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Goethesche Widerworte


 


Goethe letztes Wort

An Wilhelm von Humboldt, am 17.3.1832
Nach einer langen unwillkürlichen Pause beginne folgendermaßen und doch nur aus dem Stegreife. Die Tiere werden durch ihre Organe belehrt, sagten die Alten; ich setze hinzu: die Menschen gleichfalls, sie haben jedoch den Vorzug, ihre Organe dagegen wieder zu belehren.
Zu jedem Tun, daher zu jedem Talent, wird ein Angebornes gefordert, das von selbst wirkt und die nötigen Anlagen unbewusst mit sich führt, deswegen auch so geradehin fortwirkt, daß, ob es gleich die Regel in sich hat, es doch zuletzt ziel- und zwecklos ablaufen kann.
Je früher der Mensch gewahr wird daß es ein Handwerk, daß es eine Kunst gibt, die ihm zur geregelten Steigerung seiner natürlichen Anlagen verhelfen, desto glücklicher ist er; was er auch von außen empfange, schadet seiner eingebornen Individualität nichts. Das beste Genie ist das, welches alles in sich aufnimmt, sich alles zuzueignen weiß, ohne daß es der eigentlichen Grundbestimmung, demjenigen was man Charakter nennt, im mindesten Eintrag tue, vielmehr solches noch erst recht erhebe und durchaus nach Möglichkeit befähige.
Hier treten nun die mannichfaltigen Bezüge ein zwischen dem Bewußten und Unbewußten; denke man sich ein musikalisches Talent, das eine bedeutende Partitur aufstellen soll: Bewußtsein und Bewußtlosigkeit werden sich verhalten wie Zettel und Einschlag, ein Gleichnis, das ich so gerne brauchte.
Die Organe des Menschen durch Übung, Lehre, Nachdenken, Gelingen, Mißlingen, Fördernis und Widerstand und immer wieder Nachdenken verknüpfen ohne Bewußtsein in einer freien Tätigkeit das Erworbene mit dem Angebornen, so daß es eine Einheit hervorbringt welche die Welt in Erstaunen setzt.

Fliegen

Wir fühlen auch die Ahnung körperlicher Anlagen, auf deren Entwickelung wir in diesem Leben Verzicht tun müssen: so ist es ganz gewiß mit dem Fliegen.

Briefe aus der Schweiz

Die Lust am Irrtum

Wir alle sind so borniert, daß wir immer glauben, Recht zu haben; und so läßt sich ein außerordentlicher Geist denken, der nicht allein irrt, sondern sogar Lust am Irrtum hat. 

Maximen und Reflexionen

Verteidigung des Ofenspruchs

Es ist was Schönes und Erbauliches um die Sinnbilder und Sittensprüche, die man hier auf den Öfen antrifft. Hier hast du die Zeichnung von einem solchen Lehrbild, das mich besonders ansprach. Ein Pferd, mit dem Hinterfuße an einen Pfahl gebunden, grast umher, so weit es ihm der Strick zuläßt; unten steht geschrieben: »Laß mich mein bescheiden Teil Speise dahinnehmen.« So wird es ja wohl auch bald mit mir werden, wenn ich nach Hause komme und nach eurem Willen, wie das Pferd in der Mühle, meine Pflicht tue und dafür, wie das Pferd hier am Ofen, einen wohl abgemessenen Unterhalt empfahle. Ja, ich komme zurück, und was mich erwartet, war wohl der Mühe wert, diese Berghöhen zu erklettern, diese Täler zu durchirren und diesen blauen Himmel zu sehen, zu sehen, daß es eine Natur gibt, die durch eine ewige, stumme Notwendigkeit besteht, die unbedürftig, gefühllos und göttlich ist, indes wir in Flecken und Städten unser kümmerliches Bedürfnis zu sichern haben und nebenher alles einer verworrenen Willkür unterwerfen, die wir Freiheit nennen.

Briefe aus der Schweiz

Projekt Selbstaufklärung

Indes war dieser Zustand immerfort nur dämmernd, nirgendwo fand ich Aufklärung nach meinem Sinne, denn am Ende kann doch nur ein jeder in seinem eigenen Sinne aufgeklärt werden.

Es ist … das Beste, wenn wir bei Beobachtungen soviel als möglich uns der Gegenstände und beym Denken darüber so viel als möglich uns unsrer selbst bewußt sind

Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird. Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt es neues Organ in uns auf.

Jeder Mensch muß nach seiner Weise denken, denn er findet auch seinem Wege immer ein Wahres oder eine Art von Wahrem, die ihm durch’s Leben hilft

Denn das bloße Anblicken einer Sache kann uns nicht fördern. Jedes Ansehen geht über in ein Betrachten, jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknüpfen, und so kann man sagen, daß wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren. Dieses aber mit Bewußtsein, mit Selbstkenntnis, mit Freiheit, und um uns eines gewagten Wortes zu bedienen, mit Ironie zu tun und vorzunehmen, eine solche Gewandtheit ist nötig, wenn die Abstraktion, vor der wir uns fürchten, unschädlich und das Erfahrungsresultat, das wir hoffen, recht lebendig und nützlich werden soll.

Wissen und Wissenschaft

denn hier an diesem Passe, beim Übergang von der Erfahrung zum Urteil, von der Erkenntnis zur Anwendung ist es, wo dem Menschen all seine inneren Feinde auflauern, Einbildungskraft, die ihn schon da mit ihren Fittigen in die Höhe hebt, wenn er nicht immer den Erdboden zu berühren glaubt, Ungeduld, Vorschnelligkeit, Selbstzufriedenheit, Steifheit, Gedankenform, vorgefaßte Meinung, Bequemlichkeit, Leichtsinn, Veränderlichkeit und wie die ganze Schar mit ihrem Gefolge heißen mag

Kehren wir nun zur Vergleichung der Kunst und Wissenschaft zurück; so begegnen wir folgender Betrachtung: Da im Wissen sowohl als in  Reflexion  kein Ganzes zusammengebracht werden kann, weil jenem das Innre, dieser das Äußere fehlt; so müssen wir uns die Wissenschaft nothwendig als Kunst denken,  wenn wir von ihr irgend eine Art von Ganzheit erwarten.  Und zwar haben wir diese nicht im Allgemeinen im Überschwänglichen zu suchen, sondern wie die Kunst sich immer ganz in jedem einzelnen Kunstwerk darstellt, so sollte die Wissenschaft sich auch jedesmal  ganz in jedem einzelnen Behandelten erweisen.
Um aber einer solchen Forderung sich zu nähern,  so müßte man keine der menschlichen Kräfte bei wissenschaftlicher Thätigkeit ausschließen. Die Abgründe der Ahndung, ein sicheres Anschauen der Gegenwart, mathematische Tiefe, physische Genauigkeit, Höhe der Vernunft, Schärfe des Verstandes, bewegliche sehnsuchtsvolle Phantasie, liebevolle Freude am Sinnlichen, nichts kann entbehrt werden zum lebhaften fruchtbaren Ergreifen des Augenblicks, wodurch ganz allein ein Kunstwerk, von welchem Gehalt es auch sei, entstehen kann.

