(Dieses und alle folgenden Zitate aus:
Peter Sloterdijk, Der Kontinent ohne Eigenschaften.
Lesezeichen im Buch Europa)
Gibt es Europa? Also, gibt es Europa, nicht nur auf der Landkarte und geographisch, sondern in den Köpfen, auf den inneren Landkarten seiner Bewohner und darüber hinaus, mentographisch sozusagen? Und wenn dem so wäre, was ist Europa: etwas, worauf man stolz sein kann, wenigstens diffus (wie es noch in jeder Europa-Wahl von so gut wie jeder Partei beschworen wird: Ich bin stolz, eine Europäerin zu sein!); oder etwas, wofür man sich schämen muss (wie es uns die Kolonialismus-Kritik samt ihren Extremvarianten in der critical whiteness theory seit einiger Zeit suggeriert: Ich schäme mich ein Europäer zu sein!)? Oder ist es, in dieser schwankenden Zwischenstellung eines alternden Kolosses mit einem diffusen politischen Zentrum und einer ausufernden Bürokratie, wirklich inzwischen zu einem „Kontinent ohne Eigenschaften“ geworden? Das ist die Hypothese, die der philosophische Altmeister Peter Sloterdijk in insgesamt sechs Lektionen dem Publikum präsentiert. Und wie gewohnt präsentiert er sie altmeisterlich, das heißt: mit einem imponierenden Aufgebot an tiefer und breiter Bildung; und er präsentiert sie in einer Sprache, die man entweder liebt ihres Pointen- und Wortschöpfungsreichtums wegen oder hasst, ihrer auch syntaktisch nicht unanspruchsvollen Komplexität und gelegentlichen Gespreiztheit wegen (Autorin gehört zu ersterer Fraktion, sie lernt auch jedes Mal noch neue Tricks). Gehalten wurden die Lektionen als Vorträge ursprünglich in französischer Sprache vor dem Collège de France im Jahr 2024; veröffentlicht wurden sie mit zwei „Eröffnungsreden“, auf die sieben „Lektionen folgen – und vielleicht muss man das als Kontext ein wenig dazu denken, wenn man nun die deutsche Fassung liest; denn vor einem französischen Elite-Publikum möchte man ja vielleicht sich anders darstellen als vor einer deutschen, vielleicht nicht ganz so elitär-selbstbewussten Leserschaft? Oder man möchte manch einen Bezug verstärken, der unter anderer geographischer Beleuchtung vielleicht anders ausgefallen wäre? Die Autorin hat das Buch als Frau aus Deutschland gelesen, und als Philosophin, und als – nun ja, gelegentlich zweifelnde und kritische, aber auch, wenigstens: diffus überzeugte Europäerin. Und es regte sich dabei neben punktueller Zustimmung auch Widerspruch in ihr, durchaus grundlegender Widerspruch sogar. Dazu im Folgenden ein paar – Lesezeichen!
Ein Kontinent ohne Eigenschaften – wirklich?
Wer sich in solcher Lage der Aufgabe, Europa neu zu denken, zuwendet, muß wissen, es wird darum gehen, Begriffe für ein politisches und kulturelles Novum zu bilden, dessen Existenz unter großteils noch unbekannten Vorzeichen steht: Begriffe für einen Kontinent ohne Eigenschaften.
Folgen wir der Grundthese erst einmal: Ist Europa wirklich ein „Kontinent ohne Eigenschaften“, und was ist damit gemeint, und wie wird diese Einschätzung begründet, und was resultiert daraus am Ende eigentlich? Oder nein, machen wir zuvor einen kleinen Umweg. Denn wir können ja einen Moment noch so tun, als befänden wir uns alle im Zustand prälektoraler Unschuld, hätten nämlich den Sloterdijk’schen Lektionen noch nicht gelauscht, sondern assoziierten mit der Charakterisierung „ohne Eigenschaften“ den Spender oder Vater der seltsam in sich paradoxen Formulierung: Robert Musil nämlich, seines Zeichens Österreicher und bildungsmäßig ganz sicher ein sehr guter Europäer. Und sein „Mann ohne Eigenschaften“ – im gleichnamigen, sehr dicken und unvollendeten Roman: Heißt Ulrich, Militär und Ingenieur gewesen, ist Mathematiker, sportlich, ein wenig Frauenheld, ganz sicher aber ein großer Ironiker vor dem Herrn und hat sich ein Jahr Urlaub von seinem Leben genommen; es war ihm zu – eng geworden in ihm sozusagen, er hatte zu viele handfeste Eigenschaften entwickelt (Mathematik, Sportlichkeit, Ironie etc.). Und nun, nennt es midlife crisis oder Romantik, sehnt er sich – zurück, voraus? – nach einer Welt, in der – noch, endlich? – der Möglichkeitssinn regiert; in der er zu jeder Eigenschaft theoretisch auch die entgegengesetzte leben könnte. „Hypothetisch leben“, hatte er das in seiner Jugend genannt, der Zustand wird folgendermaßen beschrieben (die Autorin gesteht, dass genau dieses Zitat in einem ihrer peinlichen Jugend-Tagebücher sorgfältig notiert steht): „Darum zögert er, aus sich etwas zu machen; ein Charakter, ein Beruf, eine feste Wesensart, das sind für ihn Vorstellungen, in denen sich schon das Gerippe durchzeichnet, das zuletzt von ihm übrig bleiben soll. Er sucht sich anders zu verstehen; mit einer Neigung zu allem, was innerlich mehrt, und sei es auch moralisch oder intellektuell verboten, fühlt er sich wie einen Schritt, der nach allen Seiten frei ist, aber von einem Gleichgewicht zum nächsten und immer vorwärts führt“. Später wird Ulrich dieses in der Jugend noch unbestimmte gefühlte Ideal dann auf den Begriff des „Möglichkeitssinns“ bringen: „So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist. [...] Solche Möglichkeitsmenschen leben, wie man sagt, in einem feineren Gespinst, in einem Gespinst von Dunst, Einbildung, Träumerei und Konjunktiven; Kindern, die diesen Hang haben, treibt man ihn nachdrücklich aus und nennt solche Menschen vor ihnen Phantasten, Träumer, Schwächlinge und Besserwisser oder Krittler. Wenn man sie loben will, nennt man diese Narren auch Idealisten, aber offenbar ist mit alledem nur ihre schwache Spielart erfaßt, welche die Wirklichkeit nicht begreifen kann oder ihr wehleidig ausweicht, wo also das Fehlen des Wirklichkeitssinnes wirklich einen Mangel bedeutet. Das Mögliche umfaßt jedoch nicht nur die Träume nervenschwacher Personen, sondern auch die noch nicht erwachten Ansichten Gottes“.
Was das nun mit Europa zu tun hat? Das wäre die Frage. Sloterdijk gibt Musil, unerwarteterweise, nicht mal ein kleines Lesezeichen; er dient eigentlich nur als sehr beiläufig erwähnter Metaphernspender, und geistige Urheberrechtsgebühren in größerem Umfang werden nicht bezahlt. Aber die Autorin kann ja eine Hypothese dazu formulieren, sehr tentativ, wie man so sagt, und sie lautet dann, ungefähr: Europa ist derjenige Kontinent, der im Lauf seiner Geschichte die größte Zahl an menschlichen und kulturellen Möglichkeiten erprobt, nämlich: geistig hervorgebracht und in Wirklichkeit versetzt hat. Europa ist deshalb, im zwiespältigsten Sinne des Wortes: der idealistischste, meta-physischste, geistigste Kontinent gewesen, den die Menschheits-Geschichte bisher hervorgebracht hat. Doch weil, wie Musil gut weiß, jeder Zustand – sei er moralisch, geistig, individuell, körperlich – immer auch sein Gegenteil mit im Gepäck hat: Deshalb war Europa auch der barbarischsten und blutigsten und realsten Verbrechen fähig, gerade und besonders im Namen des Geistes und des Ideals!
Musil, das als letztes aside, war im Übrigen nicht besonders daran gelegen, solche Ideen in einem konventionellen Sinne moralisch zu beurteilen; Moral ist für ihn, wie alles andere auch, ein System von Funktions- und Verhältnisbegriffen und als solches ausgelegt für einen bestimmten Zweck, den es besser oder schlechter erfüllt. Und Ulrich hätte auf die Frage, ob er sich als ein Europäer fühle oder nicht, und was damit gegebenenfalls für Eigenschaften verbunden seien – sicherlich eine wunderbar ironische Antwort bereit gehabt, die die Naivität der Frage gleichzeitig bloßgestellt und dabei doch die Möglichkeit offen gelassen hätte, dass man in diesem naiven Sinne – durchaus auch ein guter Europäer sein kann?
Das Buch Europa und seine Lesezeichen
Wird Europa als »Buch« vorgestellt, ist eo ipso ein geskriptetes Produkt gemeint. Als gültiges Skript zeichnet es den Vorgängen, von denen es handelt, mehr oder weniger feste Plätze in einer nicht umkehrbaren Zeitreihe vor. Manche Skripte jedoch – auch das hier besprochene – weisen die Merkwürdigkeit auf, daß, wer sie liest, es unversehens riskiert, in eine Neuauflage einbezogen zu werden, und dies nicht bloß zufällig. Sie werden verfaßt, um dem Leser mit einem resoluten tua res agitur! – es geht um dich selbst! – die Illusion der unbeteiligten Lektüre zu rauben. Was die Härte von Machtgebilden im politischen Raum mit der Sphäre des Buches verbindet, ist das, was man die symbolische Funktion nennt. Als soft-power-Gebilde gehören Bücher der Dimension der Zeichen an.
Damit Ende der Einblendung und zurück zu Sloterdijk. Angesichts des übergroßen Themas – Was aber ist Europa? – greift er zu einem schönen hermeneutischen Trick: Er schlägt nämlich vor, in seiner aller-suggestivsten Stimme, Europa als ein sich selbst schreibendes Buch zu verstehen, in das er nun verschiedene Lesezeichen einlegt – womit natürlich die Folgerung gleichsam unausgesprochen mit transportiert wird, dass das Dargestellte nur eine winzige Auswahl sein kann und jeder Leser seine eigenen Lesezeichen mitbringen möge; das Buch Europa kann ja niemals vollständig nacherzählt werden, sondern es können nur Ausschnitte vorgezeigt werden, Blickwinkel eingenommen, mit all der damit verbundenen Subjektivität und Ausschnittlichkeit (ist das ein mögliches Wort?) Und schließlich – aber damit machen wir schon einen kleinen Schritt in die Meta-Ebene hinauf, wo sich dieses Buch im Übrigen bemerkenswert wenig aufhält – gehört es ja durchaus zum möglichen Eigenschaften-Katalog Europas, sehr buchförmig zu sein; eine „Lerngemeinschaft“, so wird Sloterdijk in der zweiten Lektion zu sagen und zu zeigen versuchen, die beispielsweise mit einer ausgebauten Kultur der Gelehrsamkeit, der Universitäten und der Akademien zu tun hat. Aber Lesezeichen, das ist auf jeden Fall eine schöne Idee und eine ziemlich gut funktionierende Metapher (die Autorin ist ein wenig neidisch, dass sie noch nie selbst darauf gekommen ist, ehrlich gesagt; man bekommt so viele wunderschöne Lesezeichen geschenkt im Laufe des Lebens, und meist macht man doch wieder nur Ecken in papierne Seiten oder gibt Markierungen in elektronische Lesegeräte ein)! Europa, der Kontinent der vielfältigen, beliebig einlegbaren, aber immer Bedeutung suggerierenden: Lesezeichen!
Das Außenskelett: translatio imperii als Drama mit Fortsetzungen
Europa – aber wo ist es? Wie soll es sich verstehen, sobald es einer ergiebigen Spur zu seinen Quellen folgt? Wir müssen wohl zugeben, daß das bisher Gesagte nur die gewissermaßen grobstofflichen Aspekte der europäischen Kultur, ihres historischen Gepräges, ihrer Machtprogramme, ihres imperialen Gerippes betrifft. Besser: Es beschreibt ihr politisches Exoskelett, falls man Imperien mit Insekten vergleichen dürfte. Bei diesen wird die Stabilisation der Tierkörper durch äußere Panzerungen geliefert. Für politische Anatomen mögen solche Analogien von Interesse sein, für Theoretiker, die nach dem punctum saliens, dem Vitalitätszentrum von Kulturen, besser nach den bewegenden Vokabularen und formenden Grammatiken lokalen Lebens fragen, reichen Regieanweisungen für die Haupt- und Staatsaktionen rigider politischer Hypersubjekte nicht aus.
Damit nun endlich zum Inhalt des Buches Europa im Buch Sloterdijk. Es beginnt mit Anekdoten, einer freundlichen und amüsanten Leserinnen-Einstimmung (wie erreicht man Europa eigentlich telefonisch? Wie sieht ein durchschnittlicher Europäer aus?). Es schlägt dann ein Verfahren vor, dass zeigt, dass der Autor nicht nur Buch kann, sondern auch moderne mediale Formen wahrgenommen hat: Die Geschichte Europas soll nämlich als eine Folge von dramaturgischen Re-Inszenierungen, oder moderner: Re-Enactments einer einzigen großen Ursprungserzählung verstanden werden – der Idee des römischen Weltreichs, die nach dem Muster der christlichen translatio imperii vom römischen Kaiserreich bis hin zur Kuppel des Kapitols in Washington immer weitergegeben, neu inszeniert und wieder aufgeführt wurde. Das macht eine gute Geschichte mit einem gelehrten Spin, die uns, sehr typisch für den Altmeister, gern in ihren eher unbekannten Seitenarmen erzählt wird und dabei mit dem einen oder anderen Seitenhieb auf aktuelle Entwicklungen und Probleme angereichert (den neuen russischen Imperialismus, vor allem). Passt wahrscheinlich; man könnte höchstens von der Seitenlinie her fragen – und das ist ein durchaus grundlegender Einwand gegen Methodik und Darstellungsweise –, ob nicht jedes historische Imperium ab einer bestimmten Größenordnung das gleiche Drama aufgeführt hat, mit kulturell unterschiedlich unterfütterten Legitimierungskonzepten natürlich (wie war das beispielsweise in China? Ach, wie schnell entdeckt man die Wissensgrenzen des eigenen eurozentrischen inneren Imperiums!)? Die Frage nehmen wir einfach mal mit im Handgepäck und kommen später, vielleicht, darauf zurück!
