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Reise-Essays


  • Theorie und Geschichte des Reisens
  • Goethes Italienreise: Flucht und Wiedergeburt
  • Hape Kerkeling: Spirituelle Kartenhäuser und irre Typen
  • Die Erfindung der Kreuzfahrt und Live-Berichte aus dem orientalischen Harem: Lady Mary Wortley Montague
  • Empfindsame und romantische Reisen: Sophie von La Roche und Mary Shelley
  • Alexander von Humboldt, oder: Reisen, Forschen und Fühlen 
  • Podcast Gelebt. Gelesen. Gehört - Auf Reisen! https://open.spotify.com/show/3TTHuzA6i6aIU72X7FJiKB



THEORIE UND GESCHICHTE DES REISENS


Dass das Leben eine Reise ist, ist eine Metapher, die läuft einem so leicht von der Zunge, dass man spontan misstrauisch werden sollte: Warum eigentlich, und stimmt das überhaupt? Und dass man, wenn man eine Reise tut, etwas zu erzählen hat, scheint auf eine ebenso enge Verbindung von Reisen und (zumindest) Erzählliteratur hinzuweisen; heißt das im Umkehrschluss auch, dass man nichts zu erzählen hat, wenn man schön zuhause bleibt und die Katze hütet und sei-ne Betten ausschüttelt und abends ein nettes Essen auf den Tisch bringt? Kann man reisen, muss man reisen, sollte man reisen, will man reisen, darf man reisen – navigare necesse est, vivere non est necesse? Ein harter Satz, zweifellos; aber man stelle sich ein Leben ohne Reisen vor. Ortsfest, wie eine brave Zwiebel. Oder eine nette Blume. Ein großer, starker Baum allenfalls. Navigare necesse est?

Von der Lebensreise

Beginnen wir mit dem philosophisch-theoretischen Teil, bevor wir die Erfahrung dazu bitten. Dass das Leben eine Reise ist – nun ja, macht schon ziemlich viel Sinn, in der Weise, wie alle Metaphern Sinn machen: mit mehr oder weniger künstlichem Aufwand. Der künstliche Aufwand ist aber gering: Reise und Leben haben einen definierten Anfang und ein definiertes En-de (das eine endgültig, das andere temporär, aber klei-ne Unterschiede dürfen sein); dazwischen, in der Mitte, findet viel statt, und das meiste davon ist verbunden mit: Ortsveränderung. Neuen Menschen, neuen Plätzen, neuen Erfahrungen. Das geht nicht ganz ohne Gefahren ab; jedes Leben, als Entdeckungsreise verstanden, ist ein Hochrisikounternehmen, das keine Lebensversicherung jemals absichern kann, und der Schiffbrüche sind viele (eine Erfahrung, die man zum Glück kaum noch jemals real machen wird; aber man stellt sie sich ziemlich – lebensverändernd vor?). Für einige von uns verlangt das so gelebte Leben auch nach Dokumentation in irgendeiner Form; nach greif-bar gemachten Erinnerungen, aufbewahrt in Bildern und Texten, vielleicht sogar: nach Reflexion? Aber viel-leicht sind das nicht allzu viele. Viele jedoch: Werden von ihren Lebensreisen erzählen wollen. Nicht von ihrem Alltag (das können nur die größten Künstler), aber von ihren gelegentlichen, kleineren oder größeren Lebens-Abenteuerreisen. „Teilen“ nennt man das heutzutage gern, so als sei das ein Geschenk oder eine besondere Gnade; das ist es auch ein wenig, aber vor allem ist es eine Lebensnotwendigkeit. Nicht mitgeteiltes Leben ist, irgendwie, nur halb gelebtes Leben; in der Mitteilung selbst verdoppeln, vervielfachen wir es und geben ihm, selbst in der trivialsten Anekdote: eine Form. Nur wenige schreiben gleich ihre ganze eigene Lebensreise auf – wie Goethe es beispielhaft getan hat, und bis heute stehe ich in Ehrfurcht vor der gigantischen Lebens-Verdopplungs-Leistung, die Dichtung und Wahrheit ist, sowohl als Dichtung als auch als Wahrheit gelesen. Mein Leben hingegen kommt, allenfalls, in Querschnitten, wie diesem hier.