Das Leben liegt im Detail

Die Einzelheiten sind eigentlich das Leben, die Resultate mögen schätzbar sein, aber sie setzen mehr in Erstaunen als sie nutzen.

An Zelter, 12.1.1830

 

Goethes Mission Impossible

Auch diese beweisen, daß ich mein altes Metier ruhig fortführe: »Mögliche Vermittlung zur unmöglichen Übereinstimmung der Erdenbewohner

An Zelter, 13.2.1830


 

Nur Philister lesen Zeitung

Hierbei werde ich veranlasst dir etwas wunderliches zu vermelden und zu vertrauen; daß ich nämlich, nach einer strengen schnellen Resolution, alles Zeitungslesen abgeschafft habe und mich mit dem begnüge, was mir das gesellige Leben überliefern will. Dieses ist von der größten Wichtigkeit. Denn genau besehen ist es, von Privatleuten, doch nur eine Philisterei, wenn wir demjenigen zuviel Anteil schenken was uns nichts angeht.

An Zelter, 29.4.1830


Gerade in die Augen gesehen

Den Menschen und den Sachen gerade in die Augen zu sehen und sich dabei auszusprechen wie einem eben zu Mute ist, dieses bleibt das Rechte, mehr soll und kann man nicht tun.

an August von Goethe, 25. Juni 1830


Erst kommt der Beifall, dann kommt die Kritik

Wie gern möcht ich in eurem unschätzbaren Museum mein Erkennen und Wissen rekapitulieren, meine Unwissenheit gestehen, meine Begriffe bereichern und vervollständigen, am meisten aber einen freien Genuß einmal, ohne Kritik und Geschichte, mir gewinnen. Das Denken über ein Kunstwerk ist eine schöne Sache; der Beifall aber muß vorausgehen und das Urteil folgen.

An Zelter, 29.Oktober 1830


 Folgereich gesprungen

In irdischen Dingen ist alles folgereich, aber durch Sprünge. Glaubt man, irgend ein Eindruck sei verloren, so tritt die Wirkung da oder dort hervor. Vielleicht vernehmen wir es nicht, oder es gibt uns auch wohl keine Zufriedenheit, weil es nicht in unserm Sinne, nicht nach unsern Absichten äußert.

An Rochlitz, 15.10.1831


 Fingerspitzengefühl

Im Allgemeinen kann ich wohl sagen, daß das Gewahrwerden großer produktiver Naturmaximen uns durchaus nötigt, unsre Untersuchungen bis in's Allereinzelnste fortzusetzen; wie ja die letzten Verzweigungen der Arbeiten mit ihren verschwisterten Venen ganz am Ende der Fingerspitzen zusammentreffen.

An Wilhelm von Humboldt, 1.12.1831

 Kein Entkommen vor den Zuckerbäckern!

Die Menschheit, merke ich, mag noch sehr zu ihrem höchsten Ziele vorschreiten, die Zuckerbäcker rucken immer nach; indem sich Geist und Herz immerfort reinigt, wird, wie ich fürchte, der Magen immer weiter seiner Verderbnis entgegengeführt.

An Marianne von Willemer, 13.1.1832


 Einigkeit gibt es nur mit sich selbst

Wenn man mit sich selbst einig ist, ist man es auch mit andern. Ich habe bemerkt, dass ich den Gedanken für wahr halte, der für mich fruchtbar ist, sich an mein übriges Denken anschließt und zugleich mich fördert; nun ist es nicht allein möglich, sondern natürlich, dass sich ein solcher Gedanken dem Sinne des andern nicht anschließe, ihn nicht fördere, wohl gar hindere, und so wird er ihn für falsch halten. Ist man hievon recht gründlich überzeugt, so wird man nie controrvertieren. 

An Zelter, 31.12.1829

Sanftmut bei aller Widerwärtigkeit

Diese hohe wohlwollende Ironie, diese Billigkeit bei dieser Übersicht, diese Sanftmut bei aller Widerwärtigkeit, diese Gleichheit bei allem Wechsel und wie alle verwandten Tugenden heißen mögen, erzogen mich auf's löblichste, und am Ende sind es dann doch diese Gesinnungen, die uns von allen Irrschritten des Lebens endlich wieder zurückführen. 

An Zelter, 25.12.1829

Unendliches Ziel und bedingte Zwecke

Handle besonnen, ist die praktische Seite von Erkenne dich selbst. Beides darf weder als Gesetz  noch als Forderung betrachtet werden; es ist ausgestellt wie das Schwarze der Scheibe, das man immer auf dem Korn haben muss, wenn man es auch nicht immer trifft. Die Menschen würden verständiger und glücklicher sein, wenn sie zwischen dem unendlichen Ziel und dem bedingten Zweck den Unterschied zu finden wüssten und sich nach und nach ablauerten, wie weit ihre Mittel denn eigentlich reichen. 

An Rochlitz, 23.11.1829

Jeder sucht sich ein Abweglein

Das Unglück ist bei dem Selbstwollen unserer Zeit, das durch die ganze Welt geht, daß niemand den gebahnten Weg verfolgen mag (zum praktischen Ziel, worauf doch alles ankommt, damit Erkennen und Wissen in Tat verwandelt werde), daß niemand zu denken scheint, die Chaussée sei dazu da, um vom Fleck zu kommen. Jeder sucht sich ein Abweglein, als wenn das Leben ein Spazierengehen wäre.

an Neesebeck, 2.4.1828

 

Landeplätze für Ideen

Überhaupt aber ist es das Schlimmste, daß jeder auf seinem eignen Weg in die Sache gekommen sein will; niemand begreift, daß es irgendwo eine bequeme, vielleicht einzige Stelle gibt, wo auf dieser Insel zu landen sei (die Franzosen haben hier das hübsche Wort aborder une question).

An Christoph Ludwig Friedrich Schultz, 29.6.1829

 Aus dem Problem ein Postulat machen

Die größte Kunst im Lehr- und Weltleben besteht darin, das Problem in ein Postulat zu verwandeln, damit kommt man durch.

An Zelter, 9.8.1828

Denn das Wahre ist einfach

denn das Wahre ist einfach und gibt wenig zu tun, das Falsche gibt Gelegenheit, Zeit und Kräfte zu zersplittern.