Das innere Zentrum: translatio studii und Europa als Lerngemeinschaft
Zur realgeschichtlichen translatio imperii kommt, in der zweiten Lektion, die sprachgebundene translatio studio: Die lateinisch sprachige Welt erfindet Europa als Lernzusammenhang, als eine Gemeinschaft nicht nur von Lehrenden, sondern auch von Lernenden und Übenden (bekannter Sloterdijk‘scher Kerngedanke, hier eher unauffällig markiert). Das macht kulturgeschichtlich guten Sinn, hat aber darüber hinaus noch eine interessantere strukturelle Ebene: Sloterdijk stellt nämlich hier das europäische Lernen in der Sprache und Ideenwelt der Kybernetik als sich selbst durch positive Rückkopplungen verstärkenden Steigerungsvorgang dar (es gibt, logischerweise, siehe oben, auch negative Rückkopplungen mit Schädigungseffekt; das wird nicht stark thematisiert, könnte aber sogar mitgedacht werden im Musil’schen Sinne). Dabei wird das System im Laufe des Prozesses von dem Parameter Tradition/Überlieferung auf den von Neuheit/Erfindung umgestellt; Lernen von Neuem ist komplementär vergesellschaftet mit Vergessen von Altem und Bekannten. Dazu kommt, nicht zu vergessen, die reale Entdeckung der neuen Ressource fossile Energien als hochkonzentrierter Energiequelle – die unerlässliche Voraussetzung für alle technischen Revolutionen der Moderne! Die Autorin fühlt sich in dieser Lektion sehr aufgehoben, man ist auch nahe bei Musil (geistige Innovation+ Ingenieursgeist!); Europa als derjenige Ort, der nicht nur den Lehrer, sondern vor allem auch den immer weiter fragenden Schüler erfunden hat, das streichelt die alt-europäische Seele, so sehen wir uns gern!
Europa als Beichtstuhl der Menschheit
Die restlichen Lektionen behandeln wir etwas lieblos, sie liegen uns nicht so am Herzen, um ehrlich zu sein. Ein wenig scheint die Energie auch bei Sloterdijk verloren zu gehen, je mehr der kolonialismuskritische Impetus an Oberhand gewinnt und den kurzzeitigen Enthusiasmus der Lerngemeinschaft unterminiert. Immerhin gibt die dritte Lektion noch eine recht originelle Erklärung für die Selbstbezichtigungsleidenschaft der modernen Europäer unter der schwerlastenden Anklage ihrer Weißheit: nämlich die charakteristische (ja, genau, das ist auch eine Eigenschaft!) Neigung zur Selbstthematisierung in Autobiographien, die seit Gründervater Augustinus mit seinen Confessiones auch noch eine Neigung zur Geständnisform haben – wer in Europa von sich selbst in der ersten Form Singular spricht, muss sich offenbar immerzu gleichzeitig dafür entschuldigen, und zwar, wie Sloterdijk überzeugend darlegt: nicht nur für sich selbst, sondern möglichst gleich für die ganze Gattung. Doch dabei formt dieses (Selbst-)Gespräch auch dasjenige aus, was der bekennende Rilke-Fan Sloterdijk mit dem schönen Begriff „Weltinnenraum“ nennt und wofür wir einen kurzen Umweg direkt über Rilke einlegen! Rilke war übrigens, man möge nur die Linien seiner Reisen und unterschiedlichen Lebens- und Aufenthaltsorte über die europäische Landkarte nachziehen, ein sehr überzeugter und für die (kriegerische und nationalistische) Zeit auch ganz passabler Europäer. Und er schrieb in einem Gedicht, das wir einfach mal in einem mit einem Lesezeichen einlegen wollen, ohne es auszulegen:
Durch alle Wesen reicht der eine Raum:
Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still
durch uns hindurch. O, der ich wachsen will,
ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.
Ich sorge mich, und in mir steht das Haus.
Ich hüte mich, und in mir ist die Hut.
Geliebter, der ich wurde: an mir ruht
der schönen Schöpfung Bild und weint sich aus
Gesellschaften und Gesprächsräume
Europa ist jedoch nicht nur eine Lehr-, Lern- und Bekenntnisgemeinschaft mit ausgebautem Weltinnenraum; es ist auch eine Gemeinschaftsform, die sich seit einiger Zeit als „Gesellschaft“ versteht. Die Genese dieses zu völliger Beliebigkeit aufgeblähten Pauschalbegriffs zeichnet der Meister sehr erheiternd nach; um sie dann in einer geradezu verwegen anmutenden Volte mit einem idealistischen Mehrwert anzureichern. Letzterer ist Hölderlin entnommen, es ist nur eine, freilich viel zitierte Zeile, und sie stammt aus der nicht wenig optimistischen Friedensfeier: „Viel hat von Morgen an, / Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander, / Erfahren der Mensch“. Europa ist eine Gesprächsgemeinschaft, verbunden durch – Heutige würden sagen: „relevante“, Goethe würde sagen „bedeutende“, die Autorin enthält sich des eigenschaftlichen Adjektivs – Themen, die es wert sind, im Gespräch gewendet zu werden; ein „Geistergespräch“, so lautet eine schöne Metapher Friedrich Nietzsches dafür; und wer würde nicht gern Teil eines solchen hohen Diskurses von Gipfel zu Gipfel werden? Dafür nähme man sogar in Kauf, als Gesellschaft angesehen zu werden! Das „Geistergespräch“ also – ist das eine kerneuropäische Idee, oder doch: eine, die zu einer Weltkultur und -gesprächsgemeinschaft erweitert werden kann? Man denke dem nach und sammle gern Lesezeichen dazu!
Das Dilemma: Man kann Europa nur zitieren oder parodieren, nicht aber kritisieren
Ihre Verlegenheit teilt sie mit anderen europäischen Exportgütern, namentlich Wissenschaft, Technik und Industrie. Deren kritisches Merkmal zeigt sich darin, daß sie, einmal in die Hände nicht-europäischer Anwender geraten – nicht zurückgerufen werden können. An erster Stelle ist hier, neben dem Konzept des Staates, das von zahlreichen staatsunfähigen Größen aufgenommen wurde, die Idee der Universität zu nennen – sie gründete in der mittelalterlichen Einrichtung der universitas studiorum (wobei universitas anfangs so etwas wie »Sammelstelle« bedeutete) und erfuhr seitens der vom 15. Jahrhundert an im Westen florierenden Akademien eine wichtige Ergänzung. So wie der neuzeitliche Staat ein genuin europäisches Produkt des politischen Maschinenbaus darstellt, der zwischen dem 15. und dem 19. Jahrhundert eine Reihe von mehr oder weniger einfach kopierbaren Modellen hervorbrachte, repräsentiert die Universität beziehungsweise die Hohe Schule als Gebilde der pädagogischen und kognitiven Inventorik ein allenthalben gern eingesetztes Instrument, das eine direkte oder indirekte Europäisierung seiner Benutzer bewirkt. Fast durchwegs wird es als Mittel der Selbstermächtigung eingesetzt – als ob es gälte, die im europäischen 17. Jahrhundert statuierte Gleichung von Wissen und Macht in möglichst vielen nicht-europäischen Agenturen zu implantieren.
Im übrigen, und nicht nur, weil das ein Hobby ebenso wie ein Herzensanliegen der Autorin ist: fehlt das Buch der Frauen (nein, kein echter Vorwurf; nur ein Vorschlag für ein recht dickes zusätzliches Lesezeichen!) Denn die Frage könnte sich aufdrängen, parallel zur Ursünde des Kolonialismus und gedacht im (der Autorin eher zweifelhaften erscheinenden) Geiste der notwendig intersektionalen Verschränkung des Ressentiments: Ist auch Misogynie typisch für Europa, verwurzelt in seiner geistigen wie realen Geschichte? Oder ist auch Frauenfeindlichkeit eher (was man ja auch für den Kolonialismus gelegentlich bedenken sollte): eine hässliche anthropologische Universalie? Zunächst funktioniert ja das vom Buch Sloterdijk vorgeschlagene Deutungsschema auch für eine Geschichte der Misogynie: Das römische Imperium beruht auf einer zutiefst vom Geist des Patriarchalismus durchtränkten Machtidee; der pater familias ist der reale Herrscher über den Haushalt bis weit in die Moderne hinein, und der Staat als Familienvater ist eine Idee, die ja durchaus noch durch den modernen Sozialstaat hindurchscheint. Zudem ergäben sich recht schöne – naja, nicht schöne: aussagekräftige – Lesezeichen, beispielsweise im Hexenhammer oder bei Otto Weiningers Geschlecht und Charakter, einem dickleibigen Buch eines gelehrten Mannes über die physiologische Minderwertigkeit des Weibes. Man könnte sich auch eine Art Parallelgeschichte europäischer Schatten-Herrschaft von Frauen ausdenken – und zwar nicht mit den üblichen Kaiserinnen als Einzelfiguren, sondern konzentriert auf die Mütter, Mätressen, Geliebten, First Ladys; aber auch das scheint, bei näherem Nachdenken, eher anthropologisch fundiert denn europäisch-speziell. Und schließlich wäre zu klären, wie das ist mit der Emanzipation der Frau: eine Idee, die ganz sicher aufsetzt, schon wortgeschichtlich, auf die römische emancipatio, die Entlassung der Frau aus der väterlichen Gewalt nämlich; und die dann von der Frauenrechtsbewegung ausformuliert wird in realen Forderungen ebenso wie in theoretischen Konzepten. Der Feminismus, eine europäische Bewegung? – das sagen beispielsweise seine außer-europäischen Kritikerinnen, die gelegentlich monieren, dass ihre europäischen Kampfgenossinnen gar sehr auf Luxusproblemen herumdenken.
Man sieht an diesem Beispiel auch und noch einmal, dass es gerade Europas vielfältig entwickelte, ja geradezu entfaltete Eigenschaften sind, die seine permanente Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit antreiben: Emanzipieren kann man sich nur in Abgrenzung, Unterscheidung, Ablösung von etwas. Emanzipation der Frauen ist die Freisprechung vom Patriarchat der Männer, als Glaubensgemeinschaft und Machtinstitution. Und wer sich, mit Emanzipation und Feminismus (was nicht das Gleiche ist), als eine Europäerin bekennt – mit Stolz in der Stimme, mit Scham in der Stimme: bekennt sich zum potentiellen Reichtum dieser Möglichkeiten wie auch zu ihrem potentiellen Missbrauch. Und dann nehmen wir, weil wir unseren Musil ordentlich gelesen haben, noch eine gehörige Portion Ironie hinzu, ohne die alle Weltanschauung absolut unerträglich und -verträglich ist!
Und die Zukunft Europas?
Wenn Europa nach alledem derjenige Kontinent ist, der in seiner Verbindung von Macht- und Ausdehnungsstreben sowohl auf ideellem denn auf realem Territorium ein weites Spektrum an menschlichen Möglichkeiten realisiert hat, im Guten wie im Schlechten; wenn seine wesentliche Eigenschaft damit wäre, in dem die Gattung Mensch charakterisierenden selbstverstärkenden Prozess des immerwährenden Lernens (und Vergessens) niemals zum Stillstand kommen zu können, niemals fassbar zu werden, aber auch: niemals seine eigenen Grenzen zu akzeptieren – "das Mögliche umfaßt jedoch nicht nur die Träume nervenschwacher Personen, sondern auch die noch nicht erwachten Ansichten Gottes“, so hieß es bei Musil –: Wie sieht dann Europas Zukunft aus? Dazu könnten wir jetzt ChatGPT fragen, der definitiv endlich einmal kein europäisches Produkt ist. Wir könnten auch, in einer Fußnote, darauf hinweisen, dass ein Kontinent, der rapide altert und an Bevölkerung verliert, seinen historischen Höhepunkt höchstwahrscheinlich überschritten hat und die Führungsrolle im Fortschritts-Wettbewerb Menschheit einfach mal an andere Kontinente abgeben sollte, und zwar ohne Gejammer; in der Tat erscheint der Autorin das immerwährende Gejammer darüber, dass man nicht mehr der Nabel der Welt ist, machtpolitisch oder wirtschaftlich oder auch kulturell gesehen, eurozentrischer als alles andere, was meist unter diesem Titel behandelt wird. Wir geben aber lieber dem Meister das letzte Wort, der ein wenig – Grau sieht?Wir geben aber lieber dem Meister das letzte Wort:
Exposition mit Nicht-Thema
Das Kapitel „Grau und Frau“ ist mit großem Abstand das kürzeste in Peter Sloterdijks neuer Monographie, und eigentlich würde man es am liebsten zur Gänze abdrucken. Es verwendet einen sehr vergessenen Topos (heute würde man wohl lieber sagen: ein „Narrativ“) aus dem sehr vergangenen 18. Jahrhundert, nämlich den der vom Winde verwehten Manuskriptseiten, die es dem Autor/Herausgeber ersparen, sich mit einem heiklen Text in ein massives öffentlich bewirtschaftetes Nesselbeet zu setzen. Und so bleibt die Leserin allein mit ausgesuchten grauen Frauen der Weltliteratur, den Vetteln in Schneetraum von Thomas Manns Zauberberg, den Sorgen-Gestalten aus Faust. Der Tragödie zweiter Teil, Musils Grigia und den Pariser Grisetten, während der Autor die Flucht ergreift: „Vielleicht kam der Windstoß zur rechten Zeit – andernfalls hätte der Lektor womöglich gesagt: Pass auf, wenn man keine Frau ist, kann man so etwas heute nicht mehr schreiben!“
Nun gut, das ist frech, und man könnte sich empören. Man könnte auch einen eigenen Roman daraus schreiben, in dem sich graue Frauen verbünden gegen altersgraue Männer und eine bunte Philosophie des Weiblichen entwerfen. Oder man könnte versuchen – und das tun die folgenden Absätze, die eine zu lange Rezension sind, aber eine angemessen kurze Gebrauchsanweisung –, dem Altmeister Sloterdijk dabei zuzuschauen, wie er seine philosophisch-rhetorischen Taschenspielertricks vorführt. Das abgetriebene Kapitel „Grau und Frau“ zum Beispiel ist eine umfangreiche praeteritio – eine enorm nützliche und von Politikern gern (wenn auch zumeist unwissend) verwendete Figur, mit der man vorgibt, etwas nicht sagen zu wollen, es aber eben durch diese Erwähnung ja doch sagt und sogar noch besondere Aufmerksamkeit darauf lenkt. Worum geht es also in Wer noch kein Grau gedacht hat – eine Farbenlehre, und wie liest frau es so, dass man sich beim Lesen nicht nur ärgert, sondern Spaß hat? Here goes!