Insofern scheint die Metapher von der Lebensreise gut und richtig. Wenn man nach Unterschieden suchen will, finden sich natürlich auch gar nicht so kleine. Die unterschiedliche Art des Endes zum Beispiel ist ja nicht ganz irrelevant: Ob man stöhnend die Koffer voller schmutziger Wäsche auspackt, die erbeuteten Reiseandenken liebevoll in der Wohnung platziert und dann ein dickes, viel zu dickes Fotobuch macht; oder ob man den allerletzten Löffel abgibt und den Buchdeckel für immer schließt – macht ja schon einen gewissen Unterschied. Zudem sucht man sich auf der Lebensreise überhaupt ziemlich vieles nicht aus, sondern bekommt es zugewiesen; und manche Lebenskreise werden weit, und manche treten immer auf der gleichen engen Stelle, und allerhöchstens die Tapeten wechseln. Aber egal, seien wir großzügig mit unserer schönen Metapher und bleiben dabei: Das Leben ist eine Reise; und es geht ums Prinzip, nicht um die Wahl des Verkehrsmittels oder des Urlaubsziels oder das Wetter am Urlaubsort. Es ist eine Reise, weil sein Wesen Veränderung ist; und zwar eine Veränderung, die sich nicht nur im Inneren einer Person abspielt, sondern die in Wechselwirkung mit sich ändernden äußeren Umständen stattfindet. Und vielleicht macht es ja die freundlichere Lebensphilosophie, wenn man das Leben in diesem Sinne als Reise, und nicht als Vorsehung, Schicksal oder Strafarbeit auffasst? Lebe die Metapher!


Von der Geschichte des Reisens

Beginnen wir mit der Geschichte des Wortes, das ist nämlich wie so häufig ganz interessant und aufschlussreich: das deutsche Worte „reisen“ gibt es nämlich schon im Althochdeutschen, und seine Bedeutungen bewegen sich im Bereich auf Aufstehen, sich Erheben (vom Schlaf nämlich), Aufbrechen. Reisen ist Aufbruch, das wäre doch eine schöne Definition! Hingegen ist die Wortgeschichte hinter dem Englischen und Französischen voyage eher handfest; aber sie verweist dadurch darauf, dass Reisen durchaus neben dem symbolischen Kleid auch eine hardware benötigt: Es kommt nämlich vom spätlateinischen viaticum, dem Reisegeld (von via, Weg). Wer reisen will, muss bezahlen. Auch ein Grundsatz.

Menschen nun bewegen sich schon immer im realen Raume, aber historisch auf sehr unterschiedliche Weisen und zu sehr unterschiedlichen Zwecken. Beginnen wir wirklich ganz vorn, nämlich mit dem Ende der Eiszeit. Verstreut haben Menschengruppen überlebt, sie ernähren sich durch Jagen und Sammeln, und das erfordert viel Bewegung: Lebensräume erschöpfen sich, man zieht umher, bis man einen neuen findet, und wenn man eine andere Nomadengruppe trifft, haut man sich, weil: Konkurrenz um Ressourcen. Und dann, über das eine oder andere Jahrtausend hinweg, beginnt das, was man sehr viel später die "Neolithische Revolution" genannt hat: Einige Gruppen werden, wohl mehr oder weniger gleichzeitig in verschiedenen Regionen, sesshaft. Sie haben nämlich den Ackerbau erfunden: die Methode, aus Getreidesamen eine Ernte zu erzeugen, die in den Folgejahren erneuert werden kann. Sie haben angefangen, einige Tiere zu zähmen und zu Nutztieren zu machen. Sie leben nun in größeren Gemeinschaften zusammen, man teilt sich die Arbeit auf, jeder kann irgendetwas besser, und so entsteht die Arbeitsteilung (ja, auch nach Geschlechtern). Von da an passieren ziemlich viele Dinge gleichzeitig, und kaum hat man sich versehen, ist die erste Zivilisation entstanden, mit Städten, einer politischen Ordnung und einer gesellschaftlichen Struktur und den ersten Künsten und den Vorformen von Wissenschaft. Sesshaftigkeit aber war der Schlüssel zu all dem; die Kultur des Ackers war die Urform von Kultur schlecht-hin, und da kommt logischerweise auch das Wort her, natürlich eine Metapher (cultura anima). Und wenn man jetzt andere Gruppen trifft, haut man sich nicht immer mehr die Rübe ein; vielleicht beginnt man auch einfach damit, Handel zu treiben.