An Zelter, 2.1.1829

 Erträgliches Leiden und mäßiger Genuß

Den eifrigen Wunsch will ich jedoch hinzufügen, daß die Tage, die wir noch zusammen auf Erden zu verleben haben, von erträglichem Leiden und mäßigem Genuß mögen begleitet sein.

An Wilhelm von Humboldt, 1.3.1829

 

Das wahrhafte Vernünftige und Auslangende

Ist doch eigentlich das wahrhaft Vernünftige und Auslangende das Erbteil weniger, im Stillen fortwirkender Individuen.

An Zelter, 4.3.1829

Die rechte und die linke Hälfte

denn die Gegenstellungen sind überall dergestalt unvermeidlich, daß, wenn man den Menschen selbst ganz genau in zwei Hälften spaltete, die rechte Seite sogleich mit der linken in einen unversöhnlichen Streit geraten würde.

An Carl Ernst Schubarth, 10.5.1829

 Konfessionen für die Nachwelt

Wenn man der Nachwelt etwas Brauchbares hinterlassen will, so müssen es Konfessionen sein, man muss sich als Individuum hinstellen, wie man’s denkt, wie man’s meint, und die Folgenden mögen sich heraussuchen was ihnen gemäß ist und was im Allgemeinen gültig sein mag.

An Zelter, 1.11.1829

 Die Divergenzen der Forscher sind unvermeidlich

Die Divergenzen der Forscher sind unvermeidlich; auch überzeugt man sich bei längerem Leben von der Unmöglichkeit irgend einer Art des Ausgleichens. Denn indem alles Urteil aus den Prämissen entspringt, und, genau besehen, jedermann von besonderen Prämissen ausgeht, so wird im Abschluß jederzeit eine gewisse Differenz bleiben, die dem jeweiligen Wissenschaftler angehört und erst recht von der Unendlichkeit des Gegenstands zeugt, mit dem wir uns beschäftigen. 

An Johannes Müller, 23. Februar 1826

Der Weltgeist ist toleranter, als man denkt

Überhaupt muß ich mich jetzt sehr zusammennehmen und, mehr als jemals, alles Polemische an mir vorüber gehen lassen. Der Mensch hat wirklich viel zu tun, wenn er sein eignes Positive bis an's Ende durchführen will. Glücklicherweise bleibt uns zuletzt die Überzeugung, daß gar vieles neben einander bestehen kann und muß, was sich gerne wechselseitig verdrängen möchte: der Weltgeist ist toleranter, als man denkt.

An Carl Friedrich von Reinhard, den 12. Mai 1826

Mit einem, der deine Prinzipien leugnet, streite nicht

Hier mach ich Halt nach längst geprüfter Lebensregel: Was mit mir übereinstimmt, bringt eine heitere Stunde; dem aber ein Ohr zu leihen, was mir widerstrebt, warte ich auf einen heitern Augenblick, wo ich mir selbst gewissermaßen gleichgültig bin und auch wohl das Gegenteil von meinen Überzeugungen geschichtlich anhören mag. Der Menschenkenner sollte sich überzeugen, daß niemand durch seines Gegner Gründe überzeugt wird. Alle Argumente sind nur Variationen einer ersten festgefassten Meinung – deswegen unsere Vorfahren so weislich gesagt haben: mit einem, der deine Prinzipien leugnet, streite nicht.

An Carl Friedrich Bachmann, 2. Februar 1822

Vielseitige Reisegenossen

Daß man zwei Reisende, aus zwei entfernten Weltgegenden nach einem Punkte strebend, auf demselben zusammentreffen, um nun ihren Erwerb zu vergleichen, und das einseitig Gewonnene wohlwollend austauschen, so ist es vorteilhafter, als wenn sie die Reise zusammen angetreten und zusammen vollendet hätten.

An den Großherzog Carl August und die Großherzogin Luise, 1. August 1822

Von der Notwendigkeit des Substrats

Was ich aussprach, ist nicht aus der Luft gegriffen, es hat immer ein Substrat; wie denn neuerlich ein werter unterrichteter Mann meine Art und Weise ein gegenständliches Denken genannt hat, welche nämlich immer im Angesicht des Gegenstandes sich bilde und äußere.

An Sulpiz Boisserée, 22. Dezember 1822

Die Unumgänglichkeit unmöglicher Synthesen

Mehr oder weniger bedeutende Menschen habe ich gesprochen und ein wunderliches Resultat herausgezogen: Ihr Hauptstreben ist eine unmögliche Synthese, in der sie sich abquälen, die Verständigsten wie die Unverständigsten; Tod und Leben, Regiment und Freiheit, Meisterschaft und Bequemlichkeit, Leidenschaft und Dauer, Gewalt und Sittlichkeit pp., das soll vereinigt zur Erscheinung kommen. Ich sage nichts weiter, den Commentar machen Sie selbst

An Christoph Ludwig Friedrich Schultz, 19. August 1823

… Das Blatt war kaum zur Post, als ich mich auf der unmöglichsten aller Synthesen ertappe und ganz im Ernste lachen muss, wobei das Schlimmste sein mag, dass ich durch die Erkenntnis keineswegs gebessert war, die fruchtlose Operation vielmehr ununterbrochen fortsetzte.

An denselben, 8. September 1823

Ein hübsches Nest von Unheil

Nicht alles Übel erfolgt, was man oft hypochondrisch vorzusehen glaubt; ich kenne aber noch ein hübsches Nest von Unheil, das bei dieser Gelegenheit flügge werden wird.

An Voigt, Februar 1816

Weltliteratur und Zwieback

Leider ist die erste Ausgabe Werthers seit vielen Jahren nicht mehr in meinen Händen, auch hab ich sie kaum wiedergesehen. Vielleicht bin ich so glücklich, sie aufzutreiben, wo nicht, so erlauben Sie mir mit dem neusten Zwieback, wie er aus dem Ofen kommt, aufwarten zu dürfen.

An Ehrmann, März 1816

Gegenrede ist geboten 

Wenn wir dasjenige aussprechen, was wir im Augenblick für wahr halten, so bezeichnen wir eine Stufe der allgemeinen Cultur und unserer besondern; ob ich mich selbst, oder durch andere zurechtweisen lasse, ist für die Sache selbst gleichviel, je geschwinder es geschieht, desto besser. Ist doch nichts in der Welt, was nicht eine Gegenrede erduldete.