Sloterdijk lesen – eine Gebrauchsanweisung
Seit 1983 hat Peter Sloterdijk ungefähr jedes Jahr eine neue Monographie publiziert, dazu unzählige Essays, Interviews und Übersetzungen. Wenn er nun, in seinem 75ten Lebensjahr, wiederum ein dreihundertseitiges neues Buch vorlegt, ist es wohl angemessen, von einem Alterswerk zu sprechen. Weit davon entfernt, sich selbst ins Aschgraue zu wiederholen, liest es sich jedoch so frisch und neu und bunt, und mit jugendlicher Frechheit stellt es eine steile These in den Denkraum: „Solange man noch kein Grau gedacht hat, ist man kein Philosoph“! Gleichzeitig promoviert sich sein Autor damit, Praemissis praemittendis, zum ehrenhaft ergrauten Gegenwartsphilosoph schlechthin, der sich gedanklich in der Graulehre auf der Höhe seiner Vorreiter Platon, Hegel und Heidegger bewegt. Die “Ressourcen deutscher Satzbildungskunst“ werden dabei ebenso ausgeschöpft wie der gedankliche und phänomenale Reichtum der Philosophie-, Medien-, Politik- und Kulturgeschichte – noch jedes Alterswerk tendiert zum gesteigerten Geistergespräch, und umgeben von Geistesverwandten, die wie alte Bekannte wirken, reduziert sich die Kommunikation oft auf geballte Kurz- und Kernformeln, die von Gipfel zu Gipfel gerufen werden (das fehlende Register würde aber genauso Autoren und andere Ikonen wie Baudrillard, Dante, Darwin, Dewey, Marx, Wagner oder Warhol verzeichnen; na gut: gönnen wir wenigstens einer Frau eine Nennung: Hannah Arendt!; Register sind übrigens ein unterschätztes Genre, sie enthalten ganze intellektuelle Biographien!). Was Sloterdijk jedoch über den Panoramablick hinaus auch zum sprachlichen Großmeister unserer eher zur Sprachverelendung neigenden Gegenwart macht, sind die pointierte Prägnanz, die blendende Brillanz, die sprachschöpferische Buntheit, das schiere Virtuosentum der Darstellung des Denkens (man könnte auch sagen: des Denkens der Darstellung): Das Grau zu denken, bedeutet hier nämlich gerade nicht, in einer grauen Sprache graue Gedanken aneinanderzureihen. Es ist vielmehr geradezu eine Lust, der hochtrainierten Gymnastik von Sloterdijks grauer Substanz beim bunten Tun zuschauen!
Damit ist nicht gesagt, dass dieses Buch einfach zu lesen ist, eher im Gegenteil (aber billige Vergnügungen haben gemeinhin auch wenig Substanz, und Brutstätten für gefälliges Denken findet man anderswo genug im intellektuellen Schnäppchenmarkt). Man muss dazu selbst ein wenig rhetorisch beflügelt sein, sprachmusikalisch nicht ganz unbegabt und fähig wie willig, über den ein oder anderen Begriffsgraben sprachspielerisch hinweg-zuspringen. Das jedoch vorausgesetzt, wird man erkennen können: Es sind sehr ernste Sprachspiele, die hier betrieben werden, und was sich in der Erscheinung als Assoziation verkleidet, verbirgt eine messerscharfe Analyse in seinem Grund. Falls jedoch die Aufgabe gestellt wäre, sich selbst als gelenkige Leserin zu erweisen, die eine nuancenreiche und jeden einzelnen Denkmuskel beanspruchende Lektüre schätzt, ohne sich vor dem gelegentlich resultierenden mentalen Muskelkater zu fürchten – dann sollte man dieses Buch mit Genuss lesen. Wort für Wort lesen, Satz für Satz lesen, ganz lesen, nochmal lesen. Noch im grauesten Detail stecken die ganze Buntheit eines langen Philosophenlebens und das souveräne Trickstertum des lebenslänglichen Autors (das meiste davon kommt aus der sehr alten Zauberkiste der Rhetorik, die heute jedoch mehr oder weniger durch die Anspruchslosigkeiten des Twittertums ersetzt worden ist). Und natürlich sollte man Zaubertricks nicht verraten; aber vielleicht ist es nicht ganz unnötig, ein wenig Hilfestellung beim Lesen zu leisten?
1. Aparte Aufzählungen
Worum es im Buch inhaltlich im Großen und Ganzen und Grauen geht – lassen wir am besten Sloterdijk selbst sagen, er sagt es so unvergleichlich besser selbst, dass jede Nachrede nur mausgraues Referat sein könnte. Man kann zudem gleich die Gelegenheit nützen und ihn dabei beobachten, wie er aparte Aufzählungen (enumeratio auf rhetorisch) zur Anreicherung akademisch strohtrockener Zwecke wie einer erwarteten Exposition oder einer zielgerichteten Zusammenfassung einsetzt: „Im chromatischen Bereich kommt Grau dem nahe, was aus modaler Sicht ein Möglich wäre. Topologisch ist es für das Zwischenräumliche zuständig; bei Gebäuden sind seine Bereiche eher die Korridore, die Treppenhäuser und Hinterhöfe als die Balkone oder die Zimmer mit Aussicht. In politischer Sicht färbt es die Randgebiete, wo die Adressen unscharf werden und die Ordnungskräfte zögern; moralisch meint es Grenzfallgebiete, wo man chronisch neben der Vorschrift handelt, um Vorgeschriebenes zu erfüllen; juristisch wuchert es in den Gesetzeslücken und den Bereichen des nicht ausdrücklich Verbotenen.“ Shades of Grey – das ist im Übrigen das einzige Wortspiel des Grauen, das sich Sloterdijk konsequent nicht erlaubt – sind das Grundprinzip solcher Reihungen: Sprachlich kommen ebenso Entfernt-Verwandte zusammen wie gedanklich; nicht markierte ebenso wie ausgestellte Zitate streifen vagabundierend durch den Text („Zimmer mit Aussicht“!); kleinere rhetorische Wortfiguren machen ihre Kunststückchen innerhalb der enumeratio (die Spannung zwischen „Vorschrift“ und „Vorgeschriebenem“ ist die der figura etymologica). Metaphern machen sich auf Begriffsgrund breit (das Juristische „wuchert)“. Merke: Aufzählungen sind nicht langweilig, und man sollte sie niemals überlesen! Aufzählungen sind vielmehr das Wesen der Welt jenseits des immer reduktionistischen Begriffs!
2. Kuriose Komposita und bunte Bettgenossen
Sloterdijk gebiert dabei ständig neue Worte. Das Goethe-Wörterbuch, das den bisher um-fangreichsten Wortschatz der (geschriebenen) deutschen Sprache überhaupt dokumentiert (Goethe ist natürlich ein alter Bekannter im Geistergespräch, er versteht sich besser mit einer gewissen Art Philosophen, als man meint), verzeichnet 90.000 Einträge; darunter eine bemerkenswert hohe Zahl an Einmalbildungen sowie Komposita, für die sich die paarungsfreudige deutsche Sprache besonders eignet. Man darf behaupten, dass das Sloterdijk-Wörterbuch in ähnliche Höhen aufsteigen könnte. Wer vor ihm hat schon von „solarmythologischen“, „lichtmetaphysischen“ und „farbtheologischen Motiven“ in der philosophischen Farbenlehre gesprochen? Wer hat, neben Kafka natürlich (ein alter Bekannter, er bekommt weiter unten eine eigene Digression), die „Korridorisierung der Existenz“ beschrieben oder die „Melanokratie“ der Bürokraten? Wo finden wir „Zornsammelstellen“ und „Wutbanken“ (außer im Internet natürlich, das bemerkenswert wenig gewürdigt wird, aber das nur a parte gesprochen) sowie den „Illusionenparkplatz“, außer bei Sloterdijk, dem Wortzauberer? Unnötig zu bemerken, dass das Grau zu einem Haupt-Ideenspender wird: Der „Grauzonenglobus“ wird in seinen „Vergrauungsleistungen“ erschlossen, der „Grautod“ folgt der „Grauzonenverschiebung“ und so weiter ins Aschgraue. Fremde Worte werden auf jeder einzelnen Textseite eingebürgert, auf einer (beinahe) beliebig gewählten Seite wandern ein: „sic et non“, „intentio recta“, „intentio obliqua“ und – man empfinde die Spanne vom Bildungslatein zum zynisch angehauchten Anglizismus der Baby Boomer: „not even wrong“; Wittgenstein lässt grüßen!). In der „mesokosmischen Weltauffassung“ (aus der allein man ein ganzes philosophisches Programm entwickeln könnte!) interagieren, jenseits der großtuenden Pathosformeln wie der kleingeistigen Fachsprache, in natürlicher Selbstverständlichkeit die Worthorte der Spezialisten mit denen Abstellkammern der Alltagsdenker, flirtet Anschauliches mit Höchst-Abstraktem, wiederbelebt Neugedachtes Althergebrachtes. Ja, sogar das „Ungedachte“ (ein sehr dunkler Bereich der traditionellen Philosophie) kommt zu seinem Recht, neben die „Unfarbe“ Grau treten die "Unlesbarkeit“ wie die „Unlebbarkeit“, die „Desymbolisierung“ und die „Dekonzentration“, und am Ende gar die „Entewigung“.
3. Angenehme Allusionen
Eine Digression zu diesem Trick (Digressionen übrigens sind ebenfalls ein sehr zu Unrecht in Verruf geratenes Werkzeug der rhetorischen Trickkiste; wahrscheinlich sind im digressionsverliebten Zeitalter der Aufklärung letztmals wichtige Manuskriptblätter vom Winde verweht worden, so wie dem Autor hier in der abgrundhaften Digression zum Thema „Grau und Frau“!): Es mag kein Zufall sein, dass Sloterdijk Alliterationen nicht nur ihrer akustischen Anmut, sondern durchaus ihres assoziativ-analytischen Potentials wegen schätzt. Wer bereit ist, „Marken, Methoden und Modelle“ nicht nur als Klanggeklimper und Allusion an verbreitete Floskeln des Marketing-bullshits zu lesen, sondern als mesokosmische enumeratio von Phänomenen, die in der Sache verbunden sind, wird auch die „flüchtigen Kulte in den Seitenkapellen der weltumspannenden Konsumkathedrale“ als „eminentestes Exempel“ schätzen; und es mag kein Zufall sein, dass gerade ein sanft summendes M „in milden Kollisionen einer Mehrzahl von Meinungen“ dominiert. Experimentalpsychologen – ein Wissenschafts-Genre, dessen Fehlen so auffällig ist, dass es als Absicht gedeutet werden könnte – haben für derartige (An-)Bahnungen im Gehirn den Begriff Priming geprägt: Ein Reiz aktiviert im Gehirn bestimmte Gedächtnisinhalte, die damit assoziativ – oder, in diesem Fall: akustisch – verbunden sind; wer vorher „milde“ gesagt hat, wird freundlicher auf „Meinungen“ schauen, als wenn vorher von, sagen wir: „schwachen“ Kollisionen gesprochen worden wäre.
4. Prägnante Pointe und perlende Polemik
Noch ein M-Exempel, für den Sprach-Gourmet: „Ohne Massenflucht in die Mediokrität keine modernen Zeiten“! Das ist richtig und lustig und illustriert nebenbei einen weiteren rhetorischen Trick, nämlich: die prägnante Pointe, die auch in Gestalt des bedeutungsballenden Aphorismus auftritt oder gepaart mit perlender Polemik (es scheint nicht unpassend, bei der Lektüre gelegentlich zu lachen). „Die Reinheit des Dagegenseins bewahrt am besten, wer sich der Stimme enthält, wenn Mehrheiten für kleinere oder mittelgroße Übel in Gesetzesform gesucht wer-den“. Oder: „Kein Auswärtiges Amt weiß wirklich, was da draußen geschieht, wo die Irregularitäten unter sich sind“ (das nicht genug zu empfehlende farbpolitische Kapitel des Buchs liefert en passant eine Geschichte des 20. Jahrhunderts in seinen arg grauen Ecken, für das man nervlich stark aufgestellt sein muss). Zitate werden angespielt und dabei zur Kenntlichkeit entstellt: „Am Anfang war das Bit, und das Bit war bei Gott, und Gott war das Bit“. Zu platt? Na gut, „Bildungsroman verpflichtet“, trotz alledem. Wer jedoch würde der „Gewalt eines Inexistenzbeweises aus der Erfahrung“ widersprechen wollen? Ist die „prästabilierte Harmonie zwischen Neugier und Erkenntnis“ nicht wirklich eine gelungene Wiederbelebung einer schon bei ihrer Geburt außerhalb ihres Milieus nicht besonders lebensfähigen und von den Philosophieverwaltern dann zu Tode getrampelten Formel? Oder, eine winzige Spur von Corona nur in einem Text, der sich – wiederum: auffällig unauffällig – diesem Minen-feld der Immunologie verweigert, obwohl sein Autor seit jeher zu den Heroen der philosophischen Immunisierungserkundung zählte: „Stark augenfällig ist überdies der kamerarelative Exhibitionismus, der inzwischen pandemisch wurde, ohne daß die Durchseuchung der Population zu höherer kollektiver Immunität geführt hätte“. Ein Selfie für Sloti!
