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Bilder * Texte * Gedanken


Rezensionen Krimis


  • Wenn kluge Frauen erzählen. Elly Griffiths, The Stranger Diaries
  • Venezianisches Kammerspiel mit Kühlschrank. Donna Leon, Geheime Quellen
  • Mord im Chat-Room. Zum E-Mail-Roman The Appeal von Janice Hallett
  • Die schlafende Enzyklopädie von Sujata Massey: ein weiblicher, multikultureller Bildungsroman
  • Krimis als Emanzipationsgeschichten
  • Eine Enzyklopädie der Menschenmanipulation. Robert Galbraith, Das strömende Grab 

 


Wenn kluge Frauen erzählen

Elly Griffiths, The Stranger Diaries


Es war tatsächlich ein wenig spukig. Ich war aufgewacht und konnte nicht wieder einschlafen; ein guter Zeitpunkt, um endlich den spannenden Roman fertigzulesen, eine interessante Mischung aus Krimi und moderner gothic novel und wirklich sehr, sehr spannend: Elly Griffiths The Stranger Diaries. Um nicht allzu wach zu werden, ließ ich das Leselicht aus und blieb bei der dunklen Einstellung des Kindle. Die Katze, die gemerkt hatte, dass hier Aufmerksamkeit zu holen war, war schnell aufs Bett gesprungen und rieb den Kopf an der harten Kante des Lesegeräts, insgesamt sehr zufrieden mit der Entwicklung. Doch während ich in das Dickicht der Handlung versank, die – das sagte nicht nur der Blick auf den Lesestand – ihrem Ende mit Macht zudrängte, nahm ich aus den Augenwinkeln wahr, dass von draußen immer wieder ein Licht aufblitzte. Es kam, strahlte ein wenig in den Flur und verschwand. Dann kam es wieder, in unregelmäßigen Abstand. Mein wacher Verstand sagte mir, dass es sich um den Bewegungsmelder der Gartenlampe im Haus gegenüber handeln musste; wahrscheinlich war er defekt. Jetzt war das Licht wieder weg. Und wieder da. Es war sehr grell, im Unterschied zu den Schemen, die ich nur vage übers Bett hinweg in Richtung Tür wahrnahm; hatte sich da nicht etwas bewegt? Ja, es war die Katze gewesen, die genug den Kopf gegen den Kindle geboxt hatte. Das Licht ging wieder aus. Dann wieder an. Dann wieder aus (dreimal, das ist wichtig).

Doch das nur zum Rahmen. Und ich werde auch nicht die Handlung nacherzählen, sie ist geschickt gebaut und von einem gar nicht so hohen Gruselfaktor (der meist etwas allzu Triviales hat). Sondern das, was mir erst heute, bei der tageshellen Rekapitulation und in einem anderen Kontext auffiel, beschreiben: Nämlich dass sich an diesem Buch recht schön zeigen lässt, was es bedeutet (bedeuten kann!), wenn Bücher von Frauen geschrieben werden. Der erzählerische Gag, soviel kann sicherlich verraten werden, ist, die Handlung von drei sehr unterschiedlichen Frauen erzählen zu lassen: einer Polizistin, indischer Herkunft, lesbisch, tough; einer Englisch-Lehrerin, geschieden und alleinerziehend, extrem attraktiv und literaturverliebt, speziell in eine bestimmte gothic novel; und deren Tochter, hochintelligent, ironisch, sensibel und gleichzeitig auch tough, und dazu noch ein echtes Schreibtalent. Sie alle berichten abwechselnd in Tagebuchform, über einen gewissen Zeitraum hinweg; sie alle schreiben, natürlich, verschieden, genauso wie sie verschieden aussehen, leben und denken. Drei kluge Frauen, vielleicht ein wenig allzu klug; und drei exzellente Beobachterinnen. Sie sind damit nicht nur die Hauptfiguren; nein, sie sind gleichzeitig die einzigen Autorinnen, die die Leserin bekommt (na gut, abgesehen von einer gewissen Rahmenhandlung, dazu später). Ihr Blick in die Welt ist unserer, wird immer mehr unserer; und immer, wenn wir uns an die eine Perspektive gewöhnt haben, kommt die andere wieder an die Reihe und blickt aus einem anderen Winkel, durch andere Gläser, mit anderen Vor- und Nachurteilen. Aber immer: eindeutig weiblich!

Um sie herum bewegen sich noch eine Reihe anderer eindrucksvoller Frauen: die ältere „weiße Hexe“ (deren Tagebuch man eigentlich zur Abrundung sehr, sehr gern auch noch hätte); die beste Freundin, ermordet; die schottische Urgroßmutter, eine so klassische altersweise alte Frau, dass einem zuerst gar nicht auffällt, dass es keinen Mann dazu zu geben scheint. Aber der kluge Text weist uns deshalb auch eigens darauf hin, dass es ihn durchaus gibt, er ist aber nicht weiter erwähnenswert, er fällt halt jeden Morgen mit dem Boot über den See nach Ullapool. Überhaupt sind, bei genauerer Betrachtung, die meisten Männer, selbst diejenigen, die es – fast – zu Hauptfiguren bringen, bemerkenswert wenig erwähnenswert. Sie alle hängen ab von den Frauen, sie sind ihnen verfallen oder zumindest auf sie angewiesen, sie bringen es durchschnittlich kaum auf die Hälfte der versammelten Klugheit der großen Frauen. Am Ende sind sie tot oder schuld oder bleiben blass oder machen eine wirklich große Dummheit (Gretna Green? Really?)

Ach, es ist eine Lust und eine Wonne, dass es jetzt Texte gibt, in denen die Frauen dominant, klug, bedeutend sind! Und in denen sie endlich darüber bestimmen, wie von Frauen erzählt wird! Dazu gehört auch, dass die Liebe, das ewige Romanenthema, anders erzählt wird. Nämlich: Beinahe als Nebensache, zumindest was Sex oder die „romantische Liebe“ angeht. Es wird rumgeknutscht, klar. Und Männer wollen immer mehr, auch klar. Aber der eigentliche Herzensvertraute, derjenige, der als Einziger immer und unbedingt geliebt wird, und das heimliche Zentrum der ganzen Handlung, in gewissem Sinne – ist ein Hund. Ein Pudel auch noch! Das ist wahre, alle Klassen- und Geschlechtsschranken locker überspringende Liebe!

Na gut, das musste jetzt doch verraten werden. Davon unabhängig hat der Schluss aber noch eine besondere Pointe, und ich muss jetzt versuchen, um sie herum zu erzählen. Denn am Schluss des Buches – die Spannung der Binnenhandlung ist längst aufgelöst, der Mörder gefasst, die drei Frauen sind mit der inneren Aufarbeitung befasst, aber insgesamt mit der Welt im Reinen – am Schluss wird die Rahmenhandlung geschlossen, logischerweise (man hatte aber schon fast vergessen, dass hier überhaupt ein Schluss fehlte). Und wie das geschieht – nun, das ist ein wenig spukig und lässt einen Haken zurück beim Lesen. Das Licht geht aus, dann wieder an, dann aus. Dreimal, das ist wichtig.

