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Schreib-Büro

  • Erste Sätze, oder: Sisyphos als Autor 
  • Mit Anlauf. Ein Widerspruch
  • Ich wollte wie Orpheus singen - oder doch lieber nicht?



Erste Sätze, oder: Sisyphos als Autor

Am Anfang muss man über den Berg. Er türmt sich vor einem auf, imponierend, angsteinflößend, abschreckend: Hat man die richtige Ausrüstung? Wird man sich nicht übernehmen? Und wo sind all die hilfreichen Sherpas, wenn man sie einmal braucht? Sollte man nicht vielleicht – ach, doch erst einmal etwas anderes machen? Noch ein wenig trainieren, zuhause, an der Kletterwand, wo es nicht so gefährlich ist und niemand zuschaut? Vielleicht sollte man auch mehr in die Ausrüstung investieren, es soll da neue Programme und Geräte geben! Aber auf einmal hat man eine Idee. Sie schießt einem unaufgefordert durch den Kopf, so wie die richtig guten Ideen das tun, nämlich: unüberhörbar, präzise, zielsicher (manchmal tut es sogar ein wenig weh, man merkt es aber nicht gleich, weil die Euphorie den Schmerz übertönt). Und plötzlich weiß man, wo man startet, man kann es gar nicht erwarten, endlich loszulegen, und man ist sich sicher: Wenn man den ersten Schritt gemacht hat, wird sich der restliche Weg von allein ergeben!

So ist das mit dem Schreiben. Die meisten Schreibblockaden bestehen darin, dass man den ersten Satz noch nicht gefunden hat, und sie lösen sich – na gut: wenn man Glück hat, wenn die Stimmung stimmt und die Götter gnädig sind – mit dessen Niederschrift in Luft auf, und beschwingten Schrittes eilt die Feder dahin, befreit klackern die Tasten, und die Sätze bahnen sich ihren eigensinnigen Weg. Denn Aristoteles‘ Diktum, dass ein ordentliches Ganzes immer einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat, ist so trivial wie wahr. Ein guter Text, der ein Ganzes ist (das ist übrigens die nicht thematisierte Voraussetzung dieser Lehre vom Kunst- und Erzählwerk, und wer das nicht glaubt – nun ja, der gehe weiter mit seinem Leben spielen und sammle hinterher die Teile auf, es gibt aber kein Schmerzensgeld für intellektuelle Hybris) hat nicht nur metaphorisch gesprochen Hand und Fuß; er hat, wörtlich genommen, einen Körper, einen Geist (vielleicht sogar eine Seele?), er hat Glieder und Organe, er ist, so wie man das im 18. Jahrhundert nannte: ‚organisiert‘ – die Teile stehen im Dienst des Ganzen, das Ganze ermöglicht aber auch die Existenz der Teile, und Organisation ist derjenige Prozess, der Leben und Wachstum ausmacht, erhält, verändert. Es ist jedoch durchaus nicht nötig, dass Hand und Fuß immer an der gleichen Stelle sind oder dass es von beiden jeweils nur zwei geben muss. Kunstwerke sind, das ist ihr Vorteil, freier als die Evolution, die sich mit ihren neuen Produkten ständig der überlästigen Evaluation durch die Wirklichkeit unterziehen muss. Texte hingegen können Organisationsformen erproben, ob der Kopf oben oder unten ist, ist nur eine Frage der Perspektive, und wer dem Leser siebzehn Hände entgegenstrecken kann anstelle von zweien, wird umso willkommener sein; Hauptsache, es ist eine Ganzheit, es muss nicht notwendig in menschlicher Form sein.
Es kommt jedoch, wie bei jedem Leben, vor allem auf den Anfang an. Der Anfang bestimmt den Lauf des Ganzen; er setzt eine Richtung, einen Ton, er macht Voraussetzungen aus dem Nichts heraus, er ist der eigentliche Geburtsvorgang, und keiner weiß vorher, ob der Embryo mit den Füssen oder mit dem Kopf zuerst hinausgleitet. Danach aber wird er seine Stimme erheben, und es wird seine ganz eigene sein. 