An Schultz, September 1817

Stellenbeschreibung eines Universitätsgelehrten 

Ich bin seit vier Wochen mit Universitätsgelehrten in Geschäftsführung, wofür ich mich, ob ich gleich über 40 Jahr in Jena lebe, immer gehütet habe. Ihr Zustand aber läßt sich billigerweise so aussprechen, wenn ich die Forderungen unserer Zeit ins Auge nehme: Ein solcher Mann soll in dem Fache, worin er Meister ist, lehren, sich auf das täglich und stündlich zu Lehrende vorbereiten, um sich, wenn er es auch in- und auswendig kennt, für den Moment fertig zu machen, er soll nicht allein das Hergebrachte überliefern, er soll auch vom Neuen und Neusten Rechenschaft geben, irgend eine akademische Schrift ausarbeiten, oder in sonstigen Druckschriften sich gewandt und tüchtig zeigen, nebenher Journale bedienen, eigene und fremde Schriften redigieren und corrigien, auch wohl einmal – Das Weitere entbehren Sie wohl womit ich schließen wollte.

An Schultz, November 1817

Rückzug in die Tanne 

Meine Wohnung auf der Tanne wird mir dreifach lieb, da sie mir nun als unentbehrlich erscheint. Ich komme dadurch aus aller Berührung mit Menschen, die, wie sich allgemein und öffentlich beweist, sich ihrer Denkart dergestalt hingegeben haben, daß einer, der sie nicht leidenschaftlich teilt, nicht zehen Worte sprechen kann, ohne sich zu befeinden.

An Voigt, Mai 1818

Scheinfrei 

Da ist’s dann wieder, wie die Sterne wollten:
Bedingung und Gesetz und aller Wille
ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten.
Und vor dem Willen schweigt die Willkür stille;
Das Liebste wird vom Herzen weggescholten,
Dem harten Muß bequemt sich will und Grille.
So sind wir scheinfrei denn, nach manchen Jahren,
Nur enger dran, als wir am Anfang waren.

Urworte. Orphisch

Das Leben ist zu kurz für Euphemismen

Verzeih Ew. Wohlgeboren, wenn ich etwas geradezu spreche, es liegt mir jetzo so vieles ob, daß ich nur fertig werde, wenn ich in jedem Geschäft meine Meinung aufrichtig sage; euphemische Wendungen zu suchen, verbietet mir die Kürze der Zeit und des Lebens.

an Schadow, 15. März 1817

Eine gemeinsame Sprache finden  

In früheren Zeiten suchte ich nur an Freunden zustimmende Seite, da sich denn im Laufe des Umgangs die abstimmende oft von selbst zeigte, jetzt such ich die Differenz zuerst, damit die Einigkeit daraus hervorgehe. Es ist doch zuletzt alles eine Art von Sprache, wodurch wir uns erst mit der Natur, und auf gleiche Weise mit Freunden unterhalten möchten. Diese haben nun etwa einen ein wenig abweichenden Dialect, und da gibt es wohl einmal ein Mißverständnis, das aber wohl zu lösen ist, wenn man sich eines gemeinsamen Idiotikons befleißigt.

an Schultz, 24. September 1817

Die Worte vermüllen die Sachen 

Die Masse an Worten nimmt zu, man sieht zuletzt von der Sache gar nichts mehr. Dagegen aber nur Personen, wo ein jeder sich anders nimmt.

An Meyer, 29. Oktober, 1817 

Es ist schön, dass alles so anders ist, als sich's ein Mensch denken kann  

Mit denen Leuten leb‘ ich, red‘ ich und lass‘ mir erzählen. Wie anders sieht auf dem Platze aus, was geschieht, als wenn es durch die Filtriertrichter der Expeditionen eine Weile läuft. Es gehen mir wieder Lichter auf, aber nur, die mir das Leben lieb machen. Es ist schön, dass alles so anders ist, als sich’s ein Mensch denken kann.

Brief an Charlotte von Stein, 4. März 1779


Antinomien der Überzeugung machen die ganze Menschheit

denn gerade dadurch wird es eine Menschheit, daß wie so manches andere sich entgegensteht, es auch Antinomien der Überzeugung gibt. Diese zu studieren, machte mir das größte Vergnügen, seitdem ich mich zur Wissenschaft und ihrer Geschichte gewandt habe.

An Adolf Heinrich Friedrich von Schlichtegroll, 31. Januar 1812

Lichte Punkte und lichte Menschen sind festzuhalten

Es ist unglaublich, was die Deutschen sich durch das Journal- und Tageblattsverzeddeln für Schaden tun; denn das Gute, was dadurch gefördert wird, muss gleich vom Mittelmäßigen und Schlechten verschlungen werden. …. Ich halte in denen Dingen, die mich interessieren, lichte Punkte und lichte Menschen fest, das Übrige mag quirlen, wie es will und kann.

An Carl Friedrich von Reinhard, den 25. Januar 1813

Gegen die Sprachreiniger 

daß ich, im Leben und im Umgang … mehr als einmal die Erfahrung gemacht habe, daß es eigentlich geistlose Menschen sind, welche auf die Sprachreinigung mit so großem Eifer dringen, denn da sie den Wert eines Ausdrucks nicht zu schätzen wissen, so finden sie gar leicht ein Surrogat, welches ihnen eben so bedeutend scheint, und in Absicht auf Urteil haben sie doch etwas zu erwähnen, und an den vorzüglichsten Schriftstellern etwas auszusetzen, wie es Halbkenner vor gebildeten Kunstwerken zu tun pflegen, die irgend eine Verzeichnung, einen Fehler der Perspektive mit Recht oder Unrecht rügen, ob sie gleich von den Verdiensten des Werkes nicht das geringste anzugeben wissen.

An Friedrich Wilhelm Riemer, den 30. Juni 1813

Gegen die Kritiker 

Es sei am besten getan, etwas Faßliches und Begreifliches, Gefälliges und Angenehmes, ja Verständiges und Liebenswürdiges vorauszusetzen, weil man viel sicherer sei, alsdann den rechten Sinn herauszufinden, oder hineinzulegen.

An Anna Rosina Städel, 27. September 1815 

Gegen die Moralisten

Niemand bedenkt leicht, dass und Vernunft und ein tapferes Wollen gegeben sind, damit wir uns nicht allein vom Bösen, sondern auch vom Übermaß des Guten zurückhalten.

An Carl Friedrich Zelter, 3. Dezember 1812 

Gegen die 'Cancel Culture'

In dem Statuten-Entwurf der philosophischen Facultät stehen die allerkomischsten Dinge. Eben dieselben Menschen, die eine unbegrenzte Pressefreiheit mit Wut verlangen, wollen die Lehrfreiheit ihrer Kollegen auf das unerlaubteste begrenzen und so erscheint überall nichts als Selbstsucht und heftige Wahrung des eigenen Vorteils.

