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Rezensionen Romane


  • Peter Handke, oder: Enzyklopädisches Schreiben, männlich
  • Olga Tokarczuk, oder: Enzyklopädisches Schreiben, weiblich
  • Altweiberfäden des Denkens. Olga Tokarczuk, Empusion
  • Lese- und Lebenszeit. Christoph Ransmayers Cox, oder: Der Lauf der Zeit
  • Ronan Hession, Panenka, oder: Fehlschüsse und Lebensklugheit
  • Sind künstliche Freunde die besten Freunde des Menschen? Zu Kazuo Ishiguros Klara und die Sonne
  • Klavierstimmen und Käse. Der Klang der Wälder von Natsu Miyashita
  • Neues aus der Stadt der Frauen. Salman Rushdie, Victory City
  • Unverwechselbar: Eine Frau pfeift sich ihr Lied. Zu Siri Hustvedts Roman Damals
  • Descartes trifft Helena in Amsterdam. Zu Guineveres Glasfurds Roman Worte in meiner Hand
  • Arkadien im Weltraum. Samatha Harvey, Orbital 
  • Kometenbahnen und Anziehungskräfte: Die Physik der Liebe. Zu Sarah Perry Roman Enlightenment

 


Peter Handke, oder: Enzyklopädisches Schreiben, männlich

Anlässlich der Verleihung des Literatur-Nobelpreises 2018

 

Hätte man mich gefragt, wer den Literatur-Nobelpreis wirklich verdient hätte, und zwar als deutsche/r Autor/in, ich hätte spontan und ohne eine Sekunde Nachdenken „Peter Handke“ gesagt (Christa Wolf ist tot, Ingeborg Bachmann ist schon lange tot, und Siri Hustvedt keine deutsche Autorin). Lassen wir dabei die unergiebigen Auseinandersetzungen über seine angeblichen politischen oder moralischen Verfehlungen, beiseite; man kann das diskutieren, und man kann darüber mit Gründen unterschiedlicher Meinung sein. Unbestreitbar sind jedoch die Qualität seiner literarischen Texte, seine unermüdliche Produktivität und Wandlungsfähigkeit als Autor, seine – vielleicht kann man am besten sagen, auch wenn es ein wenig prätentiös klingt und er es vielleicht deshalb nicht mögen würde: literarische Integrität?

Denn: Peter Handke schreibt, vom Anfang an bis heute, ohne Netz und doppelten Boden. Jeder seiner Text ist existentiell verankert, ist erlebt, erfahren, ergangen, und mit jedem gibt er sich deshalb eine persönliche Blöße. Ewig ist er auf der Suche nach dem einverstandenen Leser, der mit-existierenden, mit-gehenden, mit-schwingenden, mit-atmenden Leserin, die erst einen Text zu einem lebendigen Etwas machen; und ewig muss er damit scheitern. „Brüderlichkeit“ hat Peter Handke dieses Lektüre-Ideal genannt (der nicht in politisch korrekten Kategorien denkt, sondern in existentiellen, auch gern in körperlichen); und wenn ich denn auch eine Schwester sein darf, dann bin ich es, eine mit-schwingende, mit-gehende, mit-atmende, hoffentlich auch: mit-verstehende Leserin. Ein Freund und Kollege, wie ich dem Handke’schen sound auf eine gewisse Weise verfallen, erzählte mir einmal, was ihm nach einer intensiven Handke-Lektüre widerfahren war. Er war über eine Eisfläche gegangen (also damals, als es noch kalte Winter gab); und er hatte ein wenig beunruhigt auf die Risse geschaut, die sich durch die allerdings beruhigend dicke Eisschicht zogen. Dieses Mal, unmittelbar nach der Handke-Lektüre, jedoch war es anders. Er sah nicht nur Risse im Eis, er sah Linien, die zu ihm sprachen, die Muster bildeten, Strukturen, Zeichen, die ihn auf eine Art und Weise an- und einbezogen, die, wie er beklagte, schwer sprachlich zu vermitteln sei. Das war aber gar nicht nötig, weil ich ihn auch so verstand; brüder- oder schwesterlich.

Genauso geht man nämlich durch die alltägliche Welt, wenn man Handke gelesen hat: Man sieht Spuren, Zeichen, Zusammenhänge. Die Natur spricht (es kann aber auch ein Feldweg sein, sogar eine Eisenbahnkurve kann sprechen), wie sie es früher einmal in der Romantik tat. Aber sie spricht keine geheime Sprache, die man lernen muss (und die, wie in der Romantik, eine göttliche Botschaft transferiert), sondern eine einfache, unverstellte, unmittelbare Sprache. Sie spricht Worte, die wirken: „Wirklichkeit“ ist ein Handke‘sches Haupt-Wort. Die Welt in Sprache wirklich machen; die gegenständliche, für sich seiende Welt, von der uns die Medien ablenken, die uns unsere eigene Unaufmerksamkeit und Voreingenommenheit entziehen, die Schlagwörter und Redeschablonen für uns vorsortieren und bewerten. Die Welt wirklich machen, indem sie man sie beschreibbar macht; sie „wieder-holen“ (auch eines der Handke‘schen Hauptwörter) aus der Verlorenheit, Unaufmerksamkeit, Verborgenheit, Verstelltheit. Wer mit Handke durch einen Wald geht, geht durch einen wirklichen Wald. Es ist kein neuer, es ist kein aufregender, es ist weder notwendig ein wilder noch notwendig ein gepflegter Wald – es ist ein Wald, wie er überall stehen könnte, aber nunmehr als existentiell einzigartiger erlebt werden kann.

Dazu verzichtet Handke auf all die literarischen Tricks und Finessen, die uns als Leserinnen in gewisser Weise spätestens seit der Romantik korrumpiert haben. Seine Romane haben keine Handlung; sie erzählen keine aufregenden Geschichten, die wir mit Spannung verfolgen, immer schon den Ausgang im Blick und alles da-zwischen schnell überspringend. Sie haben keine Figuren, mit denen wir uns identifizieren können, um das Herz bei der Stange zu halten (eine krude Metapher, aber vielleicht gerade in ihrer Krudität erhellend). Sie locken nicht mit prächtigen großen Worten, es gibt kein artistisches Schauturnen der Begriffe und Konzepte, sondern sie holen einfache Worte aus der Versenkung hervor und halten sie dem Leser entgegen, wie eine Monstranz: Und auf einmal weiß man wieder, was ein Kind ist, ein Pilz, ein Tag. Es gibt auch keine ‚Gesellschaftskritik‘ (das Mantra und der Fluch des modernen Romans), keine ‚Relevanz‘, kein moralisches Schulterklopfen. Das Böse ist anwesend in Handkes Texten, oh ja, durchaus; aber es ist jenseits der Moral, es existiert einfach, so wie die Kinder, Pilze und gute und schlechte Tage, es ist „beschreibbar“ und damit „wirklich“ geworden. Es gibt schließlich kein Bildungsspiel, obwohl Autoren und Künstler häufig in Handkes Versuchen auftauchen, gern auch aus der Populärkultur: Marilyn Monroe findet sich neben Augustinus von Hippo, und Don Quijote gibt John Ford die Hand. Aber all die nicht einfach herbei Zitierten, sondern in den Text integrierten Gestalten sind – „wieder-geholt“; gesehen und gelesen vor einem neuen Hintergrund, in dem sie auf einmal ungeahnte Zusammenhänge aufscheinen lassen, Linien unter dem Eis unserer gefrorenen Wahrnehmung.

Denn Zusammenhänge sind, man kann das wohl so sagen, eine Obsession von Handke. Zusammenhänge, Übergänge, Schwellen – in vielfacher Variation ziehen sie sich durch Handkes Werke, der, so in einer eingängigen Formulierung in einem Interview, „nur von den Zwischen-räumen lebt“. Zwischenräume, das ist auch so ein unscheinbares, verborgenes Wort. Es hat die ‚Räume‘, die für Handke ebenfalls ein Schreibelixier sind – und wer lernen möchte, eine Landschaft geologisch zu lesen und gleichzeitig existentiell zu verstehen, der lese die Lehre der Sainte-Victoire: ein Berg und ein Maler und eine Lehre, alles zusammen. Aber genauso entscheidend ist das „Zwischen“. Wie kommt man von einem Wort zum nächsten? Wie folgt ein Satz auf den anderen? Wie entwickelt sich eine Erzählung, wenn man doch immer nur einzelne Dinge, getrennte Ereignisse, isolierte Wahrnehmungen erzählen kann, eines nach dem anderen wie auf einer Perlenschnur, aber was ist mit dem Dazwischen, den Knoten? Das ist ein auf den ersten Blick unscheinbares Problem, und doch kennt es jede, die einmal nach einem gelungenen ersten Satz den kaum minder schweren zweiten suchte. Kafka kennt es, der unzählige Male Erzählungen beginnt, mit einem Satz, aber dann ändert er ihn wieder, ganz leicht, man merkt es kaum, aber dann versucht er es noch einmal, und wenn er es endlich fertig hat, folgt der zweite – aber wie folgt er, folgerichtig, mit einem Sprung, in einem Kreis, einem Widerspruch?

Der Übergang muss, so hat es eine Figur in Handkes Lehre der Sainte-Victoire formuliert, fließend und trennend zugleich sein. Ein Paradox, aber es ist das Grundparadox allen Erzählens schlechthin, das eine Einheit des Erlebens nur fingieren kann, sich in Wirklichkeit aber von Satz zu Satz hangelt, ohne Netz und ohne doppelten Bo-den, und dazwischen gähnt der Zwischenraum. Kein Romanheld trägt uns über diesen Abgrund, keine Handlung vertuscht die Gräben durch die Behauptung eines finalen Zwecks und Ziels, kein Begriff nimmt uns bei der Hand und sagt: Ist doch alles nicht so schlimm, wenn man mal ein wenig abstrahiert und das große Ganze sieht! Nein, nicht bei Peter Handke. In den Zwischenräumen findet das Leben statt, in dem kurzen Anhalten zwischen Ein- und Ausatmen, an den Nähten, auf den Schwellen. In seinem Versuch über die Müdigkeit findet sich eine Stelle, die wohl dem Ideal eines gleichermaßen zusammenhängenden und trennenden Erzählens am nächsten kommt. Es ist nicht etwa ein Kunstgriff eines besonders raffinierten Autors, kein Zaubertrick des Illusionisten, nein: Im Zustand der „klaräugigen Müdigkeit“ (ein Paradox, was sonst) „erzählt die Welt, unter Schweigen, vollkommen wortlos sich selbst“.

Wer dieses Schweigen lesen könnte – aber man kann es lernen. Ansatzweise, niemals ganz. In Zwischenräumen. Unter dem Eis, im Wald, bei den Kindern, sogar im Kino und von der Jukebox. Angesichts der Montaigne Sainte-Victoire, in Pariser Vorortzügen oder in den Bergen einer erträumten slowenischen Heimat. Bei Peter Handke.

Zuhause


Olga Tokarczuk, oder: enzyklopädisches Schreiben, weiblich


Natürlich wusste ich vorher nichts von Olga Tokarczuk. Aber als dann der Name für den diesjährigen Nobelpreis da war, und als ich mich entschlossen hatte, mich repräsentativ für ihr umfangreiches und vielfältiges Gesamtwerk auf ihr letztes und umfangreichstes Buch zu stürzen, Die Jakobsbücher; und als ich schließlich mit anfänglicher Verwirrung, zunehmender Begeisterung und schließlich großer Bewunderung die 1.200 Seiten hinter mich gebracht hatte – war ich beeindruckt von der außerordentlichen Weisheit dieser Nobel-Entscheidung. Nicht nur, dass Tokarczuk diesen Preis verdient hat – das hätten sehr viele andere Autorinnen und Autoren auch, und letztlich ist Literatur kein Wett-lauf in einem Spitzensport, wo man hinterher sagen kann: Erster, Zweiter, Dritter, sondern ein Volkslauf mit vielen Gewinnern. Nein, Tokarczuk ist auch eine perfekte Ergänzung zu Peter Handke: ein Mann, eine Frau; ein etablierter, gesetzter, altersweiser Autor und eine aufstei-gende Autorin auf der Höhe ihrer Schreibkünste; ein Meister des lakonischen Worts, des kurzen Versuchs und eine Meisterin des enzyklopädischen, ausschweifenden, vielstimmigen Erzählens – kann man besser die Vielfalt erzählerischer Möglichkeiten zeigen, die Unmöglichkeit eines einzigen Wertkriteriums, die Spannweite literarischen Schaffens?

Olga Tokarczuk wurde, um kurz das nötigste Biographische zu sagen, 1962 in Polen geboren; sie lebte dort an verschiedenen Orten mit ihren Eltern, studierte ab 1985 Psychologie an der Universität Warschau, arbeitete da-nach als Therapeutin und wurde eine Anhängerin von C.G. Jung. Seit den 90er Jahren erhielt sie zunehmend öffentliche Anerkennung für ihr vielfältiges Werk, die Reihe der Literaturpreise kulminierte mit einer gewissen Logik schließlich im Nobelpreis als Krönung. Für die Jakobsbücher, deren Handlung um die historische Figur des ‚Messias‘ Jakob Frank kreist, recherchierte sie sechs Jahre lang in Archiven und Bibliotheken, las historische und philosophische Quellen, vertiefte sich in jüdische Mystik und die Kulturgeschichte des Ostjudentums. Eine der liebenswürdigsten Figuren ihres Textes, der Dechant Chmielowski (historisch natürlich auch er) schrieb eine Enzyklopädie, die all das zerstreute Buchwissen seiner Zeit zusammenfassen sollte: Neues Athen, oder Academie voll jedweder Szienzia, nach verschiedenen Titeln wie nach Classes untertheilt. Den Klugen zum Gedächtnis, den Idioten zur Belehrung, den Politikern zur Praxis, den Melancholikern zur Zerstreuung eingerichtet. […] Imaginiert doch nur: alles zur Hand, in jeder Bibliothek. Das gesammelte menschliche Wissen in einem. Olga Tokarczuk nannte ihre Jakobsbücher daraufhin: Die Jakobsbücher oder Eine grosse Reise über sieben Grenzen durch fünf Sprachen und drei grosse Religionen, die kleinen nicht mitgerechnet. Eine Reise, erzählt von den Toten und von der Autorin ergänzt nach der Methode der Konjektur, aus mancherlei Büchern geschöpft, und bereichert durch die Imagination, die größte natürliche Gabe des Menschen. Den Klugen zum Gedächtnis, den Landsleuten zur Besinnung, den Laien zur erbaulichen Lehre, den Melancholikern zur Zerstreuung. Man kann diesen barocken Titel nicht wörtlich genug nehmen, in seiner Hybris und in seiner Präzision. Genau das sind die Jakobsbücher: ein enzyklopädisches Werk über das 18. Jahrhundert aus einer ungewohnten räumlichen Perspektive, seine aufklärerischen wie seine antiaufklärerischen Ideen, seine Hauptfiguren und seine Nebenfiguren, basierend auf genauen historischen Recherchen, dem Wissen der Bücher und der „Konjektur“ der erfahrenen Autorin. 

Konjektur, das ist eigentlich ein akademisches, textkritisches Verfahren, in dem der Herausgeber Lücken im Originaltext aufgrund besten Wissens, Forschens und Glaubens füllt. Die Romanautorin jedoch tut das gleiche mit den Mitteln der „Imagination“; und das was sie damit erreicht, ist nicht mehr und nicht weniger als das, was die schreibende Frau im Text, Elisabeth Druzbacka (historisch, natürlich), mit einer ganz wunderbaren Formulierung die „Vollkommenheit der unprecisen Formen“ nennt. Erst gemeinsam mit ihrem Gegenpart, dem gebildeten, das Lateinische bevorzugenden und auf die völkerverständigende Kraft des Wissens vertrauende Priester Chmielowski, ist das schreibende Universum umzirkelt, und zur „Vollkommenheit der unpresicen Formen“ gesellt sich die Unvollkommenheit des präzisen Wissens, wie es der Dechant beschreibt: „Die Quellen markire ich skrupulös, ergänze allerorten ein ‚teste‘, was bedeutet: Prüfe nach, werter Leser, dort und dort, nimm das Mutter-buch zur Hand und sieh, wie das Wissen sich verflicht und ineinanderschlingt seit Hunderten von Jahren“.

Die Handlung des Buches kann man schlechthin nicht nacherzählen. Natürlich sind die Jakobsbücher ein Buch über Religion, über die verführerische Kraft von messianischen Figuren, über das schwierige Verhältnis der Religionen untereinander (die Ringparabel fehlt nicht), über die Erkennbarkeit Gottes und der Welt. Sie sind ganz gewiss ein Buch über Bücher, ihre Kraft und ihre Möglichkeiten wie ihre Grenzen und ihre Zerstörbarkeit. Sie sind, und das ist nicht das kleinste ihrer Verdienste, ein Buch über Frauen – starke Frauen und schwache Frauen, Frauen, die viel zu früh verheiratet werden, Frauen, die im Kindbett sterben, Frauen, die an andere Männer weitergegeben werden wie Waren; aber auch Frauen, die aufs höchste verehrt, als Heilige stilisiert, als Jungfrau angebetet werden: „Die Frau ist das höchste Geheimnis und hier, in der unteren Welt, entspricht sie der heiligen Tora“. Das ist das Wort des Messias Frank, und daran anschließend gibt es Gruppensex, der Messias hat einen ungeheuren Frauenverbrauch. Aber es gibt auch die schreibende Frau; es gibt die kämpfende Frau, die prophezeiende Frau, die „Mannfrau“ Kossakowska: Sie ist politisch unermüdlich tätig, aber bei ihrem ersten Auftritt im Roman leidet sie unsäglich unter Unterleibsschmerzen, weil sie ihre Tage hat, und die anderen Frauen tauschen Tipps aus, wie man Blutflecken aus den kostbaren Stoffen der Gewänder entfernt. Frauen sind Körper in diesem Text. Während die Männer Kopfgeburten sind, brütend über uralten Schriften und immer unsinnigere Theorien entwerfend, bluten sie, gebären sie, versorgen das Haus und die Gäste – und schreiben Gedichte, in der „Vollkommenheit der unpresicen Formen“.

Über allem aber schwebt Jenta, die uralte Urmutter. Durch das Einverleiben (man muss es so sagen und wörtlich nehmen) eines Amuletts – sie sollte nicht während der Großhochzeit sterben, und man band ihr deshalb einen Papierfetzen mit der Aufschrift „Warte“ um, den sie prompt verschluckte – schwebt sie zwischen den Welten der Lebenden und des Todes. Olga Tokarzczuk hat in einem Interview gesagt, dass sie ohne den rettenden Einfall dieser Figur niemals des Buches mächtig geworden wäre. Jenta hält die Welt zusammen, sie sieht die Vergangenheit wie die Zukunft, sie allein schafft Zusammen-hang im Disparaten, erkennt die verborgenen Motive. Am Ende ist ihr Körper ein Kristall geworden, tief in einer Höhle (allein über die Höhlen-Motive könnte man eine Doktorarbeit schreiben, die Höhle ist ein Archetyp der verborgenen, inneren Weiblichkeit): „geronnene Tropfen aus Licht, die aufgehört hätten zu leuchten, so tief in der Erde“. Während das männliche Wissen oben in der Welt seine Triumphe feiert und seine Vergänglichkeit erfährt – Bücherverbrennungen sind ein anderes Motiv –, kristallisiert sich das weibliche Wissen aus. Unterirdisch und jenseits der Worte. Am Ende aber, so Nachman, sind diese Unter-schiede unwesentlich: „Denn wir unterscheiden uns nicht wesentlich. Wir alle sind Formen, die das Licht annimmt, so-bald es die Materie streift“.