Wohl deshalb sind viele Romane für ihre ersten Sätze berühmt. „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich“ – Tolstoi, Anna Karenina, und das Buch wäre deutlich kürzer geworden, wenn Tolstoi darin die Geschichte einer glücklichen Familie erzählt hätte. So aber sehen wir bei dem ersten Blick ins Buch: eine kleine Weisheit, überraschend verpackt, viele Verwicklungen versprechend (denn schließlich wissen wir selbst, dass es so ist, aber wir hätten es niemals so sagen können!). „Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet“ – Kafka, Der Prozess, und wer vorher noch keine Anlage zum Verfolgungswahn hatte, wird ihn nach diesem ersten Satz zuverlässig entwickeln; er wird der Logik des worst case verfallen, und er wird am Ende mit Josef K. sterben, ohne jemals zu wissen, dass er – überhaupt nichts Böses getan hatte! Kafka hat, das ist überliefert, gelegentlich über seine eigenen Geschichten gelacht, und er hatte allen Grund dazu, vor allem über deren Leser. „Wie froh bin ich, dass ich weg bin!“; nicht Hape Kerkeling, sondern Goethes Werther, und schon sind wir mitten in einer verfahrenen Lebenssituation, wie wir sie alle kennen, und eigentlich wissen wir auch schon den Schluss: Werther ist am Ende, tatsächlich und für immer, weg. Das verbindet ihn übrigens mit Anna Karenina (die sich zwischen einen Zug wirft, ja, zwischen) und Josef K., der sich mehr als willig zur Schlachtbank führen lässt; und es zeigt, dass Enden natürlich auch wichtig sind, es müssen aber gar keine guten sein, und beim richtigen Lesen kann man vor allem eins lernen: sterben (jedes Leben hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende). Zwischen bedeutsamem Anfang und unvermeidlichem Ende liegt der berühmte Mittelteil, liegen die Mühen der Ebene, in denen sich der Autor verschleißt; aber über ihm leuchtet der gute Stern des Anfangs und weist ihm einen Weg, an dem sich Hand und Fuß und alle wichtigen Organe (und vielleicht gar noch ein Blinddarm dazu?) finden werden.

Man hat sich den Autor demnach als einen glücklichen Sisyphos vorzustellen. Er steht vor dem riesigen Berg, jeden Tag wieder, und er verflucht sein Schicksal. Doch eines Tages beschließt er, die Aufgabe freiwillig auf sich zu nehmen, denn auf einmal hat er einen gangbaren Weg gefunden: Er führt sanft über die Außenflanke und dann nur noch über einen ausgesetzten Grat hin zum Gipfel. Natürlich weiß er das Ende schon, am Ende wird, wie immer, der verdammte Stein wieder hinunterrollen. Was hatte er eigentlich Böses getan, um das zu verdienen? Irgendjemand musste ihn verleumdet haben! Natürlich, er hatte früher, bevor er ein Autor wurde, dann und wann den Tod überlistet, und der Tod war jemand, mit dem man sich besser nicht anlegte; auch mit dem Göttervater stand er nicht auf dem besten Fuß. Aber ihn deshalb gleich den verschlagensten aller Menschen zu nennen? Aber nun, was sollte man machen; die Götter hatten schon ganz andere Strafen verhängt, er dachte ein wenig melancholisch an Prometheus, an seinen Felsen geschmiedet, und jeden Tag kam dieser verdammte Geier und pickte ihm ein wenig an der Leber – nein, dann doch lieber seinen Stein, dabei blieb man wenigstens in Bewegung! Alle glücklichen Helden gleichen einander, dachte Sisyphos, und alle unglücklichen sind auf ihre Art unglücklich. Er hatte inzwischen schon den Stein ein ganzes Stück hinaufgebracht, über die Flanke war er schon hinweg. Und so schob er weiter und knirschte mit den Zähnen und der Schweiß floss in Strömen. Aber schließlich war auch der Grat überstanden, er war er oben und schaute hinab auf die sich auf der Rückseite des Berges erstreckende Hochebene, viele Wege führten über sie, er konnte fruchtbare Täler erkennen und tiefe Seen. Und gerade, als der Stein von sich aus wieder zu ruckeln begann und ein wenig schon in Richtung Abgrund rollte, gab ihm Sisyphos einen Stoß in die entgegengesetzte Richtung, schrie: „Wie froh bin ich, dass ich weg bin“ und stürzte sich dem Stein hinterher.