Aber wollten wir nicht eigentlich vom Reisen sprechen? Das eine gibt es, wie immer nicht ohne das andere. Kein Reisen ohne Bleiben. Das stimmt sogar, um noch einmal zur Metapher der Lebensreise zurückzukehren, für das menschliche Leben. Denn genauso, wie die Jugend der Menschheit unruhig ist, nomadisch, umtriebig, ist es auch die Jugend des Individuums, das täglich Neues entdeckt und seine kleinen Kreise zu immer größeren erweitert. Und genauso, wie in der Reife der Menschheit – gönnt mir die Metapher noch einen Moment! – die Zivilisation mit dem Sesshaft werden beginnt; genauso wird das Individuum erwachsen, indem es sesshaft wird, Besitz erwirbt, eine Familie gründet (jaja, alles fakultativ, gebt Ruhe!). Und im Alter – aber hier erreicht die Parallele nun ihren problematischen Höhepunkt: Gehen alternde Zivilisationen wieder auf Reisen, und aus welchen Mitteln und mit welchen Motiven? Und sind ihr Analogon die reichen Rentnerscharen aus den Wohlstandsstaaten dieser Welt, die die ärmeren und klima-bevorzugten Regionen überfallen und gar nicht genug bekommen können vom Reisen, Reisen, Reisen? Ein triadisches Reisemodell, mit Schiller gesprochen? Nun gut, lassen wir die verwegene These einmal stehen; und zumindest hält ihr dualistischer Ausgangspunkt, nämlich: die gegenseitige Abhängig von Reisen und Bleiben.

Damit zurück zur Geschichte des Reisens. Die Jäger und Sammler haben wir hinter uns gelassen, sie entdecken gerade die Wonnen der Sesshaftigkeit und bauen ihr kleines Arkadien (später wird Arkadien ein berühmtes Reiseziel werden, siehe Goethe!). Aber weil man nicht nur den ganzen Tag Schafe hüten und Hirtenlieder an die schöne Nachbarin singen kann, überkommt einen eines Tages vielleicht doch das Gelüst, die Nachbarn zu überfallen und die schöne Nachbarin dabei mitzunehmen. Und dann dauert das Ganze ein wenig länger, als man denkt. Die ersten Epen der Welt-literatur, wie wir sie kennen, schildern genau das: die Irrfahrten des Odysseus nach einem langen (und, wie alle anderen, sinnlosen) Krieg um die schöne Nachbarin in einem fernen Land (Troja) und die mühevolle, jahrelange Rückkehr auf Irrwegen kreuz und quer über das Mittelmeer. Der heimkehrende Held ist ein Irrender und Reisender; und von seinen Abenteuern zehrt die Weltliteratur bis heute. Ansonsten waren die antiken Griechen eher ortsfest; warum sollte man auch die polis verlassen, die Sonne schien sowieso den ganzen Tag, und der griechische Wein war auch recht trinkbar? Die Römer hingegen erfanden die Villa auf dem Land (die reichen Römer natürlich), wo man dem Stress des Stadtlebens entkommen konnte; und sie bauten ein umfassendes und gut gepflegtes Straßen-netz mit Gasthäusern und Polizeischutz; das bewährte sich sowohl für Kriege als auch für Handelsbeziehungen, lange Zeit die zwei dominanten Gründe für Ortswechsel überhaupt.