Das sagt Nachman, und in ihm wohl am ehesten die Reflexionsfigur der Autorin erkennen. Nachman soll und will die Geschichte Jakobs, des Messias, an den er glaubt und den er liebt, aufschreiben, für die Nachwelt, für die Ewigkeit (und es gehört übrigens zu den wesentlichen genialen Erzähltricks des Buches, das der Messias als Person nur in der Projektion der anderen auftaucht; Jakob selbst, wer er ist, wir wissen es nicht nach 1.200 Seiten). Daneben aber schreibt Nachman die „Reste“, seine eigene, uninteressante Geschichte als Schreiber des Herrn: „Sein Schreiben auf dem Deckel des Kistchens, das er auf den Knien hält, ist Staub und Mühsal der Reisen, ist eigentlich tikkun, die Reparatur der Welt, das Flicken und Stopfen der Löcher im Gewebe, das übervoll ist von Mustern und Linien, Geflechten und Verschlingungen“. Jenta sieht die Muster und kann sie deuten, von oben; Nachman aber kann nur flicken, stopfen, reparieren – und es ist wohl kein Zufall, dass dieses klar weibliche Motive sind: Es sind die Frauen, die die reale Welt auf diese Art und Weise zusammenhalten; und ihr Blut macht die Flecken im Gewebe. Einmal, und das ist wohl die zentrale poetologische Stelle des Romans, denkt Nachman darüber nach, dass es drei verschiedene Wegen des Erzählens gibt. Der Gedanke beruht im dichten intertextuellen Gewebe des Textes zwar auf einem ukrainischen Volksmärchen, ist aber komplex. Der mittlere Weg, so Nachman, sei schnurgerade und für die Dummen: Es ist ein unbefangenes, einfaches Erzählen, das vertraut auf die Richtigkeit und Macht von Tatsachen, die unvermittelt erzählt werden in der sicheren Gewissheit, dass es so und nicht anders war. Es ist der falsche Weg. Der nach rechts führende Weg, so Nachman weiter, sei der für die Überheblichen: Es ist ein selbstreflexives, kompliziertes Erzählen, in dem sich die Figur des Erzählers selbst ständig in den Vordergrund rückt, die Tatsachen infiziert und bei dem die Leserin hinterher mehr über die Figur des Erzählers weiß als über das, was er erzählt. Es ist der falsche Weg. Der dritte Weg jedoch, der linke, ist der für die wahrhaft Mutigen. Es ist ein Erzählen, bei dem der Erzähler sich leiten lässt vom Schicksal, von den Stimmen, die er hört, von dem, was ihm passiv widerfährt. In diesem Schreiben ist er nur ein Schiffchen auf den Wogen des Lebens selbst, er wird hin- und hergeworfen, aber erst auf diese Art und Weise kann das Erzählen wirklich und wahrhaftig werden: Die Welt erzählt sich dann selbst.

Die sich selbst erzählende Welt – sind wir nun unvermutet nicht doch bei Handke angekommen? Ja, das sind wir, und das ist unerwartet und in höchstem Maße aufschlussreich. Denn es stellt sich heraus, dass bei allen Unterschieden auf der Oberfläche doch das Erzählen von Handke und Tokarczuk (zumindest in den Jakobsbüchern) Gemeinsamkeiten hat. Beide sind, zunächst, Orts- und Raumerzähler: Sie sehen Städte, Dörfer, Regionen als Kulturräume, die die Menschen zutiefst prägen. Beide vertrauen auf die Aussagekraft der Welt jenseits des sich ständig als Ich eitel vordrängenden Erzählers; die Welt spricht selbst, und nicht umsonst spielen für dieses Modell bei beiden Autoren mystische Gedanken eine Rolle. Sie spricht bei Tokarczuk in einer kaum beherrschbaren Vielzahl von Sprachen, anderen Texten, auch in Bildern (der Roman zeigt häufig das, was er erzählt, in zeitgenössischen Stichen und Drucken, und man möchte es nicht missen); in einer Vielzahl von miteinander unter-irdisch verwobenen Einzelschicksalen, an denen der brave Nathan verzweifelt, die die schwebende Jenta aber sieht: Zusammenhänge, Linien, Übergänge. Genau wie bei Handke. Nach der Lektüre von Olga Tokarczuks Jakobsbüchern wird man neu über die europäische Geschichte des 18. Jahrhunderts gehen, und man wird die Risse unter dem Eis sehen.

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Altweiberfäden des Denkens. Olga Tokarczuk, Empusion

Was wäre, wenn? – das ist nicht nur die Zauberformel von Literatur schlechthin, verstanden als eine alternative Geschichten-Schreibung, als ein Experiment mit dem menschlichen Fühlen und Denken innerhalb künstlerisch erschaffener Parallel-Welten. Es ist auch eine Zauberformel, mit der man die Literaturgeschichte – im Großen und Ganzen und über weite Strecken: eine ziemlich männliche Angelegenheit (Männer schreiben Texte über Texte anderer Männer) – alternativ schreiben könnte. Was wäre zum Beispiel, wenn – eine Frau den Zauberberg geschrieben hätte, einen der vielleicht tatsächlich größten Romane der deutschen Literatur? Thomas Mann beschreibt in ihm nicht nur die Probleme einer etwas elitären Gruppe von Tuberkulose-Kranken in einem abgelegenen Luxus-Retreat in den Schweizer Bergen (seine eigene Frau war einige Zeit in einem solchen Sanatorium in Behandlung, er hat sie besucht); er beschreibt die Zeitkrankheit einer ganzen Generation, ganzer Gesellschaften, ganzer Philosophien und Ideologien kurz vor Ausbruch des ersten Weltkrieges, der physischen und geistigen Mutter-Krise des gesamten 20. Jahrhunderts. Und „Krankheit“ ist dabei ebenso wörtlich zu nehmen wie metaphorisch: als eine gesteigerte Ausdrucksform des ganzen Menschen, in der all das, was im „Gesunden“ zu funktionieren scheint, in Frage gestellt, auf die Spitze getrieben, in all seiner komplexen Verflochtenheit von Symptomen, Ursachen, Wirkungen wie Nebenwirkungen vorgeführt wird.

Aber zum Glück muss man jetzt über diese spezielle Zauberberg-Frage nicht mehr spekulieren, denn eine Frau hat einen neuen Zauberberg geschrieben. Sie wurde mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet, wie Thomas Mann. Sie ist eine ausgebildete Psychologin und Psychotherapeutin, gebildet in hohem Maße und sie kommt aus Schlesien: Es ist Olga Tokarczuk, und der Roman heißt, schon das ein schönes Bild- wie Bildungsspiel: Empusion. Denn Empusen, das sind weibliche Dämonen, Schreckgespenster aus der griechischen Mythologie. Sie erschei-nen in verschiedenen Gestalten, zum Beispiel als wunderschöne Frauen; und dann verführen sie die Männer, und nach dem Sex saugen sie ihnen das Blut aus und vernaschen im wörtlichen Sinne ihr Fleisch. Kommt einem bekannt vor? Ach, das kollektive Unterbewusstsein kommt schon immer zu den gleichen Schlüssen und ähnlichen Bildern dafür: Schöne Frauen sind gefährlich. Verführung ist die größte Bedrohung für Männer. Liebe macht krank, sie ist ein Fieber, es zehrt einen aus, bis man am Ende: selbst nur noch ein Schatten ist. Gilt in Hellas wie in Schlesien, in Davos wie in Görbersdorf – einem ehemals bekannten niederschlesischen Kurort für Tuberkulosekranke, in dem dieser alternative Zauberberg spielt. Empusion aber assoziiert dazu noch das griechische „Symposion“ – eigentlich ein Festmahl unter Männern der gehobenen attischen Gesellschaft, aber seit Platon gleichnamigen berühmten Dialog synonym mit: einem philosophischen Gespräch, das um ein zentrales Thema kreist, bei Platon: die Liebe, in all ihren Formen (Empuse lässt grüßen!).

Philosophische Gespräche sind sozusagen das Knochenmark des Ursprungs-Zauberbergs, und sie sind es auch in Empusion: Kluge Männer, versammelt unter der Herrschaft der Krankheit, reden über Gott und die Welt und alles dazwischen. Und über Frauen, natürlich. Denn Frauen, die kommen eigentlich nicht vor im Roman von Tokarczuk, und das ist das Überraschende. Frauen sind entweder Dienstpersonal und werden gleich zu Beginn ermordet; oder sie sind Empusen, Gerüchte mehr als Fakten. Aber Frauen sind, das steht zum Glück für die Männer bei allen sonstigen weltanschaulichen Differenzen fest, an allem Schuld! zu erklären, wie genau das zusammenhängt, wäre leider mit einem ziemlich großen spoiler verbunden; frau lese das, und schauere. Schauere? Ja genau, wie im Fieber. Denn der Roman trägt den Untertitel: „Eine natur(un)heilkundliche Schau-ergeschichte“, und das ist in seiner Verwebung von Natur, Heil-kunde, Unnatur und Unheilkunde, und dazu noch: das Schauern als literarische Gattungstradition ziemlich interessant und lustig. Worüber man nicht alles schauern kann – auch das zeigt dieses kluge Kabinettsstück einer klugen Frau.

Nebenbei, und das überliest man leicht, findet man ziemlich profunde Philosophie. Sie ist vor allem in den Erzählpassagen versteckt, wo ein nicht näher definiertes „Wir“ (ist es ein Geschlechts-Wir? Ein Gattungs-Wir?), direkt zur Leserin spricht. Denn während die oberklugen Männer wortreich die Theorie vertreten, die Dämonen müssten „aus dem Bezirk des menschlichen Verstandes verbannt werden, damit sie aufhören zu existieren“, weiß das lebensklügere Wir: „Wenn jemand meint, eine Welt bestehe aus klaren Gegensätzen, dann ist er krank…. Verwischt ist sie, unscharf, flackernd, mal so, dann wieder anders, je nach Blickwinkel“. Oder, etwas elaborierter und in ein wunderschönes Bild verpackt:

Wäre Wojnicz [das ist der Protagonist, der alternative Hans Castorp] in der Praxis der Selbstreflexion und Introspektion bewandert gewesen, … hatte er gewiss erkennen können, wie Gedanken entstehen und was ihre Natur ist – hauchfeine Schleier von Empfindungen sind es, durch die Zeit wie Altweiberfäden und vom Wind bewegt, Streifen winziger Reaktionen, die sich zu zufälligen, nach Sinn strebenden Verkettungen zusammenfinden, sie entstehen und verschwinden wieder, wobei sie den Eindruck hinterlassen, es wäre tatsächlich etwas geschehen und wir hätten daran teilgehabt. Als wäre das, worin wir uns befinden, stabil und sicher. Als existierte es.

Das menschliche Denken besteht aus Altweiberfäden. Darauf könnte man auch eine alternative Philosophie aufbauen: Was wäre, wenn ----?

Zuhause


Lese- und Lebenszeit.
Christoph Ransmayers Cox, oder: Der Lauf der Zeit


Die Zeit: eine Klippe, an der noch jeder Denker gescheitert ist, und das obligatorische Augustinus-Zitat trifft diese frustrierende Erfahrung am besten, es geht so: Was ist also die Zeit? Wenn mich niemand darüber fragt, so weiß ich es; wenn ich es aber jemandem auf seine Frage erklären möchte, so weiß ich es nicht. Nein, wir können nicht über die Zeit denken. Aber wir können Uhren bauen, die die Zeit – was immer sie nun sein mag, eine immaterielle Substanz, eine Idee, eine Variable in einer Formel, ein Rahmen – messen. Und wir können Texte schreiben, die Zeit beschreiben, einfangen, und vielleicht sogar: ihr Vergehen simulieren?

Denn das scheint mir der Kern von Christoph Ransmayrs Text-Kunststück Cox, oder: Der Lauf der Zeit (2018) zu sein. Der größere Teil der Rezensenten ist bald nach Erscheinen des Romans in Lobes-Hymnen ausgebrochen, die mit Superlativen und glitzernden Adjektiven nicht sparen; im Wesentlichen preisen sie die große Schreib-Kunst des Autors als Meister, seine Virtuosität und den berauschenden Effekt seiner Prosa. Aber ein kleinerer Teil von ihnen beharrte darauf, dass große Kunst auch immer in der Gefahr der Künstlichkeit, des Manierismus, der Textbrillanz um ihrer selbst stehe: Denn wo bleiben die Tiefe des Gefühls, die Menschlichkeit der Emotion, das Mitgefühl im emphatischen Sinne angesichts einer – Prachtuhr, eines preziösen Sammlerobjekts, das man anschaut und noch einmal anschaut und dann immer wieder „Oh“ sagt, „oh!“ – aber Bewunderung, ästhetische Ehrfurcht und sinnliche Berauschung sind keine tiefen und warmen Gefühle. Im Gegenteil, man fühlt sich beim Bewundern meist eher – fröstelig; und ist das nicht genau das Gefühl, das Cox, den Uhrenbauer-Superstar, den virtuoso des Uhrwerks, überfällt, sobald er meint, die Kontrolle über etwas zu verlieren? Und empfindet der Kaiser aller Kaiser am Ende nicht selbst ein Frösteln, bevor er die Uhr – aber nein, das wäre nun der ultimative Spoiler; jeder muss das Lese-Uhrwerk selbst in Gang setzen!

Denn das ist Ransmayrs kunstvollstes Machwerk (und das ist nicht in einem negativen, sondern in einem wörtlichen Sinn gesagt: Es ist eine kunstvoll gemachte Text-Maschine): Es ist selbst eine Uhr, ein Zeitmesser, der den Ablauf der Zeit mit dem Bemühen um größtmögliche Präzision ebenso wie größtmögliche Prachtentfaltung mit Hilfe ausgesuchtester Worte und wertvollster Sprachmaterialien simuliert. Die Sätze haben lange, komplizierte Rhythmen aus ineinander gestaffelten Nebensätzen, die sich gegenseitig, wie kleine Zahnräder, immer wieder neu in Gang setzen. Ein solcher Satz erstreckt oft über einen einzigen Absatz, bevor mit dem nächsten Absatz dann die nächste Umdrehung, die nächste Lese-Minute angestoßen wird oder ein Kapitel die Stunde schlägt. Eines der wichtigsten Schmuckelemente dieser Text-Uhr ist dabei der Exotismus Chinas – das nicht das reale China ist, auch nicht ein historisches China, sondern die Utopie eines fernen, unendlich reichen, unendlich brutalen und gleichzeitig unendlich verfeinerten Landes, abgeschlossen von der Realität durch das Wunder der langen Mauer und die Überzeugung von der eigenen Unvergleichlichkeit und Überlegenheit (das sollte man zur Kenntnis nehmen, bevor man allzu viel aktualisierende Deutungen macht; und insbesondere die Identifikation des Kaisers namens Qianlong mit seinem historischen Vorbild, einem chinesischen Aufklärer auf dem Thron, ist sogar ziemlich ungerecht).

Dieses Uhren-China ist ein Land der Extreme; denn nur ein solches kann die Art von Kunstwerken hervorbringen, die der Meister mit seinen Gehilfen erschafft, im Auftrag eines Mannes, der so allmächtig ist wie – ein Gott: aber auch so enthoben, so isoliert, so einsam wie – ein Gott. Oder wie ein Künstler (der ein Mann ist; die allergrößten Künstler sind immer Männer, und das ist weder böse Absicht noch Zufall; gelegentlich habe ich den Verdacht, Testosteron spielt eine nicht unwesentliche Rolle dabei). Oder wie die schönste Frau der Welt, die Zarteste, Schönste, Süßeste (eine Frau, natürlich; die perfekte Schönheit ist immer weiblich, wahrscheinlich hat es mit Östrogen zu tun). Oder das perfekte Kind wie Cox‘ früh verstorbene Tochter (jenseits von beidem, und eben deshalb perfekt). Oder – es kommt nicht darauf an. Der Thron der Himmelsuhr, mit der der Kaiser gern spielt, ist leer. Er wird gelegentlich besetzt mit Püppchen. Es ist gleichgültig, welche Puppe auf dem Thron sitzt, um den sich die ganze Himmelsmechanik dreht. Es ist nur – ein Spiel, eine Fiktion, ein Machwerk (ein Roman, mit sich umeinanderdrehenden Figuren?).

Natürlich wird Ransmayrs Roman deshalb von seiner eigenen symbolischen Konstruktion ein- wie überholt. Denn Menschen können zwar die kompliziertesten Uhren bauen, sie haben eine atemberaubende Mechanik und verwenden eine Überfülle kostbarster Materialien; aber Uhren brauchen einen Antrieb. Jemand, der sie aufzieht, einen ersten Beweger und danach viele weitere, wenn der Antrieb abgelaufen ist. Gibt es Zeit überhaupt, wenn niemand hinschaut, wenn keiner ihren Ablauf erfährt und darüber nachdenkt? Was ist also die Zeit? Wenn mich niemand darüber fragt, so weiß ich es; wenn ich es aber jemandem auf seine Frage erklären möchte, so weiß ich es nicht. Der Autor konstruiert das Uhrwerk; doch erst die Leserin setzt die Uhr in Gang. Bei jedem Lesen entwickelt sich eine individuelle Lesezeit (es ist nicht diejenige, die der Kindle unten am Rand anzeigt, wenn man ihn lässt: „Verbleibende Lesezeit“ heißt es recht schön, und mit einem kleinen Grusler liest man gelegentlich „verbleibende Lebenszeit“); sie ist auch verschieden je nach Werk, nach Genre, nach Leselust und Lesesituation (Spannung beschleunigt die Leseuhr; Beschreibung verlangsamt sie. Dialoge schaffen eine Art Echtzeit-Simulation; das alles weiß sogar die gelegentlich recht dumme Literaturtheorie). Aber dazu kommen muss der Leser; er ist der erste Beweger, der einen Text in Gang setzt. Und jede erfahrene Leserin kennt das Gefühl, das ein Textende erzeugen kann: Warum muss es aufhören? Kann es nicht weitergehen, in eine epische Ewigkeit sich erstrecken?  Ach, die Textuhr ist abgelaufen! Manchmal zieht man sie sogar dann neu auf, mit dem gleichen Text (Zweitlektüren eröffnen eine andere Zeitdimension).

