Kirchenfunk, nun ja, man hört mit einem Viertel Ohr zu beim sonntäglichen Zähneputzen. Es geht um Weihnachten, das mal wieder vor der Tür steht, die üblichen Rituale, für die wir ja alle heimlich dankbar sind in unserer ritualbereinigten Moderne, ob wir es nun zugeben oder nicht. Offiziell hat der moderne Mensch aber kritisch zu sein und die Dinge zu hinterfragen, egal ob Weihnachten oder nicht; und so befragt der Interviewer irgendeinen Vertreter, ich glaube: der katholischen Kirche, über das Projekt „Weihnachten im Schuhkarton“. Natürlich hatte ich schon davon gehört, mein Sohn hatte in der Schule Päckchen gepackt, im Ort hatte es Initiativen gegeben und der Gedanke erschien einem ja auch recht schön und weihnachtlich, Kinder, die genug von allem hatten und dazu noch eine ganze Menge mehr, etwas davon teilen zu lassen; es schön zu verpacken und in einen Schuhkarton zu stecken und sich dabei auszumalen, in welches ferne Land der Schuhkarton nun reisen würde, welches Kind es auspacken würde – und hier kann man nun die Phrase von den „leuchtenden Kinderaugen“ nicht vermeiden, aber genau das wollte uns das Interview, das hinterfragende, nämlich nun ein- für allemal austreiben. Denn, so gab der Kirchenvertreter in wohlgeschult sanfter, mit dem klassischen Hinterfragungs-Tremolo unterlegten Stimmlage zu verstehen, eigentlich gehe es dabei doch um Mission, das würde aber gezielt verschleiert. An diesem Punkt war der Interviewer noch ganz aufgeweckt, das ließ später deutlich nach, aber hier musste er nun doch, kritisch natürlich, einhaken: Missioniere denn die katholische Kirche nicht auch? Und flugs schlug der Kirchenvertreter einen argumentativen Haken, dass dem Schuhkästlein der Deckel hinweg geflogen wäre: Nun ja, das sei es ja nicht nur. Es gebe ja noch eine ganze Reihe weiterer Einwände, die er jetzt einmal der Reihe nach vortragen wolle. Here comes:
Zum ersten fühle er, ganz persönlich, sich immer ein wenig unbehaglich kolonialistisch in diesem Gestus „Wir geben den Armen von unserem Überfluss“; die Armen würden dabei gar nicht gefragt, und in diesem speziellen Falle sei es ja so, dass die Kinder in den Empfängerländern sicherlich eigene Spielkulturen hätten, die wir nun mit unserem westlichen Konsumschrott (das sagte er nicht so, aber man hörte es ein wenig im Subtext mitschwingen) ganz von ihren eigenen Gebräuchen und Kulturen entfremden würden. Das Argument ließ sich hören, dachte ich und spuckte das erste Mal aus, aber nur, wenn man nicht so arg genau hinhörte; etwas blieb mir dabei stecken, zwischen den Zähnen oder den Argumenten ließ sich nicht genau unterscheiden, aber der Mann hatte ja gerade erst angefangen.
Zum zweiten also sei es ja so, dass all diese Päckchen (und nicht einmal sagte er „liebevoll gepackt“ oder „leuchtende Kinderaugen“, oh nein!) dann mit Flugzeugen durch die „Weltgeschichte“ geflogen würden. Ich verschluckte mich ein wenig. Leute, die statt „Welt“ „Weltgeschichte“ sagen, aber „Welt“ in einem durchaus geographischen, nicht historischen Sinne meinen, sind – Vorsicht, treffendes Vorurteil! – Floskelmonster, und der vielleicht etwas unbegründet wirkende Anfangsverdacht verstärkte sich später, als er auf eine andere Frage die gleiche Formulierung wiederholte; nein, sein Gehirn dachte in einfachen Bahnen, es flog eben um die „Weltgeschichte“, und wahrscheinlich ganz ohne ökologischen Fußabdruck. Dieser jedoch, dieser ökologische Fußabdruck all der geflogenen Päckchen sei natürlich höchst bedenklich (ich meinte mich unscharf zu erinnern, dass unsere lokale Initiative Päckchen für Rumänien packte, und zwar in einen VW-Transporter, bis er voll war, und dann wurde er von Freiwilligen dorthin gefahren, aber vielleicht war es ein böser Diesel); zudem müssten dafür ja wieder Spenden eingeworben werden, die jedoch dann natürlich nicht den Kindern zukommen würden. Diesen Punkt merkte ich mir vor, da würde man wohl noch etwas recherchieren müssen; spontan jedoch sah ich sehr viele kleine Schuhkartons in einem Flieger neben Kisten von Billig-T-Shirts und Elektronik-Schnickschnack aus Asien, Flug-Ananas und Flug-Mango, ganz zu schweigen von den internationalen Waffenströmen, da wollte mir der weihnachtliche Päckchen-Fußabdruck doch recht zierlich entscheiden (um das Recherche-Ergebnis vorwegzunehmen: die Organisation hat natürlich ein Spendensiegel, was denn sonst; außerdem wird auch jeder angehalten, zum Päckchen acht Euro für Transportkosten dazuzupacken, da scheint mir der Missbrauch doch relativ gering). Drittens jedoch, und ich konzentriere mich schnell wieder, inzwischen war ich beim Gurgeln, würde natürlich die lokale Spielwarenindustrie geschädigt. Jetzt musste ich doch ein wenig lachen, auch wenn das Mundwasser dabei hinaus prustete; oh ja, die lokale Spielwarenindustrie, die ansonsten natürlich völlig unberührt von Toys’R’Us niedliche hölzerne Barbiepuppen schnitzte und Fußbälle, fern jeglicher Kinderarbeit, ganz sicher aber regional sehr unterschiedlich und kulturell ganz speziell. Der Kirchenvertreter bewarb dann noch schnell das eigene Produkt, „Weltweit Wichteln“ des evangelischen Missionswerks, aber der Interviewer hatte es sowieso schon längst aufgegeben, gegen so viel Pseudo-Vernunft anzukommen.