Sprung ins und über das dunkle Mittelalter und die Völkerwanderung, die nicht direkt ein touristisches Unter-nehmen war: Während in der Literatur immerhin Helden auf Abenteuerreisen gehen – wovon die Weltliteratur bis heute zehrt, ja –, bewegen sich Menschen ansonsten nur zu religiösen Zwecken. Aber Pilgerreisen sind ein großes Ding, definitiv; und auch sie schaffen ein eigenes Wegenetz, von dem jeder ein Wanderlied singen kann, wenn er wieder einmal an einer Wegekreuzung im tiefsten Schwaben eine Markierung des Jakobsweges entdeckt hat! Klöster bieten derweil die nötige Infrastruktur, und das Wandern ist ja überhaupt bis heute eine der besinnlichsten Tätigkeiten überhaupt – „Ich bin dann mal weg“, das ist das Reisemotto bis heute, und sein Erfinder Hape Kerkeling kann sich durchaus auch auf Goethe berufen („Wie froh bin ich, dass ich weg bin!“ – Werther auf seinen Wanderungen).

Derweil wird in der frühen Neuzeit die Welt immer größer. Entdeckungsreisen erweitern den vorstellbaren Reiseraum bis in die letzten Ecken des Kontinents. Handelsreisen folgen auf dem Fuße; der Kolonialismus ist Imperialismus auf Reisen, und die Mitbringsel bluten ganze Länder aus. Derweil ziehen in Europa mal wieder marodierende Truppen durchs Land; der 30jährige Krieg führt zu einer riesigen Flucht- und Vertreibungswelle. Es ist, als sei die ganze Welt auf einmal in Bewegung geraten! Und das alles noch ohne jegliche technische Unterstützung: Die Menschen gehen, zum allergrößten Teil, zu Fuß; einige reiten oder haben gar Kutschen und andere Gefährte; die Schiffe werden größer und können weitere Strecken zurücklegen, aber immer noch mit eher minimalem Komfort. Und zudem, das ist heute kaum vorstellbar, weiß man ja kaum, was einen erwartet in der Fremde; woher sollte man es denn wissen? Nein, zwar haben schon die ersten Welt-reisenden ihre Erlebnisse und Erfahrungen aufgeschrieben (wie Marco Polo, der berühmteste frühe Reisende schlechthin); fleißig berichten Wissenschaftler minutiös von all dem, was sie auf ihren Reisen gesehen und gefunden haben; und sogar die reisenden Mönche haben oft genug ihre Reisen beschrieben. Es entwickelt sich sogar eine ganz eigene Gattung, die Apodemik nämlich, die die Kunst des richtigen Reisens lehrt. Aber erst mit der Erfindung des Buchdrucks kommt die Reiseliteratur so richtig in Schwung; sie wird spätestens im 18. Jahrhundert dann zu einer Erfolgsgattung, zu-nehmend auch: zu Lesefutter für all diejenigen, die zuhause bleiben müssen.