Das alles ist ein wenig trivial und traurig. Zeit läuft ab, man kann sie nicht festhalten; lebe den Augenblick!, und was der Trivialitäten mehr sind. Und wie so häufig enthalten Trivialitäten einen nicht-trivialen Kern von Wahrheit. Der Augenblick zum Beispiel – man könnte ihn als eine Art Gegenpol zum Zeitablauf verstehen, ein Moment geronnener Zeit, ein unerwarteter Stillstand in der Mechanik. Und Augen-blicke (gern auch: im Wortsinn!) spielen eine große Rolle im Roman (es fällt einem aber zuerst gar nicht auf, so sehr scheint alles zu fließen). Religiöse Epiphanie, mystische Erleuchtung, prägnanter Moment (moment of being, so nennt es Virginia Woolf) – das Phänomen hat viele Namen, und seine Unverfügbarkeit verbindet es mit dem gnadenlosen Zeitablauf: Man kann die Augenblicks-Erleuchtung ebenso wie die Ewigkeit nicht herbeiwünschen, nicht herbeidenken, nicht einmal simulieren (das unterscheidet sie von Sex). Kann Lektüre Epiphanien trotzdem ein wenig, um die Analogie zu strapazieren, stimulieren? Vielleicht, vielleicht. Epiphanien hat man zwar, oder man hat sie nicht. Es hat aber mit Empfänglichkeit zu tun, und die kann man immerhin schulen (das kann man dann „ästhetische Erziehung“ nennen, man muss aber nicht).

Verborgen hat Ransmayr außerdem durchaus ein wenig tieferes Gefühl eingebaut; er hat es sozusagen vergraben. Denn zwischendurch stirbt eine Figur, eine in dem schmalen Figuren-Set nicht ganz unbedeutende Figur; trotzdem hat man hinterher den Verdacht, dass sie von Anfang ein red-shirt war, ein Bauer auf dem Figurenbrett des Erzählmeisters, der für die Königin sterben muss. Das Sterben von Figuren ist bekanntlich eine der stärksten erzählerischen Waffen eines Autors zur Emotionserregung; man muss es deshalb sorgfältig und sparsam einsetzen. Und das tut Ransmayr; denn die Leserin wird genauso überrascht wie die anderen Figuren selbst, die um den Sterbenden herumstehen und eine ganze andere Szene beobachten, atemlos. Und dann fällt, mehr oder weniger zufällig, einer vom Pferd und ist tot, für immer; gestorben in der Fremde, sinnlos, Opfer eines momentanen Windstoßes, der den prächtigen Schwanz seines kaiserlichen Reitpferdes so aufblähte, dass man ihn für ein Gespenst halten konnte, und das Pferd bäumte sich auf, und einer fiel, fiel unglücklich, und war tot, für immer. Die Mechanik kommt ins Stocken, die Zeit hält an, es ist – eine Pause, ein empfundener Stillstand. Der Tod ist Sand, Staub im Getriebe der Maschine; man kann ihn, weder durch unendliche Macht noch durch unendliche Vorsicht, ausschließen. Der Tod ist ein Skandal.

Doch dann trauert einer, ein Gefährte (und man versteht, dass Gefährten und Gehilfen nicht umsonst Rollen sind, die man in jedem Epos braucht; es ist der Grund, warum Frodo einen Sam hat; Frodo allein ließe einen frösteln). Und man gräbt ein Grab, um den Ort für alle Zeit zu markieren. Er liegt unter einer spitzen Felsnadel, und es zeigt sich, bei der Abreise und nur erkennbar für die geschulten Blick des Uhrenbaumeisters Cox, dass die Felsennadel eine natürliche Sonnenuhr bildet: Sie zeigt den Tagesablauf mit ihrem Schatten an, und in ihrer Mitte, ihrem Herzen liegt – ein toter Mensch. Es ist – das ist jetzt ein schlimmer, aber notwendiger Spoiler! – die perfekte Uhr, das lang gesuchte perpetuum mobile, das alle Fanatiker des Denkens und Fühlens, seien sie allmächtige Kaiser oder perfekte Uhrmacher oder im Übermaß Liebende und Trauernde, verbindet, quer über alle Zeiten und Schichten. Perpetuum Mobile, die immerwährende Bewegung, der Sieg über den Tod: Die Natur hat es längst erfunden. Und alle Sonnenkaiser dieser Welt, die die längsten und blutigsten Schatten der Geschichte werfen, sie alle können nicht die reale Sonne ersetzen, die auf- und untergeht, Tag für Tag, solange sie noch diese Welt unter dem Schutzschirm einer gnädigen Atmosphäre bescheint und hinter Felsennadeln Schatten wirft. Wer sie in Bewegung gesetzt hat? – ach, es ist egal. Setzt auf den leeren Thron, wen ihr wollt! Aber vergesst nicht, dass ihr nur Kunstwerke machen könnt.


Christoph Ransmayr: Cox, oder: Der Lauf der Zeit. Fischer Taschenbuch 2018


Panenka, oder: Fehlschüsse und Lebensklugheit

 

Dieser Beitrag kommt etwas spät zur Fußball-EM, aber immerhin, er kommt! Denn wenn man das Buch liest, von dem in der Folge die Rede ist, muss man zuerst wissen, was ein „Panenka“ ist. Mein Patensohn, der uns dieses Buch schenkte und selbst leidenschaftlicher Fußballspieler ist, schickte uns gleich einen hilfreichen YouTube-Link dazu (siehe unten); es ist nämlich einfacher anzuschauen als zu erklären. Trotzdem hier der Versuch einer sprachlichen Erklärung, der immerhin gleichzeitig den Vorzug hat, zu den zentralen Themen des nach ihm benannten Buches des irischen Blues-Musikers und Schriftstellers Rónán Hession hinzuführen. Ein "Panenka" ist ein Manöver beim Elfmeterschießen: Ausgehend von der Annahme, dass der Torhüter – aufgrund welch winziger Zeichen oder unbewusster Entscheidungskriterien auch immer – entweder in die linke oder die rechte Ecke des Tores hechten wird, um den Ball abzufangen, nimmt der Schütze einen gewaltigen Anlauf und schießt dann sehr sanft, er schubst eigentlich mehr, den Ball genau in die Mitte. Der nach links oder rechte gehechtete Torhüter sieht dämlich aus, das Stadium jubelt. Das ist ein gelungener Panenka, benannt nach seinem Erfinder Antonin Panenka, der mit der damaligen Tschechoslowakei 1976 Fußball-Europameister wurde; und sein psychologischer Effekt ist ungleich größer als bei einem einfachen Elfmeter. 

Aber das Manöver kann natürlich auch schief gehen. Und im Roman Panenka geht es schief, der Torhüter hält, und der Unglücksschütze wird sein Leben lang verfolgt von diesem tragischen Missgeschick: Er hat versagt, er hat den jahrzehntelangen Abstieg seines Clubs (sehr schön und sprechend benannt nach dem römischen Philosophen Seneca; Stoiker, Politiker und vom Kaiser Nero zum Selbstmord gezwungen), verschuldet, und seine Stadt wird ihm niemals verzeihen. Fortan lebt er unter dem Unglücksstern seines Missgeschicks, das er auch sich selbst niemals verzeihen kann. Oder kann er doch?

Aber Panenka ist kein Roman über Fußball, wie unser Patenkind uns sogleich vorsorglich versicherte; denn Panenka ist auch – sagen wir vorerst: eine Metapher für etwas, über das man erst einmal nachdenken und das man danach noch genauer bestimmen muss? Der ganz klare erste Lektüreeindruck ist jedoch: Dies ist keine Jugendliteratur; es ist literature for grown ups (Virginia Woolf über George Eliot)! Der handliche Roman ist gesättigt mit Lebensklugheit und Lebenserfahrung (mit beidem, das ist wichtig!). Die Probleme sind diejenigen von Erwachsenen, die Einsichten sind diejenigen von Erwachsenen, das Verhalten der Figuren ist erwachsen, durch und durch (sogar das Kind sagt Sätze, die einen kindlichen Horizont eigentlich etwas übersteigen, aber das verrechnen wir unter poetische Lizenz und freuen uns darüber). Das ist umso überraschender, wenn man das zentrale Thema das Buches bedenkt: Es ist nämlich ein Buch über die Liebe. Aber ist kein Liebesroman; Liebesromane im engeren Sinne tendieren nämlich im Großen und Ganzen dazu, entweder sentimental oder pornographisch zu sein. Beides ist das Buch nicht (na gut, es hat eine winzige Neigung zur Sentimentalität, aber die ist verzeihlich und gehört außerdem zum Konzept).

Ein Buch über die Liebe ist aber eigentlich schon wieder zu verallgemeinernd gesagt. Denn das Besondere an diesem Roman ist, dass er so viele verschiedene Arten von Liebe umfasst. Es gibt, um beim Fußball anzufangen, die Liebe der Stadt zu „ihrem“ Verein, die die Menschen zusammenbringt – oder auseinander, wie im Falle von Panenka, dem auserkorenen stellvertretenden großen Schuldigen für alle anderen Miseren (dass Fußball so funktioniert, kann man übrigens auch aktuell bei der EM wieder beobachten). Es gibt die Liebe zum Fußball selbst, wie sie die Seneca-Spieler und ihren Trainer Cesare Fontaine prägt, der aus dem Training eine Schule des Lebens macht. Es gibt die Liebe als Männerfreundschaft durchaus verschiedener Charaktere; sie treffen sich jeden Abend in der gleichen Café-Bar und wachsen zusammen, bei allen Differenzen. Es gibt die Liebe als Frauenfreundschaft, mit einem Paar kluger Frauen, die man gern in sein eigenes Wohnzimmer einladen würde, um mit ihnen Wein zu trinken und die Welt zu besprechen und die neuesten Serien-Hits. Es gibt die Liebe zwischen Familienmitgliedern, die (wir alle wissen das) die einfachste, selbstverständlichste und die schwierigste ist; und sie allein umfasst ganz verschiedene Verhältnisse, wie diejenige von einem Kind zu seiner Mutter oder zu seinem Vater (verschiedene Dinge, verschieden in verschiedenen Lebensstadien); oder die einer Tochter zu ihrem Vater sowie eines Vaters zu seiner Tochter (und der Mutter natürlich, aber der Vater ist hier die zentrale Figur). Und dann natürlich die Liebe zwischen Mann und Frau; im Roman vor allem: in der Ehe und nach der Ehe. Wie wird man ein Paar, und wie löst man eine Paarbindung? Wie geht man neue Bindungen ein, wie löst man sich von seiner Vergangenheit und beginnt ein neues Paarleben? (es geht im Übrigen nicht um Sex, und das ist zwar irgendwie ein wenig befremdlich, aber andererseits geradezu entspannend)

All diese Beziehungen laufen quer durch das Buch, und dabei wird, vor allem anhand der Hauptgestalt und Titelfigur, ein ziemlich origineller und ziemlich kluger Gedanke entwickelt: Wäre es nicht die beste Lösung, jede Beziehung ganz neu anzufangen, so als sei man in jeder Beziehung auch – eine neue Person? Und wäre es nicht noch besser, einer jeden solchen neuen Beziehung, die auf einer Resonanz aufbaut, einem spürbaren, sich spontan ergebenden Mitschwingen von zwei Persönlichkeiten – entweder einen neuen Namen zu geben oder, am besten, gar keinen? Warum muss eigentlich jede Beziehung, die doch so individuell und unterschiedlich ist wie die Personen, die sie eingehen, einen Namen bekommen, eine Kategorie, in die man sie einordnen kann (und sei sie so diffus wie die „Lebenspartnerschaft“, die immerhin ein vages Bewusstsein für genau dieses Problem widerspiegelt)? Dieser Gedanke ist ein sehr erwachsener Gedanke. Er ist meilenweit entfernt von allen enthusiastisch-jugendlichen Ideen von ausschließlicher Liebe (the one and only), von unsterblicher Liebe (forever mine), von Romanen- und Tragödienliebe (Leute, die füreinander sterben wollen oder sich das zumindest versichern, anstelle miteinander zu leben). Aber er ist nahe an der Lebenserfahrung, wenn man einmal ehrlich zu sich ist und alles vergisst, was man meint über Beziehungen zu wissen (es ist nämlich, wie sich im Laufe des Lebens herausstellt, zu großen Teilen aus Filmen und Romanen importiert und falsch).

Resonanz, das ist im Übrigen ein Begriff, den der Roman selbst benutzt; und vielleicht ist es auch nicht unwichtig, dass sein Autor ein Musiker ist, für den Resonanz eine spürbare, erlebbare Erfahrung ist. Resonanz: Das ist ein Mitschwingen, ein Antworten; eine Reaktion auf eine Anregung, ein Dialog, bei dem sich zwei Systeme, Menschen, Töne aufeinander einstimmen. Was bewirkt Resonanz? Hession hat einmal geschrieben (nachzulesen auf Wikipedia): „The quest for kindness is one of literature’s great challenges”. Literatur als Medium zur Erzeugung von Freundlichkeit, Mitmenschlichkeit –das ist nicht ganz einfach, denn es verleitet zur Leserbevormundung nach dem Motto: Hier, schau doch, Freundlichkeit ist doch ganz einfach, du musst dich nur an diesem (natürlich unrealistischen und für didaktische Zwecke grenzenlos übertriebenen) Vorbild orientieren und den zehn folgenden Regeln folgen! Aber dieser Roman bevormundet niemanden. Er zeigt vielmehr, wie Freundlichkeit als Lebenshaltung und Resonanzphänomen erarbeitet werden muss, auch wenn man selbst wenig Neigung dazu hat oder die Welt einem ziemlich unfreundlich begegnet. Gespräche spielen dabei eine zentrale Rolle; wann man redet, wie man redet, über was man redet, und über was besser nicht (das Kind ist sehr empört darüber, wie Erwachsene ihm immer wieder Schicksalsgespräche unterschieben wollen, und Recht hat es!). Aber auch Berührungen, Haltungen, Tätigkeiten sind wichtig, sie können Resonanzen auslösen und transportieren. Kleine Dinge, überhaupt: Dieser Roman hat so viele gut beobachtete kleine Dinge (man nehme nur die Friseurszene) und so viele mit Bedeutung und Schönheit aufgeladene Alltagsphänomene, dass man ganz ehrfürchtig und hellsichtig werden kann beim Lesen! Aber er ist auch brutal. Er hat tragische, unversöhnliche Elemente, und deshalb ist er keine Heile-Welt-Literatur und kein Selbsthilfe-Ratgeber. Man muss auch aushalten können, dass es starken Schmerz gibt, unheilbare Krankheit, tiefste sprachlose Depression und bodenlose Einsamkeit. In dieser Welt wird einem nichts geschenkt. Literature for grown ups!

Aber genug des Lobes. Wir stehen immer noch vor dem Tor (beim Fußball jetzt, nicht bei Kafka); und ist „Panenka“ nun eine Metapher oder nur ein nötiges Handlungselement, ein geschickt eingesetztes Werkzeug zur Figurencharakterisierung und ein cooler Name dazu? Einiges spricht für Metapher, aber es ist schwer das zu erläutern, ohne zu spoilern. Denn, ein letztes Lob: Dieser Roman hat einen großartigen Schluss (Schlüsse sind ein Problem für Liebesromane, sie tendieren stark zur Trivialität oder Überdramatik: Hochzeit oder Tod). Er kommt unerwartet, und er hat das nötige Maß an Offenheit, das alle guten Romanschlüsse haben. Am Ende also bekommen wir eine Antwort auf eine Frage, von der wir beim Lesen vielleicht gar nicht wussten, dass wir sie haben, nämlich: Was tut Panenka eigentlich, womit verdient er seinen Lebensunterhalt? Andeutungen dazu durchziehen den Text, aber man wird nicht schlau daraus, selbst wenn einem das Problem irgendwann auffällt und man fortan darauf achtet. Es ist aber wichtig, was Panenka tut. Und es ist wichtig (das ist die zweite Lücke, die sich durch den Roman zieht), warum er sich damals, in der alles entscheidenden Minute, für den Panenka entschieden hat. Denn beides, so stellt sich heraus, waren und sind Akte der Freundlichkeit, genauer: der Menschenfreundlichkeit. Es sind gleichzeitig (aber das ist vielleicht nur für Spezialisten interessant) ästhetische Akte: Sie sind schön; sie sind frei, sie sind das Ergebnis von langjährigen Training und Arbeit – und dazu ein wenig Glück (oder eben Unglück. Das ist nicht wichtig).


Panenka im Fußball: https://www.instagram.com/wrzzer
Rónán Hession: Panenka (englisches Original; eine deutsche Übersetzung liegt noch nicht vor). Bluemoose Books 2021.

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Sind künstliche Freunde die besten Freunde des Menschen?

Zum neuen Roman des Nobelpreisträgers Kazuo Ishiguros: ‚Klara und die Sonne‘

Auf den ersten Blick ist der neue Roman des Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro, Klara und die Sonne, vor allem ein ziemlich aktuelles Buch über die Grenzen und Gefahren Künstlicher Intelligenz. Die Titelfigur ist nämlich eine KF, eine Künstliche Freundin, die ein besonderes Verhältnis zur Sonne pflegt (die für sie männlich ist); und sie schreibt in ihrem Roboteralter ihre Erinnerungen an die gemeinsame Zeit mit der Familie ihrer ‚Kundin‘ Josie aus der Ich-Perspektive nieder. Die Geschichte spielt in einer nicht allzu fernen Zukunft, in der für den begabteren Nachwuchs genetisches Enhancement zur Verfügung steht und reale Freunde eben durch KFs ersetzt werden. Eine Dystopie, könnte man meinen, eine Warnung vor den drohenden Gefahren der Entmenschlichung sozialer Beziehungen, in der Formen künstlichen Lebens nicht nur die Arbeitswelt übernommen haben, sondern nach und nach auch den Kernbereich des Intimen, die Familie infiltrieren! Aber so einfach macht es uns Kazuo Ishiguro nicht. Denn Klara, die Erzähl-Maschine, der beobachtende Automat, der mitfühlende Roboter, die perfekteste BFF aller Zeiten, bescheint das ganze Buch mit einer so herzlichen und kindlich-naiven Sonnenenergie, dass sie eigentlich die einzige wirkliche Identifikationsfigur in dem seltsam reduzierten Personenszenario ist.

Worum geht es also eigentlich wirklich in Klara und die Sonne, unter der milde dystopischen Oberfläche und jenseits der technischen Vision? Um nichts weniger als um das menschliche Herz und seine Komplexitäten; um die Seltsamkeit und Schwierigkeit menschlicher Beziehungen, die auf ein missverständliches Instrument wie Sprache angewiesen sind; und– aber das ist schon ziemlich weit unter der Oberfläche verborgen, selbst Klara bemerkt es kaum: Es geht natürlich auch um Männer und Frauen . Denn Klara ist eindeutig weiblich (es gibt auch Künstliche Freunde für Jungen). Der Laden, in dem sie verkauft wird, wird geleitet von „der Managerin“. Klaras menschliche ‚Kundin‘, die nach dem genetic enhancement schwer erkrankte Josie, ist weiblich; sie lebt zusammen mit „der Mutter“ und „Melania Haushälterin“ nach dem frühen Tod einer Schwester. Die einzige männliche Figur, die anfangs überhaupt auftaucht, ist Josies Freund Rick (nicht enhanced), der aber ebenfalls allein mit seiner Mutter lebt. Josies Mutter ist erfolgreich in ihrem Beruf; wohingegen der kaum erwähnte Vater (wir lernen ihn erst spät kennen), ein Wissenschaftler, seinen Arbeitsplatz an die Roboter verloren hat und nun in einer Art Widerstandskommune jenseits der Stadt lebt. Soziale Kontakte unter Jugendlichen werden gesteuert und auf ein Minimum reduziert und wozu braucht man schon Freunde, wenn man eine perfekte Künstliche Freundin kaufen kann, die einem jeden Wunsch von den Augen abliest?

