Zu den großen Stereotypen des Leselobs gehört die Versunkenheit in die fremde Welt des Buches. Sie kommt gleich vor (oder nach?) dem angeblich so anheimelnden Geruch bedruckter Blätter (keine Ahnung, wann das jemand das letzte Mal gerochen hat, nicht jedenfalls im Zeitalter des digitalisierten Buchdrucks), dem magischen Knistern der Seiten beim Umdrehen (ich schneide mir höchstens in die Finger, ziemlich miese, feine, schmerzhafte Schnitte) und dem haptischen Gesamteindruck überhaupt (wahrscheinlich wäre das Wort ‚haptisch‘ sonst auch schon längst in Vergessenheit geraten). Nun gut, Nebensächlichkeiten von Nostalgikern, es gibt Schlimmeres. Die Versunkenheit hingegen in die Welt des Buches, die ja auch unabhängig ist von technischen und sinnlichen Petitessen, dagegen traut man sich kam etwas zu sagen: Zu verlockend ist die Vorstellung, dass man den ganzen Alltag, all das Graue, Langweilige, Bekannte um einen herum vergessen könnte und einmal nur – ganz woanders sein. Die Entgrenzung gehört dazu, der Verlust des Zeitgefühls und des Ortsinnes, das Vergessen der eigenen pickligen Person (im übertragenen Sinne natürlich). Die Welt des Buches übernimmt die Macht, und wir lassen es willig gewähren (und sollte uns nicht schon diese Formulierung nachdenklich werden lassen?).
Es gibt Illusionen, die sollte man nicht zerstören – und doch, und doch. Denn jede schillernde Illusion hat ihren Preis: Sie wird bezahlt mit Verlust an Alltagssinn. Eskapismus ist schon ok, aber am Ende muss man halt wieder zurückkommen. Das Buch ist aus, alle Seiten umgeblättert, der imaginierte Duft nach Druckerschwärze ist schon längst verflogen, aber der Schnitt im Finger tut immer noch weh. Man schaut hoch und – ach ja, da ist sie wieder, die alte, vertraute Alltagswelt. Kein Grund genauer hinzusehen, sie ist ja jeden Tag da und morgen und übermorgen immer noch die gleiche wie gestern und vorgestern. Wie sie riecht, keine Ahnung, genauso wie immer halt, morgens mehr nach Kaffee und abends mehr nach Pizza, oder? Und die Leute in ihr, ach, sie geben nicht immer eine gute Figur ab, weder ordentliche Schurken noch wahre Prinzessinnen, und einen Drachen hat man auch noch nie gesehen im Vorgarten. Und was lesen wir jetzt als nächstes?
Denn niemals, niemals hat man sich je in seine Alltagswelt vertieft. Man wird es auch nicht tun, für Versenkung und Vertiefung gibt es ja Bücher, andere Welten. Aber wenn man mal nicht nur oberflächlich hingucken würde, sondern sich nur ein wenig versenken, könnte man feststellen, dass die vorhandene Welt so schlecht gar nicht ist. Sie hat nur eine schlechte Presse, ein Imageproblem, und vielleicht sollten wir ihr einfach mal einen anderen Namen geben - obwohl Alltag noch nicht einmal ein schlechter Name war: Er paart das "All" und den "Tag", und alle Tage zusammen ergeben ein Leben, alle Tage, nicht einfach schlechten "Alltag". Oder: Gewohnheit, war das nicht das, in dem man wohnen konnte, zuhause sein, Heimat im täglichen Handeln? Oder: Wirklichkeit, eine Umgebung, in der gewirkt wird, tagaus tagein, von Kräften, die sehr real sind und die wir doch bei weitem noch nicht verstanden haben, wir verstehen sie ja nicht einmal in Büchern, wo sie schon sehr schematisch reduziert daherkommen! Man wünschte sich - eine eine Art Virtual-Reality-Brille, die man aufsetzen könnte, und auf einmal würde man den Alltag neu sehen, vertieft, ein wenig verfremdet und ein wenig vertraut! Was könnte man nicht alles entdecken, wenn man nicht schon meinte, alles gesehen zu haben!