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Venezianisches Kammerspiel mit Kühlschrank

Zu Donna Leons Geheime Quellen

Natürlich erwartet man nichts Neues, wenn man einen Krimi von Donna Leon zur Hand nimmt. Milde wundert man sich vielleicht, dass die alte Dame immer noch schreibt; dass es noch ein venezianisches Verbrechen gibt, das ihr so sanfter, so gern die Klassiker lesende Commissario Brunetti noch nicht aufgedeckt (aber bemerkenswert selten seiner vollständigen juristischen Aufarbeitung zugeführt) hat. Wir kennen die Palazzi, Calle und Brücken auch entlegener Stadtteile, die Cafés mit ihren Tramezzini, die Wohnung der weiter bemerkenswert harmonisch alternden Familie Brunetti mit ihren bemerkenswert wohlgeratenen Kindern – und ach, wie entspannend, wie moralisch aufbauend ist das alles, man trifft sich wie mit guten alten Bekannten auf einen erfrischenden Weißwein auf der Dachterrasse, und eigentlich wollte man sowieso schon lange mal wieder nach Venedig, wegen Corona und trotz Corona – aber auf einmal kippt die Stimmung beim Lesen, es wird schwül, immer schwüler, pestartige Gerüche wabern durch die ausgetrockneten Kanäle unter der Sommerglut, und sind es wirklich schon wieder mehr Touristen geworden, ja, ist das denn überhaupt noch möglich?

Denn in Donna Leons 29tem Brunetti-Krimi ist zwar alles auf den ersten Blick wie gewohnt, vertraut bis in die Blumenarrangements von Signorina Elettra und das gockelhafte Gehabe von Patta, aber es ist in ein schwüles Licht getaucht. Die bekannten Gestalten bewegen sich wie in einem Kammerspiel nur auf Zehenspitzen umeinander, eine monströs adipöse Ärztin hilft in einem fast menschlich anmutenden Hospiz einer noch gar nicht alten Mutter in den letzten Tagen ihres schonungslos beschriebenen Krebstodes, während Quecksilber durch die austrocknenden Adern von Venedig läuft und Brunetti das Bild einer japanischen Pietà nicht aus dem Kopf bekommt, das Kind bizarr vom Gift verkrampft auf ihrem Schoß. Jedes Gespräch wird, ob man will oder nicht, ein Verhör, jedes sticht in eine neue Wunde, und mit großer, nein: mit minimalistischer Kunstfertigkeit (hat Donna Leon vielleicht mit Paola zu viel Henry James gelesen?) zeigt die alte Dame, was alles hinter, unter und neben den Wörtern geschieht, wenn es um das Sterben und die Wahrheit geht. Ach was, die Wörter sind fast das Unwichtigste dabei. Was in den Pausen geschieht, zwischen den Wörtern, den Sätzen; was zwischen den Blicken geschieht, bei den sparsamsten und doch so sprechenden Bewegungen einer Sterbenden; und was in den Köpfen geschieht bei all dem, vielleicht sollte man besser sagen, auch wenn man nicht gläubig ist: in den Seelen. Man weiß nach den ersten Seiten, warum sich diverse amazon-Rezensenten über die Handlungsarmut und das etwas Lähmende der Lektüre beklagt haben, und man weiß wenige Seiten später, dass es darum auch nicht geht. Es geht um Beziehungen, im allerweitesten Sinne (und, zum Glück, beinahe überhaupt nicht um die erotische Liebe, diese engste und begrenzteste aller Beziehungen, auch wenn Brunetti zwischendurch die schönsten aller ironischen Liebeserklärungen macht). Um Beziehungen zwischen Lebenden und Sterbenden, Ärzten und Patienten, Vorgesetzten und Angestellten; es geht außerordentlich viel um Beziehungen zwischen Kollegen, ja, man könnte sogar behaupten, dass Brunettis Beziehungen zu seinen besten, langjährigen Kollegen – vom volksweisen Bootsführer Foa über die empathische Claudia Griffoni, den unauffälligen und doch so aufmerkenden Vianello bis hin zu Signorina Elettra, dem heimlichen und immer ein wenig hermetischen Herzen des ganzen Kreises – sowieso Liebesbeziehungen sind: Sie kennen sich alle von innen, und reden müssen sie sowieso nicht mehr, um sich zu verstehen.

Die alten wie die neuen Katastrophen von Venedig ziehen sich über diesen Köpfen zusammen, es sind immer die gleichen seit den Zeiten der Alten, die Brunetti unermüdlich liest: Gier, Korruption, Verrat, schiere Dummheit, Hybris. Aber es muss ja nicht immer eine Tragödie sein; man kann auch ein Kammerspiel daraus machen, mit einzeln eingestreuten funkelnd absurden Szenen (am Ende war es ein Kühlschrank). Niemals löst sich die Schwüle auf in einen erlösenden Sommerregen, kein deus ex machina steigt herab (am Ende war es ein Kühlschrank). Außer natürlich in Signorina Elettra Büro, wo die Blumen sich in erfrischender Kühle entfalten und die Bluse am Abend immer noch die gleichen Bügelfalten hat wie am Morgen, während Brunettis Hemd mal wieder zu Schweiß zerflossen ist, und wir alle hoffen, dass die Tür zu Pattas Büro noch ein wenig länger geschlossen bleibt, damit die Kühle nicht entweicht. Und zum Glück ist Elettra nicht Aphrodite in diesem absurd angehauchten Kammerspiel vor griechischer Kulisse, oh nein! Für Männer hat sie sich schon lange nicht mehr schön gemacht, sie sehen es sowieso nicht, noch nicht einmal Brunetti, der aber immerhin jeden Morgen aufs Neue sanft erstaunen kann. Sie ist auch nicht Athene, die Allzu-Kluge, sie trägt keine Helme und verachtet die Dummheit zwar, aber eher nebenbei. Vielleicht ist sie ja – Artemis, die jungfräuliche Göttin, immer auf der Jagd, und unfehlbar ist die digitale Verfolgungskunst, mit der sie ihre Netze wirft? Und wer jetzt mit der trivialen Formel vorprescht, zusammen seien sie eben alle ein „unschlagbares Team“ – hat leider nichts von Schicksalsmächten verstanden. Und auch nichts von Venedig, einem absurden Traum, gebaut auf einem Sumpf und in der letzten Phase seines sehr öffentlichen Dahinschwindens. Der Rest ist Schweigen.

Donna Brunetti: Geheime Quellen (Trace Elements). Brunettis neunundzwanzigster Fall. Übersetzt von Werner Schmitz. Diogenes Verlag 2020.