Das ist übrigens in einem durchaus wörtlichen Sinn zu verstehen: Klara ist eine hochbegabte Menschenleserin – eben weil sie eine Maschine ist: unbelastet von eigenen Gefühlen, von Beziehungskonflikten, Wahrnehmungsverzerrungen, Wünschen und Eigeninteressen und programmiert auf vollständige Erfüllung der Wünsche und Sehnsüchte der ‚Kundin‘. Sie ist auch nicht nur einfach die wohlprogrammierte beste BFF aller Zeiten; sie ist gleichzeitig außerordentlich lernbegierig, geradezu welt-hungrig und dabei so selbstlos wie eine Heilige (nun ja, sie heißt ja auch Klara, vielleicht nicht direkt die falsche Assoziation). Klarer als Klara kann man nicht sehen; nicht offener, nicht wohl-wollender, identifizierender, empathischer. „Die Mütter“ hingegen – nun, sie lieben ihre Kinder natürlich, sie lieben sie nur allzu sehr – sie wollen sie nicht verlieren, sie wollen das Beste, und bei der rücksichtslosen Verfolgung dieser Ziele verlieren sie die Kinder auf dem Weg oder verwechseln deren Bestes mit dem eigenen Besten oder einem nur eingebildeten allgemeinen Besten. Aber sie sind auch in ihrem Privatleben effizient, gnadenlos effizient, wie moderne Frauen es nun einmal sind, wenn sie in einem harten Berufsleben bestehen wollen. Diese ‚schöne neue Welt‘ ist zwar eine weibliche Welt geworden, aber sie ist nicht besser. Sie ist nur anders geworden. Enhanced, wenn man so will: technisch verbessert, aufgepeppt, durchrationalisiert. Die Män-ner sind derweil in den Widerstand abgedriftet oder verfolgen technologische Allmachtsphantasien. Oder sie kommen nicht über einen Jahrzehnte zurückliegenden Liebesverrat hinweg. Aber es ist ein wenig egal, sie spielen sowieso nur noch Nebenrollen (außer der Sonne natürlich, die männlich ist. Das ist ein harter Brocken!). It’s a woman’s world!

Rick immerhin, Josies echter, menschlicher, männlicher Freund, hat mit Josie eine andere Kommunikationsebene gefunden. In ihrer Krankheit ans Bett gefesselt, zeichnet Josie nämlich Figuren mit leeren Sprechblasen; und Rick stattet die Sprechblasen mit Worten aus, weil er weiß, was die Figuren denken. In dieser ganz speziellen Art der Verständigung sind Rick und Josie für eine kurze Zeitspanne tatsächlich eine Art gemeinsames Individuum geworden, ein Liebespaar noch durchaus jenseits des Geschlechtes – aber es ist eine nur kurz aufscheinende Jugendutopie, die der Roman in seinem Verlauf so sanft zerstört wie alle weiteren momentan aufleuchtenden utopischen Momente. Gibt es die Liebe überhaupt, so fragt sich nicht nur Klara? Für Momente, sicherlich; aber danach gibt es Abnutzungserscheinungen, Anpassungszwänge, Gewohnheiten und niemals vernarbende Wunden. Oder, anders und fundamentaler gefragt: Gibt es das menschliche Herz, dieses angeblich so hochkomplexe Organ der Seele, für ewig unzugänglich noch für die empathischste Maschine, auch wenn sie sich gegenüber der Sonne zu einer Art Glauben aufschwingt und die Hoffnung nie verliert? Verschiedene Figuren bieten verschiedene Antworten auf diese zentrale Frage an. Die Männer antworten tendenziell anders darauf als die Frauen, aber wir sind keine spoiler des eigenen Denkens hier. Und am interessantesten, so viel sei verraten, ist sowieso Klaras Antwort: weil sie so viel heller sieht. Ob das nun eine dystopische oder eine utopische Perspektive ist, verschwimmt derweil im Dämmerlicht der untergehenden (immer noch männlichen) Sonne. Vielleicht ist es auch von Anfang an die falsche Frage gewesen.

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Klavierstimmen und Käse

Der Klang der Wälder von Natsu Miyashita


Was hat Klavierstimmen mit Käse zu tun? Genauso viel wie Wälder und Schafe mit Konzertflügeln; oder eben überhaupt alles auf der Welt, was irgendwie sinnlich wahrnehmbar ist und über Schwingungen und Intuitionen miteinander interagiert – Wälder ebenso wie große Konzerte, ein ausgereifter Wein wie ein besonders schöner Hammer, oder eben: der Klavierstimmer und das Instrument und die Klavierspielerin und der Raum und die Gegenstände in ihm. Man muss aber nicht unbedingt eine Klavierspielerin oder überhaupt musikalisch begabt sein, um Der Klang der Wälder der japanischen Autorin Natsu Miyashita zu lesen und zu schätzen, die mit diesem unauffälligen, sehr sanften, ereignisarmen und beschreibungsreichen japanischen Roman über einen jungen Klavierstimmer (ein sehr grober alteuropäischer Begriff, das Buch ist eher ein Sprache gewordener japanischer Holzschnitt) erstaunlicherweise in Japan einen großen Verkaufserfolg erzielte und mit dem Japan Booksellers Award dafür ausgezeichnet wurde. 2018 wurde das Buch auch verfilmt von Kojiro Hashimoti; es liegt inzwischen in englischer und deutscher Übersetzung vor (The Forest of Wood and Steel, was wieder einmal eine wenigstens halbwegs kongeniale Titelübersetzung scheint gegenüber dem allzu romantisierenden deutschen Titel Der Klang der Wälder; man lese es besser in Englisch, wenn man es schon nicht in Japanisch lesen kann). Nein, man muss eigentlich nur lesen – und die Perspektive ändern können und wollen.

Natürlich spielt die Autorin (von der man nicht allzu viel weiß, sie hat bisher nicht einmal einen eigenen Wikipedia-Eintrag, weder in der deutschen noch in der englischen Version) Klavier seit ihrer frühen Jugend; und offensichtlich weiß sie, wovon sie spricht, wenn sie das Klavierstimmen auch in all seinen technischen Varianten und Begriffen beschreibt. Und als Hauptfigur hat sie einen Mann gewählt: den Klavierstimmer Tomura, einen jungen Mann ohne Eigenschaften, außer einer: er kann Töne sehen (und hart arbeiten). Aber darauf kommt es auch nicht an, als komplementäre Ergänzung haben wir nämlich die klavierspielenden Zwillingsschwestern Yuni und Kazuna, die mit Tomura ein immer besser aufeinander eingeschwungenes Trio bilden, in dem das Klavier und das Klavierspiel und die Töne mitten im Zentrum stehen. In einem europäischen Roman wäre man hier um die Liebesgeschichte nicht herumgekommen, man ertappt sich selbst bei der Lektüre ständig dabei, dass man diese Wendung erwartet. Sie kommt nicht, ebenso wenig kommen ein Aufbau von dramatischer Spannung, Höhepunkte, erstaunliche Wendungen, ein unerwarteter Schluss. Das verlangt einen entschiedenen Perspektivenwechsel von der europäisch indoktrinierten Leserin; aber dann ist das Leseerlebnis wirklich und wahrhaftig grandios und japanisch und erleuchtend. Erleuchtend, das ist überhaupt ein Bild, das das ganze Buch durchzieht. Es lebt von den verschiedensten Epiphanien, Synästhesien (das sind die europäischen Begriffe dafür): vielfach sinnlich verknüpften Bedeutungserlebnissen also, oder, wie eine im Buch mehrfach zitierte (Wiederholungen, auch das ein deutlich fremdes Element im Roman) Formulierung des idealen Schreibens eines japanischen Dichteres mehr umschreibt und assoziiert als definiert: „Bright, quiet, crystal-clear writing, that evokes fond memories, that seems a touch sentimental, that is unsparing and deep, writing as lovely as a dream, yet exact as reality”. Man sehe einen japanischen Holzschnitt an, vielleicht durchaus einen der bekannteren von Hiroshige; man höre ein Piano im Geiste, es muss kein großes sein und kein Piano-Welthit; man denke an den Duft des Weines, des Käses und des Waldes; und man denke und fühle das alles zusammen, wenn man dieses Buch liest (es ist gar nicht allzu lang und hat sehr schöne Zeichnungen von verwaldeten Pianos). Es ist eine Übung mehr als eine Lektüre, und belohnt wird man: mit unzähligen kleinen Erleuchtungen.

Wie wird man ein guter Klavierstimmer ohne Talent? Ein japanischer Bildungsroman
Ein Klavierstimmer, also: Tomura, jung, eigenschaftslos, ziellos, bis er zum ersten Mal in seinem Leben zufällig einem Klavierstimmer bei der Arbeit zuhört und sieht und sein Erweckungserlebnis hat. Die Ausbildung ist mühe- und aufopferungsvoll, vor allem mit jemand ohne musikalische Vorbildung; keinerlei Förderkurse im ländlichen Japan, dafür aber: Naturerlebnisse, Wälder, Wasser, Stille. Der Zweifel, ob er wirklich, ohne auffälliges „Talent“, ein perfekter, oder nur ein: ein großer, oder wenigstens: ein routinierter Klavierstimmer werden kann, nagen an Tomura wie an jedem jungen (oder überhaupt: jedem) Menschen, der seine Bestimmung sucht, mit ein wenig Offenheit und Redlichkeit sich selbst gegenüber. Denn das macht dieser östliche Bildungsroman, der unendlich weit weg ist von europäischen Selbsthilfebüchern à la „Zum perfekten XXX in zehn Schritten und drei Minuten“ oder “Leben Sie Ihren Traum!“. Nein, „slow and steady“, so sagt es der eine der drei älteren Klavierstimmer, die die Bildung Tomuras nach der technischen Ausbildung fortsetzen, nur so geht es: slow and steady. Über Jahre, eher sechs als zwei, eher zehn als sechs; über so viele verschiedene Pianos wie möglich, die so unterschiedlich sind wie ihre Spielerinnen und Spieler und ihre Räume. Üben, Üben, Üben. Und dann nochmal und am nächsten Tag wieder. Die Werkzeuge polieren wie den eigenen Charakter. Die Menschenkenntnis schulen, denn ein Klavier spielt nie für sich allein, und nur wer die Spielerin erkennt, erkennt das Piano (natürlich ist das eine Wechselwirkung, wie alles auf dieser unendlich verbundenen Welt, keine europäische Einbahnstraßen-Kausalität von Ursache und Wirkung, schön nacheinander). Und so träumt Tomura den alten Traum von einer Idealsprache als Basis einer idealen Verständigung – verlustfrei von begrifflicher Reibung, sozusagen – in der Sprache des Pianos: „how ideal would it be if we could ommunicate solely through the voice of the piano“.

Eine Klavier-Fabel: Ein Piano ist ein Wald ist die Welt

Aber das Piano steht hier nur bild- und behelfsweise für etwas, das der Text auch in vielen anderen Bildern, Erfahrungen, Wäldern findet, und das macht ihn so lesenswert auch für alle Nicht-Musikantinnen. Je länger man liest, desto stärker wird das Gefühl, dass er eigentlich eine Klavier-Fabel ist, oder vielleicht sogar: eine Parabel: über das Leben in vernetzten Systemen, über die Wichtigkeit von Erleuchtung auf dem Weg der Erkenntnis, über Kunst als Kommunikationssystem (ach, diese Begriffe, man entkommt ihnen einfach nicht …), über Menschen- und Weltkenntnis in ihrer ausgereiftesten, kompliziertesten und einfachsten Form. Dafür stehen die wenigen, gelegentlich holzschnittartigen, gelegentlich sympathisch-menschlichen Gestalten neben Tomura, unserem Jüngling vom Lande ohne Eigenschaften. Umkreist wird er von drei Klavierstimmern, die erst zusammengesehen eine Ahnung dessen vermitteln, was der ideale Klavierstimmer (den es natürlich nicht gibt, genauso wenig wie die ideale Sprache oder den idealen Wald) können könnte. Ganz oben steht der weise Itadori, gesucht von den besten Klaviervirtuosen der Welt, der sich aber in einer japanischen Kleinstadt versteckt: Er „entdeckt“ Tomura und begleitet ihn mit wenigen, beinahe allzu einfach klingenden Maximen; es sind aber nur konzentrierte Weisheitssprüche („slow and steady“), die Anwendung muss jede Lernende selbst finden, und als Itadori Tomura seinen eigenen Klavierhammer weitergibt, ist das einer der stillen Höhepunkte des Textes. Dazu kommt der ewig unfreundliche Akino, der jedoch zum sensibelsten Zuhörer wird, sobald er das Haus eines Kunden betritt und in Windeseile die komplexe Interaktion zwischen Klavier und Spieler durchschaut; der den „Ton“ des Spielers immer im Blick behält, gerade nicht den „idealen“ Ton, den er ebenso gut stimmen können; nein, ideal ist der Ton, in dem Spieler und Instrument am besten interagieren und sich selbst wiederfinden, und das kann weit von jeglicher Virtuosen-Perfektion sein (Parabel! Nicht nur eine Klavierstimmer-Regel, sondern eine verpackte Lebensweisheit!) Schließlich Yanagi, der heimlich Übersensible, der seine andere innere Hälfte beim Trommeln auslebt und im Metronom seine Rettung vor dem Chaos und dem Schmutz der Welt gefunden hat. Er belehrt Tomura vor allem über den jungen Mann zunächst höchstlich befremdende Metaphern wie derjenigen vom Käse und seiner Ähnlichkeit mit dem Klavier. Aber nur so wird spürbar, was den „Klang der Wälder“, die Szenerie eines Tones, die Verbundenheit von allem mit allem in der sinnlich wahrnehmbaren Vielfalt der Welt ausmacht: über Analogien, Vergleiche, Metaphern (parabolischer Mehrwert: Nur so lernt man übrigens auch denken jenseits der Begriffskorsette!)

Und schließlich Yuni und Kazune, jüngere und ältere Schwester, die fröhliche lebenszugewandte Yuni und die ernste, ein wenig dunkle Kazune. Zusammen bringen sie ihr gemeinsames Klavier zum Strahlen, aber es der eine große tragische Moment des Textes als Yuni auf einmal nicht mehr spielen kann; es geht einfach nicht mehr, sie setzt sich auf den sorgfältig auf sie abgestimmten Hocker, und der gesamte Fluss, der sonst so natürlich über sie kam und sie selbst erleuchtet schienen ließ, ist blockiert. Der Roman macht kein Drama daraus, wie er auch nichts ein Drama macht, nur eine stille Katastrophe – und Yuni bewältigt sie, mit stiller Größe, indem sie fortan Klavierstimmerin werden will, für Kazune und für ihr gemeinsames Instrument, das ihr Leben ist, ihre Verbindung zur ganzen Welt und zu allen anderen Menschen. Und Kazune wird für beide spielen, ihr Spiel vereint nun die Elemente, die bisher in Yuni und Kazunes Spiel getrennt waren: Ying und Yang. Ein individuelles Opfer, beinahe: undenkbar in einem europäischen zeitgenössischen Roman.

Jenseits der 440 Hertz – Philosophie des Nicht-Absoluten

Aber hier gibt es kein absolutes „richtig“ und „falsch“, ebenso wenig wie es ein absolutes „schön“ gibt; genauso, wie die ideale Stimmung für ein Klavier gar nicht immer vom Standard-Grundton A (440 Hertz) ausgeht, sondern ein wenig darüber oder darunter liegt, je nachdem. Schön sind für Tomura die Milchspuren im Tee seiner Großmutter, eine komplexe Erinnerungs-, Geschmacks-, Geruchs- und Gesichtsepiphanie (die nicht nur entfernt an Prousts Madeleine-Erlebnis in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit erinnert, ein Roman, der übrigens, bei extrem unterschiedlichen Längenverhältnissen, einige Gemeinsamkeit mit dem Klang der Wälder aufweist). Und während des Lesens kann man geradezu spüren, wie man sich befreit von all diesen lästigen Begriffen, von einer immer dominanter werdenden europäischen Ideologie des Absolut-(Moralisch)-Richtigen; wie man näher rückt an die Erfahrungen und ihr Leuchten. Denn die Sprache ist, in ihren konzentriertesten Stellen, „bright, quiet, crystal-clear writing, that evokes fond memories, that seems a touch sentimental, that is unsparing and deep, writing as lovely as a dream, yet exact as reality“. Das ist, bei genauem Lesen (also: Wort für Wort, samt Begriffs- und Assoziationspotential) widersprüchlich? Ja, ganz genau.

Natsu Miyashita: Hitsuji to Hagane no Mori (2015); übersetzt ins Englische von Philip Gabriel unter dem Titel The Forest of Wood and Steel (2019); übersetzt ins Deutsche von Sabine Mangold unter dem Titel Der Klang der Wälder (2021)

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Salman Rushdie: Victory City – Neues aus der Stadt der Frauen

Wer erzählt die Geschichte, oder: Was ist ein Narrativ?

Wer erzählt die Geschichte? Das ist eine Frage, die man eigentlich immer stellen sollte, also: nicht nur beim Lesen eines Romans oder eines anderen Erzähltextes. Wer erzählt die Geschichte? – das ist diejenige Grund- und Universalfrage, die zur immer noch wachsenden Beliebtheit des Narrativs in der Sprache von Politik und Medien beiträgt: Denn es macht einen Unterschied, ob ein Sieger oder ein Verlierer die Geschichte erzählt, ob ein Beteiligter (stakeholder) oder ein Unbeteiligter, ein Teilnehmer oder ein Beobachter (Erzählen ist: eine Machtfrage. Immer!). Macht es auch einen Unterschied, ob ein Mann oder eine Frau die Geschichte erzählt? – das ist nun diejenige Frage, die uns hier bei schoengeistinnen.de besonders interessiert. Und die immer wieder zu untersuchende, zu erwägende, zu erprobende Intuition dabei ist natürlich: Es könnte einen Unterschied machen, und zwar einen wesentlichen! Zu wenig Geschichten sind historisch von Frauen erzählt worden; es gibt deshalb auch zu wenig Narrative für Frauen (zum Beispiel als Heldinnen, siehe unseren Podcast), und es gibt zu wenig Narrative von Frauen.

Deshalb ist es so außerordentlich – ärgerlich, irgendwie, dass das große weibliche Epos, das Parallelprojekt zu den durch und durch männlichen Epen Homers (die Erfindung der Literatur in der Antike war die Erfindung von Männerliteratur!), jetzt geschrieben wurde, und zwar: von einem Mann – und das auch noch ziemlich gut, ziemlich interessant, ziemlich witzig und ziemlich tiefsinnig. Ach, es ist schade und ein klein wenig ärgerlich; aber wichtiger ist es natürlich, dass dieses weibliche Epos geschrieben wurde (seien wird nicht kleingeistig); und immerhin war es kein Geringerer als Sir Salman Rushdie (wann wird dieser Mann endlich seinen hochverdienten Nobelpreis bekommen???), der schon in seinen bisherigen monumentalen Romanprojekten ganz wunderbare (und ich sage mit Absicht nicht: „starke“ Frauen, das Klischee gehört langsam in eine Mottenkiste ganz weit unten, denn am Ende ist es: ein Männer-Klischee, den Frauen aufgedrückt) – ganz wunderbare also, nämlich: runde wie tiefe, kluge wie einfache, ach: einfach wunderbare Frauengestalten erschaffen hat! Und vielleicht, vielleicht ist das durchaus ein kulturelles Erbe seiner indischen Herkunft, in der die Frauen im Hinduismus, der emanzipiertesten aller Religionen, immer gleich-schön, gleich-wild, gleich-mächtig an der Seite ihrer Göttergatten stehen: Ohne Sarasvati kein Brahma, ohne Shakti kein Shiva, ohne Lakshmis kein Vishnu. Das kosmische Gleichgewicht will es so.