Mit Anlauf. Ein Widerspruch


Im Sport weiß man, wie wichtig der Anlauf ist. Wer gut oder weit oder hoch springen will, muss einen ordentlichen Anlauf nehmen; aus dem Stand kann man nur – hüpfen. Als Kind habe ich ein wenig geturnt, das Talent hat nicht ganz zum Leistungssport gereicht, aber immerhin zu einigen kleineren Wettbewerben in der Mittelklasse (was ich gelegentlich geneigt bin, als eine Metapher für mein gesamtes Leben zu betrachten, aber das ist eine andere Geschichte). ‚Sprung‘ war sogar meine beste Disziplin: Also mordsmäßig Anlauf nehmen und dann von einem kleinen Sprungbrett aus in einem hohen Bogen über, sagen wir: einen längs aufgestellten Kasten fliegen; und je weiter das Sprungbrett weggelegt werden konnte vom Kasten, desto höher und schöner flog man, stützte sich nur im Vorbeiflug sozusagen auf dem braunen, abgewetzten Leder ab und landete auf der anderen Seite (landen konnte ich nicht so gut, was wiederum – nein, andere Geschichte). Was würde ich heute dafür geben, einmal noch einen solchen Sprung, einen weiten Flug über den doch recht abschreckend hohen und langen Kasten zu tun – näher kann man dem Fliegen kaum kommen, aus eigener Kraft! Damals aber dachte ich nicht nach, ich nahm Anlauf und sprang und flog.

Irgendwann aber tauchte ein seltsames Problem auf, und wahrscheinlich war das das erste Anzeichen dafür, dass es vorbei war mit dem Fliegen, weil sich die böse Reflexion dazwischen gedrängelt hatte: Ich konnte nämlich auf einmal nicht mehr richtig Anlauf nehmen, sondern begann mitten im Anlaufweg zu – trippeln; also nicht mehr mit zunehmender Geschwindigkeit und gleichmäßig großen Schritten auf das Sprungbrett zuzurasen, sondern dumme kleine tänzelnde Schritte in die Mitte einzufügen. Zeitlich parallel dazu war es auch beim Weitsprung in der Schule so (auch darin war ich ziemlich gut), dass ich vor lauter Angst, den Absprungbalken zu verpassen, ‚überzutreten‘, so hieß das, den Absprungbalken verpasste (ja, die Metapher verdichtet sich ...). Ich bin einfach nicht mehr richtig in Schwung gekommen, und das Getrippel konnte mir die Trainerin nicht mehr abgewöhnen; sie versuchte es mit Tricks, sie legte mir einzelne Matten hin als Trittstufen sozusagen (schönes Bild, auch das, es gibt im Hinduismus einen Mythos – nein!), aber ich fiel in die Lücken und trippelte. Es war vorbei, ich sprang wohl noch über den Kasten, aus geringerer Entfernung, in kleinerer Höhe – aber ich flog nicht mehr. Das Turnen gab ich dann bald auf.

Diesen ganzen mühevollen Anlauf habe ich jedoch genommen, um ein anderes Phänomen zu beschreiben, dass sozusagen vom gleichen Problem zehrt, aber eine andere Richtung nimmt. Es geht nämlich ums Schreiben, was ja, irgendwie, auch eine Art Sport ist (für manche ein Leistungs-, für andere – siehe oben: Es reicht zu Wettbewerben in der Mittelklasse). Allgemein bekannt auch bei Laienschreibern ist die Angst vor der leeren Seite, dem ersten Satz; wie nur beginnen? Wenn man aber seinen ersten Satz gefunden hat, läuft es oft von allein; auch diese Erfahrung ist sowohl von Laien- als auch von Profischreibern vielfach bestätigt. Es läuft aber vielleicht nicht, und damit komme ich nun zu meinem Getrippel vor dem Sprungbrett – gleich ganz rund los. Es holpert ein wenig in den Folgesätzen, manchmal holpert es auch ganze Absätze lang, und man spürt es direkt, während man sie schreibt; man kommt nur mühsam von Matte zu Matte, und eben, leider, nicht in Schwung, nicht in den Rhythmus, nicht ins Fliegen. Am Ende hat man einen kleinen Bocksprung gemacht, Punktabzug bei der wackligen Landung.