Brief an Voigt, 19.5.1818 

Die Maximen, die uns beherrschen, ganz unbewunden aussprechen

Gewiß würde man, nach meiner Überzeugung, über Gegenstände des Wissens, ihre Ableitung und Erklärung viel weniger streiten, wenn jeder vor allen Dingen sich selbst kenne und wüßte, zu welcher Parthie er gehörte, was für eine Denkweise seiner Natur am angemessensten sei. Wir würden alsdann die Maximen, die uns beherrschen, ganz unbewunden ausprechen und unsere Erfahrungen und Urtheile diesem gemäß ruhig mittheilen, ohne uns in irgend einen Streit einzulassen: denn bei allen Streitigkeiten kommt am End doch nichts weiter heraus, als daß sich zwei entgegengesetzte, nicht zu vereinigende Vorstellungsarten recht deutlich aussprechen, und jeder auf der seinigen nur desto fest und strenger beharrt.

An Carl Cäsar von Leonhard, 1. Oktober 1807


Ein Wörterbuch des Herabwürdigens

Ich habe mir den Spaß gemacht, alle Worte auszuziehen, wodurch Menschen sowohl als literarische und soziale Gegenstände verkleinert, gescholten oder gar vernichtet werden, und ich denke daraus ein dictionnaire détractif zu bilden … Geisteserhebendes findet sich wenig. Voltaire ist im Verschwinden, Rousseau im Verborgenen, Buffon macht kein eigentliches Aufsehen, d’Alembert, Helvetius und andere erscheinen auch nur von ihrer klugen Seite.

An Carl Ludwig von Knebel, 17. Oktober 1812

Kunst und Demut

Indessen sind diese Menschen, die sich noch denken können, dass das Nichts unserer Kunst alles sei, noch besser dran als wir andern, die wir doch mehr oder weniger wissen: dass das Alles unserer Kunst nichts ist.

Brief an Schiller, 12. August 1797

Philosophie ist Objektivitätstraining  

Die Philosophie wird mir deshalb immer werter, weil sie mich täglich immer mehr lehrt, von mir selbst zu scheiden, das ich umso mehr tun kann, da meine Natur, wie Quecksilberkugeln, sich so leicht und schnell wieder vereinigt.

Brief an Schiller, 10. Februar 1798

Die Menschheit ist ein Kollektivwesen  

Nur sämtliche Menschen erkennen die Natur, nur sämtliche Menschen bilden das Menschliche. Ich mag mich stellen, wie ich will, so sehe ich in vielen berühmten Axiomen nur die Aussprüche einer Individualität, und gerade das, was im allgemeinen als wahr anerkannt wird, ist gewöhnlich nur ein Vorurteil der Masse, die unter gewissen Zeitbedingungen steht und die man daher eben so gut als ein Individuum ansehen kann. Leben Sie wohl und liebe mein liebendes Individuum trotz allen seinen Ketzereien.

Brief an Schiller, 4. Mai 1798

Das Geschriebene schrumpft zusammen auf dem Papier

Es sieht wunderlich aus, wenn eine so große Masse eigenen und fremden Lebens auf dem Papier steht und doch immer nicht nach was rechts aussehen will. Das Geschriebene wie das Getane schrumpft zusammen und wird immer erst wieder was, wenn es aufs Neue ins Leben aufgenommen, wieder empfunden, gedacht und gehandelt wird.

An Carl Friedrich Zelter, 1. Juni 1809

Frauenförderung

Es kommt mir immer vor, als wenn in der neuern Zeit die Romane nur durch Frauenzimmer geschrieben werden sollten.

An August Wilhelm Schlegel, 2. April 1800

Der Preis der Wahrheit  

Das Beste ist, daß er [ein guter Mensch] nichts verliert, wenn das Wahre wahr ist, da so viele sich nur dem Echten deshalb widersetzen, weil sie zu Grunde gehen würden, wenn sie es anerkennten.

An Friedrich Schiller, 11. März 1801

Jeder theoretisiere für sich allein  

Wenn ich von einem Resultate reden soll, das sich in mir zu bilden scheint, so sieht es aus, als wenn ich Lust fühlte, immer mehr für mich zu theoretisieren und immer weniger für andere. Die Menschen scherzen und bangen sich an den Lebensrätseln herum, wenige kümmern sich um die auflösenden Worte. Da sie nun sämtlich sehr recht daran tun; so muß man sie nicht irre machen.

An Friedrich Schiller, 12. Juli 1801 

Erwarten ohne zu hoffen

Was mich betrifft, so mag ich gern erwarten ohne zu hoffen und bin schon zufrieden, wenn ich meinen Tag leidlich und nicht ganz unnütz zubringe.

An Carl Friedrich von Reinhard, 16. November 1807 

Vollkommenheit erreichen nur Nicht-Perfektionisten  

Der Einsame möchte gern das Werk in sich vollkommen haben und erschwert sich’s selbst, wer für Menschen arbeitet, sieht, dass eine relative Vollkommenheit wirksamer ist und bequemer hervorgebracht wird, dieser Begriff leitet ihn und seine Werke werden dadurch wirklich vollkommener, indem sie mehr lebendige Folge haben.

Brief an Philipp Christoph Kayser, 23. Januar 1786

Corona-Prophezeiungen  

Auch muss ich selbst sagen, halt ich es für wahr, dass die Humanität endlich siegen wird, nur fürcht‘ ich, dass zu gleicher Zeit die Welt ein großes Hospital und einer des andern humaner Krankenwärter werden wird.

An Charlotte von Stein, 9. Juni 1784

Kinder haben Selbstbetrug nicht nötig  

Die Kinder sind ein rechter Probierstein auf Lüge und Wahrheit, es ist ihn noch gar nicht so sehr wie den Alten um den Selbstbetrug not.

Brief an Charlotte von Stein, 5. Oktober 1783

 An die Zensoren

Du verstehst mich, ich meyne die Zeitung und sage dir redlich,
Sie ist die gefährlichste Schrift indem sie die Tollheit
Die Verruchtheit der Menschen, den Leichtsinn, die Dummheit und
Was nur jeden Plan der Vernunft zerstört so deutlich darlegt.
Da ist keiner er sey so toll und dumm er findet noch schlimmere
Wercke da oder dort. […]

Könnt ihr also die Menschen nicht hindern zu hören was täglich
Außer ihnen geschieht so laßt sie auch ohne Bedencken
Ohngehindert sie hören was außer ihnen gemeynt wird.

Wär ich ein Fürst ich ließe sogleich aufrührische Schriften
Alle kaufen und theilte sie aus damit sich ein jeder
Satt dran läße damit nichts tolles könne gesagt seyn
Was man nicht läse bey mir.
Allein ich würde zugleich auch
Jeden Zweck der Thätigkeit ehren von dem an der die Erde
Sie zu befruchten bewegt bis zu den geistigen Denckern
Oder Künstlern.