Wer erzählt die Geschichte? Die vier Erzählinstanzen im Roman

Also: Salman Rushdie erzählt uns die Geschichte, zum Ersten; und er erzählt sie in Form eines weiblichen Epos von der Stadt Victory City (so der englische Titel, und der deutsche Verlag hat zum Glück nicht versucht, diesen Titel zu übersetzen). Es ist eine Geschichte, die wie alle wirklich guten Geschichten auf realen Begebenheiten beruht, nämlich einer gewissen Epoche in der Geschichte Südindiens in dem Staate Vijayanagara (frau lese das in den entsprechenden Wikipedia-Artikeln nach, es ist nicht so uninteressant, wie es sich anhört). Im Roman selbst wird die Geschichte von Pampa Kampana erzählt, und zwar in Form eines in Sanskrit anfangs selbst verfassten und später einer Nachkommin in die Feder diktierten Versepos. Pampa Kampana, die ein Patriarchen-, nein: ein Matriarchenalter von 247 Jahren durchlebt, ist aber nicht nur die zweite Erzählerin; nein, sie ist auch die Erschafferin von Bisnaga, Victory City, einer Stadt, die sie durch ihre Worte ins Leben ruft. Das ist ein weiblicher Schöpfungsmythos, und er geht so: Zwei von ihr beauftragte Hirten (man kann Romulus und Remus in ihnen sehen oder etwas anderes) werfen Samen ins Feld, und daraus erstehen keine Soldaten in voller Rüstung (wie im antik-männlichen Mythos bei Kadmos, der Drachenzähne sät und Soldaten erntet, die sich sofort gegenseitig dahinmetzeln), nein: es erwachsen daraus Menschen aller Arten und Formen und Geschlechter. Und jedem Einzelnen von ihnen wird von Pampa Kampana seine eigene Geschichte ins Ohr geflüstert. Wir sind alle die Produkte von Wörtern (was das bedeutet – wird ganz am Ende geklärt, im Roman und hier)?

Pampa Kampana aber spricht im Auftrag der Göttin (die damit zu einer Art dritter Erzählerin wird). Welcher, wird nicht genau gesagt, aber da der Roman sowohl explizit wie auch implizit religiöse Toleranz als unersetzliche Basis für jedes gedeihliche gesellschaftliche Zusammenleben predigt ist, ist es auch egal. Nicht egal ist nur: dass es eine Göttin ist, die durch Kampana spricht. Als Unterton und vierte Erzählinstanz (nach dem Autor, Pampa Kampana, der Göttin) kommt schließlich – und hier meint die Leserin einen dezidiert männlichen Vibe zu verspüren – der Herausgeber dazu, der Pampa Kampanas ursprünglich in Sanskrit, der heiligen Sprache, verfasstes Versepos überträgt, von seiner Entstehung berichtet, gelegentlich kommentiert er es sogar literaturwissenschaftlich (er steht in der Tradition der allwissenden Erzähler des 18. Jahrhunderts). Die Figur bleibt unscharf im Hintergrund, ist aber natürlich, da wir ja nicht direkt Pampa Kampanas Epos lesen, sondern sozusagen seine neuzeitliche Nacherzählung (also nicht: Homer im Originaltext, sondern in einer Leseausgabe fürs Volk), eigentlich für die Art der Erzählung verantwortlich. Und damit nicht genug, wird im Roman selbst noch erzählt: Von den portugiesischen Eroberern und Fremden nämlich, die in jeder Generation aufs Neue im von der Welt abgetrennten (und nur mit seinen Nachbarstaaten durch permanente Kriege verbundenen) Bisnaga auftauchen. Jeder von ihnen hat grüne Augen und rotes Haar (alle Fremden sehen gleich aus, will das wohl sagen; wie: alle Chinesen sehen gleich aus, alle Europäer sehen gleich aus und so weiter – nur im Eigenen sieht man die Differenz, den feinen Unterschied), jeder von ihnen verliebt sich in Pampa Kampana (die in voller Schönheit altern darf), und jeder bringt ihr die Geschichten aus der Welt jenseits von Bisnaga und trägt dann, wenn er seine Schuldigkeit getan hat und gehen darf, die Geschichten von Bisnaga in die Welt (auch hierfür gibt es historische Vorbilder, siehe oben). Und natürlich sind alle Eroberer Männer; nur sie dürfen und können durch die ganze Welt reisen. Aber dann kommt eine von Pampa Kampanas Töchtern, und nach ihr eine ihrer Urenkelinnen, und sie wollen nur eines: dem Allzu-Eigenen fremdwerden, reisen und der Welt ihre Geschichte erzählen. Denn nur wer diejenigen Geschichten erzählt, die anschließend Leben werden, wer eine Menschenflüsterin wird: ist ganz und gar – die Siegerin?

Ein Exkurs in den „Wald der Frauen“: Geschichtslosigkeit

Aber ach, es ist so eine Sache mit den Siegen. Im Wald der Frauen, dem Mittelteil des Epos (und man könnte jetzt ein Dutzend literarischer Anspielungen aufzählen, die sich in diesem sehr eigensinnigen Teil verbergen, die wichtigste ist aber wohl diejenige, der Erzähler selbst erläutert: Es gehört nämlich in den indischen Epen, die zugleich Helden- und Weisheitsgeschichten sind, dazu, dass der Held samt Anhang in einer Phase seiner vorgezeichneten Entwicklung sich ins Exil in den Wald begibt und dort – weiser wird) – im Wald der Frauen also gibt es keine Sieger (und damit auch keine Verlierer). Im Wald der Frauen gibt es, zum ersten, nur Frauen – und diejenigen Männer, die es geschafft haben, die Eingangsprüfung der Göttin zu überstehen, nämlich (und das ist ziemlich lustig): Sie müssen völlige Selbsterkenntnis und Beherrschung über ihre Sinne erlangt haben; wenn nicht, verlieren sie beim Eintritt ihre Männlichkeit, im Wortsinn. Im Wald der Frauen herrscht nur, vielleicht könnte man sagen: der zwanglose Zwang des weiblichen Prinzips, wie es die Göttin vertritt: Einigkeit mit der Natur, keine Destruktion, kein Machtmissbrauch, kein Geschlechter- oder sonstiger Krieg! Im Wald der Frauen leben auch die wilden Frauen – sinnliche Naturwesen mit langen, wirren Haaren, die nicht viel sprechen, sondern unter sich bleiben und unbezähmbar und leidenschaftlich sind. Im Wald der Frauen gibt es zudem, und das ist strukturell von Bedeutung, keine Zeit im linearen Sinn: Alle Zeitebenen fallen ineinander, und unbemerkt altern die Figuren nicht, lassen sich treiben, leben einen Tag wie den nächsten, ohne Morgen und ohne Gestern. Denn die Zeit, der Zeitfluss, das weiß Pampa Kampana, sind beides nur Illusionen; sie selbst ist eine, so sagt sie, „Landkarte der Zeit“, in der jeder Punkt des Jetzt mit vielen Punkten des Vorher und Nachher verbunden werden kann, und alle sind in ihrem Kopf (wie bei jedem ordentlichen Erzähler) gleichzeitig vorhanden. Während die Männer draußen, jenseits des Waldes der Frauen, ausschwärmen über sehr reale Landkarten in sehr reale und sehr, sehr sinnlose Kriege (die stehende Metapher des Romans dafür sind die mit Stroh gefüllten Köpfe des besiegten Gegners, eine Art Lieblingstrophäe aller Herrscher; in einem ordentlichen Krieg müssen irgendwann strohgefüllte abgehackte Köpfe herumgezeigt werden, das gehört sich einfach so – und die Metapher ist so einfach zu übersetzen, dass es beinahe peinlich ist, aber es ist wohl kein Zynismus, sondern einfach: die gebotene Art, um über die völlige Sinnlosigkeit von Kriegen zu sprechen) – während also Victory City zur regionalen Großmacht aufsteigt und dann zur Bedeutungslosigkeit wieder herabsteigt, vergeht im Wald die Zeit nicht. Man kann in diesen Wald gehen; es ist möglich. Man muss aber die Prüfung bestehen. Und man muss dort leben können – ohne Zeit, ohne Siege und sogar, vielleicht: ohne Worte.

Wer erzählt die Geschichte? Erzählen aus dem Geist der Blindheit und des Traumas

Aber auch Pampa Kampana verlässt den Wald wieder, wie es alle indischen Epen-Helden tun, wenn sie ihr Exil abgeleistet haben und seine Prüfungen bestanden. Eine Zeitlang wird sie nun, wenigstens als Vertreterin (der Mann ist im Krieg, der männliche Erbe noch nicht geschlechtsreif), über Bisnaga herrschen, und damit beinahe das politische Ziel erreichen, dass sie sich immer wieder vorgesteckt hatte: Frauen müssen herrschen dürfen! Und während Pampa Kampana herrscht (und alle kampffähigen Männer im Krieg sind), erlebt Bisnaga sein goldenstes Zeitalter: Die Künste werden gefördert und blühen dementsprechend; Liebe und Sexualität werden nicht mehr aus religiösen Motiven unterdrückt, sondern dürfen in all ihren Formen ausgelebt werden; Handel und Austausch mit den Fremden blühen. Langsam gewöhnt sich sogar das Volk (und nicht nur die Eliten) an die neuen Freiheiten und genießt sie. Doch auch der sinnloseste Krieg kann nicht ewig dauern, die Männer kehren zurück, und mit ihnen kommt das ewige Gesetz von Sieg und Niederlage, Macht und Unterdrückung zurück; kehren wieder grenzenloser sexueller Freiheit für die Männer und extreme sexuelle Unterwerfung und Einschränkung für die Frauen ein (der Harem in all seinen Spielarten bleibt dafür das beste Beispiel). Als daraufhin der unaufhaltsame Degenerationsprozess des blühenden Bisnaga einsetzt, möchte man sich als Leserin am liebsten wieder in den Wald der Frauen verkriechen. Pampa Kampana verkriecht sich in eine Klosterzelle; zuvor aber wird sie, und das ist die ultimative Herrschergewalt, eines vermeintlichen Verbrechens wegen geblendet. Im Hintergrund steht der vermeintlich blinde Homer (eine Projektionsfigur, wenn es je eine gab) und grinst ein wenig boshaft: Hat er doch den Erzähler dazu gezwungen, seine Heldin blenden zu lassen – allein, weil es das Narrativ so verlangte, die eingeflüsterte Geschichte! Der wahre Ependichter hat blind zu sein; nur so singt er ganz aus seinem vielfältigen Inneren heraus, kann er die reine Stimme der Götter sein, nicht abgelenkt durch die optischen Versuchungen der schönen Maya, der glitzernden Oberfläche, die Genüsse des Sehens.

Und so tut es auch Pampa Kampana in ihren letzten Jahren, als sie aus dem Trauma heraus ihre Stimme wiedergefunden hat; und vielleicht ist hier doch die Stelle, einen letzten Exkurs zu machen, er heißt: Erzählen aus dem Trauma heraus. Denn Pampa hat als Kind mit ansehen müssen, wie sich ihre Mutter, gemeinsam mit allen Frauen ihres Dorfes, nach einer militärischen Niederlage und der völligen Vernichtung ihrer Männer (mit Stroh gefüllte Köpfe, man erinnere sich), freiwillig anzündete; Witwenverbrennung, eine indische Unsitte (man verzeihe das billige Wort!), deren barbarischer Charakter in sehr ruhigen Worten am Anfang des Romans und am Ursprung des Erzählens steht. Und als sei das nicht genug, wird die junge Pampa, als sie dann in einem Kloster Zuflucht sucht und findet, von dem weisen Mönch und Philosophen, der am Tag philosophisch über den Frieden räsonniert, des Nachts sexuell missbraucht. Mehr Trauma geht nicht. Nur eine Göttin kann Pampa hier noch retten, und die Göttin tut das (dea ex machina), und sie gibt ihr die größte Macht, die sie verleihen kann: Worte, die Leben schaffen.

Wer erzählt die Geschichte? Vom zweifelhaften Sieg der Worte

Damit kommen wir zum Schluss und zur – man muss wohl sagen: Lehre? Und hier muss nun erstmals Pampa Kampana ein wenig ausführlicher länger zu Wort bekommen; es ist ihr letztes Glaubensbekenntnis? Ein Manifest, eine Selbstermächtigung, eine Siegeserklärung? Aber an was? Hören wir Sie, die 247jährige, wie sie ihre allerletzten Worte spricht und gleichzeitig in ihrem Epos niederlegt:


Ich, Pampa Kampana, bin die Autorin dieses Buches.
Ich habe gelebt, um den Aufstieg und Fall eines Reiches  zu sehen.
Wie wird man sie einst erinnern, diese Könige, diese Königinnen?
Jetzt existieren sie nur noch in Worten.
Solange sie lebten, waren sie Sieger, oder Besiegte, oder beides.
Jetzt sind sie keines von beiden.
Worte sind die einzigen Sieger.
Was sie taten oder dachten oder fühlten, all das existiert nicht mehr.
Nur die Worte, die all das beschreiben, bleiben.
Sie werden erinnert werden, so wie ich entschieden habe sie zu erinnern.
Ihre Taten werden gekannt werden, so wie ich sie niedergeschrieben habe.
Sie werden das bedeuten, was ich will.
Ich selbst bin jetzt Nichts. Alles, was bleibt, ist diese Stadt der Worte.
Worte sind die einzigen Sieger.

Worte sind die einzigen Sieger: Ist das eine Siegeserklärung der Literatur über die Wirklichkeit, die Literatur als einziger victimless victory? Allzu leicht mag es sich so lesen; und vielleicht wollte Pampa Kampana, dass es das bedeutet. Aber was bleibt dann von all dem, was zwischen den Wörtern passiert, unter ihnen; mit dem Nicht-Gesagten, dem Nicht-Sagbaren, dem halb oder ganz Verschwiegenen? Was von all den Taten, Gedanken, Gefühlen, die die Autorin uns bewusst vorenthalten hat? Im Buch hat sie selbst an einem Punkt erkannt, dass sich ihre Figuren, die ihr am Anfang ihr ganzes Leben verdankten, sich von ihr emanzipiert hatten: „So lernte Pampa die Lektion, die jeder Schöpfer lernen muss, sogar Gott selbst. Nachdem du deine Figuren einmal erschaffen hast, bist du an ihre Entscheidungen gebunden. Das ist „freier Wille“. Das ist eine recht schöne Erklärung des freien Willens aus dem Geist der Erzählung; es zeigt aber auch: Die Autorin ist nicht allmächtig. Es gibt Wege, denen sie nicht folgt, nicht folgen kann (wie beispielsweise diejenigen der „wilden Frauen“ im „Wald der Frauen“). Sie werden aber nicht erzählt. Sind sie deshalb weniger wert? Triumphiert die Literatur wirklich derart gnadenlos über das Leben? Ach, Siege, nach all den Siegen und Niederlagen und strohgefüllten Köpfe ist frau ein wenig skeptisch, wenn sie von Siegen hört, totalen gar. Und wenn schon totale Sieger sein müssen: Ist das nicht der Tod, der ja, welche Nachteile er sonst noch haben kann, auch den fundamentalen hat: nicht wirklich (das meint: aus der Erfahrung) erzählt werden zu können? Im Tod aber, so lernen wir ebenfalls im Text: „Im Tod treffen Triumph und Niederlage demütig aufeinander. Wir lernen viel weniger vom Sieg als von der Niederlage.“ Worte sind die einzigen Sieger? Vielleicht, vielleicht müssen wir als Leserinnen ja auch emanzipieren – von der einzig wahren Geschichte, vom totalen Narrativ, von der Allmacht der Göttinnen wie auch der weiblichen Erzählerin? Vielleicht ist es ja besser der größtenteils abwesende Sekundärerzähler, dem wir unser Vertrauen schenken sollten. Was sagt er? Er sagt auf Zweifel an der Wahrheit der vorgetragenen Geschichte: „Wir müssen antworten: Entweder es ist alles wahr, oder nichts davon ist wahr, und wir ziehen es vor, der Wahrheit einer gut erzählten Geschichte zu glauben. Wir ziehen es vor – welch zivilisierte Wortwahl! Die Wahl aber – treffe jede Leserin selbst. Schließlich ist sie aus der Schöpfung entlassen und hat einen freien Willen.


Jetzt auch auf Deutsch (die Autorin zitiert aus der englischen Ausgabe in eigener Übersetzung):
Salman Rushdie: Victory City. Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Robben. Penguin Verlag 2023.

Zuhause


Unverwechselbar: Eine Frau pfeift sich ihr Lied

Zu Siri Hustvedts neuem Roman Damals


Virginia Woolf ist unser aller Heldin. Sie ist unser Homer, unser Vergil, unser Goethe, unser Joyce, unser Proust. Sie ist, sagen wir es ruhig mit allem Mut zur drastischen und gelegentlich nötigen Vereinfachung: die erste schreibende Frau, die es wirklich geschafft hat. Und jeder Schreibende, vor allem aber: jede Schreibende braucht solche Figuren. Es ist ein mühsames Geschäft, das Schreiben, nein: Es ist ein müh-seliges Geschäft, und gelegentlich braucht man Ermutigung, Anerkennung, Resonanz und ein Vorbild. Virginia Woolf hat es geschafft (und wir vergessen für einen Moment ihr tragisches Ende). Sie war nicht nur erfolgreich wie ein Mann mit ihren Büchern, nein: Sie hat wie ein Mann geschrieben, nämlich: über alles und nicht nur über ‚Frauenthemen‘; sie hat geschrieben über Geschichte, Literatur, Kunst und das Leben in all seinen Gewändern und Räumen. Und sie hat Kunststücke gemacht in der Literatur, die noch niemand vor ihr gemacht hat, sie war experimentell, innovativ und originell und gleichzeitig – das ist das größte Kunststück von allen! – lesbar. Interessant. Existentiell. Überraschend (und höchstens ein ganz klein wenig verbittert darüber, eine Frau zu sein).

Aber dies ist kein Artikel über Virginia Woolf, es ist ein Artikel über eine Frau, die das Potential hat, ihre würdige Nachfolgerin zu werden. Sie schreibt seit ihrer Kindheit; sie schreibt nicht nur über Literatur, Kunst und das Leben, sondern auch über Philosophie, Psychoanalyse und Wissenschaft; sie schreibt gelegentlich literarisch, gelegentlich essayistisch, gelegentlich wissenschaftlich. Vielleicht ist sie nicht ganz so innovativ wie Virginia Woolf, aber, seien wir ehrlich: Wer heute noch etwas ganz Neues schaffen wollte in der Literatur – sie müsste auf dem Mond geboren sein und eine Mondsprache haben. Siri Hustvedt jedoch, um nun endlich den Namen zu verraten, schreibt wie Virginia Woolf: außerordentlich lesbar, immer interessant, mit großer Souveränität und Disziplin, mit einem wunderbar weiblichen Humor und tiefem philosophischem Ernst, alles genau da, wo es am Platz ist (und leider, leider – weil eigentlich unnötig – immer noch ein wenig verbittert darüber, eine Frau zu sein).