Wenn man sich dann aber zusammenreißt und trotzdem weiterschreibt, kann es geschehen, dass man doch noch seinen Rhythmus findet. Auf einmal beginnt der Text zu fließen, und kaum kommt man mit dem Tippen hinterher für all die Worte, die sich plötzlich herausdrängen und die schönsten Luftsprünge machen, ganz von allein! Man darf nicht aufschauen dann, das unterbricht den flow (ja, langweilige Metapher; ja, richtige und gute Metapher); man darf nicht nachdenken über das, was man doch eigentlich schreiben oder sagen wollte, denn der Text hat die Herrschaft übernommen und sagt das, was er sagen will. Was gesagt werden muss. Es kann dann sein, dass man an einer völlig anderen Stelle landet. Aber es ist, wahrscheinlich, die bessere. Manchmal kann es auch sein, dass völlig unerwartet ein Bild hervorspringt, oder ein Satz: Und man sieht auf einmal, dass der ganze bisherige Text – nur Anlauf war für dieses eine Bild, diesen einen Satz. Sie sind perfekt. Aber niemals, niemals hätte man sie ohne Anlauf schreiben können.

Kafka, um schnell einen gelehrten Seitensprung unterzubringen (er ist aber sinnvoll), hielt dies für die einzig legitime Art zu schreiben: eine Folge von perfekten Sätzen. Das ist sogar Kafka so selten gelungen, dass er lieber all seine Texte verbrannt haben wollte als all die gescheiterten, trippeligen, langwierigen Anläufe aufbewahrt zu wissen. Es gibt ganz kleine Textbruchstücke von ihm, die einen einzigen Satz immer wieder variieren, in den winzigsten Details; und oft geht es dabei nur um den Rhythmus, die Satzmusik, gar nicht um die großen symbolischen Meistersprünge oder gar einen ‚relevanten‘ (Kafka hätte sich eher erschossen, als dieses Unwort zu schreiben!) Inhalt! Nein, Kafka wusste, dass er viel Anlauf brauchte, besonders, wenn er aus dem Büro zurückkam, wo er sprachlich perfekte Versicherungsgutachten schrieb, jeden Tag, aber nicht direkt – Weltliteratur (obwohl, wer weiß?). Vielleicht war Goethe, waren andere wirkliche Meisterautoren, irgendwann soweit, dass sie ohne Anlauf loslegen konnten, weil ihr ganzes Leben ein einziger innerer Anlauf geworden war. Aber wir anderen – wir geraten ins Trippeln. Dann muss man starke Nerven haben und einen kleinen Glauben, der sagt: Komm schon, lauf einfach weiter. Die Welt braucht gelegentlich auch kleine Sprünge mit Abzügen in der B-Note. Und vielleicht, zwischendurch, wer weiß – bekommt ein Bild, ein Satz, eine Satzfolge ja doch Flügel?

Deshalb ist, um diesen eher trippeligen Text abzuschließen, das Schreiben sogar für Profis häufig nicht der reine Genuss, sondern angstbesetzt. Sie fürchten, ich fürchte nicht das weiße Blatt, ach was, weiße Blätter sind ganz wunderbar, jedenfalls wenn man keine Platzangst hat (ich bin aber eher der klaustrophobische Typ). Ich fürchte mich vor der Bewährungsprobe, die jeder winzige Text ist. Denn der unerbittlichste Schiedsrichter ist nicht die Leserin (es gibt nur eine ideale Leserin, und man wird sie niemals finden), und auch nicht der Kritiker (er wertet sowieso mit gezinkten Noten); nein, es ist die Autorin selbst. Jeder Text ist eine Feuerprobe; na gut, übertriebene Metapher: Jeder Text ist ein – Sprung, von einem sehr kleinen Sprungbrett, über eine Kluft, die man erst sieht, wenn man abgesprungen ist.