5. Arsenal der Ansinnungen
Im Übrigen ist Sloterdijk – darf man sagen: offensichtlich, von jeher, in extremis? – der Großmeister der Ansinnung. Das ist Gedankenmanipulation für Fortgeschrittene und funktioniert so: Ein Satz sagt nicht nur eine beliebige Tatsache, eine Hypothese, einen Befund, eine Bemerkung aus, nach dem Muster: X ist Y, aus X folgt Y, oder auch nur: X hat Y gesagt. Nein, die allermeisten und vor allem die konzentriertesten Sätze transportieren in Vorder- und Nachsätzen (praemissis praemittendis, was im Übrigen nicht nur ebenfalls eine lateinische figura etymologica ist, sondern als Akronym P.P. in der formelverliebten und gleichzeitig um höchste Präzision bemühten Kanzleisprache als feste Grußformel benutzt wurde) einen ganzen Rattenschwanz von begleitenden Voraussetzungen und damit verbundenen Geltungsansprüchen. Eine kleine Auswahl aus dem Arsenal der Ansinnungen: „Es versteht sich nahezu von selbst“; Indessen scheint die Überlegung statthaft“; „Gesteht man zu, daß“; „Es liegt in der Natur der Dinge“; „Im übrigen besteht Grund zu notieren“ (weitere Beispiele liefert dieser Text in möglicherweise zu ausgiebigen Anwendungen). Die Sloterdijk’sche Ansinnung wird häufig verbunden mit dem generalisierenden Sprecher-Man (ein Ich gibt es praktisch nicht im Text, was kein Zufall sein mag; gelegentlich taucht ein Du auf) oder dem extensiven Gebrauch von Modalverben (dürfen, mögen, können, gern auch im Konjunktiv). Ebenso gern paart sie sich mit rhetorisch feinen understatement: „Das bedeutet nicht we-nig, wenn man bereit ist, mit William James zu bemerken, daß Menschen, wenn es um ihre lebensleitenden Grundannahmen geht, fast nie ohne Unfehlbarkeitsansprüche auskommen“ (und selten war ein Satz 2o wahr wie dieser heute, wo das Unfehlbarkeitsdogma der katholischen Kirche manchem als halbherziger Vorläufer der woke-Bewegung erscheinen mag).
6. Eine didaktische Digression
Natürlich ist das massive Manipulation, keine Zweifel; aber überall, wo gesprochen wird, wird manipuliert. Was tut der reife Leser an dieser Stelle? „Es versteht sich nahezu von selbst“ (man beachte das „nahezu“!): Sie widerspricht dem Autor. Das ist, und damit endlich zur versprochenen Kafka-Digression, ein Trick, der das Geheimnis des Erfolgs von Kafka bei leichtgläubigen Lesern und deutungsfreudigen Literaturwissenschaftlern ist: "Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet"; so beginnt die Odyssee des Josef K. im Prozess, und am Ende liegt seine Leiche da. Niemals aber stellt jemand die Prämisse in Frage: Ist es denn wirklich zwingend so, dass Josef K. tatsächlich verraten wurde? Es könnte doch ein einfacher Behördenirrtum gewesen, eine melanokratische Panne im Bürokratenuniversum? Nimmt man die Prämisse weg, praemissis non praemittendis!, flugs zerbröselte der Roman (Kafka übrigens soll beim Vorlesen gelegentlich über seine eigenen Texte gelacht haben; und notfalls hätte man sie ja auch, seiner testamentarischen Anordnung folgend, verbrennen können). Denn man könnte die grauen Korridore des Schlosses auch einfach verlassen, sich der „Verkorridierung“ widersetzen, auch wenn einem vom Erzähler ständig die Notwendigkeit angesonnen wird, dort zu bleiben! Genauso sollte der der erste Impuls der mündigen Leserin ein vehementes Veto sein, sobald Sätze mit Formulierungen eingeleitet werden wie: „Es versteht sich von selbst“, „es liegt in der Natur der Sache“, „man darf behaupten“ – nein, es versteht sich nicht von selbst für mich! Nein, es drängt sich mir nicht auf! Das entscheidet ja nicht über deren Geltungsanspruch. Aber es eröffnet ein Geistergespräch. Man muss allerdings sein persönliches Unfehlbarkeitsdogma vorher ablegen. Gegen ein permanentes overstatement von angesonnenen Geltungsansprüchen hilft jedoch nur skeptische Immunität (schwierig zu erwerben, sogar im Zeitalter von RNA-Impfstoffen, hält dafür aber lesenslang und immunisiert zusätzlich gegen jegliche Schwarz-Weiß-Malerei, besonders in Kriegszeiten).
Am Ende ist Gleich-Gültigkeit
Und damit zurück zum (inhaltlich) Grauen und einem Schlusszitat, dass die weiteste gedankliche Erstreckung des leitenden Gedankens in Nietzsche’scher Ansinnungsrhetorik und gewagter Wortkombinationskunst („onto-allergisch“!) ausbuchstabiert: „Wie, wenn Empfindung, Nervlichkeit, Störbarkeit, Subjektivität und alles, was daraus folgt, nur ein ‚Versehen des Seins‘ wäre? Wenn das, was wir das Innere nennen, nur ein Epiphänomen wäre, das auf dem Mineralischen aufsitzt, ein Spiel von Botenstoffen in organischen Hypothesen namens Körper? Indes das sachlich Wahre das Tote würde, das sich den Luxus des irrenden, überempfindlichen, onto-allergischen Lebens leistet? Bis das begriffen wird, leben wir im geborgten Licht einer bisher lebensnotwendigen falschen Unterscheidung“. Es gibt kein richtiges Leben in den falschen Begriffen (wahrscheinlich gibt es nicht einmal in richtigen Begriffen ein richtiges Leben). Wer das Grau zu Ende gedacht hat, dem wird vieles gleichgültig. Aber nicht egal! Und so überrascht der Text schließlich mit einer reservierten Rehabilitierung des Grau-Lauen, Mittleren, Mittelmäßigen: „Das gewöhnliche laue Selbst strebt eine mittlere Selbstverlorenheit an, mit der sich leben läßt. … Vor romantischem Hochmut gegen das Laue sei gewarnt: Lau ist die Betriebstemperatur des Lebens bei den endothermischen Kreaturen“. Aber diese zerstören sich derzeit wieder einmal lieber selbst in den extremistischen Hochtemperaturzonen des unbedingt Schwarz-Weißen und den geistigen Folterkammern der Propaganda.
Marx, Heidegger und Rilke treffen sich mit Hartmut Rosa
im Weltinnenraum, oder: ein Resonanzbericht
Das Publikum im wohlgefüllten Saal jedoch ist wohlgestimmt, und das ist wohl die beste Ausgangssituation für einen Vortrag, der lange um den zentralen Begriff herumgeistern wird (er steht aber schon oben über jeder Folie, dort, wo keiner hinschaut, im Rahmen halt) und andere Kulissen in den Vordergrund schiebt, dann aber, mit erheblicher Beschleunigung, sozusagen beschleunigt beklagter und noch beschleunigter reflektierter Beschleunigung, in den letzten zehn Minuten in den Vordergrund galoppieren wird, und nicht eine Minute kommt er zu spät! (Wer in Freiburger Vorträgen nicht pünktlich zum Ende kommt, den bestraft der Hausmeister, der wahrscheinlich fragen würde: Heidegger? Für wen spielt der? Rosa? Nie gehört, aber egal, alle jetzt raus hier! Na gut, Marx darf noch ein wenig bleiben, ist ein guter Kumpel von mir, mit dem ich gelegentlich Skat spiele, natürlich mit dem Links-ist-Trumpf-Blatt, Ehrensache!) Nein, die Resonanz kommt akademisch pünktlich; das wahrhaft Erstaunliche aber ist, mit welcher Macht sie kommt. Denn das Publikum wurde durchaus systematisch durch ein kompliziertes Modell mit drei horizontalen und zwei vertikalen Ebenen geführt, es hat sehr viele, sehr lange neue Wörter gehört (Weltreichweitenvergrößerung, man ist versucht nachzuzählen, siehe da: ein Wort mit sechs E‘s bei insgesamt neun Silben, aber wahrscheinlich hat das nichts zu tun mit der unheilvollen Sucht nach Steigerung und ewigem Wachstum, von der der Referent gerade so jugendlich engagiert und so aktuell inspiriert spricht, die Flüchtlinge rudern verzweifelt vorbei, immer schneller und keiner will sie haben, der Plastikmüllteppich vergrößert sich beim Sprechen schon wieder, wahrscheinlich auch ums sechsfache) – aber das alles war gut verträglich und nett verpackt: Brav spuckte powerpoint jede einzelne relevante Zeile aus, unterstrich freundlich das Wichtigste für den eiligen Leser und überblendete mit der ihm eigenen Magie die Übergänge (was eine noch zu schreibende Geschichte ist: der Ersatz der logischen Konsequenz, der gedanklichen Überführung, der sprachlich-konjunktivischen Verbindung durch die magische Formel: „nächste Folie!“) Und während wir uns noch alle freuen, weil wir etwas Neues sehen, und weil wir uns darauf stürzen, als hätte der Geist die letzten sechs Monate keine geistige Nahrung erhalten – er ist aber gegen Ende des Semesterendes leicht übersättigt und rülpst gelegentlich ungehörige Seitenbemerkungen vor sich hin –, haben wir schon, ruckzuck, vergessen, was auf der vorigen Folie eigentlich draufstand. Wird schon passen, ist ja eine Tabelle, und die hat Spalten und Zeilen, und man kann sich orientieren. Immer besser sogar, wenn man einmal genau hinschaut: Schon hat man sich auch auf dieses ‚Gestell‘ eingeschwungen, will wissen, was noch genau in der zweiten Spalte vierte Zelle von oben fehlt und schreit sozusagen innerlich nach dem Kreuzworträtselwörterbuch (nur sieben Silben, aber eine sehr schöne Vokalenmischung!)
Aber konzentrieren wir uns auf den Inhalt, content sagt man ja heute, und was man meint, ist: content ist beliebig, lästiges Beiwerk des alles umfassenden Designs und beliebige Befüllung des Rahmens, nehmt es nicht so genau, wir können auch die Spaltenbreite ändern, die Schriftart, die ganze design philosophy. Es soll also um Kritische Theorie gehen, das hat der sympathische nicht mehr ganz junge, aber so jugendlich unverstellt plaudernde Schwarzwaldbub, der so komische lange Wörter erfinden kann, gesagt. Und damit wir uns etwas darüber vorstellen können, hat er ein wenig Adorno herbeizitiert (die Älteren gruseln wohlig die Schultern und erinnern sich dunkel an ziemlich unverständliche, aber mit der Allgewalt erbarmungsloser Kritik auf eine ziemlich wehr-lose, weil leider: falsche Realität eindreschende Texte und Seminare; ein wenig Erinnerungsresonanz schwappt hier und dort auf, die jüngeren spüren sie immerhin an den Rändern und haben ja auch die ein oder andere Geschichte von den Elchen gehört). Wir erwarten also, immer wohlgestimmter, eine Art Kritische Theorie 2.0 (oder sind wir schon bei 4.0 angekommen, die Kritische Theorie aller Dinge im großen weltweiten Netz?), die sich, so Rosa unvermindert lausbubenhaft und engagiert, in der Pflicht sehe, nicht nur alles Mögliche zu analysieren, zu diagnostizieren (er sagt zum Glück gar nicht kritisieren in an dieser Stelle, wie klug, wie klug, wie außerordentlich klug!), sondern man müsse einen Therapie-Vorschlag machen. Für das richtige Leben, ob im falschen oder in einer Art Oase innerhalb des falschen oder einem fernen Exil weit weg vom falschen, das bleibt gnädig unklar; es ist ja auch eigentlich kein richtiges Leben, sondern, das haben wir von der Philosophie gelernt, die so klug, so klug, so außerordentlich klug ist, ein – nee, immer noch falsch, auch kein gutes, sondern ein „gelingendes“ (man könnte kurz erwägen, ob das nicht ein Wort ist, das im Unterschied zu richtig/falsch und gut/schlecht vielleicht Grade kennen könnte, Komparative, Stufen – aber dann wäre es ja möglicherweise steigerungsfähig, immer gelingenderer, sozusagen, und das wäre doch – nein, hören wir weiter zu). Soziologie ist also die neue Pathologie sozialer und kultureller Zustände, und der Soziologe der neue Therapeut; ob die Krankenkasse die Kosten übernimmt, gesamtgesellschaftlich selbstverständlich, wird noch geklärt. Alle freuen sich ein wenig auf diese schöne, neue gelingendere Welt, und nur ganz weit im Hinterkopf, vielleicht von Heidegger, nagt der Verdacht: Und was passiert, wenn die Gesellschaft dann geheilt ist? Was machen all die krankenkassenfinanzierten Soziologen dann? Fischen gehen, natürlich, hätte Karl Marx gesagt, Hartmut Rosa spricht auch gern vom Tennisverein und vom Bolzplatz in seinem schwarzwäldlerischen Heimatdorf, wo es sicher auch fischreiche, springende Bächlein gibt, von geringer Weltreichweite, versteht sich. (Lessing, der gern ein Spielchen spielte und immer zu wenig Geld hatte, hingegen hätte gesagt: „Ach Gott, wenn du in der rechten Hand das immerwährende gelingende Leben verschlossen hältst und in der linken die immerwährende Suche danach, obschon mit dem Zusatz, mich immer und ewig im Misslingen zu verstricken“ – und an dieser Stelle darf jede selbst den Satz vollen-den).