Das alles wissen wir Leserinnen der amerikanischen Autorin Siri Hustvedt längst. Mit gesetzten 64 Jahren kann sie auf eine ausgewachsene Autorinnen-Karriere zurückblicken (ihr Mann ist übrigens der Schriftsteller Paul Auster, von dem es einmal heißen wird, er sei der Ehemann von Siri Hustvedt gewesen), und soeben ist ihr achter Roman in deutscher Übersetzung erschienen. Memories of the Future heißt er im Originaltitel, in der deutschen Übersetzung heißt er leider: Damals – und das ist nun ein ziemlicher Fehlgriff! Damals, das lässt an eine biedere Biographie denken: Die Autorin schaut mehr oder weniger nostalgisch auf ihre Jugend zurück, und wir lehnen uns alle entspannt zurück und denken an unsere eigene Jugend – aber so funktioniert dieses Buch nicht, zum Glück. Es erzählt gerade nicht nostalgisch, erinnernd, objektivierend aus gebührender historischer Distanz, und wenn der Übervater Goethe eher damit kokettiert hatte, dass in einer Autobiographie Dichtung und Wahrheit sowieso niemals unterscheidbar seien, dann führt Siri Hustvedt vor, was das genau bedeutet, sowohl für das Erzählen als auch für das Erinnern.

Es bedeutet, zum Beispiel und zum Ersten, dass die Zeitfolge – des Erzählens wie des Erinnerns – außer Kraft gesetzt wird: Der Roman spielt zwischen und mit den Zeiten, unberechenbar hin- und zurückspringend zwischen Kindheit, Jugend, Alter und allem dazwischen, und gelegentlich springt er sogar mit einem kleinen Salto über die Zeit selbst hinweg! Denn die besondere (und von der Übersetzung geradezu grandios verfehlte) Pointe liegt eben darin, dass es eigentlich keine „Erinnerungen aus der Zukunft“ geben kann – jedenfalls, solange man die Zeit als brav fortschreitende und nie aus dem Tritt geratene überdimensionale Uhr betrachtet, die höchstens anlässlich der Sommerzeit (welch Skandal!) einmal ihren gewohnten Gang verlässt! Das aber, so kann man bei der Lektüre von Hustvedts neuem Roman lernen, ist eine sehr naive Annahme. Denn mit der Zeit ändern wir selbst uns zwar, aber nicht nur in eine Richtung, genauso wenig wie die Zeit. Nein, jeden Tag erzählen wir uns eine neue Geschichte von uns selbst, bestehend aus Erinnerungen, Fiktionen und Wunschbildern; aber jeder Rückblick überformt die Erinnerung, und die Erinnerung überformt unser zukünftiges Selbstbild, und nichts ist stabil, unveränderlich, festgesetzt, vor allem nicht ein Ich. Alles ist im Fluss in unserem Kopf. Was bleibt aber ­– stiftet die Dichterin (um Friedrich Hölderlin zu paraphrasieren): viele Geschichten.

Denn das ist die zweite Lektion – nein, nicht Lektion: die zweite wichtige Erfahrung, die Memories of the Future vermittelt: Es gibt keinen sauberen, einfachen, belegbaren Unterschied zwischen Gedächtnis und Erfindung, zwischen Tatsachen (haben nachweisbar stattgefunden, sind im Gedächtnis abgelegt und können, wenn man nur ein wenig den Staub davon wegpustet, wieder genauso abgerufen wurden wie sie abgelegt wurden – nein, leider nicht) und Fiktionen (kommen aus dem Nichts herbeigeflogen, wenn die Autorin sie ruft, haben nur Federn und kein Blut und nichts mit dem Leben zu tun – nein, auch nur ein Gerücht). Vielmehr ist es nicht nur so, dass (gute) Literatur immer deutlich autobiographische Spuren hat; es ist noch viel schlimmer: Die Fiktion schlägt auch auf das Leben zurück, und nirgends kann man das deutlicher sehen als in Siri Hustvedts Memories. Denn die Erzählerin lebt ihr Leben als junge Autorin in New York (faktisch, autobiographisch, Parallelen zu Hustvedts eigenem Leben sind überdeutlich) nach literarischen Mustern: Ihr Kopf ist ein großer Büchersaal, ausgestattet mit verehrten, meist männlichen Idolen, die sie nun gelegentlich auf der Straße trifft (was selten gut tut, das Buch ist neben einer Bildungs- auch eine Desillusionierungsgeschichte über den zweifelhaften Wert großer Männer). Und sie versucht gleichzeitig, ihr eigenes Leben zu Literatur zu verarbeiten. Aber wenn sie später, als gereifte Erzählerin, auf ihr früheres Leben und auf ihre damals im Tagebuch festgehaltenen Geschichten zurückblickt, erscheinen beide untrennbar ineinander verschlungen: Jede Erzählung einer Erinnerung verändert die Erinnerung, jede veränderte Erinnerung verändert wiederum die Erzählerin selbst – Wechselwirkungen, wenn man ein technisches Wort dafür braucht, sind unvermeidlich, und genauso wenig wie es eine einsinnige Zeit gibt, gibt es ein einsinniges Verhältnis von erlebtem Leben und erfundenen Geschichten.

Die Autorin hat deshalb ebenso wenig vollständige Gewalt über ihr Leben wie über ihre Geschichten: Sie will einen Detektivroman schreiben, und unter der Hand wird er einem zu einem Familienroman, weil die weibliche Nebenfigur auf einmal die Hauptfigur werden will und die männliche an die Wand spielt. Man will eine psychologische Geschichte über die Persönlichkeitskrisen der Nachbarin konstruieren, die man in ihren endlosen Monologen belauscht hat, durch die Wand, mit dem väterlichen Stethoskop (sagte ich schon, dass sich Siri Hustvedt mit Psychoanalyse auskennt?); aber in einer unerwarteten Wendung wird eine Art komischer Hexentanz daraus, und die Erzählerin selbst muss mittanzen, ob sie will oder nicht. Und so lernt Frau, was schon Virginia Woolf wusste: Geschichten haben einen Eigensinn, je lebendiger sie werden, desto stärker entwickeln sie eine Eigendynamik, gelegentlich auch gegen die Intentionen ihrer Erzählerin (nur tote Geschichten verlaufen vorhersehbar). Und umgekehrt: Wer sich selbst beim Erzählen nicht ständig häutet und erneut, hat nicht ernsthaft genug erzählt. „SH“, der durch den Text geistert, ist Siri Hustvedt ist Sherlock Holmes ist der ‚Standard Heroe‘; aber eigentlich ist er alles in einem und es gibt gar keinen ‚Standard Hero‘, sondern nur – Verwandlungen (Ovid, sollte man vielleicht erwähnen für die Ahnengalerie, hätte sich durchaus wohlgefühlt in diesem Buch).

Im Übrigen werden geübte Hustvedt-Leserinnen in diesem „portrait of the artist as young woman“ viele Motive und Erzählstrukturen ihrer bisherigen Romane wiedererkennen (er liest sich ein wenig wie der Sommer ohne Männer, in der Zeit transponiert). Es ist schon fast, und das verhehlt die Erzählerin selbst nicht, ein Alterswerk, von gereifter Weisheit, geübter Technik, aus einer größer werdenden Distanz, die auch zur Selbstironie befähigt. Deshalb ist es vielleicht nicht ganz so leicht lesbar wie ihre früheren Romane. Es gibt eine Fülle von gelehrten Anspielungen: Wittgenstein, Bergson und Einstein laufen ebenso durchs Bild wie Laurence Sterne und Marilyn Monroe, Emma Bovary und Don Quixote, Sherlock Holmes und Paul de Man; besonders gewürdigt werden aber schreibende und denkende Frauen, Vorbilder, wie Christine Pisan, Simone Weil, Anne Conway und die tatsächlich nicht erfundene Baronin Elsa von Freytag-Loringhoven. Es gibt Geschichten, die abbrechen, obwohl man wirklich gern wüsste, wie sie weitergehen; aber das Buch hat keinen großen Bogen, denn es sind eben – Memories of the Future, und als solche können sie kein Ende haben, kein zeitliches, kein inhaltliches, kein endgültiges. Einige von Hustvedts Zeichnungen tanzen durch das Buch, und man wünschte sich, es wären mehr davon, so leicht und ironisch schweben sie über den Worten. Und eines der großen erzählerischen Leitmotive ist – ein sehr kleines, das Pfeifen nämlich; denn von Tristram Shandy, einem der selbstironischsten Helden des 18. Jahrhunderts, hat die Autorin gelernt, dass Schreiben ist, als würde man sich selbst ein Liedchen pfeifen; es kann hoch oder tief sein, trivial oder ernst, harmonisch oder dissonant für fremde Ohren, egal: Hauptsache, man ist dabei mit sich selbst – im Einklang. Dann kann man auf den Rest auch pfeifen.

Und so pfeift Siri Hustvedt sich selbst ein Liedchen; mal sophisticated, mal aggressiv (es gibt existentiellen Hunger in diesem Buch, es gibt MeToo und Donald Trump), mal kindlich (es gibt demente Mütter und verletzende Väter), mal vertrauensvoll und optimistisch (es gibt den Idealismus der Jugend und seine Verwundbarkeit). Eine Geschichte beginnt und mäandert in die nächste, ein Raum öffnet sich und ein anderer schließt sich, und es sind – eigene Räume, so wie sie sich Virginia Woolf erhofft hatte, für sich selbst und für alle schreibenden Frauen nach ihr. Nicht nur ein, sondern endlose viele rooms of her own. All diese Räume abschreitend summt eine Autorin ihr Lied. Es ist unverkennbar, und wir hoffen, sie noch lange zu hören. 

 

Zuhause

 


Descartes trifft Helena in Amsterdam

Zu Guineveres Glasfurds Roman Worte in meiner Hand


„Maison Descartes“ steht über der schlichten weißen Haustür. Beinahe hätte man es übersehen. Es ist keines der großen Prachthäuser mit ihren schwingenden Giebeln, eher schlicht wirkt es, geradlinig, rational. Und es steht auch nicht an einer der Grachten mit den großen Namen: Kaisergracht, Prinsengracht, Herrengracht – natürlich gibt es keine Damengracht in Amsterdam (und wahrscheinlich auch anderswo nicht; eine google-Recherche bringt hingegen das Ergebnis „Damentracht“, und viel kürzer kann man gender-Probleme nicht auf den Punkt bringen). Die Kanalstraßen spiegeln eine men’s world, die Welt des Handels, der Reisen in die Kolonien, der mächtigen Gilden und Bürgerwehren, wie sie Rembrandt gemalt hat, am bekanntesten in seiner Nachtwache: Die Männer sind unter sich, und nur eine kleine Frau darf zwischen den Beinen hindurchschauen, die Experten sind sich bis heute nicht sicher, ist es eine Marketenderin oder ein Art Truppen-Maskottchen? – was auch immer: Sie existiert weiter unten, auf einer anderen Ebene. Handel, Wasser, Macht, dazu eine Prise Toleranz und ein sanfter Geruch nach Hasch – das war schon immer in der Amsterdams DNA (so behauptet es zumindest die aufpolierte Ausstellung im Stadtmuseum, die auch ein paar mehr Fakten und etwas weniger Propaganda gebrauchen könnte). Der Philosoph René Descartes jedoch gehörte zweifellos dazu, zumindest in der kurzen Zeit, die er hier verweilte, hinter der weißen Tür: Nach einem wechselvollen Leben hatte er Ruhe zum Arbeiten gesucht und, tatsächlich, Toleranz gegenüber seinen katholisch nicht ganz stubenreinen Ideen zur philosophischen Methode. Und er hatte sie gefunden hinter der weißen Tür.

Das aber, was er suchte, war nichts Geringeres als sicheres Wissen: Methodisch gewonnenes und rational gehärtetes Wissen, nicht nur über die Welt und die Dinge in ihr, nein: natürlich auch über Gott, das größte aller Dinge, die Welten der Welten – denn bei allem Rationalismus, bei aller Bemühung, eine prima philosophia als Königin des Wissens zu inthronisieren, blieb Descartes ein gläubiger Mensch. Eigentlich hätte die geplante Hauptschrift, für die er sich ins tolerante Amsterdam zurückgezogen hatte, sogar ein Gottesbeweis werden sollte, der letzte, endgültige Gottesbeweis schlechthin; hinaus aber kam eine „Abhandlung über die Methode, seine Vernunft gut und zu gebrauchen und die Wahrheit in den Wissenschaften zu suchen“. Er schrieb den Discours nicht in gelehrtem Latein, sondern in französischer Sprache, und es wurde sein populärstes Buch. Das einzige überlieferte Porträt von Descartes, gemalt von Frans Hals, könnte man sich gut zwischen all den niederländischen alten Meistern im Rijksmuseum vorstellen, mit ihren gedeckten braunen Farben, die aus sich ihrer dunklen Tiefe heraus zu leuchten scheinen. Es zeigt einen nicht mehr jungen Mann, das Gesicht wird dominiert von einer beeindruckenden scharfen Nase zwischen den haarfein geschwungenen Augenbrauen und dem etwas stutzerhaft gepflegten Schnurr- und Spitzbärtlein. Aber aus den Augen blickt ihm ein verborgener Schalk, und der schmale Mund deutet eine leichte Skepsis an. Die einzige Extravaganz in der Kleidung ist der breite weiße Kragen, über dem sich die dunklen, schulterlangen Haare ringeln, ein wenig ungezähmt, ein wenig eigenwillig. Ist er wohl so gestanden, vor der weißen Tür in Amsterdam, eine Mischung aus Schalk und Skeptiker, Bürger und Stutzer, mit seinem Bediensteten und den vielen Büchern im Gepäck und auf der Suche nach Ruhe und Toleranz?

Aber in Amsterdam hat Descartes nicht nur Ruhe zum Arbeiten und eine Stimmung toleranter Bürgerlichkeit gefunden; er hat auch Helena gefunden. Hier mag auch sie gestanden sein, vor der weißen schlichten Tür: Helena Jans von der Strom, eine Magd mit einem etwas zu großen Namen. Nichts wüssten wir von ihr, rein gar nichts, wenn sie nicht Descartes ein Kind geboren hätte; es ist unter seinem Namen registriert, und wir müssen also nicht lange spekulieren über ihr Verhältnis. Sicher wissen wir allerdings von Helena nur, dass sie Descartes bei seinem Vermieter, dem Buchhändler Thomas Sergeant, kennenlernte, wo sie als Magd diente. Am 19. Juli 1635, kaum neun Monate nach Descartes‘ Ankunft, wird Francine geboren; wohl um die Geburt geheimzuhalten, ziehen Descartes und Helena danach nach Deventer aufs Land. Als das Mädchen heranwächst, plant Descartes, sie nach Frankreich zu seiner Familie zur Erziehung zu schicken. Francine stirbt jedoch, kaum fünfjährig, an einem Scharlachfieber (auch das Todesdatum ist überliefert, es ist der 7. September 1640). Auch ihre Mutter bleibt nicht bei Descartes; sie heiratet einen Gastwirt, und Descartes stattet sie mit einer großzügigen Summe für die Aussteuer aus. Danach verlieren sich ihre Spuren wieder; sie ist eine Nebendarstellerin, aber immerhin wissen wir ihren etwas zu großen Namen: Helena Jans von der Strom.

Wie es jedoch gewesen sein könnte, kann man nachlesen bei der englischen Autorin Guinevere Glasfurd: Worte in meiner Hand heißt ihr Roman, der die Geschichte Helenas aufnimmt und eine Art fiktionales Seitenstück zu Descartes‘ allseits bekannter Vita daraus macht. Glasfurd hat recherchiert, was zu recherchieren war – und dann hat sie erfunden, ein wenig Dichtung in die Wahrheit gebracht, wie es bekanntlich auch alle wahren Autobiographen machen, von Goethe an. „Worte in ihrer Hand“ – das Buch heißt so, weil es in ihm um Worte geht, um ihre bestreitbare Macht ebenso wie ihre unbestreitbaren Grenzen. Denn Glasfurd zeichnet Helena nicht als tumbe Dienstmagd; nein, es sind Briefe überliefert von Descartes an sie, Helena konnte also lesen, und das war nun wahrlich nicht die Regel bei holländischen Mägden im 17. Jahrhundert, auch nicht im reichen und weltläufigen Amsterdam. Vielleicht sehen wir Helena am besten, wenn wir die wunderbaren kleinen Bilder, die Jan Vermeer von den niederländischen Frauen seiner Zeit gemalt hat, überlagern. „Genreszenen“ nennt man das, es ist eine kleinformatige Alltagsmalerei, bei der auffällig häufig Frauen im Zentrum stehen. Im Amsterdamer Rijksmuseum hängen Vermeers Frauengenres gar nicht weit entfernt von Rembrandts monumentalen Männerbildern; und während diese ganze Säle mit ihrer massiven Gegenwart füllen, hängen Vermeers Genres in Nischen. Aber sie leuchten genauso wie Rembrandts Brauns aus sich selbst heraus, nein, sei leuchten farbenfroher, natürlicher, stärker! Vermeers Milchmagd ist das Realste, was man sich überhaupt vorstellen kann: Ihr gelbes Kleid, ihre blaue Schürze sind ein Fest für die Augen, die Kammer geradezu durchflutet vom schlichten Licht und Milch und Brot die Essenz von Milch und Brot überhaupt. Besonders häufig hat Vermeer, und das führt uns wieder zu Helena, aber lesende Frauen gemalt. Sie sind meist in einem eher bürgerlichen Ambiente angesiedelt, aber wenn wir für einen Moment einen kleinen Sprung machen, in unserer Phantasie, und dem Milchmädchen die Briefe in die Hand drücken, die die Bürgersfrauen lesen: Dann haben wir Helena, die Magd, mit den „Worten in ihrer Hand“!

Denn Helena hat bei Glasfurd erkannt, dass kein Weg am Lesenlernen vorbeigeht. Sie schreibt die Worte, die sie sich mühsam angeeignet hat, auf ihre eigene Hand, mit Tinte, die sie selbst aus roter Beete gefertigt hat, ein mühsamer, aber methodisch verfolgter Erfindungsprozess: Denn Papier und Tinte sind teuer, nichts für Dienstmädchen, die sich selbst das Lesen beibringen und das Schreiben dazu, die in ihren wenigen Nebenstunden noch die Magd von nebenan unterrichten und die für ihre Tochter nur eines wollen: dass der Vater, dass Descartes ihr das Lesen beibringt! Denn wer die Worte hat, versteht die Welt, er kann sich über sie erheben, er kann die Dinge festhalten, er kann sie weitergeben, er kann Fernes näherbringen, er kann Wissen ausstreuen und mitteilen. Helenas eigentliches Medium aber, und das ist ein genialer Einfall von Glasfurd, ist die Zeichnung: Auch sie kann die Dinge festhalten, sogar besser als Descartes, der reichlich dilettantisch seine methodischen Versuche an Aalen und Maschinen dokumentiert. Das Zeichnen ist Helena natürlich, angeboren sozusagen; und als sie die wahrhaft revolutionäre Idee hat, ein Lesebuch für all die Frauen, die Lesen wollen und es nicht lernen dürfen zu verfassen, da erfindet sie ein ABC-Buch mit Zeichnungen dazu, für jeden Buchstaben einzeln (bis heute lernen die Kinder, dass das A beim Affen ist und das Z beim Zebra). Welch eine geniale Methode! Die erfindsame Helena findet sogar einen Verleger, aber der belehrt sie schnell, dass er das ABC-Buch nicht unter ihrem Namen verkaufen kann. Niemand würde ein Buch kaufen, das von einer Frau geschrieben wurde! Dann gibt er ihr eine lächerliche Summe Geldes und verlegt es selbst.