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Mord im Chat-Room

Zum E-Mail-Roman The Appeal von Janice Hallett


E-Mails können entlarvend sein. Wie entlarvend, das kann man aus dem Roman The Appeal (2021) der englischen Autorin Janice Hallett lernen. Das Buch hat eigentlich keine Werbung nötig; in England stand es auf allen Bestsellerlisten, und wer die ersten Seiten liest, ist gefangen in einem mehrfach verknoteten Rätsel und einem Netzwerk (im durchaus doppelten Sinn) von Beziehungen, die bei allem oberflächlichen digitalen Austausch untergründiger sind, als man geahnt hätte. Es geht um eine englische Amateur-Theatergruppe mit all ihren persönlichen und sozialen Verstrickungen; es geht um die unaufhaltsame Dynamik einer Crowdfunding-Initiative für ein krebskrankes Kind (das ist der eine Sinn des titelgebenden Appeal: ein Spendenaufruf); es geht um die Probleme von Hilfsorganisationen im fernen Afrika, deren Nutzen wie potentiellem Schaden (auch das natürlich etwas, was mit appeals arbeitet) – und das alles ist mit ebenso großer Sachkenntnis wie Professionalität geschildert. Was aber die Lektüre darüber hinaus interessant macht, und zwar auch für diejenigen, die sich weder von Krimis einfangen lassen wollen noch von der Identifikation mit menschlich-allzumenschlichen Protagonisten in all ihren Alltäglichkeiten wie Lebenskrisen: Das ist die gelungene Erneuerung eines altmodischen Genres – nämlich des empfindsamen Briefromans des 18. Jahrhunderts (Goethes Die Leiden des jungen Werthers sind wohl das bekannteste Beispiel) – in einer Form, die oberflächliche Einfachheit mit literarischer Komplexität verbindet.

Das klingt zunächst nur wie ein Lehrstück in angewandter Literaturgeschichte und Poetik und damit allerhöchstens interessant für ältliche Literaturprofessorinnen-cum-Bloggerin oder sehr unerschrockene Literaturwissenschaftsstudentinnen. Ist es aber nicht. Und damit kommen wir zurück auf unsere ungedeckte Anfangs-Behauptung: Ist es nicht gerade hier und heute für uns alle aufschlussreich, wie entlarvend die alltägliche Sprache und wie verräterische sprachliche Eigenheiten sind? Wie psychologisch markant digitale Selbstdarstellungsweisen? Wie aussagekräftig Fragen der strategischen Privatkommunikation (wer schreibt wem wann wieso und mit wem im CC?)? Denn all das müssen die beiden jungen Anwältinnen lernen, die den Appeal (also: die Berufungsklage auf ein strafrechtliches Urteil, zweite Bedeutung) vorbereiten. Sie kennen die Personen nicht, sie haben nur die Aktenlage, und das ist: die gesamte elektronische Kommunikation aller beteiligten Personen. Und so werden sie Profiler, Kommunikationswissenschaftlerinnen, Spurensucherinnen, Psychologinnen, Sprachanalytikerinnen. Und mit ihnen lernt die Leserin – lesen: gründlich lesen, mit geschärftem Blick und Ohr lesen, detektivisch lesen. Im Wissenschaftskleid nennt man das „Hermeneutik“ (Deutungskunst); Hermeneutik vollzieht sich aber überall, wo Menschen einander verstehen wollen oder müssen. Hermeneutik ist: Zeichen deuten, die kleinsten ebenso wie die größten; und lernen, dass Zeichendeutung immer ein gefährliches Geschäft ist, das Missverständnis lauert hinter jedem Emoji (es gibt übrigens keine Emojis im Roman, was eigentlich schade ist), man kann unter-deuten wie über-deuten, und am Ende fällt jemand ein Fehlurteil und es wird ein Appeal fällig. Man muss aber deuten, es gilt der hermeneutische Imperativ: Ohne Deutung keine Verständigung. Wie also deutet man richtig?

Badeschaum, Entwicklungshilfe und Drehbücher – die Autorin Janice Hallett

Die Autorin Janice Hallett, um mit einer strategischen Abschweifung zu beginnen, hat ihr Geschäft als Autorin gelernt, und zwar von der Pike auf. Sie hat nicht nur englische Literatur studiert, sondern auch Drehbuchschreiben gelernt; erste Berühmtheit erlangte sie mit einem Drehbuch über eine Pandemie (Retreat), der Film entstand neun Jahre, bevor COVID-19 ihn bewahrheitete (ordentliche Hermeneutik kann in die Zukunft sehen; sie hat die Vergangenheit gut verstanden und ihre Lehren daraus gezogen). Hallett schrieb lange Jahre für Schönheitsmagazine, und in einem Interview hat sie darüber gesagt: „Die meisten Leute haben das Schreiben über Schaumbäder nach zwei Jahren über – ich brauchte fünfzehn Jahre, bis ich mich davon verabschiedete“. Das kann man als mangelnden Mut und schwaches Selbstbewusstsein deuten, ein weitverbreitetes Problem weiblichen Schreibens; andererseits zeigt es, vielleicht, ja auch eine erstaunliche Kreativitätsbreite: Wer fünfzehn Jahre (offensichtlich erfolgreich) über Schaumbäder schreibt, ist entweder ein chronischer Wiederholungstäter oder von meisterhafter Erfindungsgabe! Danach wurde Hallett als Texterin für die englische Regierung tätig, unter anderem für das Entwicklungshilfe-Ressort (was ihre relativ intimen Kenntnisse dieses heiklen politischen Bereichs erklärt); auch das eine harte Schule des Schreibens, ein „Feuerbad“, wie sie selbst gesagt hat, am Puls der Zeit und unter dem gnadenlosen Blick der Öffentlichkeit. Lange Jahre war sie zudem in einer Amateur-Theatergruppe tätig, und das in jeder vorstellbaren Funktion und Rolle. Und erst dann setzte sie sich irgendwann hin und schrieb The Appeal (und anschließend schon ein weiteres Buch mit einem ähnlichen, aber variiertem Strickmuster, das ist verzeihlich: The Twyford Code), in einem Jahr, ohne Plan, aber mit einer Menge „reverse engineering“ am Ende. Denn man muss ein gutes Buch zuerst sich selbst schreiben lassen, aber dann kann man es, von hinten her, wieder aufrollen und alle Lücken füllen, die das Feuer der Erstinspiration hinterlassen hat (und sei es mit den klassischen red herrings, die jeder ordentliche Krimi ausstreut: sie führen ins hermeneutische Nichts, und natürlich hat der Appeal jede Menge rote Heringe).