Aber nun gut, wir greifen voraus in unserer blinden Beschleunigungswut (wir wissen den Hausmeister im Rücken, wir kennen ihn nur allzu gut), denn später werden wir lernen, dass Resonanz unverfügbar ist, und das ist auch gut so. Erst einmal bleiben wir bei Marx, und wir bekommen die schönsten aller Marx-Zitate auf dem virtuellen Silberteller mit dem Apfel serviert, sie klingen gar nicht so böse, wie man sich den real existierenden Sozialismus immer vorgestellt hat, sondern so klug, so klug, so außerordentlich klug, dass sich geradezu Marx an die Stelle von Gott schiebt, ein wenig schief aus dem Bart grinst und sagt: „Und wenn ich in meiner rechten Hand das Kapital hätte, das sich immerfort mehrende, vervielfältigende, allein zu unbegrenztem Riesenwachstum fähige Kapital, und in meiner Linken das – äh, nun ja, das mühsame Streben danach, die tägliche, stündliche Arbeit, die Maschine, das ‚Gestell‘ und die stupide Wiederholung; Entschuldigung, ich muss noch einmal nachschauen, die Alternative ist ja wirklich zu blöd, achso, ja, hier hab‘ ich‘s: das freie und selbstentfremdete Leben, die Zeiteinteilung nach Lust und Laune, gemeinsamer Besitz und gemeinsame Freuden (ja, wenn es sein muss, auch Frauen) und die ewige Seligkeit jenseits der Versklavung durch das Kapital und seine endlose Fressgier!“ – und an dieser Stelle darf jeder selbst den Satz vollenden. Wir nehmen jedoch mit, in weiter hoher Stimmung und Mitschwingung, die sich sogar angesichts der Marx-Lektüre und ihrer Gefahren als stabilisierend bewährt hat: Das Geld ist schuld. Das Geld ist, seiner Natur nach, maßlos; es will sich nur vermehren, vermehren, vermehren, ohne jeden Zweck, ohne jedes Ziel, es tut es um – des Mehrwerts willen. Was ein wenig erleichternd ist, wenn man anfängt darüber nachzudenken: Es sind gar nicht die armen Kapitalisten, versuchte, verführte, dem heiligen Mehrwert hörige Menschen. Es sind auch nicht wir selbst, wenn wir mal wieder allzu viel sinnlos akkumuliert haben und dann in ebenfalls maßlosen Konsum verfallen sind. Es ist einfach der personifizierte Mehrwert, der so wenig beherrschbar ist wie Goethes magischer Besen, der ja auch nur einen ganz besonderen Mehrwert erzeugt hatte, unstillbare Wasserströme nämlich, und während wir noch schreien: „Gelder, Gelder, seids gewesen!“, hat sich der Zaubermeister längst verdrückt und ist mit Marx und Rosa fischen gegangen. Oder?
Währenddessen sind wir bei der, Zauberwort ohnegleichen: ‚Weltreichweitenvergrößerung‘ angekommen, sechs ganze E’s, man versucht die ganze Zeit, wenig hilfreiche und stimmungs-schädliche Assoziationen an die Deutsche Welle (gute Sache, eigentlich, oder?) oder die allfälligen Penis- oder Brustvergrößerungen zu verdrängen, das gelingt auch, schließlich ist das hier ein wirklich, wirklich guter Vortrag, systematisch, gedankenreich, originell, engagiert, gelegentlich mit Anekdötchen aus dem Leben gespickt und mit den niedlichsten selbstbezüglichen Pirouetten für die Kenner. Also, Weltreichweite – das könnte ja eigentlich etwas ganz Gutes sein, sagt über die Assoziationswidersprüche hinweg meine innere Stimme, die sich gern etwas darauf zugutetut, möglichst viel ‚Welt‘ – naja, vielleicht nicht direkt zu besuchen oder zu erobern, aber zu betrachten, zu erleben, zu bedenken, zu befragen, zu besinnen, und dann, ja, auch das, zu bedenken, zu ordnen, zu gestalten, zu verwandeln. Bisher dachten wir das jedenfalls, meine innere Stimme und ich (wir sind uns nicht immer einig). Eine literarisch gebildete Unterstimme schrie außerdem ständig ‚Weltinnenraum‘ dazwischen, kompliziertes Konzept von Rainer Maria Rilke, trotz großer Wortlänge nur vier Silben und zwei E’s, und wie immer wurden die anderen Stimmen dann etwas still und etwas unsicher, weil wir es alle noch nicht so ganz verstanden hatten, und einige von uns fürchteten sich auch ein wenig vor einem ins Unendliche ausgedehnten Weltinnenraum, in dem man sich ja den ganzen Tag verlaufen müsste, und niemals, niemals, stieße man an eine freundlich abweisende Grenze! Aber nun gut, Weltreichweitenvergrößerung. Natürlich verstanden wir alle ungefähr, was das Problem damit war, schließlich waren wir alle schon auf internationalen Flughäfen gestanden und hatten uns geschämt, und wir hatten uns auch geschämt, wenn wir exotische Südfrüchte oder Erdbeeren im tiefen Winter gekauft hatten, oder wenn unsere blöden Plastik-Q-Tips die Mägen von so herzzerreißend und weit-reichend singenden Wälen verstopften. Aber irgendwie wollte meine innere Stimme keine Ruhe geben und meckerte vor sich hin: Ja klar, jetzt schimpfen wieder alle auf Quantität, auf das Mehr-Mehr-Immer-noch-Mehr; aber ganz ohne ‚Mehr‘ wäre wohl auch nicht viel ‚Besser‘ zu erwarten, wir würden den ganzen Tag auf einem Fleck sitzen und fischen, dann die Fische wieder rein-schmeißen, voll traumatisiert natürlich, und nichts hätten wir gelernt, nichts über Fische, nichts über den Fluss, nicht über das Meer, in das er mündet, nichts über die Weltmeere und Klimakreisläufe, nichts über das Wasser und seine unendliche Seltenheit in einem feindlichen Universum – aber nein, keine Weltreichweiten-vergrößerung. Dialektik ist auch nicht eure Stärke, oder? Marx nickte, Heidegger schmunzelte (na gut, fast). Außerdem stimmt es nicht, Rosa kann auch Dialektik, Marx sowieso, das kommt nur erst später. Ich dämpfe die Stimmen also, folgsam, man kommt sonst aus der Stimmung, das merkt man deutlich; es entwickeln sich kleine Gegenströmungen und Wirbel, sehr eigensinnig, man hat sogar Angst, die Nachbarn könnten es irgendwie merken da-ran, wie man den Stift jetzt hält oder doch ein wenig die Stirn gerunzelt hat im Gegenstrom zum allgemeinen Kopfnicken in Mehrfachresonanz.
Inzwischen waren wir weiter fortgeschritten, nein, eigentlich tiefer eingedrungen: Denn die Wurzel des Übels ist, und da hat Marx nun denn auch wirklich und vollkommen recht, Entfremdung. Die Entfremdung hat drei liebliche Schwestern (vielleicht sind es aber auch Macbeth’sche Hexen, alles eine Frage der Perspektive), sie heißen ‚Warencharakter‘, ‚Instrumentalisierung‘ und ‚Fetisch‘, und sie fassen sich gern an den Händen und singen: „Du sollst das Ding heiligen, das du kaufen kannst, die Ware, du sollst sie verbrauchen, wegwerfen und dadurch heiligen, dass du ein neues Ding kaufst“ (im Subtext flüstern sie dazu: „das gilt natürlich auch für deinen Ehepartner, war ein ziemlich mieser Kauf, und auch wenn die Garantie schon abgelaufen ist, vielleicht gibt es sogar eine Rücknahmeprämie?“)! Und: „Du sollst alles und jedes deinen egoistischen, materialistischen Interessen unterwerfen, nicht nur willfährige Objekte, sondern natürlich auch Menschen!“ (und dazu können sie einen ironischen Subtext, er lautet: „Du machst sie sogar glücklich dadurch! Nichts macht Menschen glücklicher, als wenn sie sich selbst aufopfern für eine gute Sache! Altruismus ist der neue Egoismus!“). Und: „Du sollst die Dinge anbeten, die du gemacht hast, in bedeutungsloser, aufgeteilter, unterbezahlter Arbeit hergestellt hast, vor allem aber: du sollst das Geld anbeten, den größten Fetisch von allem!“ (nein, kein Subtext. Das versteht jeder. Gott muss sein). Und dann, nur dann, wenn du dich von deiner Arbeit entfremdet hast und ihrem Produkt, deinen Mitarbeitern und den Produktionsmitteln, der Natur um dich herum und der Natur in dir selbst – erst dann wirst du den größten Gipfel der Entfremdung erreichen, er heißt: Selbstentfremdung! Ich bin nicht Ich. Ich bin nur ein demütiger Arbeiter im Weingarten des Herrn – nein, falsches Zitat, Marx kraust schon wieder die Denkerstirn, Rosa ist noch bei den Beispielen, und der Weingarten des Herrn; nun ja, er war wohl ein ausbeuterischer Kapitalist, der Herr. Wahrscheinlich haben die einfachen Arbeiter auch keinen Wein trinken können, geschweige denn kaufen von ihren ausbeuterischen Hungerlöhnen. Na gut, war ja auch ein Weingarten, wer arbeitet da nicht gern? Naturnah, sonnengereift, vollmundig. Zwischendurch wäre es aber schön, wenn auch jemand das Baguette backt, das knusprige, ofengereifte, das so vollmundig zum Wein mundet. Und das Auto baut, dass uns in die Weinberge fährt, da wir ja in naturfernen Städten resonanzlos vor uns hin entfremden. Und, da wir gerade dabei sind, Flaschen produziert, ja, auch gern aus ökologisch korrektem Recyclingglas, aber doch besser wohl industriell und nicht in individueller Glasbläserarbeit. Ach, der Wein; so ein schöner Fetisch, aber so viel Entfremdung, bevor er im Glas vor uns funkelt und uns offenbart, wer wir wirklich, wirklich, tief innen sind. Und siehe da, so manches Mal: Findet man da ganz jemand anders! Ach, die Wonnen der Entfremdung! Wie viel geben Menschen nicht dafür, einmal nur nicht sie selbst zu sein! Muss wohl eine andere Entfremdung sein, logisch; es gibt halt gute und schlechte Entfremdung, wie es guten und schlechten Wein gibt. Besseren oder schlechteren jedenfalls. Gelingenderes oder weniger gelingendes Leben. Schnöder Mammon und liebreiche Spendengelder. Tote, leblose Dinge und geliebte, geherzte, zum Leben erwachende Dinge. Ein wenig Entfremdung, hier und da, natürlich am besten selbstgewählt – wäre ein vollständig unentfremdetes Leben nicht, na gut, starkes Wort, aber wir haben nicht mit den starken Worten angefangen: die Hölle? Ewig im Authentizitätstaumel? Berauscht von zweckfreien Zwecken, sinnloser Sinn-fülle, ständiger und völliger Erleuchtung, Schwingungen und Gegenschwingung, sich frei antwortend und niemals aufschaukelnd zur – Resonanzkatastrophe?
Derweil schwingt der Saal weiter, sanft weiter, und Rosa hat sich nun endlich dem geheimen Schwingungszentrum angenähert, dem Resonanzbegriff selbst, und man kann auch hier nicht sagen, dass er es schlecht macht; oder dass er ihn verkauft; oder dass er ihn alternativlos stellt. Nein, viel schwingt sehr frei hin und her und fordert zu Diskussion auf und Fragen und kritisch verstärkender oder abschwächender Resonanzmodulation; schon das allein führt natürlich zu einer gelingenden Selbstverstärkung. Aber er macht auch klar, dass der heilige Gral der gelingenden Weltbeziehung leider, natürlich, selbstverständlich, vielleicht auch: sicherheitshalber nicht verfügbar ist. Kann man nicht kaufen. Auch nicht bei amazon. Noch nicht mal mit Bitcoins auf dem schwärzesten aller schwarzen Märkte des großen weiten Internet. Nein, Resonanz muss entstehen und wachsen, wie noch jeder organische Vorgang; und sie wächst durch Berührung (wörtlich und metaphorisch), Emotion (ja, auch) und sie erfährt dabei eine Verwandlung; ein Drittes ist in der Luft, eine neue Welle aus zwei sich sanft überlagernden Wellen, und sie hält sich und sie verändert sich ein wenig und dann steigert sie sich ein wenig, aber dann fängt sie sich wieder, wird gedämpft, denn: Wenn es zu arg wird mit den Schwingungen und Gegenschwingungen, dann bricht das Glas, dann zerspringt die Brücke. Es ist ein heikler Vorgang, offen-sichtlich; ein Vorgang mit einem idealen Ergebnis, dem sozusagen größten anzunehmenden Glücksfall (GAG) einer stabilisierenden harmonischen Schwingung, aber auch mit der Gefahr der zunehmenden Destabilisierung: unerwünschte Resonanz, Überschwingen, schließlich der größte anzunehmende Unfall: Resonanzkatastrophe!
Wir im Saal sind jedoch an diesem Punkt: Ende des Vortrags, Erweiterung des Podiums für Fragen – und damit ganz sicher an einem sehr schönen Punkt adaptiver Stabilisierung angekommen: Wir schwingen harmonisch verstärkt im kühlen Hörsaal an einem heißen Sommerabend, sogar Heidegger hat das Gestell inzwischen verziehen, zudem er gelegentlich in einer der Wortmeldungen vorbeihuscht, als guter genius loci mit einer etwas schwachen, aber zweifellos vorhandenen Wortschwingung, und die Fragen drängen sich hervor, kritisieren ein wenig, danken viel, bestätigen beinahe alles. Viele sind berührt, das ist sichtbar, einige gehen aus sich heraus, für einige kurze Momente (bis der Hausmeister kommt) erscheinen wir uns alle verwandelt („Du musst dein Leben ändern“, hätte Rilke jetzt in den Saal rufen können, wir hätten ihn in unserer Umarmung erstickt). Draußen treffe ich meine Yoga-Lehrerin, sie hatte tatsächlich die allererste Frage gestellt, und sie resoniert immer noch mächtig vor sich hin in ihrem sehr schmalen, sehr disziplinierten Körper, den sie heute in ein kleines Schwarzes gepackt hat, mit einem Perlenkettlein um den schmalen biegsamen Hals. Wir stimmen uns gegenseitig ein wenig herab, lassen die anderen Besucher an uns vorbei in die Nacht perlen und die Sambatöne einen sanften Teppich bilden, tauschen den einen oder anderen Eindruck, verabreden uns zum Yoga und gehen dann beschwingt nach Hause. Die Bächlein plätschern durch die klare Nacht, wie sie das nur in Freiburg tun, der heimlichen Hauptstadt der grün bewegten akademischen Herzen, und ich würde gern eine Katze treffen, aber das gelingt leider nur selten, selbst hier; etwas in mir fände es aber gut und richtig, jetzt eine Katze zu treffen und mit ihr ein wenig resonant zu schweigen und dann, jede für sich, ihre Wege zu gehen.