Doch Helena hat immerhin gelernt, dass frau – etwas schaffen kann, etwas Bleibendes. Frau kann auch Dinge erkennen, mühsam, systematisch: So entwickelt Helena aus einem sehr konkreten Problem heraus (wie schaffe ich es, nicht jedesmal schwanger zu werden, wenn ich mit Descartes schlafe?) durch präzise Beobachtung (wann bekomme ich diese seltsamen Blutungen, von denen ich nicht weiß, wo sie herkommen und was sie bedeuten, aber es gibt da eine gewisse Regelmäßigkeit!) eine Verhütungsmethode. Ach, Frau könnte noch viel mehr: Aber sie muss einkaufen, jeden Tag, das Mahl bereiten, die Böden schrubben, die Hemden waschen und die Gäste abwehren, wenn sie mal wieder zudringlich werden. Bei allem Talent und aller Erfindungsgabe bleibt man – die Dienstmagd des Herrn. Weshalb Helene in Glasfurds Geschichte Descartes nie anders als „der Monsieur“ nennt; Intimität ist das eine, Klassen- und Geschlechtsunterschiede das andere; und es ist unendlich lobenswert, dass Glasfurd Helena nicht zu einer Vorreiterin der Emanzipation macht, sondern nur zu einer starken Frau mit Grenzen!

Die Szene, in der Francine stirbt, in der das einzige wirklich gemeinsame Projekt des Monsieurs und der Dienstmagd stirbt, ist (wie so viele Szenen eines Kindertodes in der Literatur) kaum auszuhalten. Denn Francine stirbt nicht nur am Scharlach, einer damals meist tödlich endenden Infektionskrankheit, die man heute mit Antibiotika relativ zuverlässig heilen kann. Nein, sie stirbt auch an der Dummheit und Inkompetenz des behandelnden Arztes, der nichts Besseres weiß, als den schwachen Körper durch einen massiven Aderlass weiterhin zu schwächen; sie stirbt an einem abwesenden Vater, der das vielleicht hätte verhindern können mit all seinem Wissen und seiner Methode und seiner Klugheit. In einem (überlieferten, nicht erdachten) Brief wird er später schreiben, dass dieser Tod „der größte Schmerz seines Lebens“ war. Aber das sind am Ende auch nur Worte. Und vielleicht hätte er Francine auch nicht helfen können. Denn die Worte sind nicht allmächtig, wie Helena nun erkennt; im Angesicht des Todes hat all das Wissen, das der Monsieur so systematisch und hartnäckig angesammelt hat, nichts genützt. Und als sie das erkennt, geht sie hin und verbrennt die Worte, sie will sie nicht mehr sehen. Einzig das Bildnis von Francine, das sie selbst gezeichnet hat, überlebt. Descartes wird sie bald darauf an den anderen Mann verheiraten und verlassen; neun Jahre später stirbt er im fernen, kalten Schweden allein unter etwas mysteriösen Umständen. Das einzige, was wirklich überlebt hat, ist: seine Methode.

Wie müsste ein Bild aussehen, in dem Descartes und Helena zusammen zu sehen sind, mit der kleinen Francine am besten? Es wäre keines der steifen Ehestandsporträts, wie sie das Rijskmuseum zeigt (aber immerhin sind es Doppelporträts, immerhin!). Es wäre eine Art – monumentales Genrebild, ein intimes Interieur mit einer weiten Perspektive nach draußen, auf die Grachten, auf die Männerwelt des Handels und des Wissens. Es würde beide zeigen in ihrer Verschiedenheit, aber gleichberechtigt: ihn mit schalkhaften Augen und einem Buch in den schlanken Gelehrtenfingern, sie mit klarem Blick und einem Zeichenstift in den zupackenden, abgescheuerten Händen der Magd. Aber man könnte nicht erkennen, was in dem Buch steht oder was auf dem Blatt gezeichnet ist; niemals kann man bei Vermeer oder bei Rembrandt erkennen, was in den Büchern oder Briefen steht. Es sind die Augen, auf die es ankommt, und die Hände – nicht die Worte.   

Zuhause


Arkadien im Weltraum
Samantha Harveys Roman Umlaufbahnen

Siehst du manchmal des Nachts zum Himmel empor? Und da, da bewegt sich ein kleiner gelber Punkt, er leuchtet etwas heller als die meisten Sterne (du solltest eigentlich wenigstens ein paar Sternbilder kennen, aber meist findest du doch nur den Großen Wagen), und er bewegt sich. Er bewegt sich erstaunlich schnell, aber er ist kein Flugzeug; nein, du weißt (die App auf deinem Handy hat es dir verraten), es ist die ISS: die International Space Station auf ihrem Weg durch den Orbit. 16mal am Tag umkreist sie die Erde mit einer Geschwindigkeit von 28.000 km/h. Bei dem Gedanken wird dir ein wenig schwindlig; aber halte den Blick fest, folge noch einen Moment ihrer Bahn: Sie ist nicht ganz kreisförmig, wie alle Umlaufbahnen im niedrigen Orbit, sondern elliptisch. Und dann gehst du hinein, ins warme Wohnzimmer, und nimmst ein Buch zur Hand: Umlaufbahn heißt es, es ist ein Roman von Samatha Harvey, und er wurde gerade mit dem Booker-Preis ausgezeichnet. Leider ist die Doppeldeutigkeit des englischen Originaltitels Orbital nicht übersetzbar: Orbital ist sowohl die Umlaufbahn selbst als auch ein Adjektiv mit der Bedeutung „kreisförmig“; er meint also die Sache und die mit ihr verbundene Bewegung. Und während der Roman vier Astronauten und zwei Kosmonauten (das erste ist die westliche, und das zweite die russische Bezeichnung; und immer beide zu nennen, ist nicht nur sprachpolitische Korrektheit, sondern macht ein unterschiedliches Gefühl beim Lesen und Denken!) dabei beobachtet, wie sie die Erde beobachten, umkreist er in 16 Kapiteln die ISS, diese erste menschengemachte Raumstation, die vergänglich ist wie alles Menschengemachte (2031 wird sie im All abgewrackt). Und wer sich dabei dem Rhythmus der Sprache überlässt, gerät nach einiger Zeit selbst in ein zeitloses Kreisen, in dem die Gegensätze von unten und oben ebenso verschwinden wie die von vorher und nachher: „Ein neuer Tag, aber einer, an dem sie die Erde sechszehn Mal umkreisen. Sie werden sechszehn Sonnenaufgänge sehen und sechszehn Sonnenuntergänge, sechszehn Tage und sechszehn Nächte. Roman sucht am Geländer vor dem Fenster Halt, die Sterne der südlichen Hemisphäre verflüchtigen sich gerade. Ihr seid an die koordinierte Weltzeit gebunden, sagen ihnen die Crews am Boden. Ihr dürft keinen Zweifel daran aufkommen lassen, zu keiner Zeit. Blickt oft auf die Uhr, gebt eurem Verstand einen Anker, sagt euch beim Aufwachen vor: Dies ist der Morgen eines neuen Tages. Ein neuer Tag. Aber einer, der fünf Kontinente mit sich bringt, Herbst und Frühling, Gletscher und Wüsten, Wildnis und Kriegsgebiete“ – das ist die tägliche Perspektive der Figuren im Roman.

Kann man sich das überhaupt vorstellen, zuhause im heimischen Wohnzimmer auf dem Lesesessel? Dieser Zweifel hat auch die Autorin nach ihrem ersten Roman-Entwurf überfallen. Man hat sich Samantha Harvey als eine sehr private Person vorzustellen. Sie hat eigenen Aussagen zufolge kein Handy, keinen social media account, keine Homepage. Zu ihrer Person und zu ihrem Roman kreisen einige wenige, immergleiche Interview-Häppchen im Internet; starke Zitate, zweifellos, aber man wüsste gern mehr. Was man also wissen kann, ist: Samatha Harvey wird nächstes Jahr fünfzig Jahre alt werden. Sie ist geboren in Kent in Südostengland, studierte Philosophie und wurde danach Autorin und Bildhauerin. Heute unterrichtet sie kreatives Schreiben an einer Universität in Bath. Sie hat bisher fünf Romane geschrieben, alle extrem unterschiedlich; und diese Unterschiedlichkeit ist philosophisches Programm. Denn für Harvey ist Philosophie kein akademisches Fach und keine abstrakt-logische Disziplin, sondern eine Art Aufmerksamkeitsfokussierung; dazu ein besonders hübsches Häppchen: „Philosophie nimmt eine Idee und gibt ihr diejenige Aufmerksamkeit, die sie im täglichen Leben selten bekommt. Romane können das auch“. Deshalb wählt Harvey für ihre Romane gern unterschiedliche Welten; es ist ein Versuch, dadurch auch ein unterschiedliches Denken zu erzwingen. Was jedoch alle ihre Romane, bei aller Unterschiedlichkeit des settings eint, ist: ihre Fähigkeit, Prosa zum beinahe lyrischen Klingen zu bringen, eben: eine Umlaufbahn so zu simulieren, dass man mitfliegt und mitschwingt (als Vorbild nennt sie gern Virginia Woolf, und jede Woolf-Leserin versteht das).

Orbital nun hat eine sehr spezielle und etwas längere Entstehungsgeschichte. Sie hängt zum einen damit zusammen, dass das Einzige, was man von Harveys Privatleben erfährt, ist: dass sie längere Zeit, ein Jahr mindestens, an chronischer Schlaflosigkeit litt (dazu gibt es auch einen Text, The Shapeless Unease: A Year of Not Sleeping, dt. als: Das Jahr ohne Schlaf, 2020/2022). Und so schaute sie wohl, stellt man sich vor, in den langen schlaflosen Stunden des Nachts in den Himmel schaute; und sie sah einen gelben Punkt, der etwas heller strahlte und – siehe oben! Es gab aber auch die Möglichkeit, die Perspektive umzukehren: nämlich von dem gelben Punkt aus hinunter auf die Erde zu schauen, wie sie vorbeizieht, Kontinente und Ozeane, Wirbelstürme und Korallenriffe, 16mal an einem Tag – über den ISS Livestream nämlich. Und es sind (wie sich jede noch heute überzeugen kann, Link siehe unten) wunderbare, faszinierende, beinahe unwirkliche Bilder, und es sind unendlich viele von ihnen: Denn nichts ist Wandelbarer als die Erde von oben. Und so schaute Harvey, und sie begann zu schreiben, etwas, was sie später ein „space pastoral“ nennen würde (wir kommen darauf zurück); aber nach 5000 Wörtern gab sie auf. Es fühlte sich richtig an, da es nun einmal keine korrespondierende Erfahrung gab und auch niemals geben würde (im Unterschied zu ihren Figuren wollte Harvey niemals eine Astronautin werden). Aber dann kam COVID; und die Zeit begann sich wieder ins Endlose zu ziehen, und der Raum schrumpfte auf das eigene Wohnzimmer. Harvey nahm ihre 5000 Wörter wieder vor – und sie zogen sie so in ihren Bann, dass sie weiterschrieb. Sie informierte sich im Übrigen natürlich auch, wie jede ordentliche Autorin das tut, grundlegend über ihren Gegenstand – die ISS also und ihre temporären Bewohner. Was ziemlich gut möglich ist, weil die ISS eben ein ziemlich öffentliches Unternehmen ist, aufgearbeitet und präsentiert bis in alle Details für Schulklassen ebenso wie für die Spezialforschung aller beteiligten Disziplinen; sogar die Astronauten-Tagebücher sind öffentlich zugänglich, und Harvey zog all das zu Rate. Gerade bei den Aufzeichnungen der Astronauten (und Kosmonauten) jedoch fehlte ihr etwas, das sie als eine Art „metaphysische Lücke, eine magische Erfahrung“ beschreibt – und das nun der Roman, das space pastoral, hinzufügen soll.

Was jedoch ist diese magische, dieses metaphysische Element? Dazu verlassen wir einen Moment die engere Umlaufbahn und machen einen Umweg über einen kleineren, nur noch sehr verhalten leuchtenden Stern: das pastoral nämlich, zu Deutsch: die Schäferdichtung. Ein Genre mit ehrwürdiger Abstammung aus der Antike, als es noch tatsächlich Schäfer und Hirten gab, sie lebten vielleicht sogar im realen Arkadien. Aber der Schäfer-Dichtung ging es nicht so sehr um literarischen Realismus (was überhaupt eine sehr späte Erfindung in der Literaturgeschichte ist); nein, die Schäferdichtung zeigt ein idyllisches Land, das es nie gegeben hat, aber in dem alles gut war – friedliche, schöne, nimmer alternde Menschen lebten in unberührter, maßvoller Natur – murmelnde Bächlein, satte Wiesen, höchstens hügelige Berge – in völliger Harmonie mit derselben. Und wenn sie nicht die wolligen Schäflein hüteten oder mit der schönen Schäferin flirteten (was schon ziemlich viel Zeit in Anspruch nahm), bliesen sie auf der Hirtenflöte einfache, aber harmonisch-schöne Hirtenlieder. Kunst, Natur, Leben und Liebe – alles in perfekter Einheit miteinander, die Tage verflossen kaum spürbar ineinander, kreisten in einer einfachen Umlaufbahn um sehr begrenzte Räume, und gefühlt war immer Frühling. Darüber kann man sich leicht lustig machen, und spätestens seit der Renaissance gab es zur Schäferdichtung auch immer die Satire. Aber Arkadien, wenn wir dem Komplex einmal seinen gängigen Markennamen geben, ist ein zeitloses Menschheitsideal: Es umfasst den Glauben daran, dass alles einmal perfekt war, einen einfachen Sinn hatte und vollendete Schönheit; und die Hoffnung darauf, dass dies vielleicht einmal wieder möglich sein wird. Vielleicht sogar – auf einer Umlaufbahn im Weltall?

Denn das ist die Idee und die erklärte Absicht von Samantha Harvey gewesen: die „Mutter Erde“, als die alle Astronauten (und Kosmonauten) sie irgendwann empfinden, zu zeigen; zu zeigen, dass sie nur ein winziger, unbedeutender Stern im unvorstellbaren Weltall ist, aber unsere einzige Heimat, und dazu von einer nur aus dem All, aus der anderen Perspektive sichtbaren unendlichen Schönheit und Rührungskraft. „Amazement“ nennt Harvey das Gefühl, das sie vermitteln will: Was gleichzeitig die Entzückung, das Hingerissensein, aber auch die Verwunderung und den Schrecken meinen kann – alles genuin ästhetische Empfindungen. Und um die Erde so zu zeigen, muss man sie beschreiben, wie sie vorbeizieht; muss die Namen nennen der Länder und Städte, muss die Linien nachzeichnen, die nicht Grenzen sind, sondern Flüsse und Bergkämme, muss die Flächen ermessen in ihrer Unermesslichkeit und die Wolken, wie sie Muster bilden und Schatten werfen, und muss dem Weg des Super-Taifuns folgen, wie er die flachen Inseln überschwemmt. Es sind Bilder, die man mit Augen nur sehen kann, wenn man auf die Erde als Kugel schaut; im Schul-Atlas bekommt man immer nur zweidimensionale Ausschnitte, die dominanten Linien sind künstliche Ländergrenzen, und im Mittelpunkt ist: Europa.

Der Effekt jedoch, der sich einstellt, wenn man die blaue Murmel vom Weltall aus sieht, ist so durchgehend dokumentiert, dass er sogar einen Namen hat: Overview Effect (immerhin hatte Kant schon eine Vorform, als er zwei Dinge benannten, die ihn mit Ehrfurcht erfüllten: das moralische Gesetz in ihm und der bestirnte Himmel über ihm). Und er evoziert offenbar geradezu zwingend die Erkenntnis: Die Erde ist nur eine, egal, wie viele Länder wir auf ihr unterteilt haben. Sie ist alles, was wir haben. Sie ist selbst ein lebendiges Wesen und unsere Mutter, und wir sind als Kinder und Kreaturen unmittelbar mit ihr verbunden und haben eine Verantwortung ihr gegenüber. So einfach ist das.

Wenn es das nur wäre! Aber immerhin gelingt es Harvey, diesen Effekt in schwacher Form beim Lesen zu erzeugen. Man gerät ein wenig ins Schwärmen, während man innerlich die Bilder aufbaut, die der Roman evoziert, man möchte gleich zum Bildschirm laufen, um den Live Stream selbst zu sehen, oder zum Himmel schauen, wo steht die ISS gerade, bewegt sie sich noch immer so unvorstellbar schnell? (sie muss es, sie würde sonst abstürzen) Aber Harveys Astronauten (und Kosmonauten) machen noch eine weitere Erfahrung, die der Roman zwar ebenfalls in Maßen simulieren kann, aber die noch schwerer vorstellbar ist, weil sie nicht bildlich ist, sondern emotional. Denn die sechs Personen, vier Männer, zwei Frauen, aus unterschiedlichen Nationen (und gerade jetzt erscheint es einem als kein kleines Wunder, dass russische und amerikanische Astro- und Kosmonauten hier zusammenarbeiten und zusammenleben, Tag für Tag), die nach langjährigen Vorbereitungen und harten Trainings neun Monate auf der ISS verbringen, wachsen dabei zusammen zu einer Art – nicht nur Familie, das wäre wieder zu trivial; sondern zu einer Art gemeinsam empfindendem Organismus zusammen. Wenn die Metapher nicht zu abgenutzt wäre, würde man sagen, durchaus auch im technisch-mechanischen Geist der Raumstation: Sie werden zusammengeschweißt. „Zu irgendeinem Zeitpunkt während ihres Aufenthalts im Orbit setzt bei ihnen allen ein starkes Verlangen ein – das Verlangen für immer dort zu bleiben. Aus dem Nichts überfällt sie das Glück. Sie finden es überall, dieses Glück, völlig nichtssagende Dinge und Orte lösen es aus – das Deck für Experimente, die Tüten mit Risotto und Hühncheneintopf, die Paneele mit Bildschirmen, Schaltern und Belüftungen oder auch ihr Gefängnis aus Titanium-, Kevlar- und Stahlröhren – selbst die Böden, die zugleich Wände sind, und die Wände, die auch Decken, und die Decken, die auch Böden sind. … Alles, was davon zeugt, dass sie im Weltraum sind – wirklich alles -, kann diese Glücksanfälle auslösen“. So lässt Harvey ihre Figuren empfinden, alle gemeinsam und jeden für sich.