Von der Vielzahl der Welten

 Ja, wenn wir unser Gehirn und den Zusammenhang desselben mit dem Uranus und die tausendfältigen einander durchkreuzenden Fäden kennten, worauf der Gedanke hin und her läuft! So aber werden wir der Gedankenblitze immer dann erst inne, wann sie einschlagen. Wir kennen nur Ganglien, Gehirnknoten; vom Wesen des Gehirns selbst wissen wir soviel als gar nichts. Was wollen wir denn also von wissen? Man hat es Diderot sehr verdacht, daß er irgendwo gesagt: wenn noch nicht ist, so wird er vielleicht noch. Gar wohl lassen sich aber nach meinen Ansichten von der Natur und ihren Gesetzen Planeten denken, aus welchen die höhern Monaden bereits ihren Abzug genommen, oder wo ihnen das Wort noch gar nicht vergönnt ist. Es gehört eine Constellation dazu, die nicht alle Tage zu haben ist, daß das Wasser weicht und daß die Erde trocken wird. So gut wie es Menschenplaneten giebt, kann es auch Fischplaneten und Vogelplaneten geben. 

Ich habe in einer unserer früheren Unterhaltungen den Menschen das erste Gespräch genannt, das die Natur mit sich hält. Ich zweifle gar nicht, daß die Gespräch auf andern Planeten viel höher, tiefer und verständiger gehalten werden kann. Uns gehen vor der Hand tausend Kenntnisse dazu ab. Das Erste gleich, was uns mangelt, ist die Selbstkenntniß nach dieser kommen alle übrigen. Streng genommen kann ich von doch weiter nichts wissen, als wozu mich der ziemlich beschränkte Gesichtskreis von sinnlichen Wahrnehmungen auf diesem Planeten berechtigt, und das ist in allen Stücken wenig genug.

Gespräche

Goethe verdammt die Schmeichelwörter

Redensarten, welche der Schriftsteller vermeidet, sie jedoch dem Leser beliebig einzuschalten überläßt.

Aber. Gewissermaßen. Einigermaßen. Beinahe. Ungefähr. Kaum. Fast. Unmaßgeblich. Wenigstens. Ich glaube. Mich deucht. Ich läugne nicht. Wahrscheinlich. Vielleicht. Nach meiner Einsicht. Wenn man will. So viel mir bewußt. Wie ich mich erinnere. Wenn man mich recht berichtet. Mit Einschränkung gesprochen. Ich werde nicht irren. Es schwebt mir so vor. Eine Art von. Mit Ausnahme. Ohne Zweifel. Ich möchte sagen. Man könnte sagen. Wie man zu sagen pflegt. Warum soll ich nicht gestehen. Wie ich es nennen will. Nach jetziger Weise zu reden. Wenn ich die Zeiten nicht verwechsle. Irgend. Irgendwo. Damals. Sonst. Ich sage nicht zu viel. Wie man mir gesagt. Man denke nicht. Wie natürlich ist. Wie man sich leicht vorstellen kann. Man gebe mir zu. Zugegeben. Mit Erlaubniß zu sagen. Erlauben Sie. Man verzeihe mir. Aufrichtig gesprochen. Ohne Umschweife gesagt. Geradezu. Das Kind bei seinem Namen genannt. Verzeihung dem derben Ausdruck.

Vorstehende Sammlung, die sowohl zu scherzhaften als ernsten Betrachtungen Anlaß geben kann, entstand zur glücklichen Zeit, da der treffliche Fichte noch persönlich unter uns lebte und wirkte. Dieser kräftige entschiedene Mann konnte gar sehr in Eifer gerathen, wenn man dergleichen bedingende Phrasen in den mündlichen oder wohl gar schriftlichen Vortrag einschob. So war es eine Zeit, wo er dem Worte gewissermaßen einen heftigen Krieg machte. Dieß gab Gelegenheit näher zu bedenken, woher diese höflichen, vorbittenden, allen Widerspruch des Hörers und Lesers sogleich beseitigenden Schmeichelworte ihre Herkunft zählen. Möge diese Art Euphemismus für die Zukunft aufbewahrt sein, weil in der gegenwärtigen Zeit jeder Schriftsteller zu sehr von seiner Meinung überzeugt ist, als daß er von solchen demüthigen Phrasen Gebrauch mach  

Goethe, Literatur: Über Kunst und Altertum   


Goethe erfindet die Evolutionstheorie

"Kein Apfel wächst mitten am Stamme, wo Alles rauh und holzig ist. Es gehört schon eine lange Reihe von Jahren und die sorgsamste Vorbereitung dazu, so ein Äpfelgewächs in einen tragbaren, weinichten Baum zu verwandeln, der allererst Blüthen und sodann auch Früchte hervortreibt. Jeder Apfel ist eine kugelförmige, compacte Masse und fordert als solche beides, eine große Concentration und auch zugleich eine außerordentliche Veredelung und Verfeinerung der Säfte, die ihm von allen Seiten zufließen. Man denke sich die Natur, wie sie gleichsam vor einem Spieltische steht und unaufhörlich au double! ruft, d. h. mit dem bereits Gewonnenen durch alle Reiche ihres Wirkens glücklich, ja bis ins Unendliche wieder fortspielt. Stein, Thier, Pflanze, alles wird nach einigen solchen Glückswürfen beständig von neuem wieder aufgesetzt, und wer weiß, ob nicht auch der ganze Mensch wieder nur ein Wurf nach einem höhern Ziele ist?"

(Gespräch mit Falk, 1809)

Gegen Leiden hilft nur Zerstreuung

Keine seiner Fähigkeiten ist dem Menschen werter als die Einbildungskraft. Das menschliche Leben scheint so wenig auf Glück berechnet, daß man nur mit Hilfe einiger Schöpfungen und gewisser Bilder, nur durch glückliche Wahl unserer Erinnerungen die verteilten Freuden der Erde sammeln, und, nicht durch die Kraft der Philosophie, sondern durch die weit mächtigere Wirkung der Zerstreuungen gegen die Leiden zu kämpfen vermag, die uns das Schicksal auferlegt.