Und es ist erst aus der undankbaren Distanz, der Rückkehr zur instrumentellen Niederschrift, dem Klima des sommerlich überhitzten Büros mit Kindergeschrei und Autolärm von außen her, dass sich ein kleiner Verdacht vordrängt, schwingungsfremd, ja geradezu resonanzfeindlich: Waren wir denn nicht alle an diesem Abend – nun ja, ein wenig berauscht von dem charmanten Schwarzwaldbub, der sich für uns so ereifert hat, all die weiten Ausflüge seines vielbeschäftigten Geistes für uns auf einfache Powerpoint-Folien reduziert hat, zur Aufnahme und Wandlung, der zwei ganze abgezählte Stunden seiner kostbaren, beschleunigungsgefährdeten Zeit geopfert hat, der ja auch Drittmittel hätte einwerben können noch und nöcher (er hat schon weit genug) und seine dritte, schlagende, endgültige Monographie zur – Unverfügbarkeit weiter treiben könnte (und schon wieder sagt dieses Stimme im Ohr: Wie schreibt man eigentlich ein Buch über Unverfügbarkeit? Im Permanentmodus des performativen Selbstwiderspruchs? Im Konditional des Paradoxes? Im Rausch, im Traum, im Wahnsinn? „Bin dann mal weg“?)! War es nicht so ein wohlig-warmes, behütetes Gefühl, zumal bei gerade erlittenen vorzeitigen Ausscheiden des alten Weltmeisters in der neuen Weltmeisterschaft (unverfügbar, solche Pokale) und einem kollektiven Trauma aus versprochener, aber nicht-eingelöster Massen-Verschmelzungs-Hysterie? Was aber, so wurde die Stimme nun energischer, unterscheidet dann einen kollektiven Massenwahn von einer gelingenden Resonanz-Beziehung? Denn wenn es nur formale Kriterien gibt – Antwortcharakter, Berührungsintensität, Unverfügbarkeit, adaptative Stabilisierung: Nun, es wäre vorstellbar, dass das jeder nur mittelmäßig begabte Charismatiker tatsächlich hinbekommt, von den großen Sektenführern der Menschheit ganz zu schweigen. Denn wollen sie nicht wirklich das Beste? Sind sie selbst nicht überzeugt von dem, was sie predigen? Haben sie nicht verstanden, dass es im Menschen eine Sehnsucht danach gibt, nach Gehörtwerden, Verstandenwerden, Einswerden? Ach, wenn es doch so einfach wäre, gute von schlechten Schwingungen zu unterscheiden. Wenn man doch ein Maß hätte, das man nur aus der Tasche ziehen müsste, so eine Art kleinen Emo-Geigerzähler, und wenn er dann rot und hysterisch blinkt, weiß man, dass der Überschwang bevorsteht, die Maßlosigkeit, die Resonanzkatastrophe! Die Güte der Schwingung selbst jedoch könnte er immer noch nicht messen.
An dieser Stelle betritt auf einmal ein neuer Akteur die Szene des eigentlich schon vergangenen Geistergespräches, etwas unerwartet, hier in Freiburg und überhaupt. Es ist der Geist von Nietzsche, der zugibt, gelegentlich in den Freiburger Gassen Heidegger aufzulauern, um ihn in ein durchaus resonantes Gespräch über den ‚Willen zur Macht‘ zu verwickeln, der nun zweifellos ein Beispiel eklatanter Steigerungslogik und ungerührter Resonanzignoranz (welch Wort!) darstellt. Im Gefolge hat Nietzsche drei junge Damen, liebliche Schwestern aus der einen Perspektive und verrückte Hexen aus der anderen, sie tanzen um ihn herum, zausen ihn am Philosophenbart und singen dabei von den drei großen Fetischen der modernen Geisteswissenschaft und Philosophie, die da heißen: Nicht-Essentialismus, Nicht-Substantialismus und Nicht-Reduktionismus! Und die erste flötet: „Nichts hat ein festes Wesen oder feste Eigenschaften; alles sind nur Zuschreibungen, historisch, vergänglich, beliebig, individuell, und vor allem: frei, frei, frei!“ Und die zweite stimmt ein, es klingt eigentlich sehr ähnlich: „Nichts hat eine Substanz, etwas, was mit Händen greifbar wäre, alles sind nur Ideen, Theorien, Konzepte, Modelle, Vorstellungen von Vorstellungen, Konstrukte, Konstrukte, Konstrukte!“ Die dritte aber singt eine Art Generalbass dazu, er lautet: „Du sollst den Menschen nicht vereinfachen, nicht seine Handlungen, nicht seine Gedanken, nicht seine unendliche, grenzenlose, völlig unfassbare Vielfalt, das ist komplex, komplex, komplex!“ (sie hat noch eine Halbschwester, sie heißt Nicht-Populismus, sie ist aber zum Glück gerade so vielbeschäftigt, dass sie noch nicht einmal Zeit für ein Geistergespräch im liebreizenden Freiburg hat). Nietzsche aber schüttelt sie ab, nicht ganz unwillig, schließlich sind es aus einer gewissen Perspektive sehr reizvolle junge Damen, auch wenn sie auf korrekte Bekleidung leider unerfreulich viel Wert gelegt haben; kurz schaut er sich um, ob nicht doch irgendwo ein Pferd auftaucht, dem er sich ersatz-weise um den Hals werfen könnte, aber noch nicht einmal lässt sich, wieder einmal, eine Katze sehen. Ganz im Hintergrund aber sehen wir einen Herrn mit einem sehr wohlerzogenen Hund, der gerade seinen Hut vor Herrn Rosa gezogen hat, das Gespräch scheint jedoch nicht recht in Gang zu kommen; Rosa schaut allerdings sehr interessiert zu den jungen Damen hinüber, die ihm kokett zuwinken, man scheint sich gut zu kennen. Resonanzen, brummt Nietzsche derweil, als ob Zarathustra sich für Resonanzen interessieren würde! Irgendwas schwingt immer irgendwo mit, zufällig treffen auch einmal zwei blinde Hühner auf ein ähnliches Korn, sogar die Krähen kreischen gelegentlich im harmonisch-dissonanten Chor, während die eine der anderen ein Auge aushackt, aber es bleiben doch wohl Hühner und Krähen! Ach, wer mit Adlern und Tigern schwingen könnte! Der Hund bellte von ferne, zustimmend, seiner guten Erziehung zu Trotz oder zu-folge; er kennt sich aus mit Machtfragen und mit Hühnern.
Lustigerweise ist im Übrigen der technische Gag an der Resonanz, das hat mir noch später mein kluger physikalischer Sohn erklärt, dass durch das wechselseitige Aufeinander-Einschwingen von resonantem Anreger und Empfänger die Schwingung sich steigert, und zwar sogar überproportional und über das Maß hinaus, das durch eine nicht-resonante Anregung sogar mit höherem Energieeinsatz gewonnen würde! Resonanz ist, durchaus, ein Steigerungs- und Effizienzprinzip, ein ziemlich cleveres sogar; und jede Funkstation nutzt es zur, nun ja, Weltreichweitenvergrößerung. So können einem Metaphern in den Rücken fallen, diese undankbaren Bastarde zwischen Sache und Bild! Um aber noch einmal einen großen Sprung zu machen, der von keiner Resonanz abgedeckt wird, sondern allein ein bizarrer Einfall meines sich selbst gelegentlich wohlig entfremdeten Geistes ist: Heinrich von Kleist also, ein Resonanzvirtuose ersten Grades, hat es in seinem nicht sehr langen Leben so weit gebracht, dass er in einem Brief an seine Schwester, kurz vor seinem sehr selbst gewählten Tod, schrieb, seine Seele sei so wund, dass, wenn er nur die Nase aus dem Fenster streckte, ihm die Sonne weh tue, wenn sie darauf falle. Offensichtlich ist die Resonanzvirtuosität hier in aktive Resonanzverweigerung umgeschlagen, und nicht nur in Entfremdung: Denn wie kam man mehr die Resonanz verweigern als durch eine Pistolenkugel, die man sich, zumal ungedämpft, in die eigene Brust schießt? Vorher allerdings hatte Kleist Henriette Vogel, einer unheilbar an Krebs erkrankten Freundin und Mutter einer Tochter, eine Pistolenkugel in die Brust geschossen (mit ihrer Einwilligung natürlich, es war ein Selbstmordpakt). Es ist nicht auszuschließen, dass erst das Resonanzerlebnis ihm ermöglicht hat, das Urteil auch an sich selbst zu vollstrecken.
Schon wieder ein Freiburger. Die philosophische Welt besteht aus geborenen Freiburgern, denen man die gute Schwarzwaldluft auch Jahrzehnte später noch ansehen kann und das Springende der Bächlein; es ist immer ein wenig die Rückkehr des verlorenen Sohnes, und man schlachtet ein kleines akademisches – nun, wohl nicht Lämmchen, sondern Pfännchen (im Anschluss an die Veranstaltung jedenfalls), wohlgefüllt mit Spätzle, und trinkt einen badischen Wein dazu, von der Sonne verwöhnt. Diesmal ist es sogar ein doppelter Freiburger, denn der Referent spricht auch noch, unter anderem, von dem trotz allem berühmtesten Freiburger Philosophen. Man sieht es ihm an, dass er selbst ordentlich mitgenommen ist von der Vorstellung, ziemlich genau hundert Jahre später als Heidegger-Wiedergänger aufzutreten, auch wenn das Schwarzwäldlerisch-Wettergegerbte nicht ganz bergbubenmäßig geraten ist und von einer wohligen Rundlichkeit überzeichnet. Aber zweifellos ist Wolfram Eilenberger, wie seine vier „Zauberer“, die er uns heute präsentiert, ein gestandener Philosophieflüsterer. Sein sanftes Timbre trägt auch über die ein oder andere Respektlosigkeit, und die Einführung als – nicht nur soeben preisgekrönter Autor eines philosophischen Sachbuchs und Hansdampf auf allen philosophischen Kanälen –; nein: als stolzer Besitzer einer DFB-Trainerlizenz hat ihm sowieso den Rest des Publikums (das männliche, also) gewonnen. Die Versuchung, lieber doch über Fußball zu sprechen, wird den ganzen Abend über dem Saal schweben, zumal unser Referent sogar in dem preisgekrönten Buch die Frech- oder Freiheit (von Flapsigkeit spricht ein anwesender Lektor etwas streng) besessen hat, ein Redematch zwischen Cassirer und Wittgenstein in der luftigen Höhe von Davos im Stil eines Sportreporters darzubieten – was, wenn man der Flapsigkeit mal nicht unter den verführerisch erhobenen Rock, sondern ins Gesicht schaut, der Sache und dem Stil nach angemessen war; wahrscheinlich war es ein klassischer philosophischer Hahnenkampf, und die Kämme werden sehr geschwollen gewesen sein.
Zeit der Zauberer also –im Hintergrund taucht Thomas Mann auf, der Wortzauberer und Zeitflüsterer schlechthin, wie er sich in Davos sorgfältig neben seiner kurenden Gattin in die Decke wickelt und ein paar gestochen scharfe und gleichzeitig hinreißend flapsige Sätze über Naphta und Settembrini aufs Papier zaubert. Beide verwandeln sich unter der Hand in Heidegger und Benjamin, den Seins- und den Passagenflüsterer, und gäbe es eine Art Bedeutungsgeigerzähler bei diesem Gespräch, er würde jetzt in die Höhe treiben wie das Fieberthermometer der lungenkrank dahinsiechenden Liegenden. „Zeit der Zauberer“, das gibt unser Philoso-phieflüsterer jedoch im Verlauf des Abends zu, war eigentlich eine Erfindung des Verlags. Sein eigener Arbeitstitel sei gewesen „Explosion des Denkens“; das aber, so der Lektor, sei ein eindeutig männlicher Titel, nun sei es aber leider so, dass Bücher von Frauen gekauft würden. Dem Argument kann man sich bei aller politischen Unbotmäßigkeit schlecht entziehen, weil es die zahlenbewehrte Realität auf seiner Seite hat (und wünschte man sich das nicht gelegentlich auch in luftigen philosophischen Diskussionen, einen Realitäts- statt eines Bedeutungsmessers mit einer weiten Skala von ‚wirklich wahr‘ über ‚relativ wahrscheinlich‘ und ‚interessante Möglichkeit‘ bis hin zu ‚vollständig und noch dazu schlecht ausgedacht‘? Ach, man wird doch träumen dürfen, wenn man schon nicht zaubern kann!). „Zeit der Zauberer“ war also die Damenwahl, vielleicht gemeinsam mit dem sanft cremefarben daherkommenden Cover; und man kann einmal mehr studieren, dass die Hülle eben nicht doch nur eine beliebige Verpackung ist um den eigentlichen Kern, sondern dass sie den Kern ausformt: Denn würden wir das gleiche Buch jetzt noch einmal lesen, unter dem Leitgedanken „Explosion des Denkens“ und mit einer martialischen Kriegskulisse im Hintergrund – wäre es nicht sofort ein viel männlicheres, ein viel energischeres, ein viel revolutionäres Buch geworden?
Wir jedoch nähern uns dem Werk zunächst aus dem Blick des Zaubererdompteurs, der beharrlich flüsternd immer neue Bilder anbietet: Vom „Zelt des Denkens“ spricht er, das die vier Zauberer in den 20er Jahren errichtet hätten und das noch heute einer eher in heruntergekommenen Altbauten dahinvegetierenden akademischen Philosophie einen Zufluchtsort biete, näher an den Sternen und an den Elementen. Von den Denksprüngen spricht er, den, ja, sagen wir es ruhig: ‚Disruptionen‘ (und schon nähert man sich wieder dem Explosionsfeld!), die die vier Zauberer der kantischen Philosophie und ihren doch vermeintlich so unerschütterlichen Fundamenten zugefügt hätten – jeder auf seine eigene, ziemlich unvergleichliche Art und Weise, doch in Einigem, Wenigem, aber vielleicht Entscheidendem übereinstimmend: Der Mensch sei, und hier springe Kant samt seinen Nachfolgern einfach zu kurz, vor allem ein sprechendes Wesen. Wenn eines schönen Tages irgend-ein Außerirdischer aufgrund eines intergalaktisch unwahrscheinlichen Zufalls auf unsere schöne Erde kommen würde und am zweiten Tag Bericht erstatten müsset an seine fernen Oberen, dann würde er höchstwahrscheinlich sagen: „Sie reden, den ganzen Tag lang“ (wenn es ein besonders kluger Außerirdischer wäre, würde er außerdem wahrscheinlich im zweiten Satz sagen: „Und dabei verstehen sie sich nicht einmal!“).