Nun entstehen langsam die ersten Vorformen dessen, was man in engerem Sinne heute als Reise verstehen könnte: eine Ortsbewegung, die nicht primär einen äußeren Zweck hat – Krieg, Eroberung, Entdeckung, Handel, Seelenheil –, sondern einer eher inneren, impliziten, persönlichen: Bildung nämlich. Als der europäische Adel damit beginnt, seinen Nachwuchs auf die Grand Tour durch die Hauptstädte des zivilisierten Europas zu schicken, entsteht die gehobene Bildungsreise. Die Söhne – denn wir sprechen natürlich nur von Söhnen! – werden begleitet von einem Mentor, Aufpasser, Instruktor; die Reise erstreckt sich über mehrere Jahre und hat einen mehr oder weniger standardisierten Verlauf; Paris, die gefühlte Hauptstadt der höfischen Welt, ist einer der Schwerpunkte, dazu Rom mit seiner reichen antiken, wenn auch reichlich in Trümmern verstreuten antiken Tradition. Die teilweise luxuriös ausgestatteten Reisenden vervollkommnen ihre Sprachkenntnisse wie ihre Manieren; sie knüpfen nützliche Beziehungen für ihre späteren Karriere in Handel oder Politik; manchmal finden sie auch eine Ehepartnerin (das hat nichts mit Liebe zu tun, sondern mit Geld und Status). Notfalls stoßen sie sich auch die Hörner ab in dieser schwierigen Adoleszenzphase, das wird billigend in Kauf genommen. Wie die meisten adligen Bräuche wird auch dieser spätestens am Beginn des 18. Jahrhunderts vom aufstrebenden und wohlhabenden Bürgertum übernommen; und so reist Goethes Vater nach Italien und schreibt treu und brav sein Reisetagebuch und sammelt antike Trümmer, die er dann in seinem geräumigen Wohnhaus in Frankfurt aufstellen wird, wo sie sein Sohn sieht; und so reist eben dieser Sohn, etwas verspätet, dann nach Italien und schreibt, nicht ganz so treu und brav, sein Reisetagebuch und stößt sich die Hörner ab und sammelt antike Trümmer, die er später in seinem geräumigen Wohn-haus in Weimar aufstellen wird. Ist das gap year noch ein später Nachfahre dieser Tradition? 

Um die Wende zum 19. Jahrhundert werden die Reisen, ganz im Zeitgeist: romantisch; und damit kommen wir wieder dem heutigen touristischen Reisen ein deutliches Stück näher. Es geht nämlich nicht mehr primär um zwar persönliche, aber deutlich klassisch oder aufklärerisch geprägte Bildung nach mehr oder weniger allgemeinen Bildungszielen; es geht um die Erfüllung persönlicher Sehnsüchte, die immer in der Ferne liegen (müssen) – da sie zuhause offensichtlich nicht erfüllt werden können (zuhause sitzt der Philister auf dem Sofa und raucht seine Pfeife; nein, noch kein Whisky wahrscheinlich). Immerhin dürfen jetzt auch Frauen reisen, es sind aber nur die wagemutigsten, und sie schreiben auch sehr interessante Reiseberichte. Und immerhin sind die Sehnsuchtsziele noch nicht ganz so standardisiert wie heute: Romantiker können Revolutionsreisen machen, Paris ist immer eine Reise wert! Sie können Fußreisen machen; zwar wurden die Alpen schon im 18. Jahrhundert als Reiseziel entdeckt, aber wenn man es nicht bis dorthin schafft, dann eben durch den Harz. Aber das Meer ist seltsamerweise noch mehr oder weniger unentdeckt als Sehnsuchts-ziel (es ist ja auch ein ziemlich absurde Idee, sich auszuziehen und im Meer zu baden und am Strand zu liegen…); nein, es ist eher die Waldeinsamkeit, von der der Romantiker träumt, und natürlich auch, immer noch, schon wieder: Italien! Derweil reisen auch Ausländer nach Deutschland, ziemlich ausführlich sogar; sie schreiben sogar ganze kulturgeschichtliche Bücher über dieses seltsame Land, in dem die Philosophen und die Literaten gedeihen, des schlechten Wetters und der politischen Zerstückelung zum Trotz (Madame de Stael).

Das 19. Jahrhundert entdeckt dann das eigene Land, nein, sogar die Region als touristisches Ziel. Fontane wandert von Berlin aus durch die Mark Brandenburg und etabliert sie bis heute auf der touristischen map; Annette von Droste-Hülshoff streift durch das heimatliche Westfalen und seine eher herben Schönheiten. Theodor Storm setzt endlich das Meer auf die Landkarte. Ein großer Erfolg werden, schon seit dem 18. Jahrhundert, Badereisen; in einer Zeit, in der die pharmazeutischen Therapiemöglichkeiten noch sehr schwach ausgeprägt waren, schworen viele Ärzte auf die heilsame Wirkung von Wässern und Bädern, und es entwickelte sich eine ganze Bäderindustrie samt begleitendem Unterkunfts- und Unterhaltungsangebot, die Vorläufer der heutigen Wellness-Paläste. Goethes Reisen beschränkten sich nach Italien mehr oder weniger auf die böhmischen Bäder, die er eine Zeitlang jährlich und jeweils über mehrere Wochen hinweg aufsuchte; dort traf er nicht nur andere Vertreter der Bildungselite, sondern auch jede Menge europäischen Adel und gekrönte Häupter.