Der polyperspektivische Brief- und E-Mail-Roman, oder: detektivische Hermeneutik

So also entstand The Appeal, das Werk einer lang geschulten, hochprofessionellen Autorin – aber das allein reicht zwar vielleicht für einen Bestseller, aber nicht für ein interessantes Buch. Interessant wird es vielmehr dadurch, dass es die Leserin alle wesentlichen Erfahrungen selbst machen lässt, in großer Freiheit, aber nicht in unbegrenzter Willkür. Und so lernt man langsam beim Lesen die Figuren kennen, über die man nichts weiß – wie im „klassischen“ Briefroman kann eine Figur ja nicht eingeführt werden über eine Beschreibung oder eine Charakterisierung; nein, alles, was wir über jede einzelnen der vielen Figuren wissen können und wissen werden, müssen wir aus ihren eigenen Emails – und natürlich dem, was in anderen Emails über sie gesagt wird – hinausziehen. Wir werden zu Profilern erzogen, Schritt für Schritt; und alle Figuren, die sich nicht in einem der digitalen Medien äußern (es sind zwei der zentralen Figuren des Textes überhaupt), bilden eine gigantische Leerstelle, die noch viel schwieriger zu füllen ist. „Polyperspektivisch“ ist das Fachwort dafür: Die Handlung des Romans setzt sich zusammen aus vielen einzelnen Perspektiven auf das Geschehen; es gibt jedoch keinen Erzähler, der sie für uns einordnet, bewertet, in Zusammenhang bringt.

Doch wir konstruieren nicht nur psychologische Profile beim Lesen, wir rekonstruieren auch ein Geschehen, das teilweise zurückliegt und nur über Erzählungen zugänglich ist. Wir werden nicht nur Detektivinnen, wir werden Geschichtsschreiberinnen und, zu guter Letzt, Anwältinnen ebenso wie Urteilende und Richterinnen in einem Prozess, der nicht nur ein juristischer ist, sondern auch ein politscher und ein moralischer und als solcher unser Urteil verlangt. Zwar liegt am Ende, wie es sich gehört, eine Leiche da, und natürlich wollen wir wissen, wer es war; aber viel interessanter ist (wie in jedem guten Krimi), warum sie da liegt und – vielleicht: wie man es hätte verhindern können?

Die ganze Welt ist eine Bühne, und wir sind die Schauspieler

Vielleicht macht es auch die besondere Anmutung (und das ist der dritte Sinn von Appeal: der Reiz, die Anziehungskraft, und beides spielt durchaus eine Rolle im Figurenvieleck des Textes) des Romanes aus, dass die wesentlichen Akteure Mitglieder einer langjährigen Amateur-Theatergruppe sind, eines ganz besonders eng verwobenen sozialen Mikrokosmos mit eigenem Milieu. All the world’s a stage, das ist zwar ein schon ein sehr zertrampelter Allgemeinplatz, aber es ist auch die Wahrheit: Gerade in unserer digitalisierten Welt spielen viele von uns noch intensiver „Rollen“, als jemals zuvor; betreiben Formen der Selbstdarstellung, die zu einem ganzen zweiten Ich werden können, einem Avatar, der in einer ganzen zweiten Welt – der Welt des Theaters, das das große weite Internet ist – agiert. Macht spielt dabei eine Rolle, Geld spielt eine Rolle, Schönheit spielt eine Rolle, Status spielt eine Rolle – alles wie im „richtigen Leben“. Jemand spielt immer die Hauptrolle, und andere kochen immer den Tee und verteilen die Programme und warten auf ihre Chance, meist vergeblich. Doch in Halletts E-Mail-Roman kommen auch die Teekocherinnen zu Wort; mit den beiden Anwältinnen bekommen wir den ganzen digitalen Schriftwechsel, jedes digitale Pupsen, ungefiltert. Denn: Jede Nachricht ist eine Botschaft, auf irgendeiner Ebene – und nur, wenn wir auch die länglichen, umständlichen, unsympathischen, nervtötenden Botschaften lesen, können wir verstehen. Jede spielt eine Rolle, und das Ganze funktioniert am Ende nur, wenn alle ihren Teil tun. Es ist – wie im Leben, das an uns herantritt mit appeals in ihrem schönen dreifaltigen Sinn: einer Vielzahl von Bitten, Aufrufen und Apellen: von Beschwerden, Mahnungen und Anfechtungen; von Anmutungen, Reizen und Anreizen. Das Leben ist seinem Wesen nach polyperspektivisch; und nur, wer gelernt hat, zwischen seinen Zeilen zu lesen, kann daraus am Ende ein sinnvolles Bild zusammensetzen (für alle anderen gibt es Kaleidoskope).

In deutscher Übersetzung erhältlich unter dem Titel: Mord zwischen den Zeilen. Übersetzt von Sabine Schilasky. Rowohlt Verlag 2021.

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Die „schlafende Enzyklopädie“:
ein weiblicher, multikultureller Bildungsroman

Unter Literaturwissenschaftler*Innen ist gelegentlich umstritten, ob es überhaupt so etwas wie einen reinrassigen „Bildungsroman“ gibt; eigentlich, so wird argumentiert, sei das doch eher eine Untermenge des größeren Genres „Entwicklungsroman“, und „Bildung“ sowieso ein derartig deutsches Konzept, dass es in andere Kulturen kaum übertragbar sei. Das alles ist akademisches Tagesgeschäft und wenig interessant, hätte es nicht auch eine kleine gender-Pointe: Denn der einzig wirklich und wahrhaft als solcher anerkannte Bildungsroman ist eindeutig männlich. Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre – im Übrigen ein großartiger Roman und zu jeglicher Zeit der Lektüre wert – schildert die Sozialisation eines jungen Mannes aus dem Kaufmannsstand, der reichlich schwärmerische Ideen über sich selbst und seine Zukunft als Theaterdichter im Kopf hat, und damit in die Welt geht, die ihm den Kopf zurechtrückt; vorher hat er auch noch unwissend ein uneheliches Kind mit seiner Theater-Liebschaft Mariane produziert, und es wird eine wesentliche Rolle für seine vollendete Bildung spielen, dass er am Ende die Vaterschaft akzeptiert, nicht nur in einem juristischen Sinne. Aber keine junge Frau hätte in dieser Zeit etwas Ähnliches unternehmen können; und ihre Bildung wäre schon deshalb eine andere gewesen, weil sie die unehelichen Kinder bekommt, was eine ziemlich wissentliche Angelegenheit ist. Wie aber„übersetzt“ man ein solches Romanschema – man könnte durchaus einmal in einem wörtlichen Sinne von einem „Narrativ“ sprechen; wie übersetzt man ein solches männliches Narrativ zum einen ins Weibliche, und zum zweiten: in andere Kulturen fern des spezifisch deutschen Bildungs-Begriffs?