Denn das ist es, was unsere vier Philosophenzauberer, Heidegger, Wittgenstein, Cassirer und Benjamin also, vereint bei allen Differenzen in outfit und Lebensweg: Sie reden dicke Bücher lang vom Wesen des Menschen und vom Wesen der Sprache, und kein Mensch versteht sie. Daraus ziehen sie, und das sagt uns unser Zaubererdompteur ein wenig verschmitzt, eine ziemlich philosophische Konsequenz: Sprache sei nämlich gar nicht für Mitteilung gemacht (eine Erfahrung, bei der der Realitätsmesser übrigens ziemlich weit ausschlägt in Richtung ‚wirklich wahr!‘)! Sie sei vielmehr Offenbarung, spreche für sich selbst und allenfalls ein wenig von der Existenz, zeige bestenfalls etwas, im Modus der Darstellung des Vorweisens. Verständigung? Ach, wer doch daran glauben könnte. Die vier Zauberer tun es nicht. Sie sind Einsame, sind es im Schwarzwald wie in Cambridge, als Volksschullehrer wie als Hochschulprofessor, als Jude wie als übergelaufener Katholik. Man kann vielleicht sagen mit einer gewissen Aussicht auf Übereinstimmung: Es gibt Frauen (meist zu viele und gelegentlich die falschen), es gibt Kollegen (immer die falschen), es gibt Konkur-renten (mit denen könnte man reden, fast immerhin); aber es gibt keine eindeutigen, verständlichen, handzahmen Antworten auf philosophische Fragen. Als ob es auf eine Offenbarung eine Antwort geben könnte! Nein, die philosophische Sprache taugt höchstens als Leiter; Kant hat ein paar Stufen gezimmert, Hegel den ganzen Mittelteil, und schon Nietzsche war eher damit beschäftigt an ihr zu sägen. Die eigentliche philosophische Reifeprüfung aber, so Wittgenstein, ist: die Leiter wegzuschubsen, wenn man oben ist. Das ist der Sprung ins wahre Denken und Sprechen. Es gibt dann aber keine Rückkehr mehr.
Die aufs Podium geladenen akademischen Kollegen, die eigentlich unter der Macht der Explosion etwas erschüttert hätten aussehen sollen, finden zustimmende, gelegentlich preisende Worte. Man sieht sie nicht direkt dabei, wie sie die Leiter wegschubsen; aber sie lassen sich auch nicht dabei erwischen, wie sie sich an den Sprossen festklammern. Während die Diskussion nur schwach in Gang kommt, ertappt man sich selbst dabei, wie man darüber nachgrübelt, ob das Versagen der Sprache als Medium der Mitteilung und Verständigung nicht besonders für Philosophen gilt, diese in besonderem Maße sprachbehafteten Wesen: Ständig verlangt man von ihnen, sie mögen sich mitteilen, reicht es denn nicht, dass sie mit ihren Schülern sprechen, mit sich selbst und gelegentlich mit einer ganzen Herde ziemlich schwerverständlicher historischer Autoren? Weiß man doch nicht einmal, ob andere Menschen als Vernunftwesen überhaupt existieren, man könnte ja umgeben sein von einer Herde tückisch programmierter Roboter, die ständig so tun, als würden sie philosophische Begriffe verstehen, philosophische Texte lesen und überhaupt irgendwie interessiert sein an philosophischen Fragestellungen? Ist es nicht wichti-ger, dass man selbst die schönsten Sprünge für sich machen kann, „immer radikal, niemals konsequent“ (Eilenberger über Benjamin)? Denn der Meister ist, das macht uns unser Philosophieflüsterer nun klar, vom Wesen her ein Kannibale: Er zehrt von seiner Um-welt, sie ist ihm das Material, der Stoff, die Materie, die Empirie, die lästig-überlästige, aber doch so notwendige, das Sprungbrett für den freien Geist. Meister sind nicht sympathisch, Artisten scheren sich nicht um die durchschnittliche Sprungkraft einer demokratischen Masse. Die Disruption wächst da, wo die comfort zone aufhört; und wer sich brav an die Schilder hält (Vorsicht! Freie Gedanken! Hier endet der mainstream!), wird niemals Sprengkraft entfalten können.
Und nun, sanft gestupst und gepiekst auch aus dem Publikum, schimpft man auf dem Podium doch ein wenig auf die akademische Philosophie, in der der deutsche Professor – das freieste Wesen von allen, sofern er einmal seinen Lehrstuhl erobert hat und natürlich nicht daran denkt, ihn wegzustoßen – Dienst nach Vorschrift tut und nicht daran interessiert ist, gelegentlich einen befreienden Sprung zu tun (er ist damit aber auch nur eine Variante des modernen Menschen, der, nachdem er sich von allen äußeren Ketten von Religion und Herrschaft befreit hatte, nichts Besseres zu tun hatte, als sich möglichst schnell schicke neue zu kaufen). „Zu sinnlos, um falsch zu sein“ – das war das Wittgensteinsche Verdikt über einen Großteil der konventionellen Philosophie, und während man noch über die pointierte Zuspitzung lacht, sticht einem das Messer schon von hinten in den Rücken: Et tu, Brutus? Heute schon gesprungen? Derweil schweben weitere Zuspitzungen durch den Raum, Helene Fischer kämpft sich „atemlos durch die Nacht“, und der Referent erklärt uns, genau das sei der eigentliche philosophische Impetus gewesen, von Anfang an, am Ursprung: Die Menschen laufen durch das Leben wie durch eine fremde, verwinkelte Stadt, es ist Nacht, sie sind außer Atem, aber sie suchen nach Orientierung, oh wie verzweifelt versuchen sie zu verstehen! Was sie aber finden, sind Berge von Kartoffelbrei. Zermanschter Sprachbrei, formlos, gelegentlich ein Klümpchen, immer zu wenig Salz und zu sparsam mit der Butter. Atemlos durch die Nacht – profanisieren müsse man die Philosophie heutzutage wieder, sie befreien aus der Verbreiung des akademischen Denkens, seiner Verarmung, Verengung, Versumpfung durch die teuflische Dreiheit von Veröffentlichungsdruck, Drittmittelhysterie und akademisch domestiziertem Gedenke im Gestell! Vielleicht könnte man dann wenigstens wieder sinnvoll genug werden, um – falsch zu sein (das sagt er aber nicht, der Philosophenflüsterer, dazu ist er zu klug).
Und so sehen wir, der Abend ist inzwischen zu einer zweiten Veranstaltung fortgeschritten und dem Referenten werden nun wahrhaft sportliche Leistungen abverlangt, Heidegger und Wittgenstein am Fenster. Es ist 1919, die Welt ist in der Krise, die Nation ist in der Krise, die Familien sind in der Krise, und die Philosophie – gedeiht in der Krise, so Eilenberger. Natürlich sagt er damit auch, dass die derzeitige Philosophie Grund zum Gedeihen habe, aber vielleicht ist die Krise dann doch noch nicht ganz krisenhaft genug, um den Wohlstandsbauch und das akademisch rund gefütterte Denken zum Grimmen zu bringen, und die Fenster sind gerade schalldicht erneuert und frisch gestrichen worden (zu öffnen gehen die meisten seit langem nicht mehr, zu gefährlich, jemand könnte springen). Heidegger und Wittgenstein jedenfalls sind wohl an ganz anderen Fenstern gestanden, damals, im Sep-tember 1919, auf dem Höhepunkt einer sehr realen weltweiten Krise. Wittgenstein war aus dem Krieg zurückgekommen und begab sich energisch daran, alle Leitern wegzustoßen: Er verteilte sein sehr erhebliches Vermögen an die Familienmitglieder und begab sich als Volksschullehrer in die Berge. In der Familie sprach man, so berichtete die Schwester, gern in Bildern und Vergleichen; und sie verglich diese Idee ihres Bruders mit der Vorstellung, ein Präzisionsinstrument zum Öffnen einer Kiste zu verwenden. Wittgenstein hingegen beschrieb seine eigene Situation mit der eines Menschen, der aus einem Fenster schaue; er sehe nicht, dass draußen ein Sturm wüte, und wundere sich deshalb über die seltsamen Bewegungen der Menschen auf den Straßen. Heidegger schließlich braucht noch nicht einmal einen Sturm, um sich grundlegend entfremdet von den Menschen zu fühlen; in einem Brief schreibt er, ziemlich zur gleichen Zeit: „Ich bin dann schon beim Problem des Verkehrs überhaupt, das mich dieser Tage besonders beschäftigte, wo ich neue Menschen kennengelernt habe. Und ich merke: Sie sind mir im Grunde alle gleichgültig – gehen außen vorbei wie am Fenster – man sieht ihnen nach und erinnert sich vielleicht mal wieder“. Vielleicht aber auch nicht. Man kann die Fenster auch ganz schließen, blickdicht, Verdunkelung ist angesagt. Zurück in die blackbox. In die Höhle. Lasst sie weiterplappern, draußen, im Verkehr, lasst sie zappeln in unsichtbaren und unerheblichen Stürmen. Immerhin läuft Helene Fischer dort atemlos durch die Nacht. Es wird gelegentlich Fußball gespielt, wenn auch nicht mehr montags, hier und dort ist sogar jemand disruptiv und erfindet ein neues sensationelles Unterhaltungsgestell für die Massen. Und wenn man ihnen sagte, dass sie nicht verstünden, würden sie nicht verstehen. Dabei ist es gar keine Zauberei.
Natürlich musste das Buch anders geschrieben werden, Frauen denken ja schließlich auch anders. Aber musste man es wirklich so sensationsheischend Feuer der Freiheit nennen (wahrscheinlich ist der Verlag schuld, genauso wie an Zeit der Zauberer, das ursprünglich und nach der Intention des Autors „Explosion des Denkens“ hätte heißen sollen; aber wären nicht „Zelte der Zauberinnen“, oder besser noch „Denkende Hexen“ auch schöne Titel gewesen?)? Und natürlich, die Zeiten waren maximal dunkel zwischen 1933 und 1943; wir sind nicht mehr im großbürgerlich-intellektuellem Milieu der vier Zauberer, die zudem alle gesegnet waren mit einem ziemlich großen Ego. Die beiden Simones jedoch, die Russin Alissa, die sich ‚Ayn‘ nannte, und die immer etwas sanft schauende Hannah – ach, sie hatten Egos, aber wie mühsam ist es ein weibliches Ego zur vollen Blüte zu entfalten? Immer sind da doch die Männer, mal sind sie am Rande, mal sind sie im Bett, mal sind sie im Weg (meistens). Na gut, die eine Simone (Weil) macht sich so energisch von der Jüdin wider Willen zur Heiligen, dass sie am Ende ihr Ego im wörtlichen Sinne aushungerte. Ayn Rand, die große Außenseiterin, die vielfach Beschimpfte, Verleumdete – und doch so viel Gelesene: Ihre Männer waren nicht nur in ihren Romanen amerikanische Superhelden, warum machte sie nicht eine Frau zur Superheldin; neben Atlas shrugged stünde Athene yawned? Die andere Simone (Beauvoir), sie war von Anfang an nicht denkbar ohne den „Anderen“, ihren Lebenspakt-Partner, dem doch ziemlich dominanten, wenn auch körperlich eher kleinem Sartre, und hat er es ihr gedankt? Athene yawned. Hannah schließlich, die geheime Affäre mit Heidegger, jahrelang, wann wird sie endlich ihre eigene Stimme finden?
Immerhin schreibt Wolfram Eilenberger seiner vierköpfigen girl group (man könnte vier Pilzköpfe aus ihnen machen, aus den Jugendfotos, mit sehr ernsthaft blickenden jungen Frauen) wenigstens die „Rettung der Philosophie in finsteren Zeiten“ zwischen 1933 und 1943 zu, dessen Vorspiel sozusagen die „Zeit der Zauberer“ war, 1919 bis 1929, das „große Jahrzehnt der Philosophie“; man könnte aber auch aus der Abfolge herauslesen, dass die „großen Männer“ die Philosophie in solche Schwierigkeiten gebracht hatten, dass sie mal wieder nur die Frauen retten konnten. Danach übernahmen wieder die Männer. Was bleibt, sind "Schneisen", so der Titel des letzten Kapitels. Bald würden sie wieder zuwachsen, überwuchert von den nachfolgenden Meister-Denkern, und nur hier und da können sich einzelne Begriffe retten, die sich untrennbar mit einem Frauennamen verknüpft haben (was, ähnlich wie bei der Benennung chemischer Elemente oder mathematischer Formeln, die einzige Chance auf beinahe-ewigen Ruhm ist: den Namen an ein Phänomen zu hängen; eines reicht schon, und es bekommt ein ewiges Copyright): Wer Hannah Arendt sagt, muss ‚die Banalität des Bösen‘ sagen (für Fortgeschrittene: ‚Natalität‘, beide Konzepte werden übrigens interessanterweise nicht erwähnt in Eilenbergers Buch). Wer Simone de Beauvoir sagt, muss ‚Zur Frau wird man gemacht sagen‘ oder ‚das andere Geschlecht‘ (das Buch führt sie jedoch kaum ein als Vordenkerin des Feminismus bis heute). Wer Ayn Rand sagt, muss entweder Atlas shrugged sagen oder ‚böse‘, ‚kapitalistisch‘, ‚faschistisch‘, sie hätte aber eher mit den Schultern gezuckt. Simone Weil hingegen, die ultimative Außenseiterin in dieser girl combo von Außerseiterinnen, hat es nicht zu einer Formel gebracht; zu religiös, zu mystisch, zu radikal. Ihre Waffe war nicht so sehr ihr Wort, sondern das eigene Leben, das sie am Ende auch konsequent aufgab.