Denn das war es, Pseudo-Vernunft. Jedes einzelne Argument klang sinnvoll und politisch korrekt und teilweise sogar richtig (was nun wahrlich nicht dasselbe ist, noch nicht mal das gleiche), war es aber im gegebenen Kontext aber auf eine so schiefe Art und Weise, dass man ein wenig nachdenken musste, um es wieder gerade zu rücken. Nehmen wir den Kolonialismus-Vorwurf, der schon mit einer Korrektheits-Garantie daherkommt, es kann eigentlich nie falsch sein, wenn ein westeuropäischer Mann sich des Kolonialismus bezichtigt, oder? Aber in diesem Falle? Kinder auf der ganzen Welt spielen. Man hat ein wenig den Verdacht, dass es ihnen ziemlich egal ist, womit sie spielen; und vielleicht ist es sogar wirklich keine gute Idee, ihnen eine Barbie-Puppe zu geben, wenn sie bisher nur eine aus Holz oder Lumpen hatten (aber das gilt im Übrigen auch für europäische Kinder, bei denen Barbie-Puppen jede Menge Unheil anrichten). Aber Weihnachten im Schuhkarton macht eigentlich sehr vernünftige Angaben, was man in so ein Päckchen stecken sollte, „Nützliches und Schönes“ ist der Obertitel, und unvernünftig sind mal wieder nur die Leute. Jedenfalls schien es mir ziemlich sicher, dass sich die beschenkten Kinder freuen würden, und zwar egal, was im Karton war. Und auf einer Waage, wo ein vage kolonialistisches Unbehagen eines westeuropäischen Mannes, ein leichtes Gewissensjucken sozusagen, gegen die leuchtenden Kinderaugen beim Auspacken eines Kartons abgewogen wurde, scheint mir das Ergebnis für die meisten Leute mit einem gesunden Alltagsverstand doch relativ klar. Weihnachten heißt ja auch nicht das Fest der Selbstgerechtigkeit in der „Weltgeschichte“. Zudem, aber das war nur ein Einwurf meiner gelegentlich zynischen Vernunft, schien es mir geradezu vorbildlich pluralistisch gedacht, Kinder in anderen Ländern mit einer neuen Spielekultur bekannt zu machen! Oder, wenn man ein wenig den religiösen Kontext hinzunahm: Hatten die Heiligen Drei Könige nicht ziemlich kolonialistische Dinge in ihren kleinen Boxen, die auf den meisten Bildern Schuhkartons gar nicht so unähnlich sehen, dem armen Jesuskind in seiner Krippe im Stall gebracht? Sie waren relativ weit gereist dafür, womöglich haben sie aber der lokalen Weihrauchproduktion geschadet.
Kommentatoren haben den schönsten Beruf der Welt. Jeden Tag lang dürfen Sie Ihre Meinung drucken lassen, und niemand widerspricht ihnen, außer dem gelegentlichen Leserbriefschreiber, und man weiß ja, was das für Leute sind. Noch schöner aber ist, dass man als Kommentator alles fordern darf, ganz unabhängig von den Grundregeln der Logik, des gesunden Menschenverstandes, der ökonomischen und politischen Rationalität. Denn ein gewiefter Kommentator weiß, dass die Leute immer den Kuchen haben und essen wollen und zwar beides auf einmal; und wenn man kommentiert, es sei doch langfristig gesehen und im Blick auf zukünftige Klimakatastrophen und Hungersnöte wirklich klüger, den Kuchen ein wenig aufzuheben, schreibt man einfach im nächsten Satz, dass das aber nicht bedeuten dürfe, dass sich irgendjemand einzuschränken habe, schließlich leben wir in einer freien Welt, und wo kämen wir denn da hin - und alle sind glücklich! Die Schlüsselformeln für diesen geistigen Spagat sind: „Selbstverständlich ist es …“ und „Es muss doch möglich sein, dass…“ Ein Beispiel? Also, sagen wir, Klassiker, Endlagerung von strahlendem Müll, ein Thema, das wahrscheinlich demnächst die Halbwertszeit von radioaktiven Substanzen erreicht. "Selbstverständlich" ist das eine politische Aufgabe ersten Ranges, die Fürsorge für spätere Generationen und der Sicherheitsaspekt hat ganz oben zu stehen bei der Auswahl des Standortes, die natürlich unabhängig und expertengeleitet geschieht, und es ist eine Schande, dass nach Jahrzehnten der Diskussionen und gegenseitigen Schuldzuweisungen immer noch nichts passiert ist! Aber!!! Natürlich darf niemand dadurch in seinem persönlichen Wohnumfeld gefährdet oder belastet werden! Die Bürger müssen an allen politischen Prozessen beteiligt werden, und zwar in vollem Umfang und unter Ausschöpfung aller gesetzlichen Möglichkeiten. "Es muss doch möglich sein", hier einen Weg zu finden, mit dem alle leben können, und zwar am besten vorgestern schon! Ja, klar, Endlagerung auf dem Mars, und zwar schnell, bevor sich die ersten Bürgerinitiativen dagegen bilden können. Morgen reformieren wir dann die Schulen, ohne dass es Geld kostet oder mehr Lehrer braucht, das muss doch wohl möglich sein! Übermorgen retten wir das Klima, ohne dass die Industrie oder der Welthandel irgendwelchen Einschränkungen unterworfen werden, und jetzt alle im Chor: Das muss doch wohl möglich sein! Ach, wie schön ist es, ein Kommentator zu sein. Immer darf man den Kuchen essen und behalten!