Dass das nicht nur möglich, sondern sogar aufschlussreich, interessant und packend zu lesen ist, zeigt ein schon vor einigen Jahren erschienener Roman einer Autorin mit ziemlich hybriden familiären und kulturellen Wurzeln: Sujata Massey, Tochter einer deutschen Mutter und eines indischen Vaters, wurde geboren in den Vereinigten Staaten; in ihrem späteren Leben brachte sie lange Jahre in Japan zu und unternahm viele Reisen nach Indien. Bekannt wurde sie vor allem durch ihre Krimis, der Japan-Reihe um Rei Shimura, Hobby-Detektivin und Antiquitäten-Kennerin im zeitgenössischen Tokio, und der Indien-Reihe um die indische Anwältin Perveen Mistry, angesiedelt in den frühen Übergangszeiten von der britischen Kronkolonie zur Unabhängigkeit Indiens (dazu demnächst weiter unten im zweiten Teil). Dazwischen jedoch hat sie die Zeit gefunden, einen multikulturellen weiblichen Bildungsroman zu schreiben, der – vielleicht als Parallellektüre zu Wilhelm Meisters Lehrjahre? ‑ nicht genug empfohlen werden kann. Er trägt den auf den ersten Blick rätselhaften Titel The Sleeping Dictionary, der aber schon elegant auf die beiden Elemente dieser sehr besonderen weiblichen Bildungsgeschichte hinweist. Die Hauptfigur durchläuft ihre Sozialisation vom Waisenkind nach einem Tsunami hin zur emanzipierten (Ehe-) und berufstätigen Frau im Kalkutta der frühen Unabhängigkeitsphase Indiens im Wesentlichen anhand zweier Leitmotive: ihrer sexuellen Ausbeutung als Prostituierte – was aber gleichzeitig ein wichtiger Bestandteil ihrer Erziehung ist – und ihrer frühen Begeisterung für das Lesen, speziell: europäischer (weiblicher) Autoren wie George Eliot oder Virginia Woolf. Wie das zusammengeht? Es geht!

Erzählen wir einfach kurz die Geschichte, auch wenn es ein wenig ein spoiler ist; aber wir bleiben genug an der Oberfläche der Dinge, und die eigentliche Geschichte spielt sowieso auf einer viel tieferen Ebene. Also: Der Roman beginnt mit einem Satz, der es verdient, in die ewige hall of fame berühmter Anfangssätze aufgenommen zu werden, gleich neben Call me Ishmael (Moby Dick): „You ask for my name, the real one, and I cannot tell. It is not for lack of effort“. Größer könnte der Gegensatz zu Wilhelm Meister kaum sein, dessen Namen sein Schicksal schon konzentriert vorhersagt. Denn „Wilhelm“ ist nicht nur zu dieser Zeit ein klassisch deutscher Name, sondern durchgängig bis ins 20. Jahrhundert einer der häufigsten männlichen Vornamen überhaupt; er stammt aus dem Althochdeutschen und trägt den „willio“, den Willen und die Entschlossenheit, ebenso wie den „helm“, den Schutz, im Gepäck. Er ist verbreitet in Herrscherdynastien (z.B. bei den deutschen Hohenzollern), aber ist gleichzeitig, seiner großen Verbreitung wegen, eine Art Durchschnittsname; genau wie Wilhelm Meister selbst eigentlich ein nur etwas ambitionierter und mäßig privilegierter Durchschnittstypus ist, der eben erst durch seine „Lehrjahre“ zum „Meister“ gemacht werden muss.

Unsere Hauptfigur jedoch wird geboren in einem bengalischen Dorf, als Mädchen ist man dort von so geringer Bedeutung für die Familie, dass es kaum für einen eigenen Namen reicht; aber man nennt sie „Pom“, und sie ist glücklich, trotz alledem. Als der Tsunami – für den sie natürlich keinen Namen hat – ihr gesamtes Dorf einfach ausradiert, ihre bisherige Existenz von Grund auf vernichtet – Entwurzelung (im Falle Wilhelm Meisters: Mutterlosigkeit) ist der Boden, auf dem alle Bildungsromane wachsen –, kommt sie als Hilfskraft in eine britisch-katholische Schule; und weil sie, selbst als Dienstmagd, nur einen christlichen Namen haben darf, wird sie „Sarah“. Und während sie putzt und Böden schrubbt und den morning tea serviert, stiehlt sie ihre Bildung; lernt heimlich Lesen, und zwar anhand der britischen Romane, die eine (offensichtlich auch ambitionierte, aber man braucht diese Glücksfälle von Erziehergestalten im Bildungsroman) Lehrerin den eher uninteressierten Schülerinnen präsentiert: Mrs Dalloway in Bengal unter britischer Kolonialherrschaft, man stelle sich das vor; oder Jane Austenim Chaos von Kalkutta. Doch Sarah darf nicht Sarah bleiben; sie wird entlassen, landet mittellos und nur mit ihrer Kenntnis der britischen Romanliteratur ausgestattet, in Kalkutta, dem großen, blühenden und armen Kalkutta, das das Herz des britischen Kolonialreiches war. Und sie bekommt ihren neuen Namen: Als „Kamala“ wird sie zur Edel-Prostituierten gemacht, deren „Unschuld“ an den Meistbietenden der – natürlich ausschließlich britischen – Kunden versteigert wird. Das sind harte Lehrjahre, aber Kamala lernt bei all dem wirklich Entsetzlichen, dem sie täglich ausgesetzt ist, die nächste wichtige Lektion: wie man Menschen „liest“ nämlich; vor allem Männer. Und sie bekommt ein Kind, natürlich unehelich, natürlich verstoßen und allein, unter erbärmlichsten Umständen. Und als sie dann, wiederum: mit der für den Bildungsroman typischen Mischung aus persönlicher Resilienz und äußeren Glücksfällen, ihre wahre Liebe, ihre wahre Identität und ihre Zukunft findet, da verdankt sie das genau der Mischung aus all dem: ihrer Sprachenkenntnis, ihrem enzyklopädischen Bildungshunger, ihren ganz handfesten Literaturkenntnissen (sie wird Bibliothekarin) und ihrer ausgebildeten Menschenkenntnis.

Und während Indien seine politische Unabhängigkeit erstreitet, mit einer Mischung aus Blut, Schweiß und Tränen, aber auch: mit Selbstbildung, mit Entschlossenheit, mit Witz und Originalität; während dessen erstreitet Kamala ihre persönliche, innere wie äußere Unabhängigkeit, mit genau der gleichen Mischung. Und es ist wunderbar und zutiefst aufschlussreich, wie die englischen und die indischen Elemente sich dabei gegenseitig anziehen, abstoßen, wieder anziehen; wie aus all dem, und zwar nicht einfach: in Ablehnung der fremden, übergestülpten Kultur, sondern in ihrer produktiven „Übersetzung“ ins Eigene, ihrer gelingenden Aneignung, etwas ganz unverwechselbares erwächst: die eigene Identität, ein Kompositgebilde aus den verschiedensten Elementen, zusammengehalten durch eine besondere Persönlichkeit. Eben das ist Bildung!