Ende des 19. Jahrhunderts setzt dann, mit der zunehmenden Verbreitung der Eisenbahn als massentaugliches Verkehrsmittel für den Fernverkehr, der Massentourismus ein; man konnte jetzt ganze Reise buchen, und die Engländer, die eigentlich schon seit der Grand Tour die Pioniere der Reiseindustrie waren, waren auch hier die ersten (Thomas Cook ist ein Name, der bis heute gern in der Reisebranche verwendet wird). Der Tourismus wird von nun an zu einer eigenen Industriesparte, die sich nach und nach über den gesamten Planeten – vor allem jedoch über seine klimatisch bevorzugten Gebiete! – ausbreitete. Seit der Erfindung und Kommerzialisierung des Flugverkehrs ist kein Gebiet des Globus mehr vor Touristen sicher, wie entlegen und harsch es auch ist; und manchmal hat man das Gefühl, dass die eine Hälfte der Weltbevölkerung (die wohlhabendere) ständig irgendwie bei der anderen Hälfte zu Gast ist und von ihr bedient wird; Massentourismus hat durchaus einige kolonialistische Züge. Wie sein großer Bruder, der merkantile und politische Kolonialismus sorgt er für eine bessere Infrastruktur vor Ort und setzt die indigene Bevölkerung in Lohn und Brot (wenn auch gelegentlich ausbeuterisch); wahrscheinlich trägt er dabei auch zu ihrer Ausbildung (aber auch Überfremdung) bei. Inzwischen liegt in einigen Ländern der Beitrag des Tourismus zum Bruttoinlandsprodukt bei bis zu 15 %; im globalen Durchschnitt sollen es 10 %. Doch wie immer kommt das Wachstum auch mit Schäden daher, vor allem im Blick auf die Umwelt und den Klimawandel. Aber: Das eine kann man wohl nicht ohne das Andere haben.

Heute reisen Menschen zu allen denkbaren und historisch entwickelten Zwecken. Sie wollen die letzten weißen Flecken auf der Landkarte finden und erforschen (und alle grauen wenigstens ein bisschen bunter machen). Sie wollen Handel treiben und alle globalen Ressourcen erschließen. Sie suchen immer noch ihr Seelenheil, überall, nur nicht zuhause. Sie suchen aber auch Abenteuer und Unterhaltung, Bildung und Selbstfindung, kulturelle Auseinandersetzung und Wellness. Sie reisen allein oder in Herden; die neuesten Kreuzfahrtschiffe fassen mehrere tausend Reisende. Sie reisen um die ganze Welt oder immer in die gleiche Pension in den Bergen; sie liegen am Strand, ersteigen die höchsten Berge oder tauchen in der Südsee. Sie wohnen in glamourösen Luxushotels oder im billigsten Air-BnB, das sie finden konnten; in alten Palästen, umgebauten Klöstern und Kirchen, Eishöhlen oder Almhütten. Sie überfluten pittoreske Städte und verwüsten Inselstrände; sie helfen bei der Bewahrung und Präsentation von Kulturschätzen, und das UNESCO-Weltkulturerbe ist eigentlich eine geniale Marketing-Idee der Tourismus-Branche. Einige wollen sogar in den Weltraum reisen; andere bleiben im eigenen Lande, für immer. Und für viele – wie immer: in den wohlhabenden Ländern – strukturieren und formen die Reisen eigentlich inzwischen das ganze Leben: Zwischen den Höhepunkten mehrerer Kurz- und eines längeren Jahresurlaubs liegen die Niederungen des Alltagslebens, und kaum sind die Koffer ausgepackt und die Mitbring-sel verteilt, plant man innerlich den nächsten Ausflug. Der Aus-Flug, the getaway, l’escapade, excursio: denn nur fliegend, aus dem bekannten Ruder laufend, mit einem Sprung kann man dem Alltag entkommen!