Nun ist die Idee einer vervielfachten Parallelbiographie zweifellos charmant, sie war es schon bei den Zauberern Benjamin, Cassi-rer, Heidegger und Wittgenstein. Und allein die Überschriften der Kapitel samt ihren lakonischen Untertiteln und dem komischen Subtext im rhetorischen Zeugma geben eine ganz eigene Zusammenfassung der unterschiedlichen Entwicklungen: „Beauvoir ist in Stimmung, Weil in Trance, Rand außer sich und Arendt im Alptraum“ (Kap. 1: Funken); „Rand zieht es zum Broadway, Beauvoir zu Olga, Weil in die Fabrik und Arendt nach Palästina“ (Kap. III: Experimente); „Weil findet Gott, Rand die Lösung, Arendt ihren Stamm und Beauvoir ihre Stimme“ (Kap. V: Ereignisse). Ein Zeugma, das ist eine rhetorische Figur der Knappheit, der eingesparten Worte: Eingespart wird nämlich das Verb, das gewöhnlich ja in jedem Satz die Hauptrolle spielt; es bekommt auf einmal viele Substantive, denen es dienen muss; denn „finden“ kann man eben genauso gut Gott wie eine Lösung, eine Fabrik oder ein Land. Es ist das Finden, auf das es ankommt; Substantive sind austauschbar. Und so werden die vier Frauen in ihrer Herkunft von verschiedenen geistsprühenden „Funken“ berührt; sie erleben unterschiedliche „Exile“; sie machen ihre eigenen „Experimente“; sie suchen und finden (oder finden keine) „Nächste“; sie alle werden wieder eingeholt von „Ereignissen“ und Opfer von „Gewalt“; schließlich jedoch erobern sie sich ihre „Freiheit“ und entzünden am Ende dasjenige „Feuer“, dass der Titel und der anfängliche Funke versprochen haben – bevor ihre „Schneisen“ dann, epilogartig, verwuchern. Sind es exemplarische Lebenslinien, ist daraus eine Art philosophische Lebensform abstrahierbar, ein großes Zeugma aller Denkenden? Oder nur der weiblichen unter ihnen, die besonders leicht entzündbar sind, während Prometheus an ihnen vorbei das Feuer erfindet, sehr aus sich selbst, ein Muster-Ego des Männlichen?
Parallelen und Unterschiede, das ist es, was eine gute Parallelbiographie ausmacht, schon bei Vater Plutarch. So ist die große parallele Linie in Feuer der Freiheit gut erkennbar, und es sprühen so viele einzelne Gedankenfunken durch die Kapitel (manche gehören den denkenden Frauen, einige dem Autor), dass für Unterhaltung eigentlich durchgängig gesorgt ist. Die Unterschiede hingegen: Müsste man da nicht doch gelegentlich etwas tiefer ins philosophische Fleisch schneiden, bei aller Rechtfertigung der Nähe von Philosophie und Leben, zumal in dunklen Zeiten, und wenn sie von den Autorinnen selbst (in unterschiedlichem Maße) pro-grammatisch vertreten wird? Natürlich lesen sich Lebensgeschichten besser und leichter, aber zwischendurch beschleicht die Leserin doch der Verdacht, dass gerade die leiblichen Beziehungsgeschichten eine Tendenz haben, das eigentliche Denken in den Hintergrund zu drängen; Texte werden nur gelegentlich erwähnt, aber eher im Überflug. Beauvoirs umfangreiches autobiographisches Werk beispielsweise wird ebenso wenig eingehender erwähnt (es ist nicht primär philosophisch, zugegeben, aber wenn man Leben und Philosophie doch eigentlich nicht trennen will oder kann?) wie ihr knappes literarisches; Das andere Geschlecht, das nicht weniger ist als eine umfangreiche, gehaltreiche Enzyklopädie der Weiblichkeit und ein zentraler Text für den gesamten Feminismus, erhält kaum ein paar Absätze. Der Eindruck drängt sich auf, dass der Autor – zu wenig verliebt in seine Hauptfiguren ist; vielleicht flaniert er doch lieber mit Walter Benjamin durch Paris oder ergeht sich mit Wittgenstein und Heidegger im Gebirg, als mit Simone Weil in die Fabriken zu gehen oder mit Ayn Rand an den Broadway. Aber immerhin, Ayn Rand, das ist auf jeden Fall lobend hervorzuheben: Eilenberger hält Ayn Rand nicht nur aus, nein, er hat sie erwählt und schafft es sogar, ihre nicht direkt unumstrittene Philosophie halbwegs objektiv wiederzugeben und nicht dem politisch korrekten Bannfluch zu unterziehen, unter dem sie seit Jahren und Jahrzehnten steht (Athene yawned, aber es fiel ihr nicht leicht). Rand ist bei Eilenberger nicht das Faschistisch-Böse, sondern eben eine Antipodin des mainstream-Denkens, und wer meint, dass man nicht gelegentlich eine ordentliche advocata diaboli braucht, hat sich einfach zu kuschelig eingerichtet in seiner Echokammer und ist immun geworden gegen jegliche Provokation. Derweil gilt Ayn Rands Atlas shrugged neben der Bibel als das seit den sechziger Jahren meistverkaufte Buch in den USA – eine Parallele, die einen allerdings ein wenig misstrauisch machen könnte; denn wohl kaum werden alle diejenigen, die eine Bibel erstehen, diese auch lesen, von Buchstabe zu Buchstabe, oder gar den Geist erfassen.
Und lesen muss man die Werke sowieso selbst, egal ob männliche Zauberer oder weibliche fire fighter. Feuer der Freiheit ist mehr ein Rahmen, ein Kontext, eine Zeit-Geschichte; gelegentlich: eine Geschichte des Weiblichen (und man wünschte dann doch, heimlich und gelegentlich, eine Frau hätte das Werk geschrieben; mehr sympathetisch). Aber Wolfram Eilenberger hat seinen Namen an das Muster „Philosophen-Quartett“ geheftet, und es sei ihm gegönnt, zumal er sich wirklich auskennt und amüsant schreibt und erfrischend unvoreingenommen denkt. Fortsetzungen sind zu erwarten: Vielleicht Theodor W. Adorno, John Rawls, Michel Foucault, Jürgen Habermas, „Im Dickicht der Diskurse?“; oder: Martha Nussbaum, Judith Butler, Peter Sloterdijk, Giorgio Agamben, ein gemischtes Doppel unter dem Titel „Im Angesicht des Anderen“? Es ließen sich auch globalisiertere Varianten denken, wenn man den doch ziemlich alteuropäischen Kanon verlässt; aber nicht jeder Rahmen hält es aus, so weit aufgespannt zu werden. Wir warten jedenfalls mit Spannung auf die Fortsetzung.
Wann hast du, liebe Leserin, verehrter Leser, das letzte Mal einen echten Kompromiss gemacht? Also nicht einen dieser faulen Deals, die man im täglichen Leben allenthalben macht, sei es mit den aufsässigen Kindern, dem uneinsichtigen Ehe-Gespons, den nervigen Kollegen oder gar: mit dir selbst? Nein, wir meinen einen echten, wahren, harten Kompromiss, in denen beide Seiten etwas von sich aufgeben und, im Idealfall, eine Einigung erreicht wird, auf deren Basis gemeinsames, einverständiges Handeln wieder möglich wird? Oder wenigstens (denn darum wird es im Folgenden vor allem gehen): einen Kompromiss im Denken, bei dem man nicht nur mit den Lippen, sondern auch mit dem Kopf und, idealerweise, sogar mit dem Herzen anerkennt, dass eine andere, der unsrigen entgegengesetzte Ansicht: auch richtig sein könnte (oder, zumindest, bleiben wir ein wenig realistisch: ihre Verdienste in einigen Punkten haben könnte)?
Ach, Kompromisse, sie stehen im Ruf, „faul“ zu sein; kompromisslos ist die moderne Frau, sie steht ihren Mann ohne Abstriche, und Gefangene werden nicht gemacht (gleiches gilt für den Mann, schon immer)! Eva Menasse gibt in ihren Gedankenspielen über den Kompromiss, in denen sie den Kompromiss (den echten, wahren, nicht den faulen!) mit dem Kopf und mit dem Herzen verteidigt, zu, sich bei diesem Bemühen ab und an wie ein „alter weißer Mann“ vorzukommen: „jedenfalls im Unvermögen, den Jüngeren zumindest zu vermitteln, dass sich meine Überzeugungen aus anderen Quellen und einer anderen, hoffentlich ebenso legitimen Lebenserfahrung speisen, und nicht einfach nur aus Bockig-, Bösartig- und Unbelehrbarkeit“. Tatsächlich spricht eine Frau mit gereifter Lebenserfahrung in diesem knappen, äußerst lesbaren und lesenswerten Essay (neben-bei: „Gedankenspiel“ ist ein schönes Synonym für den Essay als solchen!) über den verrufenen Kompromiss; sie ist zudem eine genaue, informierte, kritische Beobachterin der Zeitgeschichte und eine erfahrene Autorin ebenso wie eine eigenständige Denkerin. Und das, was sie sagt, wird vielen nicht gefallen (vor allem den auf Kompromisslosigkeit gedrillten Soldaten und Soldatinnen des Zeitgeistes). Aber versuchen wir es einmal, üben wir uns alle für ein paar Minuten in der unterschätzten, halb schon vergessenen und viel zu wenig analysierten Kunst des Kompromisses!
Dafür müssen wir, und das ist das erste „Gedankenspiel“, wieder lernen, den Gegner (und jede setze jetzt seine Lieblingsgegnerin ein, groß oder klein, privat oder politisch, es macht für Übungszwecke keinen Unterschied!) wieder zu humanisieren. Nicht nur irgendwie abstrakt und zähneknirschend, sondern wirklich und gefühlt: Wer eine andere Meinung zu etwas hat, ist auch ein Mensch, und sie hat eine andere Geschichte und Lebenserfahrung und Perspektive, und darüber sollte man auf Sachebene reden und es nicht denunzieren. Das ist nicht einfach. Das tut weh. „Ein guter Kompromiss, so erleichternd er danach sein sollte, schneidet zuerst einmal auch tief ins eigene Fleisch. Wie mühsam und schmerzlich das ist!“
Wir müssen, zum zweiten, zu unterscheiden lernen zwischen dem, was alte Sprichwörter ebenso wie der neuere Zeitgeist gern als faule Kompromisse denunzieren, und dem schmerzhaften guten Kompromiss, der ins eigene Fleisch schneidet und „unbeliebt, flüchtig und rar wie aussterbende Tierarten“ ist. Dass jedoch die Kompromissfähigkeit derart kompromittiert werden konnte, begründet Menasse – vielleicht etwas arg vereinfachend, aber für unsere Zwecke trennscharf genug – damit, dass sogar in den modernsten säkularisierten Gesellschaften noch sakrale Bedürfnisse und Denkstrukturen überlebt haben (im Moment: im Reservat der „Identitätspolitik“) – was paradoxerweise dazu geführt hat, dass „unsere vermeintlich liberalen Gesellschaften in den letzten Jahren an allen Enden des Spektrums kompromiss-loser geworden sind“. An allen Enden, das kann nicht genug betont werden, wohnen die Fanatiker des Denkens und Meinens!
Deshalb jedoch, und das erläutert das dritte „Gedanken-spiel“, neigen alle modernen Ideologien zu Verabsolutierung und Verallgemeinerung; sakralen oder totalitären Denkstrukturen letztendlich. Wer jedoch Begriffe verbietet und Themen tabuisiert, egal welche und aus welchen Gründen, verbietet das freie Denken. Immer, nicht nur in Diktaturen! Und deshalb holt – und es ist wirklich erfrischend, dass das einmal eine kluge Frau in klaren Worten sagt – die Dialektik unvermeidlich alle diejenigen ein, die meinen, Freiheit durch Verbote begründen zu können: „In den neuen Sprechverboten und den Schlachten, die im Namen der politischen Korrektheit geschlagen werden, erkennt man den Hilferuf nach Anleitung, nach klaren Regeln für alle. Strukturell ist das nicht anders als der Ruf nach dem starken Mann: der Ruf nach der verbindlichen Regel. Alles soll über einen Leisten geschlagen werden, weil die Alternative nicht mehr zu bewältigen scheint: sich jedes Mal auf einen anderen Fall, auf eine andere Differenzierung einlassen zu müssen“. Urteilskraft, das ist es, worauf es ankommt; nicht Korrektheit. Differenzierung, nicht Empörung: „diskutieren, darüber nachdenken, Vor- und Nachteile abwägen zu wollen – das alles geht in dieselbe Richtung: gegen die Vereinfachung und für die Arbeit an der individuellen Antwort. Für das Langwierige, das Nervige, Quälende, Unbedankte, Ruhmlose. Für die vielstimmige, widersprüchliche, einen verrückt machende Demokratie im eigenen Kopf“. Allein dafür, für diese wunderbare Vorstellung der „Demokratie im eigenen Kopf“, lohnt sich die Lektüre dieses Essays!
Menasse gibt aber auch zu, dass die grassierende Suche nach neuen Eindeutigkeiten, nach vermeintlich absolut sicheren Wahrheiten, nach unbestreitbaren Überzeugungen ihre (schlechten) Gründe hat: „unmenschliche Beschleunigung aller Abläufe, die krasse Überforderung des Einzelnen durch Unmengen von Informationen, die dadurch wertlos sind“ – das sind nur einige von ihnen, aber wohl die offensichtlichsten. Nein, wir alle sind überfordert durch die noch immer ansteigende Komplexität selbst der einfachsten unserer eigenen Aktionen, sei es in immer komplizierteren persönlichen Lebensentwürfen oder in einer wirtschaftlich und politisch global immer stärker vernetzten Welt. Eva Menasse gibt nun keine Patentrezepte zur Bewältigung und Reduktion von Komplexität (es gibt sie nicht). Sie sagt nicht, wie man es hinbekommt, so miteinander zu reden, dass man einander wirklich zuhört und aufeinander zugeht und vielleicht, viel-leicht zu einer Änderung von festzementiert scheinenden Positionen kommt; sie sagt schon gar nicht, wie ein daraus erwachsendes Handeln aussehen könnte (Probleme, die man politisch gerade gut am Bruch der Koalition studieren konnte, der ein Lehrstück in mangelnder Kompromissfähigkeit war). Im vierten „Gedankenspiel“ weist sie kurz darauf hin, dass die einzigen staatlichen Grenzen, die verallgemeinerungsfähig zu setzen sind, Gesetzestreue und Gewaltverzicht sind.
Aber den Rest der Arbeit muss jeder für sich selbst machen. Dabei hilft vielleicht eine weitere philosophische vernachlässigte Tugend, die Menasse nur kurz erwähnt, aber die seit alters her als Schlüssel- und Generaltugend gilt: die Gelassenheit nämlich. Nicht nur leben und leben lassen, sondern denken und denken lassen. Sogar reden und posten lassen! Das wäre auch ein lohnendes Thema für einige „Gedankenspiele“.