Es gibt nur wenige Redewendungen, die ich mehr hasse, und ich meine das wirklich. Sie hat einen sehr steilen Aufstieg auf dem öffentlichen Redewendungsmarkt hingelegt, und zwar im Wesentlichen im Schlepptau der politischen Korrektheit; ja, es ist wohl kaum zu viel behauptet, wenn man sagt, dass sie die Zentralmetapher der Bewegung schlechthin ist: Sagt sie doch im Wesentlichen – gar nichts, wenn man auf ihren Inhalt schaut; nichts wird gefordert, nichts wird kritisiert, nichts wird analysiert, sie hat exakt null Inhalt, sie ist ein no-brainer. Aber sie sagt alles, wenn man auf die mit ihr verbundene Haltung schaut: Denn sie fordert, energisch und ohne nähere Begründung, die Solidarisierung mit einem Gedanken, einer Haltung, einem Bewusstsein, das zwar nicht näher expliziert wird, sich aber unter Gutmeinenden und Besserdenkenden als selbstverständlich versteht. Zu anderen Zeiten hat man das – und ich verwende das Synonym recht gern, auch wenn mein Sohn mich dann strafend anschaut – als „Gesinnungsdemonstration“ bezeichnet. Denn nur das demonstriert man, wenn man öffentlich und gemeinsam mit anderen oder auch allein „ein Zeichen setzt“: die richtige Gesinnung. Inzwischen hat sich die Redewendung so tief eingegraben, vor allem im journalistischen Sprachgebrauch, dass man gar nicht mehr weiß, wie Generationen von Journalisten (vor allem: Leitartiklern!) ohne sie auskommen konnten; sie dominiert auch gern die Schlagzeilen, die damit vollständig sinnentleert werden, da der Sachverhalt, zu dem ein Zeichen gesetzt werden soll, ja nicht mehr mit hineinpasst. Wohin das führt, demonstriert nichts besser als die Realität selbst: Nach einem neuerlichen Terror-Anschlag, das Motiv war noch nicht ganz klar und man wartete noch auf die üblichen Bekennerschreiben, titelte eine Zeitung wirklich und wahrhaftig, dass die Terroristen wahrscheinlich ein Zeichen setzen wollten. Nein, eigentlich wollten sie primär wahllos Leute umbringen. So geht Terror. Damit allerdings wollten sie durchaus ein Zeichen setzen. Das ist nämlich das zweite Prinzip von Terror neben der willkürlichen Gewaltausübung, das nach innen gerichtete: Es geht um symbolische Handlungen, die die Gesinnungsgemeinschaft der Gleichdenkenden stärken soll. So ist das nämlich leider mit Symbolen: Sie sind wertindifferent und kosten nichts und werfen sich ersten besten an den Hals, der sich ihrer bedient, gute Gesinnung oder schlechte. Wer wirklich ein Zeichen setzen will, sollte aufhören, nach Zeichen zu rufen und endlich zur Sache kommen.
Befragt, ob es denn wirklich vertretbar sei, dass die Bundesregierung dem französischen Kandidaten Macron zum Einzug in die Stichwahl gratuliert, sagte der Regierungssprecher, das sei eine Frage der Haltung! Vielleicht hat jemand nachgefragt, aber das stand dann nicht mehr in der Zeitung; vielleicht aber wurde die Antwort auch anstandslos (ein Wort, das man häufiger wörtlich nehmen sollte) als das akzeptiert, was sie ist: als inhaltsleere Floskel. Finge man allerdings doch, und sei es auch nur aus Versehen, mit dem Nachdenken darüber an, fragte sich also, zum Beispiel: Welche Haltung eigentlich?, wird es gleich ziemlich schwierig. Denn die Gratulation ging an einen Gewinner, und natürlich kann man Gewinnern gratulieren, aber das erfordert nicht viel Haltung; Haltung würde man allenfalls zum Ausdruck bringen, wenn man einem Verlierer gratuliert. Sie ging zudem an einem Gewinner, dem gerade zu diesem Zeitpunkt das ganze zivilisierte Europa höchst erleichtert im Chor zujubelte; in diesen Chor einzustimmen kann natürlich ein Bedürfnis sein, aber es demonstriert weniger Haltung als – wie soll man sagen? Opportunismus? Anpassung? Mitheulen mit der Menge? – was natürlich alles Haltungen sind, irgendwie, aber das war wohl doch nicht gemeint. Was gemeint war, war: Wir stehen zusammen mit allen Guten gegen den Bösen, der zum Glück verloren hat; das Gute hat gesiegt, und wir sind dabei! Sie dient also ausschließlich der Bekräftigung der bei jeder Gelegenheit sowieso schon sattsam bekräftigten eigenen Identität nach innen auf Kosten der Verlierer nach außen. „Haltung zeigen“ ist insofern der große Bruder von „Zeichen setzen“: Es demonstriert die eigene moralische Überlegenheit, ohne dass sie inhaltlich begründet werden müsste – und niemals steht jemand auf und fragt: Was bedeutet das „Zeichen“ eigentlich? Welche „Haltung“ denn genau? Und riecht es hier im Raum nicht ein wenig penetrant nach intellektueller Selbstgerechtigkeit? Niemals.
Wer an die Ängste der Menschen appelliert, ist ein Vereinfacher und Populist. Wer an die Hoffnungen der Menschen appelliert, ist ein Held. Das konnte man aus dem Wahlkampf für die französischen Präsidentenwahlen lernen, wo der begabte Rhetoriker und seit neuestem Pop-Star der Medien Barack Obama sagte, Macron appelliere an die Hoffnungen der Menschen, nicht an ihre Ängste, und das sei der beste Grund ihn zu wählen. Nun haben Menschen zweifellos Hoffnungen und Ängste; und ebenso zweifellos hat keiner gern Ängste. Was das sinnvollere Verhalten in dieser schönen, neuen und vielfach erschreckenden und bedrohlichen Welt ist, ist jedoch gar nicht so einfach zu sagen. Kommt wohl darauf an, ob man in ihr mehr zu verlieren als gewinnen hat; weshalb es für einen Supergewinner wie Barack Obama und seinen neuen Freund Macron, Spitzenprodukt der französischen Eliteerziehung, sicherlich eine ganze Menge zu hoffen gibt, für den arbeitslosen Arbeiter oder den demnächst rentenlosen Rentner sicherlich jede Menge zu fürchten. Nun könnte man immer noch sagen, es wäre auch für Rentner und Arbeitslosen besser und gesünder darauf zu hoffen, dass ihr Glas noch halb voll ist und man ja nie wissen kann, ob nicht doch noch ein Wunder geschieht. Das Prinzip Hoffnung, ja, ja. Glaube, Liebe, Hoffnung. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Wenn sie dann aber stirbt, hat sie einen größeren Schaden angerichtet, als eine begründete Angst sie jemals anrichten könnte: Sie hat mit Illusionen gehandelt, und es kam der große Illusions-Crash; sie hat blühende Landschaften versprochen, und es kamen die Dürre, die Not, die Klimakatastrophe; sie hat Vertrauen gefordert, und sie hat es verspielt. Es sind die Illusionshändler dieser Welt, die zu fürchten sind, mehr als die Angstmacher: Angst kann wenigstens noch erfinderisch machen, Hoffnung jedoch macht am Anfang süchtig und am Ende verzweifelt und zynisch.
