Tod kurz vor seiner Enthauptung etwas anschaulicher formuliert: „die Revolution ist wie Saturn, sie frißt ihre eignen Kinder“.
Die Guillotine ist so gesehen reine Revolutionsmechanik und gleichzeitig das perfekte Vernunft-Werkzeug. Sie bedeutete einen enormen technischen Fortschritt gegenüber ihren Vorgängermodellen wie der „Halifax Machine“ (1280) in England, der „Scottish Maiden“ (1564-1708) oder der „Welschen Falle“, unter der der letzte Stauferkaiser Konradin 1268 ein gekröntes Haupt verlor. Das Testmodell der Guillotine entwickelte im Auftrag der Nationalversammlung der deutsche Klavierbauer Tobias Schmidt, der so lange Experimente mit Schafen und Leichen durchführte, bis er schließlich einen technisch ausgereiften Prototypen vorstellen konnte, bei dem die schräge Schneide und das erhöhte Fallgewicht die wesentlichen Innovationsmerkmale waren. Die Nationalversammlung hatte dazu auch Expertengutachten vom königlichen Leibarzt Antoine Louis und von Charles-Henri Samson, dem Scharfrichter von Paris, eingeholt. Beide zeigten sich überzeugt von den Vorteilen des neuartigen Instruments. Der Scharfrichter hob besonders hervor, das Verfahren sei viel zuverlässiger als die oft durch uneinsichtiges Verhalten des Delinquenten erschwerte Enthauptung durch das Schwert, die häufig mehrere Schläge benötigte; zudem sei das Schwert bereits nach einer Enthauptung unbrauchbar. Schließlich ergäbe sich durch die Mechanisierung des Verfahrens auch eine geringere psychische Belastung für den Scharfrichter, der nicht mehr, so die zeitgenössische Presse anlässlich der ersten Guillotinierung am 25. April 1792 (der Verurteilte war ein Dieb), die Hand eines Menschen mit einem Mord an seinesgleichen beflecke. Die Nationalversammlung zeigte sich überzeugt und führte mit einem Dekret vom 20. März 1792 die Guillotine als einzig rechtmäßiges Hinrichtungswerkzeug ein. Der Erfolg gab ihnen Recht: Das neue Instrument bewährte sich über alle Massen, der Scharfrichter benötigte nach einiger Einarbeitung durchschnittlich nur eine Minute pro Kopf; das Gerät war haltbar und zuverlässig und wurde bald auch ein großer Exportschlager.
Die Guillotine war jedoch auch über das rein Technische hinaus die perfekte Verkörperung des Revolutionsgeistes: nämlich als Symbol der ultimativen Gleichheit der Bürger und Bürgerinnen vor dem Gesetz. Schon Guillotin hatte in seinem Antrag ausgeführt: „In allen Fällen, in denen das Gesetz die Todesstrafe für eine angeklagte Person vorsieht, soll die Strafart die gleiche sein, welches Verbrechen sie sich auch immer schuldig gemacht hatte; der Verurteilte soll enthauptet werden; dies geschieht mit Hilfe einer einfachen Mechanik“. Keine Klassenjustiz mehr – traditionell waren bestimmte Verbrechen und bestimmte Delinquenten unterschiedliche Hinrichtungsarten zugeordnet: Diebe wurden gehängt, Hochverräter gevierteilt, Ketzer verbrannt; und nur Täter von Adel wurden mit dem Schwert enthauptet. Die Guillotine kennt keine Klassen, keine Geschlechter, keine Ausnahmen mehr. Die Zahlen schwanken, aber man geht davon aus, dass ca. 17.000 Todesurteile in Frankreich zur Zeit der Revolution vollstreckt wurden, davon 2.500 in Paris. Die berühmtesten Opfer der „Maschine zum Regieren“ (Saint-Just), des „Rasiermessers der Nation“ (die zeitgenössische Presse) waren der französische König Louis XVI., der am 21. Januar 1793 „in den Korb niesen“ mußte (Jacques René Hébert, Revolutionschronist und -anhänger); seine Gemahlin Marie-Antoinette folgte ihm neun Monate später. Enthauptet wurden junge Menschen wie alte (das jüngste Opfer soll 14 Jahre als gewesen sein, die ältesten Opfer waren zwei 92jährige Frauen); Handwerker und einfache Leute ebenso wie Bischöfe und Generäle; reisende Revolutionsanhänger wie Wissenschaftler (Antoine Laurent de Lavoisier, Mitbegründer modernen Chemie als Wissenschaft); einmal gar 33 Nonnen auf einen Schlag (die Berühmtheit als die „Märtyrerinnen von Orange“ erlangten). Manchmal genügte schon eine Namensähnlichkeit, wenn die Schergen kamen; immer häufiger wurde auf jeden Prozess verzichtet, das Urteil lautete pauschal auf „Feinde des Volkes“ und das Denunziantentum blühte.