Und Menschen schreiben weiterhin über ihre Reisen, inzwischen aber zunehmend in digitalen Formen wie Reise-Blogs oder Reise-Vlogs, die das gute alte Reisetagebuch ebenso abgelöst haben wie die traditionellere Reisebeschreibung oder das Reisehandbuch; selbst die Apodemik findet ihre Nachfolger, die beraten über heikle Fragen der Reisegestaltung in den Zeiten von allerhand correctnesses und erhöhter Sensibilitäten. Digitale Formen der Reisebeschreibung haben den offensichtlichen Vorteil, dass sie sozusagen Reisetagebuch und Fotoalbum kombinieren können; der beschreibende Teil wird dabei ausgelagert in den visuellen. Und was sagt besser: Et in arcadia ego, als ein Selfie vor römischen Trümmern (wahlweise auch: vor pazifischen Palmen, um einer modernen Paradies-Vorstellung näherzukommen)? Denn das ist ja eigentlich der Wesenskern der Reise, und damit kommen wir natürlich zu unserer Anfangsmetapher zurück: Ich persönlich bin an diesem Ort gewesen, ich habe ihn gesehen und wahrgenommen, ich habe dort meine ganz eigenen Erfahrungen gemacht, die ich nur an diesem Ort in dieser Form machen konnte, und deshalb gehört dieser Ort nunmehr zu meinem Leben und reichert es an! Und wenn ich davon berichte, wenn ich meine ganz eigenen Erfahrungen und Erlebnisse an diesem ganz speziellen Ort in irgendeiner Form zum Ausdruck bringe, nach außen trage, mit-teile: Wird mein Leben zukünftig auch zu diesem Ort gehören und ihn anreichern.


Goethe in Italien - Flucht und Wiedergeburt


Wahrscheinlich ist es eine dieser nachträglichen verschönerten Erinnerungen, die uns das Gehirn so gern auftischt. Aber ich glaube mich wirklich erinnern zu können, dass immer, wenn man den Brenner hinter sich gelassen hatte, direkt nach der Kuppe sozusagen (es kann auch der San Bernardino gewesen sein), magisch die Wolken verschwunden waren, die einen vorher durch ein graues Land begleitet hatten. Die Sonne schien von einem strahlendblauen Himmel, und mit jedem Meter, den das Auto herunterkurvte, schien die Natur blühender und voller zu werden, und mit jedem Aufblühen der Natur schien das Herz ein wenig leichter zu werden und zu jubeln: „Auch ich in Arkadien!“

Nun sind wir natürlich nicht Goethe; aber immerhin hatte Goethe eine ganz ähnlich menschliche Empfindung, als er im Frühherbst 1786 nach einem anscheinend gräßlich verregneten und kalten Sommer in Weimar, voller Amtsgeschäfte und anderer Plagen, endlich den Brenner überfährt. Aber vielleicht wären wir nicht auf den Vergleich gekommen, den Goethe in seinem Reisetagebuch notiert, kaum dass er in Italien ist:

Und nun, wenn es Abend wird, bei der milden Luft wenige Wolken an den Bergen ruhen, am Himmel mehr stehen als ziehen, und gleich nach Sonnenuntergang das Geschrille der Heuschrecken laut zu werden anfängt, da fühlt man sich doch einmal in der Welt zu Hause und nicht wie geborgt oder im Exil. Ich lasse mir's gefallen, als wenn ich hier geboren und erzogen wäre und nun von einer Grönlandsfahrt, von einem Walfischfange zurück-käme