Alle Jahre wieder werden in den Nachrichten Umfragen zitiert, ob mehr Geld nun glücklich macht oder ab einem bestimmten Betrag nicht mehr so glücklich oder am Ende gar unglücklicher. Die diesjährige Variante ging so: Forscher haben herausgefunden, dass ab einer gewissen Schwelle Geld nur noch dann mehr glücklich macht, wenn man es dazu verwendet, Zeit zu kaufen: also für ungeliebte Routinearbeiten Personal einzustellen, genannt wurden Putzfrauen und Gärtner und immerhin noch nicht Kindermädchen. Das wurde allgemein als Fortschritt und Effekt einer glücklichen, ein wenig postmateriell angehauchten Zivilisation gefeiert. Keiner der berichtenden Glücksreporter jedoch kam auf die naheliegende Frage, wie genau man dann Putzfrauen und Gärtner glücklicher machen könnte – wahrscheinlich, weil sie logischerweise davon ausgingen, dass diese sowieso, und wenn sie noch so viel für die Schönen und Reichen und Glücklicheren putzten und gärtnerten, je auch nur die relativ niedrige Schwelle erreichen würden, ab der man Geld glücksbringend in Zeit umwandeln kann. Und nicht auszudenken, das passierte doch! Dann bräuchten wir ja noch einmal so viele Putzfrauen und Gärtner, die den ganzen Tag unglückbringende Arbeiten für glücklichere Menschen ableisteten (nicht, dass das in Zeiten der Globalisierung und der beinahe unbegrenzten Arbeitsmigration ein Problem wäre – es erinnert nur irgendwann doch ziemlich an Sklaverei).
Wahrscheinlich war der Schreiber des Artikels ein, sagen wir mal: nicht so sportbegeisterter Mensch; das soll es ja gelegentlich geben unter Journalisten. Der Gegenstand seiner dieswöchigen Empörung war nämlich der Trend zur Generalüberwachung der eigenen Körperfunktionen bzw. Lebensweisen durch elektronische Wearables, Smart Bands, Fitibits und dergleichen. Und der Schreiber beklagte im gewohnten Ton des letzten Verteidigers der menschlichen Freiheit vor ihrer endgültigen Kapitulation gegen das böswillige Silicon Valley, dass nun wieder ein Teil der Willensfreiheit dahin sei: Versklaven ließen wir uns von diesem Teufelszeug, das uns mahnt, lieber noch weitere tausend Schritte zu tun und danach an einem vitaminreichen Salatblatt zu knabbern anstatt sich endlich aufs Sofa zu hauen und in Begleitung einer Chipstüte empörte Artikel von heldenhaften Verteidigern der menschlichen Freiheit zu konsumieren. Nein und noch einmal nein: Wohin solle es am Ende mit einer Menschheit kommen, die sich von elektronischen Geräten zur Vernunft zwingen lasse und damit der Vollentmündigung durch die Datentyrannen geradezu in die Arme laufe? Ja, wohin wohl. Vielleicht zu gesünderen, weniger übergewichtigen, bewegungsfreudigeren, nicht so leicht empörbaren und damit auch insgesamt lebensfroheren Menschen, die nicht nur länger leben, weil sie nicht sterben dürfen (hier kommt der freie Wille immer erstaunlich schnell an seine Grenzen), sondern sogar etwas davon haben? Es ist bezeichnend, dass der freie Wille des Menschen eigentlich nur noch dadurch verteidigt werden kann, dass man ein Recht auf Dummheit, Unbedachtheit, falsche Entscheidungen einfordert. Zur Vernunft braucht man nämlich keinen freien Willen. Für die Vernunft spricht die Vernunft schon allein, und leider hat sich die Logik des zwanglosen Zwanges des besseren Arguments den Verteidigern der menschlichen Freiheit gegen ihre allgegenwärtigen Feinde noch nicht erschlossen; nein, die Vernunft ist immer paternalistisch und bevormundend, einfach, weil sie immer Recht hat! Um aber ungestört dumm zu sein oder faul oder auch nur mangelhaft informiert, da hilft es schon sehr, sich energisch auf den freien Willen des Menschen zu berufen! Tatsächlich könnte man daraus so eine Art Lackmus-Test generieren (eine Art Motiv-Fitbit): Wenn es bei der Verteidigung der menschlichen Willensfreiheit in einem konkreten Fall offensichtlich und in allererster Gefechtslinie darum geht, ein Verhalten zu rechtfertigen, das eigentlich zutiefst unvernünftig ist, oder auch einfach nur dumm oder kurzsichtig oder kindisch und undiszipliniert – dann sollte man doch einen Moment lang überlegen, ob ein freier Wille, der immer nur das Falsche will, wirklich so eine erstrebenswerte Errungenschaft ist.