Das sleeping dictionary, um zum Titel zurückzukommen, ist ein durchaus zweifelhafter Begriff aus dieser Zeit: So nannte man die einheimischen indischen Frauen, die Vertretern der britischen Kolonialmacht – die vor allem eine Bürokratie war, und zwar monströsen Ausmaßes – in sexuellen Beziehungen die indischen Sprachen und die indigene Kultur nahebrachten; was oft genug auch zu gemischten Ehen und ehelichen oder unehelichen Kindern führte, die jedoch gesellschaftlich keinesfalls akzeptiert waren. Ein sleeping dictionary – das ist aber auch Poms/Sarahs/Kamalas Aufstieg durch Lesen, Lernen und Bildung in einem umfassenden Sinn: Sie lernt nicht etwa im Schlaf, aber unsystematisch, aus gestohlenen Gelegenheiten, heimlich, undercover sozusagen; keine wohlwollende Turmgesellschaft (das ist die etwas dubiose Instanz, die Wilhelms Bildung im Hintergrund leitet und sanft zum rechten Ende steuert) bewacht sie, aber sie trägt die indische Dichtung (Rabindranath Tagore) nahe beim Herzen, gleich neben Jane Austen, und sie sucht Zuflucht bei ihren eigenen indischen Göttern. Und am Ende – aber jetzt ist genug gespoilert! Belassen wir es dabei: Am Ende ist das sleeping dictionary erwacht; und vielleicht ist das auch eine Metapher für den multikulturellen weiblichen Bildungsroman schlechthin?

Krimis als Emanzipationsgeschichten

Im Übrigen kann man auch Krimis unter gender-Perspektiven lesen, und das ist sogar ziemlich interessant. Auch dazu zuerst eine kurze literaturwissenschaftliche Abschweifung. Der Krimi leidet nämlich manchmal ein wenig unter seinem schlechten Ruf, und als Krimi-Junkie sieht man sich gelegentlich in die Defensive gedrängt; Unterhaltungslektüre, mag ja gut gemacht sein, aber immer nur das gleiche Muster! Denn der Krimi hat in extremer Form das, was nach Aristoteles eigentlich gute Literatur ausmacht: ein Anfang (meist: ein Mord), eine Mitte (meist: die detektivische Ermittlungsarbeit) und ein Ende (meist: die Auflösung des Falls). Aber, um nun die Verteidigungsarbeit zu beginnen: Menschen lieben Muster nicht nur, sie brauchen sie. Muster erlauben Variationen; erst durch die Variation wird das Muster erkennbar und lebendig. Grenzen-lose Freiheit wird in der Literatur, wie so oft auch sonst, überschätzt: Jeder literarische Text orientiert sich, mehr oder weniger, an Mustern; und, um ein bekanntes Zitat über die Philosophiegeschichte abzuändern, könnte man sagen: Die schöne Literatur besteht aus Fußnoten zu Homer (na gut: vielleicht noch Ovid. Und Shakespeare, natürlich).

Krimis aber sind die literarischen Variationsweltmeister. Mit Krimis lernt man das eigene Land und fremde Länder kennen, und zwar von innen, über ihre Bewohnerinnen wie ihre Landschaften, ihre Sitten, Denkweisen und Macken, ihre kulinarischen und kulturellen Vorlieben. Mit Krimis reist man auch durch die Geschichte: Gemordet wird immer, ob in der Antike oder in der schönen neuen Millennial-Welt. Mit Krimis lernt man Milieus kennen, von innen und von außen; sie spielen häufig in Mini-Welten (vom Amateur-Theaterclub bis zum Zoo). Und sie zeigen ganz nebenbei, wie soziale Zirkel interagieren, funktionieren, entarten und sich wieder einfangen: Sozialdynamik und Systemtheorie bei der Arbeit, sozusagen. Mit Krimis lernt man nicht nur logisch denken und auf Details zu achten, auf den Spuren von Denk-Größen wie Sherlock Holmes oder Miss Marple; man absolviert ebenso ein Emotionstraining (Leute morden nicht aus rationalen Gründen) und eine Einführung in die Entwicklungspsychologie (Täter, Opfer, Detektive). Wer es am Ende gewesen ist, whodunnit: Darauf kommt es oft gar nicht an, auch wenn die Auflösungsspannung ein wesentlicher Lektüremotor ist; aber der eigentliche Lesegenuss liegt im Dazwischen, im Fleisch sozusagen, nicht im kargen Handlungs-Skelett.

Nun ist eine der wesentlichen Variations-Muster, man kann sogar sagen: sein grundlegendstes überhaupt, die Wahl der Ermittler-Figur: angestellter Kriminalbeamter, Privatdetektiv, Hobby-Ermittlerin und alles dazwischen (es gibt sogar Katzen oder Schafe). Und vielleicht kommt gleich danach die ebenso grundlegende Entscheidung, ob die Ermittlerfigur männlich, weiblich oder alles dazwischen ist. Und selten wird das deutlicher als in Krimis, die in Zeiten und Räumen angesiedelt sind, wo Frauen mit erheblichen Einschränkungen und Handicaps zu kämpfen hatten, ob im ganz normalen Leben oder wenn sie auf die Idee kommen, Kriminalfälle lösen zu wollen. Es fehlt ihnen möglicherweise an Bildung und Ausbildung, weil sie keine Schulen besuchen durften; es fehlt ihn an gesellschaftlichem Zugang zu bestimmten Räumen, weil sie vielleicht nur in sehr begrenztem Umfang überhaupt am öffentlichen Leben teilnehmen dürfen; es fehlt ihn der Zugang zu bestimmten Berufen, die sich mit Kriminaldelikten befassen; es fehlt ihnen an politischem Einfluss oder gesellschaftlicher Anerkennung, weil sie einem niederen Stand angehören, der falschen Kaste, einer unterdrückten Ethnie.

Aber, und das ist wirklich interessant zu lesen und zu erkennen: All diese Nachteile können auch Vorteile sein! Denn sie ermöglichen nicht nur einen anderen Blick auf gesellschaftliche Phänomene oder die Netzwerke der Macht; sie gewähren auch Zugang zu den Milieus und Netzwerken der Ausgeschlossenen, der Eingeschränkten, der Unterdrückten. Und so kämpft Sujata Masseys Perveen Mistry, gestaltet nach den Vorbildern der ersten historischen Anwältinnen Indiens in der Schlussphase des britischen Kolonialreichs um 1920/1930 im damaligen Bombay, zwar immer wieder mit hartnäckigen Statusproblemen (sie darf beispielsweise als Anwältin nicht persönlich vor Gericht erscheinen, sondern braucht immer einen männlichen Avatar, sozusagen); gleichzeitig aber entwickelt sie ihr eigenes Ermittlungsverfahren und ihr weibliches Ermittlungsnetzwerk von Informantinnen, Gehilfinnen, gelegentlich auch: Frauen mit einem gewissen Einfluss oder einer zweifelhaften Vergangenheit. Und wer weiß schließlich besser als Frauen, was Männer so treiben in ihren dunklen Stunden?