Wenn man nur mäßiger wäre

Meine Tage waren von morgens bis in die Nacht besetzt. Man könnte noch mehr, ja das unglaubliche thun, wenn man mäßiger wäre. das geht nun nicht. Wenn nur jeder den Stein hübe, der vor ihm liegt. Doch sind wir hier sehr gut dran. Alles muss zuletzt auf einen Punkt, aber eherne Geduld, ein steinern Aushalten. Wenns nur immer schön Wetter wäre. Wenn die Menschen nur nicht so pover innerlich wären. und die reichen so unbehülflich. Wenn pppp. Ordnung hab ich nun in allen meinen Sachen, nun mag Erfahrenheit, Gewandtheit auch an kommen. Wie weit ists im kleinsten zum höchsten 

(Tagebuch)

 Apologie der Tätigkeit

Gott helfe weiter, und gebe Lichter, daß wir uns nicht selbst so viel im Weg stehn. Lasse uns von Morgen zum Abend das gehörige tun und gebe uns klare Begriffe von den Folgen der Dinge. 

(Goethe, Tagebuch)

Man darf sich nur ein wenig lässig finden lassen und die Zeit rutscht weg, man weiß nicht wo sie hinkömmt.

An Friedrich Wilhelm Riemer, 14. Januar 1813

Selig im ersten Sinn ist nun unser Wieland, er ist in seinem Herrn entschlafen und ohne sonderliches Leiden zu seinen Göttern und Heroen herübergegangen. Was Talent und Geist, Studium, Menschenverstand, Empfänglichkeit und Beweglichkeit, verbunden mit Fleiß und Ausdauer, vermögen utile nobis proposuit exemplar. Wenn jeder seine Gaben und seine Zeit so anwenden wollte, was müßten für Wunder geschehen!

An Wilhelm von Humboldt, 8. Februar 1813 

möge ich immer vernehmen, daß Sie in behaglicher Thätigkeit fortfahren, sich und andern zu genügen 

(an P.A. Wolff, 4.7.1819) 

 

Wissenschafts-Skepsis

Ich bin recht wohl überzeugt, daß durch That, Kunst, Liebe die größten Widersprüche gehoben werden; wie es aber der Wissenschaft gelingen wird, lasse ich dahin gestellt seyn. 

(Goethe an Humboldt, 22.08.1806)

Der Anti-Prokrastinator

Drum thu' wie ich und schaue, froh verständig,
Dem Augenblick in's Auge! Kein Verschieben!
Begegn' ihm schnell, wohlwollend wie lebendig,
Im Handeln sei's zur Freude, sei's dem Lieben;
Nur wo du bist sei alles, immer kindlich,
So bist du alles, bist unüberwindlich.

Elegie

Revolutionäres

Die christliche Religion ist eine intentionierte politische Revolution, die, verfehlt, nachher moralisch geworden ist. 

Gesetzgeber oder Revolutionärs, die Gleichsein und Freiheit zugleich versprechen, sind Phantasten oder Charlatans.

Eingebildete Gleichheit: das erste Mittel, die Ungleichheit zu zeigen.

Jede Revolution geht auf Naturzustand hinaus, Gesetz- und Schamlosigkeit. (Pikarden, Wiedertäufer, Sansculotten.)

Vor der Revolution war alles Bestreben; nachher verwandelte sich alles in Forderung.

(Maximen und Reflexionen)


Bücher und Meinungen  

Erste Epistel

Reden schwanken so leicht herüber hinüber, wenn viele
Sprechen und jeder nur sich im eigenen Worte, sogar auch
Nur sich selbst im Worte vernimmt, das der andere sagte.

Mit den Büchern ist es nicht anders. Liest doch nur jeder
Aus dem Buch sich heraus, und ist er gewaltig, so liest er
In das Buch sich hinein, amalgamirt sich das Fremde.
Ganz vergebens strebst du daher durch Schriften des Menschen
Schon entschiedenen Hang und seine Neigung zu wenden;
Aber bestärken kannst du ihn wohl in seiner Gesinnung,
Oder wär' er noch neu, in dieses ihn tauchen und jenes.

Sag' ich, wie ich es denke, so scheint durchaus mir, es bildet
Nur das Leben den Mann und wenig bedeuten die Worte.
Denn zwar hören wir gern, was unsre Meinung bestätigt,
Aber das Hören bestimmt nicht die Meinung; was uns zuwider
Wäre, glaubten wir wohl dem künstlichen Redner; doch eilet
Unser befreites Gemüth, gewohnte Bahnen zu suchen.
Sollen wir freudig horchen und willig gehorchen, so mußt du
Schmeicheln. Sprichst du zum Volke, zu Fürsten und Königen, allen
Magst du Geschichten erzählen, worin als wirklich erscheinet,
Was sie wünschen, und was sie selber zu leben begehrten.

Das Gewohnheitstier

Die Liebe, deren Gewalt die Jugend empfindet, ziemt nicht dem Alten; so wie alles, was Productivität voraussetzt. Daß diese sich mit den Jahren erhält, ist ein seltner Fall.   

Alle Ganz- und Halbpoeten machen uns mit der Liebe dergestalt bekannt, daß sie müßte trivial geworden sein, wenn sie sich nicht naturgemäß in voller Kraft und Glanz immer wieder erneute.  

Der Mensch, abgesehen von der Herrschaft, in welcher die Passion ihn fesselt, ist noch von manchen nothwendigen Verhältnissen gebunden. Wer diese nicht kennt oder in Liebe umwandeln will, der muß unglücklich werden.

Alle Liebe bezieht sich auf Gegenwart; was mir in der Gegenwart angenehm ist, sich abwesend mir immer darstellt, den Wunsch des erneuerten Gegenwärtigseins immerfort erregt, bei Erfüllung dieses Wunsches von einem lebhaften Entzücken, bei Fortsetzung dieses Glücks von einer immer gleichen Anmuth begleitet wird, das eigentlich lieben wir, und hieraus folgt, daß wir alles lieben können, was zu unserer Gegenwart gelangen kann; ja, um das Letzte auszusprechen: die Liebe des Göttlichen strebt immer darnach, sich das Höchste zu vergegenwärtigen.   

Ganz nahe daran steht die Neigung, aus der nicht selten Liebe sich entwickelt. Sie bezieht sich auf ein reines Verhältniß, das in allem der Liebe gleicht, nur nicht in der nothwendigen Forderung einer fortgesetzten Gegenwart. 

Diese Neigung kann nach vielen Seiten gerichtet sein, sich auf manche Personen und Gegenstände beziehen, und sie ist es eigentlich, die den Menschen, wenn er sie sich zu erhalten weiß, in einer schönen Folge glücklich macht. Es ist einer eignen Betrachtung werth, daß die Gewohnheit sich vollkommen an die Stelle der Liebesleidenschaft setzen kann, sie fordert nicht sowohl eine anmuthige als bequeme Gegenwart, alsdann aber ist sie unüberwindlich. Es gehört viel dazu, ein gewohntes Verhältniß aufzuheben, es besteht gegen alles Widerwärtige; Mißvergnügen, Unwillen, Zorn vermögen nichts gegen dasselbe, ja es überdauert die Verachtung, den Haß. Ich weiß nicht, ob es einem Romanschreiber geglückt ist, dergleichen vollkommen darzustellen, auch müßte er es nur beiläufig, episodisch unternehmen; denn er würde immer bei einer genauen Entwickelung mit manchen Unwahrscheinlichkeiten zu kämpfen haben.