Nun war es ziemlich schwierig, in all den Lobeshymnen auf den Freihandel rund um den letzten, insgesamt ziemlich danebengegangenen G20-Gipfel noch herauszuhören, was mit Freihandel eigentlich genau gemeint war, aber lassen wir das einmal beiseite. Ein Argument, das jedenfalls sehr gern benutzt wurde, ging so: Der Freihandel (nein, es ist unklar, was damit gemeint ist!) hat den zunehmenden Wohlstand und den Weltfrieden in der jüngeren Vergangenheit gesichert (also ungefähr seit dem letzten Weltkrieg, das ist auch nicht so ganz klar); wenn man also zum Protektionismus zurückkehre (nein, auch das lassen wir sehr im Vagen), würden also sofort wieder Kriege und Elend über die Menschheit hereinbrechen, alle würden von morgens bis abends gemeinsam mit Donald Trump, dem großen Bösen, hohe Mauern an den Grenzen bauen und jeder dürfte nur noch selbstgezüchtete Kartoffeln im eigenen Lande auf dem Markt verkaufen; von Flugananas weit und breit keine Spur, von Smartphones gar nicht zu reden. Nun leidet das Argument neben der völligen Ungeklärtheit seiner Grundbegriffe an einer kleinen logischen Tücke: Es behauptet nämlich einfach nur, dass der wachsende Wohlstand und die zunehmende Friedfertigkeit der Welt (die als solche im Blick auf die letzten Dekaden übrigens nicht unbedingt in die Augen springt, außer man schaut energisch an den diversen Krisenzonen des Globus vorbei) auf die Liebesehe von Globalisierung und Freihandel zurückgehe. Es wäre aber durchaus möglich, dass Wohlstand und Friedfertigkeit auf etwas ganz anderes zurückgehen – sagen wir etwa, technischer Fortschritt und eine Phase relativer Kriegsmüdigkeit in den zivilisierten Staaten, die sich auch wieder ihrem Ende nähern kann, wenn wir uns alle lange genug friedfertig auf die Nerven gegangen sind. Es wäre ebenso möglich, und das ist die gedanklich interessantere Variante, dass sie gar ohne (Globalisierung + Freihandel) (Wohlstand+Friedfertigkeit) noch größer wären! Da wir keine zweite Welt haben, in der das ausprobiert wurde, wissen wir es nicht und können es auch nicht wissen. Noch lustiger war aber im Übrigen der Schluss, der aus dieser Argumentation gezogen wurde, er lautete: Deshalb brauchen wir aber jetzt endlich Freihandelsabkommen! Äh, stand nicht zwei Sätze zuvor da, wir hätten schon den freien Handel, und er wäre die Grundfeste der freien Welt, was die Vergangenheit deutlich zeige? Frei, freier, am freiesten oder was?
Satire darf alles, so tönt es von allen Kanälen. Zwar ist es sowieso schon recht schwierig geworden, im weltweit wogenden Meer der Meinungen überhaupt noch einen Unterschied zwischen Satire und Realität auszumachen, und das nicht erst seit der Erfindung der Fake News. Doch seitdem die Satire auch noch alles darf, ja sogar alles soll, ist sie seltsam hilf- und wirkungslos geworden. Jeder schlägt zu, wie er will, grober Keil auf groben Klotz, das Prinzip funktioniert auch digital prächtig, und die Späne fliegen unter dem Beifall der glotzenden Menge nach allen Seiten. Dann fallen sie zu Boden, mag sie aufkehren, wer will. Und so vermüllt das Netz, die öffentliche Debatte, vor allem jedoch das Gehirn. Denn das menschliche Gehirn hat zwar eine schier unermessliche Menge an Speicherplatz, aber je gröber die Daten-Späne sind, desto mehr verstopft es. Die Urteilskraft, das höchste Gut des Denkers, erstickt. Satire war einmal eine scharfe Waffe. Der Satiriker hatte seinen Verstand und seine Sprache geschärft; sein Verstand war scharf wie eine wohlgepflegte Klinge, die alles in wohlunterschiedene Teile zerlegen konnte, sein Witz konnte Diamanten zum Funkeln bringen und seine Wörter und Sätze waren wohlgezielte Pfeile. Aber wenn man die Schwerter zum Zwiebelschneiden und die Pfeile zum Nasebohren verwendet, dann werden sie stumpf, gut nur noch für – alles und nichts. Alles ist ziemlich leicht zu treffen, und dann auch wieder nicht. Alles duckt sich weg und wird blitzschnell zu Nichts. Und die plumpe Satire löst sich mit einem kleinen “Puff” in die Luft auf, aus der sie gemacht war, und das Schwert fällt mit blechernem Klang zu Boden, auf die überall herumliegenden Hobelspäne der groben Klötze, und zerbricht. Zurück bleibt ein unangenehmer Gestank.
Nachtrag: Interview zwischen 17 und 18 Uhr in SWR1, kurz nach den Anschlägen von Paris. Ein Medienvertreter betont energisch, dass Satire natürlich alles dürfe. Gefragt, ob er es denn gut fände, wenn es satirische Darstellungen der Jungfrau Maria gebe, räumt er ein, er sei zwar nicht religiös, aber er könne sich vorstellen, dass das die religiösen Gefühle anderer Leute verletze und finde das deshalb nicht so gut. Nächste Frage: Ob er denn schon mal Charlie Hebdo gelesen habe? Nein, natürlich nicht. Man schütze die Satire vor ihren Verteidigern!
Ein Wirtschaftsredakteur schreibt eine Kolumne über Start-Ups: völlig überschätzt, reines Modewort, und mit einer Erfolgsquote von nur 10 bis 20 Prozent immerhin etwas besser als ein Lottogewinn. Ein Lottogewinn hat, und das ist nicht direkt ökonomisches Geheimwissen, eine Erfolgschance von 1:14 Millionen, das sind in Prozent 0,0000017 – also ungefähr die Erfolgschancen einer Schneeflocke in der Hölle, die demnach verglichen wird mit, sagen wir, ungefähr der Wahrscheinlichkeit, dass an einem durchschnittlichen Novembertag in Deutschland die Sonne scheint. Wahrscheinlich hat er es nicht so mit Zahlen und Größenordnungen und sinnvollen Vergleichen, ist ja nur ein Wirtschaftsredakteur.