Und das ist wohl, über den overview effect hinaus, die metaphysische Lücke, die magische Erfahrung, die der Roman vermitteln will: In einer Situation, die einerseits absolut singulär und maximal herausgehoben aus der irdischen Alltäglichkeit ist – und andererseits extrem durchreguliert ist und voller alltäglicher Trivialitäten, schweben die Figuren in einem Raum ohne Orientierung, ohne „Anker für den Verstand“; und ihre Individualität, ihre beträchtlichen persönlichen Unterschiede in Herkunft und Lebensgeschichte, all das löst sich gelegentlich auf in einem unmittelbareren Erleben, das sie tiefer verbindet, als Familienbande es könnten. Das ist Glück. Und man will Arkadien nie mehr verlassen, wenn man es einmal gefunden hat (und sei es beim Anblick von Hühnersuppe).
Muss man jedoch – und das wäre ja immerhin ein kleiner Hoffnungsschimmer für eine durch das All dahintriftende und gelegentlich eher besinnungslos torkelnde Menschheit –, muss man dafür den Planeten verlassen, was ja doch die wenigstens von uns wirklich wollen? Oder wäre es nicht möglich, dass man sich, durch eine mentale Anstrengung wie das Lesen eines space pastorals beispielsweise, klar macht, dass wir diesen einen blauen Planeten haben, der uns das Leben gegeben hat und es uns auch wieder nehmen wird, aber: der unsere Mutter ist, unsere winzige blaue Heimat in der Unermesslichkeit des Universums? Sollten wir uns auf ihm nicht genauso fühlen, wie sechs beliebig ausgewählte Personen auf der ISS, nämlich: zusammengepresst in einer winzigen Heimat auf Zeit in der Unermesslichkeit des Universums? Und dadurch verbunden zu einer Gemeinschaft aus sehr vielen, sehr unterschiedlichen Individuen, die aber zumindest ein Gefühl teilen sollten: das der Ehrfurcht, der Verwunderung, des Hingerissenheit und des Schreckens angesichts der Unwahrscheinlichkeit wie Schönheit des Lebens?

Na gut, das ist viel verlangt für einen kleinen Roman. Aber es ist eine kleine Gerechtigkeit in dieser irdischen Welt der Ungerechtigkeiten, dass Samantha Harvey einen Booker Prize für Orbital bekommen hat. Und jede, die gelegentlich gern zum Himmel aufschaut und dabei einen Abglanz von amazement verspüren zu meint, sollte ihn lesen (vor allem aber: all diejenigen, die das noch nie getan haben!)


Samatha Harvey: Umlaufbahnen (Orbital). Aus dem Englischen von Julia Wolf. Dtv 2024

Zuhause


Kometenbahnen und Anziehungskräfte: die Physik der Liebe

Zu Sarah Perrys Roman Enlightenment


Natürlich muss man ein Buch mit dem vielversprechenden Titel Enlightenment kaufen – Aufklärung, die große heroische Epoche der europäischen Menschheit; Aufklärung, die Zentralmetapher des Denkens überhaupt, des Wissenswollen, der ewigen Neugier; Aufklärung, das wunderbare Gefühl des sich lichtenden Himmels, wenn die Sonne hervortritt! Der Roman mit diesem Titel aber – entpuppte sich bei der Lektüre beinahe als das Gegenteil von all dem, bei der ersten Lektüre jedenfalls. Die Sonne war wenig zu sehen; in Aldleigh in der ostenglischen Grafschaft Essex, dem fiktiven Kosmos der Handlung, scheint es ständig zu regnen, und der Roman beginnt mit dem lakonischen Anfangssatz: „Monday. Late winter, bad weather“. Die Hauptfigur, der Journalist und Autor Thomas Hart, entdeckt im Verlauf des Romans auch nicht die Sonne, sondern den Nachthimmel. Zuerst schaut er nur auf Anweisung seines Arbeitgebers und mehr oder weniger aus Langeweile mit einem geschenkten Teleskop den Mond an – und dann verliebt er sich, in die Städte auf den Mond, in die Sterne, und vor allem: in die wiederkehrenden Kometen auf ihren elliptischen Bahnen um die Sonne! Und schließlich geht es zwar auch um Physik, aber genauso viel um Religion in diesem Roman: Eines seiner Gravitationszentren ist Bethesda (aramäisch für „Haus der Gnade“), eine Gemeinde der strikteren baptistischen Observanz, in der Grace Macaulay, die zweite Hauptfigur, aufwächst. Und als Thomas Hart das „wretched child“ Grace, ein erbärmliches mutterlose Wesen kurz nach seiner Geburt das erste Mal in Bethesda (aramäisch für: Haus der Gnade) erblickt: Nimmt er es an, als Gnade (grace) mit Geist, Herz und Hand. Als Doppelsterne umkreisen sich Thomas und Grace fortan in diesem Roman; ein Paar, wie es unterschiedlicher kaum sein könnte – Mann und Frau, Jung und Alt, Weltlich und Religiös, Homo- und Heterosexuell, Groß und Klein, Konventionell und Unkonventionell, man könnte die Dualismen immer weiter durchdeklinieren. Und doch: Sind beide aneinander gebunden, mit Knoten (die Metapher kommt vor, es ist eine der interessantesten Episoden des an wunderbaren Episoden reichen Romans), die tiefer und fester reichen als die von Familie, Verwandtschaft oder sogar Liebe. Denn das, was sie aneinander fesselt, ist die reine Anziehungskraft zwischen zwei menschlichen Wesen mit stark ausgeprägter Persönlichkeit und einer geradezu sonnenhaften Einsamkeit, die in ihrer Art und ihrem Leben so wesensverwandt sind, wie sich nur extreme Gegensätze verwandt sein können.

Zu kompliziert, zu viele astronomische Metaphern? Ach, es ist so langweilig und so unwichtig, Handlung nachzuerzählen für einen Roman, in dem es nicht um menschliche Handlungen geht (jedenfalls nicht primär), sondern um den Wandel von Planeten und Menschen; um die unverstandenen, aber: desto wirksameren Anziehungs- und Abstoßungskräfte zwischen Menschen, gezeigt am Beispiel der Liebe; und um, wenn man es mehr philosophisch-abstrakt sagen will: das Äquivalenzverhältnis von Physik und Religion im Blick auf ihre Funktion für den Menschen und die Stellung des Menschen in der Welt. Enlightenment nämlich, Aufklärung: ermöglichen beide, sie ermöglichen es sogar gleichzeitig für die gleiche Person. Sie schließen sich nicht aus, nein; sie sind die beiden Brennpunkte innerhalb der Ellipse, deren Mittelpunkt der Mensch bildet. Und mal ist man näher an dem einen, und mal ist man näher an dem anderen; Erleuchtung, Aufklärung, das sind nur zwei Begriffe für die gleiche Erfahrung, und beide sind: Formen des Nicht-Sicher-Wissens. Denn am Ende kommt es nicht auf Wissen oder Sicherheit an; worauf es ankommt, ist – aber das wäre jetzt ein Spoiler. Oder doch nicht? Na gut, verraten wir die letzte Zeile. Sie lautet: You are her. You are here. You are here.

Aber, um sich nun doch ein wenig von der verführerischen Himmels-Metaphorik wegzubewegen und mehr irdischen Dingen zu kommen: Die Autorin heißt Sarah Perry, sie hat schon einige öffentliche Anerkennung bekommen, das kann jede selbst nachlesen. Enlightenment ist ihr vierter Roman; und er enthält wahrscheinlich die meisten autobiographischen Elemente, vor allem: ihre eigene Kindheit und Jugend in einer Baptistengemeinde in Essex, fern von den Freuden und Gefährdungen der „normalen“ Altersgenossinnen. Sie selbst hat in Interviews immer wieder hervorgehoben, dass die familiäre und kulturelle Restriktion ihrer Lektüre auf die King-James-Bibel und Shakespeare einen wesentlichen Einfluss auf ihren Stil bis heute ausübt; und selbst als nicht-muttersprachliche Leserin kann man die Lakonik der Formulierungen, das Schwergewichtige einzelner Worte und Sätze mitspüren und genießen: eine Sprache ohne Selbstzweifel, sozusagen, die sich selbst vertraut und die immer sagt, was sie meint (sogar in den gelegentlichen ironischen Passagen; das geht!). Und Sarah Perry hat auch gesagt, dass sie sich nicht traumatisiert fühlt durch die Einschränkungen ihrer Jugend; nein, gerade die Geschlossenheit des familiären und religiösen Kosmos sei immer auch eine Quelle von Geborgenheit und Vertrauen gewesen – ein Gefühl, das auch die Figuren des Romans überkommt, wenn sie die äußerlich schmucklose Fassade von Bethesda sehen; daneben liegt das verwahrloste Potter’s Field, in dem die Dohlen gottlos krächzen, und jenseits davon das alte Herrenhaus, in dem es spukt und die Vergangenheit für immer lebendig geblieben ist. Alle Kraftzentren des Romans, bis hin zum Eisenbahn-Viadukt, unter der Thomas Hart lebt, sind die von Perrys eigener Jugend in Chelmsford. Und eines der Leitmotive des Romans ist einem alten Kirchenlied entnommen, das sie sicherlich oft genug mitgesungen hat in der Gemeinde: It is well, it is well with my soul – das ist das Versprechen von Bethesda, dem alle Versuchungen des örtlichen Pubs oder gar des Sündenbabels London nichts anhaben können, nicht einmal, wenn die Seele wirklich leidet.

Das ist der geographische Raum des Romans, er ist begrenzt, aber das macht nichts: Denn der Roman greift ja auf einer anderen Ebene weit aus in die Welt der Sterne. Er zitiert sogar physikalische Gesetze, die Thomas Hart selbst als Anfänger studiert und seinen Lesern in der Lokalzeitung in altmodischen Kolumnen zu erklären versucht (und die Perry selbst in der Zeit der Roman-Niederschrift studierte und auch mathematisch nachvollziehen zu versuchte). Wenn man selbst ein mathematischer und physikalischer Novize ist – worauf man im Übrigen nicht stolz sein sollte –, kann man sich aber auch auf die Liebeshandlung konzentrieren. Denn die gibt es auch, sie ist sozusagen der weltliche Brennpunkt der Ellipse; beide Hauptfiguren sind große und unglücklich Liebende. Thomas Hart also zum Ersten, ein eingefleischter Junggeselle, geschmackvoller und gebildeter homosexueller Mann mittleren Alters, der seine leiblichen Bedürfnisse und seinen stark ausgeprägten Schönheitssinn diskret in London befriedigt, bevor er nach Aldsleigh zurückkehrt und in Bethesda Hymnen singt; der seine altmodischen Kolumnen über die Physik des Universums und ihre Beziehung zum Menschen schreibt und daneben Romane; Thomas Hart verliebt sich in James, den ansehnlichen Leiter des örtlichen Museums. James wird sein Bundesgenosse bei der Jagd auf die rätselhafte Maria Vaduva, den Geist des lokalen Herrenhauses; aber leider, leider ist James glücklich verheiratet mit der liebreichen Emily. Und er lässt sich eine Zeitlang anziehen von der Schwerkraft, die Thomas auf alle ausübt, die ihn umgeben, aber er bleibt ein schwacher Komet auf eigener Bahn –der zwar wieder auftaucht, aber sich dann in Sternennebel auflöst, so wie es alle Kometen früher oder später tun.

Grace hingegen, das wretched child, verliebt sich in Nathan, der Pop-Musik hört, eine alte Lederjacke trägt, ihr das Rauchen beibringt und sich um niemand schert. Aber auch Nathan ist nur ein Komet, wenn auch ein heller leuchtender als James; er nähert sich Grace an, und dann verschwindet er wieder, lange Jahre, bevor ihn seine eigene Bahn wieder in ihre Nähe bringt und die magische alte Anziehungskraft erneut auf ihn zu wirken beginnt. Daneben und dazwischen verlaufen die Bahnen der anderen Figuren, von denen jede einzelne, sogar die unsympathischen, geradezu biblisch-monumental wirken in ihrer Bestimmtheit. Und neben den Lebenden wirken gleichberechtigt die Toten, Maria Vaduva ist definitiv ein eigener Stern. Tiere sind eingewoben, die Dohlen aus Potter’s Field und verschwindende Katzen; Bäume erzählen ihre Geschichten, Kleider gewinnen ein Leben aus ihren Trägern, und Haare werden geschnitten, wachsen nach und dünnen aus – Komet, das ist der Haarschweif im Griechischen. Aber das, was sie alle zusammenhält und auseinandertreibt, was sie anzieht und abstößt, das ist: die Liebe; nicht verstanden als unbeherrschbarer eros (obwohl Sexualität eine wichtige Rolle dabei spielt, wenn auch glücklicherweise nicht besonders explizit), nicht verstanden als romantische Schwärmerei, sondern: als Himmelsmacht in einem wörtlichen Sinne. Als Anziehung zweier Körper wie Geister, unter den Gesetzen der Schwerkraft und der ewigen Bewegung. Niemand kann sich in diesem Roman aussuchen, in wen oder wann er sich verliebt; nein, Liebe stößt einem zu, im ersten Moment der Begegnung, und man kann versuchen, vor ihr zu fliehen, aber sie holt einen, nach ewigen Gesetzen, wieder ein im Lauf ihrer elliptischen Bahnen. Und man kann auch versuchen, sie zu jagen, aber sie wird sich trotzdem entfernen, periodisch, immer wieder. Man kann sogar gleichzeitig hassen und lieben, das ist eine wesentliche Lektion, für Thomas wie für Grace; gleichzeitig, darauf kommt es an (nacheinander wäre trivial)!

Aber es liegt in der Natur des Universums, dass Liebe niemals ein Austausch unter Gleichen ist. Dafür zitiert Perry (es gibt noch viel mehr Zitate im Roman, aber wie in allen guten Büchern kann man das Wesentliche auch unabhängig davon verstehen) ein bekanntes Gedicht von W.H. Auden bzw. seine bekannteste Zeile: If equal affection cannot be, / Let the more loving one be me. Das Gedicht verdient, zur Gänze gekannt zu werden (und es ist eine besondere Freude, es zu übersetzen; wie immer, ist das Ergebnis dann unbefriedigend, aber einzelne Verse immerhin können einem persönlich fast gelungen vorkommen; das ist gut genug! Originaltext+Ergebnis siehe unten). Diese Lektion ist ziemlich schwer, weil man sich intuitiv gegen sie wehren möchte; aber, nun ja, mit einiger Lebenserfahrung: Ist der Vordersatz erst einmal richtig. Einer liebt immer mehr als die andere. Aber der Nachsatz, der Nachsatz! Da muss sich jede prüfen, und das nicht nur theoretisch. Denn der mehr Liebende scheint der Stärkere zu sein; aber er fühlt sich selbst als der Schwächere, und natürlich ist er gleichzeitig auch derjenige, der mehr leidet. Wer diesen Roman mit ganzem Herzen liest; und dabei Thomas Hart ein wenig in selbiges schließt, seiner Stärke und Schwachheit wegen; und dann mit ihm warten muss, ob der Komet wiederkommt oder nicht, und er wartet und wartet, und er schreibt Emails an eine Adresse, die nicht mehr abgerufen wird, und am Ende – nein, kein Spoiler. Oder doch, einfach nur, um diesen Satz zitieren zu können: „But I wont’t have you think my heart was broken because it was a man I loved. My heart was broken because I was alive”. Und vielleicht kann man es sich ja auch gar nicht aussuchen, ob man der mehr Liebende ist oder der Geliebte?

Denn das macht den Roman zu einer in gewissem Sinne unversöhnlichen Lektüre: Er stößt viele moderne Selbstverständlichkeiten vor den Kopf. Die Autorin hat zugegeben, dass sie das sogar recht gern tut: „There’s a mischief in me when I write, and I really like provoking and surprising readers and ideally winding them up” (Wenn ich schreibe, steckt ein Schalk in mir, und ich genieße es, die Leser zu überraschen, zu provozieren oder sie sogar aufzuziehen), hat sie in einem Interview mit dem Observer gesagt. Das tut sie so gekonnt, dass man sogar ins Zweifel gerät, ob an dem ganzen Hype um creative writing – was sie studiert hat und inzwischen universitär unterrichtet – doch etwas dran sein könnte? Aber sie könnte auch einfach eine geborene Autorin sein (und wahrscheinlich ist beides richtig und wichtig). So wie Thomas Hart, der schreiben muss, obwohl es ihn nicht glücklich macht. Aber auch Grace hat eine besondere Begabung: Sie restauriert alte Kleider und Stoffe und schafft darauf neue, verrückte, verwegene Kreationen, in denen die Zeiten übereinander gelagert und gleichzeitig anwesend sind wie in einem Palimpsest (ja, auch das ist ein schwaches Leitmotiv im Buch). Der Roman präsentiert nämlich auch eine avancierte physikalische Theorie der Zeit; sie ist kompliziert zu verstehen. Aber es wäre recht schön, sie zu verstehen – das macht Arbeit, und das ist ziemlich schwierig, aber es wäre eigentlich gut und richtig das zu tun.

Für physikalische und mathematische Novizen hingegen – kann man auch einfach den Roman lesen und die darin gebannten räumlichen, zeitlichen und menschlichen Kräfte auf sich wirken lassen. Gern auch zweimal, das ist sowieso immer eine gute Idee. Und wenn sie wirken, wenn man angezogen wird und wieder abgestoßen, wenn man Fülle erfährt und Entzug, und wenn man von nun an immer warten wird auf den nächsten Kometen – hat man etwas gelernt über das Wesen des Universums, der Literatur und der Liebe. Was kann man mehr von einem Roman erwarten?

Sarah Perry, Enlightenment. Mariner Books 2024 (eine deutsche Übersetzung liegt noch nicht vor).


W.H. Auden: The More Loving One


Looking up at the stars, I know quite well
That, for all they care, I can go to hell,
But on earth indifference is the least
We have to dread from man or beast.

How should we like it were stars to burn
With a passion for us we could not return?
If equal affection cannot be,
Let the more loving one be me.

Admirer as I think I am
Of stars that do not give a damn,
I cannot, now I see them, say
I missed one terribly all day.

Were all stars to disappear or die,
I should learn to look at an empty sky
And feel its total dark sublime,
Though this might take me a little time.


Der Liebendere

Schau ich zu den Sternen hinauf, kann ich gut verstehen:
Ginge es nach ihnen, so mag ich zur Hölle gehen!
Aber Gleichgültigkeit ist das Geringste auf Erden hier
was wir zu fürchten haben, ob von Mensch oder Tier.

Wie würde es uns denn gefallen, gäbe es Sterne, entbrannt
mit einem Feuer für uns, das niemand erwidern kann?
Wenn es also gleiche Anziehung nicht gibt:
Lass mich denjenigen sein, der mehr liebt!

Und obwohl ich die Sterne bewundere und dazu stehe,
denen das im Übrigen vollständig egal ist,
kann ich nicht sagen, wenn ich sie aufgehen sehe:
Ich habe dich den ganzen Tag lang schrecklich vermisst!

Wenn alle Sterne sterben würden oder verschwinden,
so würde ich wohl lernen, in einen leeren Himmel zu blicken
und würde seine totale Finsternis überwältigend finden,
auch wenn es ein wenig dauern würde, mich darein zu schicken. 

Zuhause