Noch stärker eingeschränkt ist die Hauptfigur der Kriminalromane von Ovidia Yu aus dem Singapur der 1930/1940er Jahre: Sun Lin leidet an den Spätfolgen einer Polio-Erkrankung in der Kindheit; sie ist Waise, mittellos und erkämpft sich ihre Stellung durch ihre scharfe Beobachtungsgabe ebenso wie ihr unglaubliches Beharrungsvermögen und ihre Durchsetzungskraft. In gewisser Weise (wie so oft) ist sie durchaus eine Spiegelfigur ihrer Autorin: Ovidia Yu (die Ovid schon im Namen trägt) ist geboren in Singapur und leidet an Epilepsie. Nach einem Medizinstudium, das ihr mehr oder weniger von ihren Eltern aufgezwungen wurde, widmete sie sich aber immer mehr ihren literarischen Interessen; bevor sie literarisch erfolgreich wurde, schrieb sie Bedienungshandbücher oder Skripte für Video-Trainings. In den Sun-Lin-Krimis sieht man nicht nur das historische Singapur mit seiner Mischung von Kulturen, Kolonialherren und Kriegsgräueln wie einer Zeitkapsel, sondern eben auch: eine Art weibliche Emanzipation durch Detektivarbeit.

Das gilt schließlich auch für Kaveri, die im indischen Bangalore ermittelt und die Heldin der Reihe um den Bangaloore Detectives Club ist, geschaffen von Harini Nagendra. Ähnlich wie Yu ist auch Nagendra auf Umwegen zum Krimischreiben gekommen: Hauptberuflich arbeitet sie nach einem Biologie-Studium, das sie mit einer Promotion mit ökologischem Schwerpunkt abschloss, als Professorin in Bangalore. Nagendra beschäftigt sich mit einer Reihe aktueller ökologischer Themen wie Biodiversität, Nachhaltigkeit städtischer Entwicklungen oder der Rolle von Wäldern in Städten; sie war Gastprofessorin in mehreren angesehenen Universitäten und hat eine reiche wissenschaftliche Publikationsliste vorzuweisen. Ihre Heldin Kaveri könnte davon nur träumen: Von ihrer Familie verheiratet (aber zum Glück mit einem sehr verständnis- und liebevollen Ehemann), ist sie eigentlich auf ihren Haushalt eingeschränkt und hat keine formale Bildung oder gar Ausbildung erhalten; doch wie sie ihr eigenes persönliches Netzwerk spinnt und ihre Einflussmöglichkeiten schrittweise weiter ausdehnt und dabei auch andere Frauen mitnimmt, bis hin zu ihrem eigenen kleinen, natürlich informellen Bangaloore Detectives Club – auch das ist eine Emanzipations- beinahe mehr als eine Kriminalgeschichte, und eine Lektion in historischer und kultureller Differenz dazu.

Sujata Massey
The Widows of Malabar Hill (2018); The Satapur Moonstone (2019); The Bombay Prince (2021); The Mistress of Bhatia House (2023)

Ovidia Yu
The Frangipangi Tree Mystery (2017); The Betel Nut Tree Mystery (2018); The Paper Bark Tree Mystery (2019); The Mimosa Tree Mystery (2020); The Cannonball Tree Mystery (2021); The Mushroom Tee Mystery (2022)

Harini Nagendra
The Bangalore Detectives Club (2022); Murder under a Red Moon (2023); A Nest of Vipers (erscheint 2024)


Eine Enzyklopädie der Menschenmanipulation

Zu Robert Galbraiths (J.K. Rowlings) Roman Das strömende Grab

 


Am Ende wird Aischylos zitiert: „Glück ist eine Wahl, die manchmal Anstrengung erfordert“. Natürlich könnte das auch ein Motto sein. Am Anfang aber steht ein Zitat aus dem I Ging, dem konfuzianischen Orakelbuch, wie auch vor jedem Einzelkapitel: „Es hat lange gedauert, bis die Dinge so weit gekommen waren. Sie waren so weit gekommen, weil Dinge, die man hätte aufhalten können, nicht früh genug aufgehalten wurden“. Beide Zitate sind weiter Deutung fähig, und das ist gleichzeitig ein Thema dieses Buches, des neuen Bandes der Cormoran-Strike-Reihe von Robert Galbraith (Pseudonym für: J.K. Rowling) mit dem Titel The Running Grave (Das strömende Grab). Wie alle Bücher aus der Reihe ist es oberflächlich Krimi ist; darunter aber ist es ein Kultroman und eine Enzyklopädie der Menschenmanipulation sowie eine Parabel über Sprachindoktrination und Gehirnwäsche; eine philosophische Darstellung des radikal Bösen (wie schon in Harry Potter) und des menschenmöglichen Guten darin; man könnte es deshalb auch einen „moralischen Roman“ nennen, aber keine Angst: Es ist ein absoluter pageturner. Ach ja, , die Auflistung ist sowieso nicht vollständig: Es ist auch eine Reflexion über Sex als Machtstrategie (eine der perfidesten aller nur denkbaren) und eine Lektion in Geschlechterverhältnissen (na gut, das ist jeder halbwegs ordentliche Roman. Aber nicht jeder ist so klug dabei). Aber langsam und der Reihe nach:

 

*   Kriminalroman: bekanntes Muster, unoriginelle Gattung (so denkt die Literaturwissenschaft gern und fälschlicherweise). Aber Rowling ist die absolute Meisterin des plots, des verwickelten, weit ausgreifenden, immer mehr Handlungslinien ineinander verstrickenden und am Ende doch: so logischen Plots. Spannung ist nur ein angenehmer Nebeneffekt dabei. In diesem Krimi gibt es sehr viele Täter und genauso viele Opfer – denn die allermeisten Figuren sind beides auf einmal, und irgendwann erscheint es angesicht all der sich häufenden Untaten recht nebensächlich, wer nun welches Verbrechen (moralisch, justitiabel, menschlich) wie begangen hat. Obwohl die Auflösung dann doch – unerwarteter ist, als man gedacht hätte. Aber kein Spoiler!

*   Kultroman und eine Enzyklopädie der Menschenmanipulation. Im Nachwort gesteht die Autorin, dass sie schon lange einen schreiben wollte, man hätte ihr aber abgeraten (was war Harry Potter? Gar nicht wenig Kultroman natürlich). Der Kult in diesem Buch ist, wie alle großen Kulte der Menschheitsgeschichte, eine Religion, eine Großfamilie, eine politische Ideologie, eine Mythologie und eine Unterwerfungsmaschine, alles in einem (wenn sich etwas „Universal Humanitarian Church“ nennt, kann man gar nicht misstrauisch genug sein!). Und die Präzision, die Vollständigkeit, die absolute Klarheit, mit der Rowling hier kultische Entmenschlichungsstrategien nicht nur auflistet, sondern: darstellt, erzählt, in all ihren Wirkungen auf Opfer und Täter zeigt – ist atemberaubend und augenöffnend. Man sieht zum Beispiel auf das Deutlichste: Ja, es gibt Charisma, und es ist eine der gefährlichsten Kräfte auf diesem Planeten, und wir können es nicht erklären.

*   Und ja, es gibt das absolut Böse, nicht nur in der Philosophie. Es wird aber nicht gern erzählt, aus nachvollziehbaren Gründen. Denn jeder ehrliche Autor und jede redliche Autorin identifiziert sich mit jeder ihrer Figuren, mal ganz wenig, mal sehr viel; lebendiges Blut hat nur eine Figur, in der Autorenblut mit fließt. Und wer möchte gern absolut böse sein, auch nur ein winziges kleines bisschen? Ach, wir verstehen es nicht. Genauso wenig, wie wir Charisma verstehen. Aber es gibt beides, und es muss erzählt werden; gerade weil wir es nicht verstehen (dazu, siehe am Ende, Kant! Trotzdem weiterlesen!)