Ein Historiker kritisiert die neue kommentierte Ausgabe von "Mein Kampf" und geht dabei mit den Herausgebern hart ins Gericht. So hätten sie beispielsweise, tatsächlich, Hitlers Behauptung einer jüdisch dominierten Presse nachgeprüft, mit Zahlen und Fakten sogar; was nur demonstriere, dass sie das Vorurteil übernommen hätten. Wo käme man auch hin, wenn man Vorurteile einfach anhand von Fakten und Zahlen überprüfen würde! Vielleicht gar zu einem Urteil!
Sonntagmorgens im Kirchenfunk: Ein Vertreter der katholischen Kirche sagt im Interview, das Thema Kindesmissbrauch würde jetzt energisch angegangen; man werde es künftig stärker in der Priesterausbildung berücksichtigen. Offensichtlich müssen künftige katholische Priester nicht nur sexuell aufgeklärt, sondern über grundlegende moralische Fragen unterrichtet werden. Einen Zusammenhang zum Zölibat sieht der befragte Kirchenfunktionär hingegen nicht. Ob das auch unterrichtet wird?
Der Fahrdienstleiter in Bad Aibling ist verurteilt worden, zweifellos zu Recht; es war menschliches Versagen, und es ist unmöglich, das menschliche Versagen auszurotten. Der Kommentator hat aber noch einen weiteren Schuldigen ausgemacht: Es war natürlich trotzdem die Bahn (mit individuellen Schuldigen kann das System sowieso nicht umgehen). Sie hat doch tatsächlich nur in einer Dienstanweisung darauf aufmerksam gemacht, dass die Handybenutzung während der Arbeit verboten ist! Weder wurden die Mitarbeiter geschult ("dieses ist ein Handy! Das ist der Knopf zum Ausschalten! Jetzt alle zusammen, prima!") noch hinreichend überwacht ("Handy abgeben, und zwar sofort! Alle neu zum Dienst Erscheinenden bitte sofort das Handy abgeben!"). Ja schlimmer noch, es soll doch tatsächlich vorkommen, dass Angestellte bei der Bahn sich langweilen, einfach weil die Bahn keinen Gedanken darüber verschwendet, wie der Teamgeist gefördert werden kann, wie man Mitarbeiter produktiv und kreativ macht! Nun kann man zwar froh sein, wenn überhaupt noch ein Stellwerk mit einem Mitarbeiter bestückt wird, aber es ist offensichtlich die Pflicht der sowieso schon klammen Deutschen Bahn, einen zweiten zu dessen Unterhaltung und besserer Motivation abzustellen. Andererseits ist dann die Gefahr gemeinsamer Handy-Spiele nicht zu unterschätzen, aber das kann ja bekanntlich durch Schulung und Kontrolle verhindert werden; deshalb muss gleich noch ein dritter Mitarbeiter das Team verstärken, damit man sich im Kreis herum gegenseitig kontrollieren und motivieren und einen produktiven Teamgeist entwickeln kann. Wahrscheinlich funktioniert die Arbeit in deutschen Redaktionen so, und alle haben den ganzen Tag Spaß im Team miteinander, ganz ohne Handy, und motivieren sich gegenseitig zu Tode. Dabei kommt man zum Glück auch nicht mit dem wirklichen Leben wirklicher Menschen in Berührung, über die man aber oberschlaue Kommentare schreibt.
Ein umfangreicher Artikel in der Süddeutschen Zeitung erklärt, warum man keinen Fisch mehr essen darf - Überfischung, Umweltschädigung, wirtschaftliche Ungleichgewichte. Um letztere zu vermeiden, subventioniert die EU beispielsweise den lokalen Fischfang in Nordafrika, man denkt an niedliche kleine Kutter, die im Abendrot im Hafen eintrudeln. Aber weil die EU die EU ist und niemand wehtun will und der Wirtschaft schon gar nicht, subventioniert sie auch die sog. Fischfabriken: Riesenkutter, die die Schwärme mit Satelliten orten, ihre riesigen Schleppnetze auswerfen, alles abfischen und schon an Bord zu Fischstäbchen verarbeiten, oder was immer die Welt gerade essen möchte. In Somalia allerdings, so wird man belehrt, habe sich das Problem von selbst erledigt: Die lokalen Fischer haben das Business gewechselt und sind jetzt Piraten. Wahrscheinlich gibt es dafür auch eine Subvention von der EU.
Artikel von der Wissenschaftsredaktion eines bekannten Nachrichtenmagazins, es geht mal wieder um die Schwarmintelligenz, und der Redakteur sinniert darüber, was die Stare wohl dazu brächte, ihre Individualität zugunsten des Schwarms aufzugeben. Ja, genau, auch beim zweiten Lesen steht immer noch da: Individualität. Natürlich ist jeder Star irgendwie unteilbar, unverwechselbar wahrscheinlich auch, zumindest für andere Stare; aber dass ein jeder Star auch individuell ist, nun, da muss die Wissenschaft ja entscheidende Fortschritte gemacht haben! Wahrscheinlich hat sie Interviews geführt, mit jedem einzelnen Staren-Individuum, ein wahres Geschnatter und Getwitter, und jeder Star hat sich mit dem Flügel auf die schmale Brust geschlagen und seine einzigartige Persönlichkeit zur Schau gestellt. Manchmal allerdings wünschte man sich, dass Wissenschaftsredakteure – wenigstens eine Schwarmintelligenz hätten; leider aber haben sie nur zu viel fehlgeleitete Individualität.