Aber nein, um sich zu versenken, benutzt man Bücher. Um gesteigerte Realität zu erleben, blättert man staubige Seiten und berauscht sich an Phantasmen im Kopfkino. Künstliche Welten sind halt immer bunter. Aber wann hat man den letzten Sonnenuntergang gesehen, vor der Haustür, diese unendliche, sich ständig verändernde Farbenexplosion in den tiefsten denkbaren Rot- und Gelbtönen bis hin zum dunklen Blau und tiefen Schwarz? Wann hat man, statt den vermeintlichen Duft von Druckerschwärze zu inhalieren, eine Wiese gerochen, im Frühling, wenn jede Biene klüger ist und nicht auf die Idee kommt, den Rüssel in ein Buch zu versenken? Wann ist man einfach nur durch die Stadt gegangen, versunken in das wogende Leben der Straßen, die heimlichen Beziehungen der alten Häuser erahnend, eingebettet in den Strom des Menschlichen, und da, da, sieh nur, das steht immer noch das Münster, die steingewordene Erhebung, mitten in dieser Welt, und die Augen können sich gar nicht genug tun an der steinernen Figurenvielfalt? Und ist diese Welt nicht genauso vielfach und wandelbar, je nach Lichteinfall, Stimmungstönung, Perspektive? Und ist man nicht sogar selbst die Hauptfigur im eigenen Leben, und es wäre wirklich schön, wenn man eine gute Geschichte daraus machen würde, aus diesem ja gelegentlich zähen, widerständigen, aber insgesamt doch sehr naheliegenden Stoff?
Nichts gegen Bücher, ich liebe sie. Wenn ich nicht lesen könnte, wäre ich wahrscheinlich tot. Eskapismus ist eine Disziplin, in der ich seit langem exzelliere. Aber ich habe nie verstanden, warum man einen Wettbewerb zwischen der Welt und den Büchern veranstalten muss; und wenn man es schon tun muss (weil Menschen offenbar Wesen sind, die in Wettbewerben denken), warum sein Ausgang immer schon vorprogrammiert ist: Volle Punktzahl für die Phantasie, höchstens ein Trostpreis für das reale Leben in realen Welten! Zumal all das vermeintlich Phantastische ja doch nicht loskommt vom Wirklichen, es ist seine verleugnete Mutter, sein verhöhnter Vater, und nur weil man gegen die Götter rebelliert, hören sie nicht auf zu sein. Sie lächeln nur milde. Am Ende, so scheinen sie zu sagen, am Ende kommst du doch zu uns zurück. Jeder muss irgendwann wirklich werden, ob er will oder nicht. Der Schein ernährt seine Kinder nicht, und irgendwann haben alle das Manna über und wollen mal wieder ordentliches Schwarzbrot. Aber vielleicht, es könnte ja sein, habt ihr wenigstens in euren Büchern gelernt, wie Versunkenheit geht, Selbstvergessenheit, von sich Absehen – lauter tüchtige Fähigkeiten! Und dann versenkt ihr euch zur Abwechslung mal in die wirkliche Welt. Ihr werdet staunen, was ihr findet!
Die Klagen darüber, dass ‚die Jugend‘ nicht mehr liest, sind wahrscheinlich genauso alt wie das Buch; aber deshalb müssen sie ja nicht gleich falsch sein. Gewöhnlich stimme ich auch in die Klagen mit ein, als Literaturwissenschaftlerin ist das wohl naheliegend und verzeihlich. Aber neulich wurde ich, als ich etwas unvorsichtig von meiner Lektüre aufsah, von einem unerwarteten Gedanken in einem schwachen Moment erwischt. Vielleicht ist es ja besser so, sagte er. Vielleicht wäre es ja auch für dich besser gewesen, wenn du nicht so viel gelesen hättest, damals als Kind (und vor allem als Jugendliche, und natürlich bis heute). Ich ließ den Gedanken vorsichtig nähertreten, er hatte den Charme eines sanften Revolutionärs, der nicht mit dem Hammer und der Guillotine daherkommt, sondern sich einschmeichelt mit dem Versprechen, die Dinge in einem neuen Licht erscheinen zu lassen: Und was gibt man nicht in dieser entweder allzu dunklen oder allzu grell beleuchteten Welt für ein neues, sanftes Licht der Veränderung? Um ihn aber dieses Licht entfalten zu lassen, um zu erklären, wie er sich so unvermutet anschleichen und doch willkommen sein konnte, muss ich etwas ausholen. Historisch. Bitte Geduld! Also:
Im 18. Jahrhundert, als ‚normale‘ Menschen damit begannen, Romane zu lesen – einfach, weil sie jetzt da waren, in großer Menge, es wurden immer mehr, man konnte sie irgendwann sogar kaufen, ohne reich, männlich und/oder Akademiker zu sein! –, wurden schnell Befürchtungen laut, die Romanlektüre sei zu gefährlich, vor allem für Jugendliche und, nun ja, Frauen: Menschen also mit einem noch nicht ganz ausgebildeten Verstand, mit wenig Kenntnis der realen Welt oder realer Menschen, die deshalb geneigt sein könnten, das, was in den Romanen so vielversprechend ausgemalt wurde, mit der Wirklichkeit zu verwechseln. Das jedoch, so nannte man das damals, sei Schwärmerei: der feste Glaube daran, dass die Welt wirklich so sei, wie sie in den Büchern geschildert wurde, so tugendhaft und idealistisch wie die ersten Romanhelden und Heldinnen, so abenteuerlich und abwechslungsreich wie ihre Erlebnisse, und immer geht es am Ende, mehr oder weniger, gut aus. Verwechselt die Bücher nicht mit dem Leben, so predigten die braven Aufklärer; wir wissen, wie das enden wird, ihr werdet enttäuscht sein am Ende, bitter enttäuscht, denn keine Realität kann das einholen, was die Bücher euch versprochen haben: die ganz große und weltbewegende und einmalige Liebe vor allem anderen, aber auch: die ewige Gerechtigkeit, die Belohnung der Tugend und die Bestrafung des Lasters, das gute Ende schlechthin, das es eben nur im Märchen und in der Religion gibt. Schwärmerei ist gefährlich, haben sie gesagt; sie ist eine schleichende Krankheit, sie höhlt den Menschen von innen aus: Sie füllt sein Herz und seine Seele (nicht aber seinen Kopf) mit so viel phantastischen Seifenblasen, dass sie irgendwann implodieren – zurück bleibt eine Hülle, leer, ausgesogen, beliebiges Spielmaterial für Manipulatoren, Glücksritter, Betrüger, die nun die Lücke mit ihren Versprechungen und Verheißungen schließen werden. Nein, Schwärmerei muss früh entdeckt und entschieden bekämpft werden; eine Schwärmerkur, so nannte man das tatsächlich, war indiziert, aber die Heilungsaussichten waren nicht immer gut: Wenn das Übel erst einmal allzu tief Wurzeln gefasst hatte im allzu liebes- und vertrauensseligen jungen Herz, wenn es seine Phantasien über alles stellte und die reale Welt der Widrigkeiten zutiefst verachtete, wenn es nur noch Befriedigung finden konnte im Ideal, was immer das nun sei: eine Frau, ein Mann, eine Religion, eine Ideologie, ein politisches System oder auch nur eine Spinnerei – dann war es meist zu spät. Man konnte mit der Wurzel des Übels nur noch das Herz selbst ausreißen, und manche/r hat das nicht überlebt.
Aber nun gut, das waren Extreme, und die Aufklärer galten schon ihren Zeitgenossen bald als allzu borniert, allzu bürgerlich, allzu rational – alte weiße Männer, würde man heute wahrscheinlich sagen, wie sollten sie überhaupt die Literatur verstehen, ihre großen Themen, ihre weltbewegenden Entwürfe, ihre ewigen Geschichten von Liebeslust und Liebesschmerz? Hatten sie überhaupt ein Herz, waren sie nicht selbst zu rationalistischen Maschinen geworden, die die Liebe nicht mehr kannten? War es nicht besser, ein Schwärmer und unheilbarer Romantiker zu sein als ein Philister, ein Kleinbürger, ein – Realist? Und die Romantiker haben, was keinen überrascht, der den Menschen nur ein wenig kennt (wie er ist, nicht wie er sein sollte!), die geistesgeschichtliche Schlacht für sich entschieden: Romantik toppt Aufklärung allemal, bis heute, und das nicht nur im jugendlich-verletzlichen oder im besonders empfindsamen Herz, sondern bis in die Tiefen und Untiefen des gesellschaftlichen Diskurses. Der Mensch ist lieber: Herz als Kopf. Er ist auch besser: Herz als Kopf. Er ist größer: Herz als Kopf. Er ist menschlicher: Herz als Kopf. Punkt. Nur die Liebe zählt. Nur. Die. Liebe. Zählt.
Nun spricht einiges für und einiges gegen diesen Satz, und gegen ihn spricht wohl vor allem das unauffällige „Nur“ – nur gegen dieses „Nur“ hätten sich auch wahrhaft vernünftige Aufklärer verwahrt, nichts ist „Nur“, hätten sie gesagt, passt auf mit diesem „Nur“, es ist eine unscheinbare, aber tatsächlich vollständige Verallgemeinerung, und grenzenlose und vollständige Verallgemeinerungen sind das größte Gefahrengut der Menschheit.