Zuhause


Ich wollte wie Orpheus singen - oder doch lieber nicht?


Von Orpheus selbst über Rainer Maria Rilke bis hin zu Reinhard Mey wollen alle (männlichen) Dichter wie Orpheus sein: Die Tiere des Waldes sammelten sich bei seinem Gesang, sogar der brüllende Löwe wurde ganz still und die Steine weinten, so hat es Ovid geschildert; und was kann man noch mehr wollen? Andererseits, bei genauerem Nachdenken – die wundersame Popularität hatte ihren Preis (das hat sie immer). Denn was hat Orpheus selbst davon gehabt, von seiner steinerweichenden Sangeskunst? Zu Beginn seiner Karriere wurde er als Begleitmusiker zu allerhand kriegerischen Unternehmungen zwangsverpflichtet (und musste gegen die Sirenen ansingen, deren Gesang komischerweise keiner so richtig vorbildlich findet, da hat Homer mal wieder ganze Arbeit geleistet: Wenn Frauen übermenschlich schön singen, töten sie, wenn Männer übermännlich schön singen, weinen die Steine und die Götter der Unterwelt); sein Gesang ist insofern nicht direkt vereinbar mit der impliziten Zivilklausel moderner Dichtung. Und am Ende wurde er von rasenden Weibern zerrissen, weil sie es angeblich nicht aushalten konnten, dass er sie verschmähte und lieber seiner einzig geliebten Eurydike, nachsang (und schon wieder haben wir es mit singenden Männern und tötenden Frauen zu tun!). Aber nun gut, lassen wir den Geschlechterkrieg beiseite und konzentrieren uns auf die eigentliche Frage: Wollen die Dichter nun ewig Orpheus sein, samt lauschenden Löwen und weinenden Steinen, oder eher – doch nicht?

Lauschen wir noch ein wenig seiner Geschichte, so wie sie Ovid und andere frühe Weltliteraten berichtet haben. Am interessantesten ist nämlich eigentlich der Mittelteil: die bekannte Geschichte also, wie Orpheus‘ junge und natürlich bildschöne Gattin Eurydike, unschuldig im Grase spielend, von einer Schlange gebissen wurde und viel zu früh dahinschied; Orpheus aber, nachdem sein Klagegesang genug Steine erweicht hatte (oder sagt man: erwichen?) und das alles leider nichts genützt hatte, außer seine Fangemeinde auf die unbelebte Natur auszuweiten, Orpheus also entschloss sich, zu den Göttern der Unterwelt zu gehen und seine Eurydike zurückzuholen. Da sein Gesang natürlich auch den Fährmann erweichte (oder erwich) und sogar Sisyphos aufhörte, seinen Stein bergauf zu rollen (ob der Stein dabei weinte, ist nicht überliefert), vielmehr die ganze graue Schattenwelt ein einziges großes Hören wurde und auch die dunklen Herrscher selbst nicht unberührt blieben – durfte Orpheus seine Eurydike wieder mitnehmen. Einzige Bedingung: Er durfte sich, während ihm Eurydike an der Hand des Seelenboten Hermes folgte, nicht umdrehen auf dem langen Weg zurück in die Welt des Lebens.
Orpheus jedoch, wir wissen es alle, hielt es nicht aus. Zweifelte. Rang mit sich, horchte hinein in die graue Stille. Vielleicht hörte er, wie Sisyphos gerade wieder begann mit seinem Stein, und holterdipolter, rollte er wieder herab und Sisyphos stieß einen kleinen Fluch aus. Von weitem konnte man schon den Ruderschlag des Fährmanns erahnen, der ebenfalls seinen Dienst wieder aufgenommen hatte und mit neuer Seelenladung den ewigen Styx überquerte. Aber wo waren die Schritte? Waren sie noch da? Natürlich würde man Hermes nicht hören, mit seinen Flügelschuhen, und Eurydike mit ihren zierlichen Füßen – aber da wurde der Zweifel schon so stark, dass der Gedanke selbst zur Tat wurde, ganz ohne Willen und Wollen, und Orpheus drehte er sich, ganz leicht nur, vielleicht eine Vierteldrehung, mehr mit den Augen als mit dem Körper, um – und aus war es, vorbei. Eurydike entschwebte.