Wer über den wahrlich beklagenswerten Zustand der Geisteswissenschaften informiert sein möchte, muss nicht an die Universitäten gehen. Es reicht, eine Liste von Stellenausschreibungen zu studieren, wie sie beispielsweise der ZEIT-ONLINE-Stellenmarkt zur Verfügung stellt (man denke sich natürlich jeweils m/w/d dazu). Unter 18 neuen Stellenangeboten finden sich: Eine W3-Professur für Kultur und Lebensstile in der Einwanderungsgesellschaft; eine Professur für Wirtschaftsenglisch; ein wissenschaftlicher Mitarbeiter für das Lehrgebiet Strategische Organisationskommunikation; eine W2-Professur für Creating Impact; eine W2-Professur für Designing Technological; ein akademischer Mitarbeiter für Kulturmanagement; eine W2-Professur für Brand Management, insbesondere High Class Brands; ein wissenschaftlicher Mitarbeiter für interkulturelle Kommunikation; eine W2-Professur Bildende Kunst für Performance, Installation, Medien; eine W2-Professur Digitale Medien, insbesondere Mediengestaltung; eine W3-Professur Digitale Medien, insbesondere Interaktionsdesign; ein wissenschaftlicher Mitarbeiter für das Forschungsprojekt ‚Transatlantischer Bücherverkehr, Migrationswege und Transferrouten vor und nach 1945'. Die Welt scheint wahlweise aus Migranten und Marketing zu bestehen, vollständig digitalisiert natürlich, multimedial und multikulturell. Was wohl „Interaktionsdesign“ ist? Wahrscheinlich das, was stattfindet, wenn man all die KandidatInnen zu all diesen Ausschreibungen zusammen in eine große Kongresshallte steckt und ihnen eine Augmented-Reality-Brille aufsetzt. Ach, wie gut, dass ich nicht weiß …. (Ok, ich gebe zu, das Suchprofil ist: „Philosophie, Kultur, Kunst, Design, Gestaltung, Medien, Kommunikation, Informationsmanagement, Sprachen und Literatur“ – also, im Wesentlichen: was mit Medien und was mit Kultur; in gewissem Maße bin ich also selbst schuld.)
Von einer "Lawine" hat der arme Finanzminister im Blick auf die Flüchtlinge gesprochen, und schon wurde er von einer solchen voll mit Shit überrollt, nämlich von den üblichen Verdächtigen: Menschen seien keine Naturkatastrophen. Da ist man sich im Blick auf die derzeitige Medienlandschaft und deren tonangebende Vertreter zwar nicht ganz sicher (die selbst auch gern Gruppen, die ihre Meinung nicht teilen, als "Mob" bezeichnen, aber das ist wahrscheinlich nicht so schlimm wie eine Lawine, obwohl –), aber das ist ein anderes Thema. Von "Flut" darf man aus dem gleichen Grund auch nicht sprechen. Wie man dann von einer großen Gruppe von, ja, sicher, Menschen sprechen soll, die in großen, nein: sehr großen Zahlen, über die Grenzen, nein: nicht strömen (wäre ja Flut), sondern in Gruppen gehen?, und keiner hat sie gezählt, und keiner weiß ihre Namen, aber es werden jeden Tag mehr; und es wäre auch wenig sinnvoll, sie einzeln aufzuzählen; und wann der - nein, nicht Strom, der könnte ja vielleicht versiegen; oder eine Lawine, die wäre dann ja irgendwann im Tal und Schluss - also wann die großen Gruppen in großen Zahlen sich verkleinern, verringern, vielleicht sogar aufhören, weiß wirklich keiner der ansonsten alles Besserwissenden und -meinenden. Natürlich werden wir jetzt auch nicht mehr von "Spendenflut" sprechen, wenn viele Menschen zu guten Zwecken ihr sauer verdientes Geld hergeben (könnte ja negative Assoziationen wecken); oder von einer "Lawine der Hilfsbereitschaft", einem bisher recht gern von der Presse verwendeten Bild für unerwartete Großherzigkeit der Mitmenschen. Wir sprechen nur noch in neutralen Substantiven, aussagelosen Adjektiven und Verben, die keinem jemals wehtun. Niemals. Sie sagen leider auch nichts, aber was macht das schon, wo doch so viele meinen, es sei alles schon gesagt.
Kommentar zur Flüchtlingskrise: Die Leute, die sich Sorgen machten, hätten wohl Angst davon, dass der Kuchen nicht mehr für alle reichen würde, wenn mehr von ihm essen wollten. Nächster Satz, wörtlich: "Die Rechnung geht nicht auf". Da möchte man doch gleich wissen, nach welcher Mathematik diese Rechnung nicht aufgehen soll! Muss sich um wundersame Kuchenvermehrung handeln; bei realen Kuchen wurde es jedenfalls noch nie beobachtet, dass die Stücke größer wurden, wenn mehr Kuchenesser sich daran bedienten. So kann es kommen, wenn man schon vorher weiß, wie die Rechnung aufgehen muss, bevor man das Rechnen anfängt (leider scheinen die meisten Redakteure keine Ahnung von Mathematik zu haben; ein bisschen mehr klares Denken wäre aber auch schon hilfreich). Damit ist im Übrigen nichts zum Thema Flüchtlinge gesagt, sondern nur etwas zum Thema Metaphern und ihr Missbrauch durch diejenigen, die es eigentlich besser wissen sollten. Hätte er gesagt, dass der Kuchen so groß ist, dass er für alle reicht - kein Problem! Aber es ging wohl nicht so sehr um logische Konsistenz, es war ja nur ein Kommentar.
Aus einer Rezension zu einem Buch unter dem Titel "Alles ist Markt": "Gutes Regieren wird bloß noch nach den Kriterien des betriebswirtschaftlichen Managements beschrieben, und das Individuum trägt nach dieser Definition natürlich alle Lebensrisiken selbst - Krankheit, Arbeitslosigkeit, selbst das Ende einer Partnerschaft". Man höre: selbst das Ende einer Partnerschaft! Dafür muss wohl der Staat verantwortlich sein. Oder der Markt. Wo käme man auch hin, wenn man selbst dafür verantwortlich wäre, mit wem man eine Beziehung eingeht oder nicht? Gar dafür, wen man heiratet oder mit wem man Kinder bekommt! Nein, offensichtlich kann das Individuum dafür nicht verantwortlich sein - sonst träge es ja auch irgendwie Schuld an der Scheidung oder den missratenen Kindern, oder es gäbe gar einen Zusammenhang zwischen beidem! Nein, besser der Markt ist schuld. (Offensichtlich werden Ehen also nach betriebswirtschaftlichen Kriterien geschlossen, weil sonst könnten sie ja auch nicht nach solchen scheitern. Aber so unvernünftig ist noch nicht mal der Markt...)