(Verhältniß, Neigung, Liebe, Leidenschaft, Gewohnheit. )


Gelehrte und ihr Wort-Credo

Wie ich denn immer bemerkt habe, daß mit Geschäfts-und Weltleuten, die sich gar vielerlei aus dem Stegreife müssen vortragen lassen und deshalb immer auf ihrer Hut sind, um nicht hintergangen zu werden, viel besser auch in wissenschaftlichen Dingen zu handeln ist, weil sie den Geist frei halten und dem Referenten aufpassen, ohne weiteres Interesse, als eigene Aufklärungen; da Gelehrte hingegen gewöhnlich nichts hören, als was sie gelernt und gelehrt haben und worüber sie mit ihres Gleichen übereingekommen sind. An die Stelle des Gegenstandes setzt sich ein Wort-Credo, bei welchem denn so gut zu verharren ist als bei irgend einem andern. 

(Campagne in Frankreich)


Wenns nur immer schön Wetter wäre

Meine Tage waren von Morgends bis in die Nacht besezt. Man könnte noch mehr, ia das unglaubliche thun wenn man mäsiger wäre. das geht nun nicht. Wenn nur ieder den Stein hübe der vor ihm liegt. doch sind wir hier sehr gut dran. alles muss zulezt auf einen Punckt, aber Ehrne Gedult, ein steinern Aushalten. Wenns nur immer schön Wetter wäre. Wenn die Menschen nur nicht so pover innerlich wären. und die reichen so unbehülflich. Wenn pppp. Ordnung hab ich nun in allen meinen Sachen, nun mag Erfahrenheit, Gewandheit pp auch an kommen. Wie weit ists im kleinsten zum höchsten

Bey Gott es ist kein Canzellist der nicht in einer Viertelstunde mehr gescheuts reden kan als ich in einem Vierteljahr Gott weis in zehn iahren thun kann. dafür weis ich auch was sie alle nicht wissen und thu was sie alle nicht wissen, oder auch wissen. Ich fühle nach und nach ein allgemeines Zutrauen und gebe Gott dass ichs verdienen möge, nicht wies leicht ist, sondern wie ichs wünsch. Was ich trage an mir und andern sieht kein Mensch. Das beste ist die tiefe Stille in der ich gegen die Welt lebe und wachse, und gewinne was sie mir mit Feuer und Schwert nicht nehmen können.

(Tagebuch, 1780)

Die Weltgeschichte führt auch nur Selbstgespräche

Mir ist also die Weltgeschichte um so viel aus eigenem Mitleben bekannt geworden.

Diese langen Jahre durch versäumte ich nicht, ferner und näher mit den Weltereignissen in Berührung kommend, darüber zu denken und nach einer individuellen Weise die Gegenstände mir zu ordnen und einen Zusammenhang auszubilden.

Was konnte mir daher erwünschter seyn als mich in ruhigen Stunden, nach Bequemlichkeit und nach Belieben, mit einem solchen Mann zu unterhalten, der nach seiner klaren, treuen und kunstfertigen Weise mir dasjenige vorzuführen versprach, worüber ich zeitlebens zu denken hatte und durch die tagtäglichen Folgen jener großen Jahresreihe immer fortzudenken genöthigt bin.

Dieses schreibe vorläufig nieder, eben als ich das Lesen dieses nach In wie fern Werkes beginne, und gedenke, was mir wichtig schien in der Folge gleichfalls nach und nach niederzulegen.

Alsdann möchte sich zeigen was mir neu war, theils weil ich es nicht erfuhr noch bemerkte, noch dasselbe in seiner eigentlichen Bedeutung anerkannte; ferner, welche Combinationen, Ein- und Übersichten mir besonders wichtig geworden.

Hiebey wird an der Betrachtung das Meiste zu gewinnen seyn, daß, wie jedes Individuum, sich die Weltgeschichte nur selber vernimmt, die Zeitungen im eigenen Sinne liest; so auch keine Parthey, keine Nation hierin ganz rein zu verfahren fähig ist, sondern vielmehr immer erwartet und aufsucht, was ihren Begriffen zusagt und ihren Leidenschaften schmeichelt.

(zu Walter Scott, 'Leben Napoloeons')


Klarheit statt Aufklärung

Man beobachtet den Theologen, man spottet über den Mediciner, man scherzt über den Philosophen, man läßt den Juristen gewähren, und bedenkt nicht, daß alle diese Männer von der Zeit gebildet werden und die Zeit bilden helfen, und daß alles was sie lehren auf das bürgerliche Leben den größten Einfluß hat. Es war vielleicht niemals nöthiger als zu unserer Zeit, über dasjenige deutlich zu sein, was um und neben uns geschieht, zu einer Zeit, wo das wechselseitige Mißtrauen fast unvermeidlich ist. Man könnte gern Publicität und Aufklärung vermissen, wenn Offenheit und Klarheit an ihre Stelle treten könnten.

(Ueber die verschiedenen Zweige der hiesigen Tätigkeiten)

Das Glück schwebt im Weiten

Die kleine Anzahl nothwendiger und gewisser Wahrheiten wird niemals Geist und Herz völlig befriedigen; wer sie entdeckt, hat ohne Zweifel den höchsten Ruhm, aber auch nützlich für das menschliche Geschlecht haben die Verfasser solcher Werke gearbeitet, die uns rühren oder angenehm betrügen. Will man die Leidenschaften des Menschen mit metaphysischer Genauigkeit behandeln, so thut man seiner Natur Gewalt. Auf dieser Erde gibt es nur Anfänge; keine Gränze ist bezeichnet, die Tugend steht fest, aber das Glück schwebt im Weiten; und wenn es eine Untersuchung nicht aushält, wird es durch sie vernichtet, wie glänzende Nebelbilder, aus leichten Dünsten emporsteigend, für den verschwinden, der durch sie hindurch geht.

Versuch über die Dichtungen

Vom Nutzen der Übel

Die Geschichte meiner Wanderungen teilt sich in zwei Epochen, eine günstige und eine widerwärtige. …. Auch die Übel sind nicht ohne Vorteil geblieben; denn ich habe gelernt, dass man bei meiner Taille, mit Rheumatismus in der Schulter, doch noch, wenn’s Not tut, enge seidne Strümpfe selbst anziehen kann.

An Constanze von Fritsch, 17. Juli 1815 


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