*   Genauso wie es, und nicht nur in Dystopien, Gehirnwäsche gibt, und sie funktioniert, leider, leider, leider, geradezu unfehlbar. Sie beginnt, und hier dürfen gern alle möglichen Parallelen zu aktuellen weltweiten Erscheinungen gezogen werden, mit Sprachwäsche. Man muss den Leuten zuerst das Wort im Mund so herumdrehen, so dass es nie mehr gerade herauskommt. Dann kann man alles mit ihnen machen. Weil: Sie können ja gar kein wahres Wort mehr sagen, sondern nur noch sprachliches Falschgeld produzieren, vorgestanzt, in kleinen und großen Scheinen. Oder man verbietet Wörter ganz, mit vermeintlich guten Gründen. Oder entleert sie überhaupt von jeglichem konkreten Inhalt, so dass sie nur noch ein blasser Schemen sind, in den man dann das Universale und Humanitäre packen kann, weil sowieso keiner weiß, was das sein soll (oder: Identität. Oder: Geschlecht). Kulte haben das Verfahren in all seinen Varianten perfektioniert; aber man braucht nicht unbedingt einen Kult, um Wörter zu verbieten oder zu entstellen. Oder ein Orakelbuch, um jeden in ein Meer von Deutungen und von Prophezeiungen zu verstricken, die sich immer selbst erfüllen. Nein, geht alles auch so: „weil man Dinge, die man hätte aufhalten können, nicht früh genug aufgehalten hat“.

*   Auch ein moralischer Roman? Nee, sowas will keine lesen, und das ist es auch nicht wirklich. Man sieht allerdings die Moral an der Arbeit in diesem Buch, und zwar nicht im Reden, sondern im Handeln. Man sieht altmodische Tugenden, wie Beharrlichkeit, Unermüdlichkeit, Tapferkeit, Mitmenschlichkeit, Verständigung, bei der Arbeit; es sind nur zufällig Detektive, es könnten auch Sozialarbeiter im besten Sinne sein. Man sieht, wie sie damit hadern, dass es so langweilig ist, im Alltag gut zu sein, zuverlässig gut zu sein, und kein interessanter Außenseiter, für den keine Regeln gelten, weil sie so – anders ist. Ja, Diversität ist ein Thema – und ihre Grenzen. „Glück ist eine Wahl, die manchmal Anstrengung erfordert“ – und Unglücklichsein kann eine Sucht sein, eine schlechte Angewohnheit und eine Entschuldigung. Auch von Diversität wird wenig gesprochen, aber sie spielt eine Rolle, und das wird gezeigt, seinen Wirkungen auf die Lebenden. Genau wie

*   das Geschlecht, zu guter Letzt. Das Geschlecht spielt immer eine Rolle, und wir freuen uns sehr, dass die weibliche Detektivin emotional intelligent sein darf ohne Ende, während ihr humpelnder Partner mit dem unbestechlichen Verstand und all seiner Erfahrung – manchmal taub auf allen Antennen ist. Ach, es ist manchmal so viel besser, das Geschlechterklischee schön in Ruhe arbeiten zu lassen als das Klischee nur der Originalität halber zu destruieren (man ist versucht zu sagen: das macht einen großen Autor aus; nicht einen interessanten)! Ja, Robin (mit dem neutral-ungeschlechtlichen Namen) sagt zu Recht, dass sie den Kult unterwandern muss, als Frau, weil nur sie die Dinge sieht, die Frauen eben sehen und Männer nicht. Und Cormoran (mit dem interessant-ungewöhnlichen Außenseiter-Namen) darf zu Recht Dinge tun, die nur Männer tun, wenn sie groß und kräftig sind und im Krieg waren; Leute einschüchtern zum Beispiel, wenn es drauf ankommt. Und ja, kein Kult kommt an die Macht und bleibt auch das ohne sexuellen Missbrauch im großen, geradezu industriellen Maßstab (an Männern und Frauen und vor allem: Allen dazwischen). Die dadurch erzeugten Traumata sind ganz oben im Werkzeugkasten des Unmenschen; auch sie bis heute wenig verstanden, wenn auch inzwischen recht häufig erzählt. Und ist es nicht wahrhaft weise, wenn hier zum Schluss – nur ein ganz kleiner Spoiler! – an zentraler Stelle eine Jungfrau auftaucht? (es gibt nämlich auch noch eine mythologische Ebene, aber das lassen wir jetzt jede selbst entdecken).

Kult und Geschlecht aber – das wäre auch einmal eine größere Untersuchung wert; und selbstverständlich sind, nur um das zu erwähnen, Männer und Frauen an Schaltstellen des Kultes vertreten, in unterschiedlichen Funktionen, mit ihren unterschiedlichen geschlechtlichen – ach, fast möchte man sagen: Kompetenzen? Gibt es so etwas? Ja, gibt es. Frauen missbrauchen anders als Männer, Frauen manipulieren anders als Männer, Frauen können eine andere Art von Monster sein. Wissen wir alle, heimlich.

Im Übrigen und nun wirklich zum Schluss: Man braucht einen gewissen langen Atem für die Lektüre (ganz am Ende wird Rowling mit der Cormoran-Strike-Reihe ein Universum gebaut haben, wie Harry Potter; das ist jetzt schon abzusehen und macht Spaß). Gute Nerven für die intensiveren Passagen über den Kult (wie jede kluge Erzählerin erspart sie uns den maximalen Schrecken, dafür gibt es schließlich Leerstellen). Ein wenig Freude an intelligenten Dialogen und eine große Toleranz für komplexere Charaktere (das ist schwieriger, als man denkt, man ist auch ein wenig aus der Übung geraten heutzutage). Schließlich: einen eigenen Verstand. Ein guter Text gibt viel zu denken! (Kant, Kurzfassung; in der Langfassung und zur Übung des langen Atems: „Wenn nun einem Begriffe eine Vorstellung der Einbildungskraft untergelegt wird, die zu seiner Darstellung gehört, aber für sich allein so viel zu denken veranlaßt, als sich niemals in einem bestimmten Begriff zusammenfassen läßt, mithin den Begriff selbst auf unbegrenzte Art ästhetisch erweitert; so ist die Einbildungskraft hiebei schöpferisch, und bringt das Vermögen intellektueller Ideen (die Vernunft) in Bewegung, mehr nämlich bei Veranlassung einer Vorstellung zu denken (was zwar zu dem Begriffe des Gegenstandes gehört), als in ihr aufgefaßt und deutlich gemacht werden kann“).

Robert Galbraith: The Running Grave (2022); Das strömende Grab (2023), übersetzt von Wulf Bergner, Christoph Göhler und Kristof Kurz

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