Enthauptet wurden schließlich auch Frauen. Die Schriftstellerin Olympe de Gouges hatte in ihrer Erklärung der Menschenrechte für die Frauen und Bürgerinnen (1791) im 10. Paragraph gefordert, dass die Frau ebenso das Recht habe, das Schafott zu besteigen wie die Rednertribüne. Am 3. November 1793 bestieg Olympe de Gouges auf der Place de la Concorde das Schafott; die Guillotine zeigt sich auch tauglich als Emanzipationsinstrument. Wie immer wird viel Volk anwesend gewesen sein, die Öffentlichkeit der Hinrichtung gehörte mit zu ihrem ideologischen Programm. Und war es nicht von geradezu diabolischer Symbolhaftigkeit, dass ausgerechnet die Köpfe rollten, die dann vom Scharfrichter triumphierend vorgezeigt werden konnten: Hier sind sie, die Volksfeinde, die Verräter der republikanischen Tugend, und nimmermehr werden sie ihr böses Haupt erheben? „Es ist freilich nicht zu leugnen, diese Maschine, die ein französischer Arzt, ein großer Weltorthopäde, Monsieur Guillotin, erfunden hat und womit man die dummen Köpfe von den bösen Herzen sehr leicht trennen kann, diese heilsame Maschine hat man etwas oft angewandt, aber doch nur bei unheilbaren Krankheiten, z.B. bei Verrat, Lüge und Schwäche, und man hat die Patienten nicht lang gequält, nicht gefoltert und nicht gerädert, wie einst Tausende und aber Tausende Roturiers und Vilains, Bürger und Bauern, gequält, gefoltert und gerädert wurden, in der guten alten Zeit“ – so fasste Heinrich Heine in seinen Reisebildern 1831 die vielfachen Vorzüge der Guillotine satirisch zusammen.
Noch lange nach dem Ende des grande terreur blieb sein wichtigstes und treustes Werkzeug in Gebrauch. In Deutschland Wurde sie bis zur Einführung des Grundgesetzes 1949 betrieben, in der DDR bis 1968. In Frankreich wurde der letzte Delinquent, ein Mörder, am 10. September 1977 in Marseille guillotiniert. Auch die Nationalsozialisten machten eifrig Gebrauch von ihr, verpassten ihr allerdings einen deutschen Namen; so starben Sophie und Hans Scholl am 22. Februar 1943 in München unter einer technisch etwas veränderten „Fallschwertmaschine“. Allein von öffentlichen Exekutionen wurde bald abgesehen. Für immer jedoch wird die Guillotine im kollektiven Symbolbestand fortleben, in einer Mischung aus Angstlust und archaischer Gewaltbereitschaft, die jederzeit wieder hervorbrechen kann. Als Kurt Tucholsky 1924 das Museum Carnavalet in Paris besucht, beschreibt er – satirisch oder nicht? – die gespenstische Neigung zu Revolutionsdevotionalien: „Wie sorgfältig die geistige Vorbereitung dieser Umwälzung gewesen, wie tief das Gefühl einer Veränderung in das allgemeine Bewußtsein gedrungen sein muß, dafür gibt es ein untrügliches Zeichen: was sich der Bürger zu Hause an Aktualitäten aufhängt, daran glaubt er wirklich. Und ob sie geglaubt haben! […] welches Gemüt hat sich wohl Ohrringe in Gestalt einer Guillotine ausgedacht, welcher Findige hat dies Instrument als Spielzeug in den Handel gebracht, mit allem Komfort: sogar der Kopf der aufs Brett geschnallten Puppe ist entfernbar … Aber schließlich, ob ein Kind mit Bleisoldaten spielt oder hiermit – das kommt wohl auf eins heraus“. Und schon der Revolutionstourist Georg Forster hatte in seinen Parisischen Umrissen ein Gespräch zweier Pariser Bürgerinnen notiert: „‘Die Guillotine‘, sagte mir neulich eine Pariserin, ‚wird noch alle Regungen der Menschlichkeit ersticken. Selbst meine Kinder sprechen schon davon in ihren Spielen und die Straßenjungen haben längst manche Katze guillotinirt‘“. Dass allzu selbstgewisse Tugend jederzeit in Terror umschlagen kann; dass eine rein instrumentelle Vernunft zum Totalitären tendiert; dass es eine Schule der Gewalt gibt, eine Gewöhnung noch an das blutigste Spektakel; dass die Forderung, jetzt müssten aber Köpfe rollen, ins Wörterbuch des Unmenschen gehört – das sind die historischen Lehren der Guillotine: einer Tötungsmaschine, die angetreten war, das Hinrichten zu humanisieren.