Die Geschichte wurde wieder und wieder erzählt, und tatsächlich kann man der Versuchung nicht widerstehen, sie aufs Neue zu erzählen; sie ist herz- und steinerweichend, aber, vielleicht, auch ein klein wenig dumm. Denn selten genug wurde gefragt, warum die Götter eigentlich so eine tückische Bedingung stellen; seltener noch, warum Orpheus, der allgewaltige Sänger, es nicht schafft, sich nicht umzudrehen, es kann doch so schwer nicht gewesen sein, wenn man sich ein wenig zusammenreißt und nach vorn blickt, auf den Weg, auf den sich nähernden Styx, auf das Licht, das man von ganz fern schon zu sehen meint! Und weil eine einfache Antwort in diesem diffizilen Szenario kaum zu erwarten ist, belassen wir es nicht bei einer Antwort: Vier mindestens sollten es schon sein, genau so, wie die Alten die Bibel gedeutet haben!

Also, zum ersten, die wörtliche Bedeutung: Die Götter haben so gehandelt, weil sie Götter sind. Götter müssen sich nicht rechtfertigen, schon gar nicht vor Menschen (sonst kämen demnächst noch die Steine an und würden sich beklagen über ihr allzu unbewegliches Dasein!). Zum zweiten, die symbolische, übertragene: Alle Dinge haben ihren Preis. Wen die Götter beschenken, den prüfen sie auch. Je größer das Geschenk (und wir reden hier immerhin über ein Menschenleben, auch wenn das in der Antike noch deutlich weniger, sagen wir: wertgeschätzt war), desto größer der Preis und die Prüfung (in der Fassung der Geschichte in Vergils Georgica übrigens klagt Orpheus bei den Göttern um entgangene Nutzung. Das ist die ganz handfeste Variante!). Orpheus hat den Deal nicht eingehalten, er wird bestraft. Zum dritten, die moralische (die nicht identisch ist mit der übertragenen, auch wenn das gern verwechselt wird): Der Mensch schaue nicht zurück, schon gar nicht im Angesicht des Todes! Das Leben wird nach vorn gelebt, und wer zurückschaut, den bestraft das moralische Gesetz. Wo kämen wir denn hin, wenn jeder, der einen geliebten Menschen verliert, jetzt in die Unterwelt zum Betteln und Handeln ginge? (so die konsequente Anwendung des Kantischen Moralgesetzes, nach dem zu prüfen ist, ob man wollen kann, dass die eigene Maxime des jeweiligen Handelns geeignet sei, ein moralisches Weltgesetz abzugeben – und nein, ein moralisches Weltgesetz lässt keine Ausnahmen zu, niemals, auch nicht für hochbegabte Sänger, denn wenn man eine einzige Ausnahme zuließen, ließe man – Anwendung eben dieses Gesetzes – alle Ausnahmen zu)!
Viertens, psychologisch (und das ist jetzt, zugegeben, nicht mehr klassische Bibeldeutung und vierfacher Schriftsinn, sondern eine moderne Schwäche; die meisten Geschichten der Bibel würden einer genaueren psycho-logischen Prüfung auch nicht gut standhalten, außer, vielleicht, Einzelfälle wie Hiob): Es ist ein wenig göttliche Willkür, ein wenig Probe, ein wenig Strafe, vor allem aber: eine subtile Art der Folter. Wir Menschen sind nicht so gestrickt, dass wir Unsicherheit aushalten; die Allgegenwart von Religionen in der Menschheitsgeschichte bzw. ihr neuzeitlicher Ersatz durch funktionsäquivalente Ideologien sind ein beredtes Zeugnis davon. Und wie sollten wir auch: Die einzige Sicherheit, die wir haben, ist die des eigenen Todes, und komischerweise fühlt man sich überhaupt nicht sicherer bei diesem Gedanken! 