Nichts gegen Ideale, wenn sie ihre Grenzen kennen. Die Liebe zählt, natürlich, aber vielleicht nicht: „nur“. Das jedoch, und jetzt kommen wir endlich zurück zu meinem sanften Revolutionär, habt ihr aus den Romanen, nicht wahr, sagte er? Könnt ihr mir einen Roman nennen, der nicht von ihr erzählt, von der großen, ewigen Liebe, einen auch nur mäßig berühmten, bei dem etwas anderes im Zentrum steht? Ist es nicht von allem Anbeginn so gewesen, sogar bei Homer, wo die endlosen Kriege sich nur um eines drehen: die schönste Frau, die Frau, die jeden Krieg wert ist, die alle Tode und Gewalttaten rechtfertigt? Lebt davon nicht die gesamte Minneliteratur des fernen Mittelalters, von der einzigen, der reinen, der wahren Rose? Liebe, wohin man schaut, und es macht noch nicht einmal einen Unterschied, ob triviale oder hohe Literatur; wenn man den Romanautoren verböte, von der Liebe zu schreiben, gesetzlich, bei Androhung hoher Strafen, das Genre würde in den Untergrund gehen und dort weiterleben, unausrottbar, unsterblich, wie sein Gegenstand – obwohl (und hier machte er eine Kunstpause in seinem Monolog): Ist die Liebe denn wirklich unsterblich? Sagt uns nicht die gesamte Geschichte der Menschheit, in Zahlen und realen Erfahrungen, dass sie sehr wohl sterblich ist, dass es sogar ihr Normalfall ist und zunehmend noch weiter wird in Zeiten der Lebensabschnittspartnerschaften? Hat sie denn wirklich so viele Gesichter, dass man ihre Geschichte noch und nöcher erzählen kann, oder erzählen die Romane nicht schon lange nur noch Variationen weniger, im Grunde gleichbleibender Muster, ja: Leben die Menschen nicht sogar schon lange ihre reale Liebe nur nach diesen wenigen literarischen Mustern? An dieser Stelle wurde mein Gedanke besonders perfide einschmeichelnd, als er säuselte: Sei ehrlich, wieviel von den verkorksten wirklichen und eingebildeten (besonders der eingebildeten, ich war eine fleißige Leserin, ich kannte sehr viele Muster!) Beziehungen deiner Jugend hättest du dir sparen können, wenn du nicht so viel über Liebesgeschichten gelesen hättest, sondern mehr auf dich und auf deinen Körper und auf reale Menschen, auf konkrete Männer, geachtet hättest und versucht, sie in ihrer unerklärlichen Fremdheit zu verstehen? Wieviel Verkrampfung, wieviel eingebildetes Leid, wieviel Missverständnis, wieviel, ja, Naivität und Dummheit? Man kann ja durchaus mal auf seine Fehler stolz sein, ohne sie lernt man bekanntlich nichts, aber irgendwann sind Fehler nicht mehr produktiv, sondern lästig. Sie hemmen eine Entwicklung. Eine Entwicklung, die natürlicher hätte verlaufen können. Unverkrampfter. Fröhlicher. Du hättest einfach mal aufhören müssen zu lesen. Oder andere Bücher lesen (was ich natürlich getan habe, irgendwann, aber eher zu spät; und man ist dankbar für jeden Roman, in dem nicht „nur“ die Liebe zählt, egal ob trivial oder hoch, es sind aber definitiv viel zu wenige).
Nein, die Aufklärung hatte leider, zum Glück, wie auch immer: wieder einmal – Recht. Lektüre ist nicht nur ein Segen, sie ist auch gefährlich. Sie macht Schwärmer, vor allem: Schwärmerinnen (da mehr Frauen mehr Romane lesen, was auch nicht gerade emanzipationsförderlich ist). Natürlich bildet sie auch, sie erschließt fremde Welten, sie macht offen für ästhetische Erfahrungen, sie ist einfach schön und befriedigend und unersetzlich. Aber sie ist auch gefährlich, und nur, weil unheilbare Romantiker den Spruch vom ‚gefährlich leben‘ zu einer coolen Jugendmaxime erhoben haben, sollte man sich nicht völlig unbedacht in Gefahr begeben: Gegen die Schäden eines überschießenden Idealismus, in jeder Form, privat oder gesellschaftlich, gibt es keine Versicherung, und die Therapie ist, siehe oben, langwierig und nicht von garantiertem Erfolg.
Es könnte also sein, dass es in gewissem Sinne besser ist, wenn die Kinder heute nicht mehr so viel lesen. Leider aber haben andere Medien die Rolle des Verführers kindlicher Phantasie und Identifikationsbedürftigkeit nicht nur übernommen, sie haben sie multimedial und psychologisch informiert so ausgebaut, dass die Gefahren wahrscheinlich insgesamt noch weit stärker geworden sind. Allerdings bin mich mir nicht sicher, ob verschärfter und verlängerter Medienkonsum heute noch Schwärmer produziert, oder ob er nur – „nur“! – die Grenzen zwischen Realität und Virtualität immer weiter verschwimmen lässt, unter völliger Abschaffung aller Ideale (außer sehr abstrakter, korrektheitspolitisch abgenickter natürlich, die aber eher hochglanzpolierte Abziehbilder von Idealen sind). Es wäre doch wohl schön, wenn noch ein wenig gelesen, altmodisch gelesen würde, auch wenn es gefährlich ist und man oft das Falsche liest (oder: das Richtige zum falschen Zeitpunkt). Vielleicht aber, und mit diesem Satz verabschiedete sich mein Revolutionär, der noch etwas vorhatte: vielleicht auch nicht. Wir werden sehen.