Es war in einem Artikel, der die Vorzüge und die Nachteile der Globalisierung erläuterte, und der Verfasser schrieb darüber, wie sich die öffentliche Wahrnehmung von dem allgemeinen Lobpreis hin zu einer eher globalisierungskritischen Haltung entwickelt habe, in der nun die Globalisierung nicht mehr für alles gut, sondern an allem schuld sei. Früher nämlich, so erläuterte der Verfasser, der sicherlich ein Experte war (und sei es für Globales, also für alles und nichts), habe man die Globalisierung als Win-Win-Situation wahrgenommen, heute hingegen eher als Nullsummenspiel. Wie man allerdings jemals auf die doch reichlich abwegige Idee kommen konnte, hier ein Win-Win zu sehen, erläuterte er nicht. Es wäre auch schwierig, da es das eine oder andere Naturgesetz auf den Kopf stellen würde, die, auch wenn das immer wieder gern bestritten wird, auch in der großen wunderbaren Welt der Wirtschaft gelten: Also zum Beispiel, einer zahlt immer, Prinzip der Energieerhaltung. Es gibt kein Win-Win, wenn es um Geld geht; was der eine gewinnt, hat ein anderer verloren, wenn der eine profitiert, darbt der andere. Zwar kann der Andere ziemlich weit weg sein, so dass man nicht genau sehen kann, wer die Rechnung für das bezahlt, was man eben so fröhlich bestellt hat, aber gezahlt wird. There is no free business lunch. Wer ein Wirtschaftssystem hätte, in dem alle gewinnen, müsste entweder den Stein der Weisen gefunden haben (unsere Zentralbanken sind schon nahe daran, das mit dem Geld drucken haben sie jedenfalls ganz gut raus) oder ein Perpetuum mobile erfunden, das man einmal anstößt, und dann produziert es immer weiter, ganz von allein, getrieben nur durch Lust und Liebe und vor allem den Glauben an Wunder. Natürlich ist die Wirtschaft, die globale oder die kommunale oder die ganz private, ein Nullsummenspiel!
Nun kann man aber den Gedanken noch einen Moment weiter denken und sich fragen, ob und wo es eigentlich überhaupt das berühmte Win-Win gibt. Wikipedia belehrt einen gewohnt schnell und effizient, dass es sich dabei um einen Begriff handelt, der in der Spieltheorie entwickelt wurde und bei Verhandlungsstrategien angewendet wird; es geht, altmodisch gesprochen darum, Kompromisse zu finden, mit denen alle leben können und für die deshalb jeder ein wenig von seiner eigenen Position abrücken muss. Das aber ist nicht das Prinzip der kapitalistischen Wirtschaft, die an Gewinnmaximierung orientiert ist und nicht an gerechter Verteilung – zumal wenn die Rechnung global gemacht werden muss und sowieso niemand mehr genau erkennt, wer denn jetzt für was bezahlt und wieviel, damit ein anderer, vielleicht, etwas gewinnt. Allerhöchstens könnte man logisch zugestehen, dass auch nicht-geldwerte Gewinne bzw. Verluste mit bilanziert werden müssen, also die Lebenssituation des unterbezahlten Textilarbeiters in China sich immerhin verbessert, wenn er einen Hungerlohn bekommt, während seine T-Shirts um die Welt geflogen und in Ramschläden verkauft werden, damit mehrere Zwischenhändler davon eine Scheibe abschneiden können und die Power-Shopper genug in die Tüte bekommen. Man sollte dann aber auch die Ressourcenverschwendung, die Luftverschmutzung sowie die geistige Verrohung und ästhetische Verunreinigung durch Discounter mit einpreisen in die allgemeine nicht-nur-ökonomische Bilanz. Manche Globalisierungsphänomene könnten dadurch allerdings langfristig eher als Loose-Loose erscheinen.
Es war eine ziemlich billige Polemik in der angesehenen überregionalen Tageszeitung kleineren Formats. Natürlich, Achtsamkeit ist das totale Modewort, schon klar, und es wird Geld damit verdient, gern im Wildwuchs des Halbrationalen und Mystisch-Esoterischen. Wir könnten Beispiele an Beispiele reihen, und der Autor tut es auch. Dabei tut er immerhin so, als versuche er ernsthaft, dem Wort auf den Grund zu kommen, seine Bedeutung zu erhaschen, und dann fragt er noch jemand und noch jemand, aber am Ende ist es immer das Gleiche: Modewort, billig, Effekthascherei. Hatte man nicht schon die gute alte Aufmerksamkeit, wird er irgendwann sinnieren – die zudem in letzter Zeit auch schon ziemlich viel Aufmerksamkeit erfahren hat, in Aufmerksamkeitsspannen und der Aufmerksamkeitsökonomie? Aufmerksamkeit und Achtsamkeit, wo soll denn da bitte der Unterschied sein!
Nun, mit ein wenig – Aufmerksamkeit auf das, was die Leute sagen, sogar (oder gerade?) wenn sie in Plattitüden und Verkaufsformeln sprechen, würde durchaus helfen bei der Beantwortung dieser Frage. Denn was tut man, wenn man aufmerksam ist? Man merkt auf. Man bemerkt etwas, was einem vorher vielleicht entgangen ist, und dann konzentriert man sich darauf. Und was tut man, wenn man achtsam ist? Man merkt auf, aber nach innen. Man achtet auf etwas, was einem vorher vielleicht entgangen ist, und dann konzentriert man sich darauf. Das eine geht nach außen, das andere nach innen, ganz einfach: Aufmerksamkeit richtet sich auf die äußere Welt, Achtsamkeit auf die eigene Person und ihre innere Welt. Vielleicht hat Achtsamkeit, wenn man dem Begriff ganz genau auf den Bauchnabel schaut, noch einen kleinen wertenden Beigeschmack geerbt, von der Achtung nämlich, die man etwas oder jemanden zollt; während das Merken durchaus rational und ganz unangekränkelt von der Blässe des Gefühls ist. Insofern war der Berichterstatter nicht nur unachtsam, sondern vor allem unaufmerksam. Setzen, sechs!