Nein, Menschen hassen jede Art von Unsicherheit, sie sind geradezu massiv unsicherheitsinkompatibel, besonders aber hassen sie: emotionale Unsicherheit (dass man nichts vom Ding an sich wissen kann, ach, wen schert das schon…). Das aber merkt man nur, wenn man sich mit Orpheus auf den Rückweg macht. Und mit jedem Schritt werden die Zweifel größer, das Bangen wächst, die Unsicherheit kumuliert, Steinchen auf Steinchen: Ist sie noch da? Halten die Götter ihren deal ein? Kann man sich nicht verlaufen, hier, in diesem grauen tückischen Gelände? Hat Hermes sie vielleicht entführt, man erzählt sich ja schlimme Geschichten von diesem undurchsichtigen Götterboten? Nimmt dieser Weg denn niemals ein Ende, und, und, und: Liebt sie mich denn überhaupt noch? Und es ist wahrscheinlich, dass sich an diesem Punkt der Kopf wendet, ganz von allein, getrieben von einer inneren Feder tief im Rückenmark, im limbischen System, eben da, wo unsere Ängste und Unsicherheiten sitzen und sich zu einem großen Knäuel ballen, undurchdringlich und schwer, und es wächst und wächst und wird immer größer und drückt einem die Luft ab und dann – ja, dann dreht man sich um. Man wäre kein Mensch, wenn man es nicht täte. Aber es kann sein, dass man danach keinen Gesang mehr hat, der die Steine erweicht. Es kann sein, dass man danach selbst versteinert; und steinerne Lieder siegt, bitter, wütend, erbarmungslos, die die Mänaden so zur Weißglut bringen, dass sie einen endlich, endlich – zerreißen.

Und wäre das dann der, zugegeben: herzerweichende, Sinn von Gesang im Allgemeinen und der Geschichte im Besonderen? Nehmen wir einmal an, Orpheus wäre zurückgekehrt, mit Eurydike an der Hand, der Schlangenbiss am Fuß zieht noch ein wenig, aber ansonsten wird sie eine folgsame Ehefrau und gebiert ihrem singenden Gemahl, der gelegentlich noch ein wenig in den Wald geht oder in einen kleinen Krieg, entzückende Kinder, die später einmal berühmte Sänger werden wollen, wie der Papa – aber nein, so kann man doch nicht mit Mythen umgehen (oder vielleicht doch?)! Was man aber vielleicht halbwegs sicher sagen kann in dieser Welt der wachsenden Unsicherheiten, ist: Orpheus war am meisten Sänger, als er den Entschluss fasste, in die Unterwelt zu gehen; er war es am wenigsten, als er sich umdrehte. Denn um die Steine zu erweichen, muss man selbst ein wenig – ein Herz aus Stein haben; und das Herz eines Löwen, und das einer Schlange, und das eines Gottes, und das eines Menschen – alles in einer Brust, und alles zur rechten Zeit. Aber vor allem muss man, das wird der Orpheus-Versteher Rilke nicht müde zu betonen, dem Tod ins Auge sehen können; und wenn man beginnt, mit ihm zu handeln, hat man schon verloren. Am Ende verschwindet Eurydike in Rilkes Orpheus-Gedicht so, wie sie gekommen ist: „unsicher, sanft und ohne Ungeduld“. Ohne Angesicht. Sogar Hermes schaut trauervoll. Aber Eurydike lässt sich ihren Tod nicht nehmen. Auch nicht von Orpheus. Auch nicht um den Preis der Unsicherheit; Tote können, endlich, mit Unsicherheit umgehen. Sie ist in diesem Moment eine größere Dichterin als Orpheus, und ihr stummer Gesang bleibt, wie der so vieler Frauen: ungehört.

Und das ist das Missverständnis an der Geschichte, das allzu moderne, das mit Orpheus mitleidet und ein happy end sehen will, auch um den Preis der Trivialität: Wenn man Steine erweichen kann, heißt das nicht, dass man besonders sentimental wäre oder besonders tief fühlt; vielleicht waren es ja nur besonders weiche Steine, und wenn sie zu Ende erwichen wären, wären sie – nun ja, Pudding vielleicht, Sand, Zement, aber nicht mehr Steine. Es heißt, dass man in die Seele von Steinen schauen kann, ohne sich nach seinem Menschsein umdrehen zu müssen. Das aber ist ein Preis, den dann doch nicht jede Dichterin bezahlen möchte, auch um den Preis des Weltruhms.

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