Nach Grönland wird er nicht kommen. Aber Italien, immerhin! Es war ein uralter Lebenstraum von ihm, der nun im Frühherbst 1786 endlich wahr wurde: Denn schon sein Vater war in Italien gewesen, auf seiner eigenen Grand Tour zwischen 1740 und 1741; er hatte pflichtgemäß sein Reisetagebuch geführt, in italienischer Sprache (Viaggio per l’italia ist der wenig phantasievolle Titel); es war der Höhepunkt seines danach in bürgerlichen Pflichten erstarrenden Lebens gewesen. Der kleine Johann Wolfgang aber, sein einziger Sohn, wuchs zwischen bildlich-idealisierten Darstellungen Italiens auf, die das Wohnhaus in Frankfurt schmückten. Dreimal hatte er als junger Mensch schon versucht, nach Italien zu (ent-)kommen; aber erst 1786 gelingt es ihm wirklich.

Getriggert wurde der Entschluss offenbar durch ein Angebot seines Verlegers Göschen, doch endlich einmal eine Gesamtausgabe zu veröffentlichen; und schlagartig wurde Goethe klar, dass er in den letzten zehn Jahren nichts Neues mehr veröffentlicht hatte. Er hatte sich in seinem Brotberuf als Minister und Geheimer Rat im Herzogtum aufgerieben, er hatte Straßen und Bergwerke inspiziert, er hatte sich mit den Staatsschulden befasst und der militärischen Aufrüstung. Aber seine angefangenen Werke, der Faust, Tasso und Iphigenie darunter, lagen nur bruch-stückhaft zwischen den Akten. Und auch sein Privatleben ließ deutlich zu wünschen übrig; schon seit zehn Jahren verehrte er hoffnungslos (und mehr oder weniger öffentlich) die verheiratete Hofdame Charlotte von Stein, aber allen war klar, dass die Beziehung keinerlei Zukunft hatte. Heute würden wir wohl sagen, dass Goethe, als er sich kurz nach seinem 37jährigen Geburtstag aus Karlsbad heimlich Richtung Brenner fortstiehlt, kurz vor einem burnout stand. Und er war klug genug das zu erkennen; und sein Arbeitgeber (und langjähriger persönlicher Freund), der Herzog Carl August, war immerhin als Einziger wenigstens halb eingeweiht und hatte zugestimmt, während eines einjährigen Sabbaticals weiter die Bezüge zu bezahlen.

Und so beginnt die Italienische Reise, sein später veröffentlichtes Reisetagebuch, mit dem Bekenntnis einer Flucht (die ihm seine Freunde in Weimar auch so schnell nicht verzeihen werden, vor allem Charlotte von Stein); Goethe nämlich war dann mal weg:

Früh drei Uhr stahl ich mich aus Karlsbad, weil man mich sonst nicht fortgelassen hätte. Die Gesellschaft, die den achtundzwanzigsten August, meinen Geburtstag, auf eine sehr freundliche Weise feiern mochte, erwarb sich wohl dadurch ein Recht, mich festzuhalten; allein hier war nicht länger zu säumen. Ich warf mich ganz allein, nur einen Mantelsack und Dachsranzen aufpackend, in eine Postchaise

Die Reise entwickelt sich, vor allem in der Anfangsphase, durchaus abenteuerlich. Denn Goethe reist allein – was unerhört ist für eine adlige Person von Stand! -, und er reist Inkognito; er möchte nicht erkannt und belästigt werden als der europaweit zu Berühmtheit gelangte Autor des Werther! Nein, er ist ein deutscher Maler, er heißt Johann Philipp Möller, und deutsche Maler reise alle früher oder später nach Italien, da ist nichts Auffälliges bei. Das heißt aber auch, dass er sich seine Reise selbst organisieren muss; von Postkutsche zu Postkutsche, von Gasthof zu Gasthof, von Abenteuer zu Abenteuer:

Jetzt fühl' ich wohl die Verwegenheit, unvorbereitet und unbegleitet in dieses Land zu gehen. Mit dem verschiedenen Gelde, den Vetturinen, den Preisen, den schlechten Wirtshäusern ist es eine tagtägliche Not, daß einer, der zum ersten Male wie ich allein geht und ununterbrochnen Genuß hoffte und suchte, sich unglücklich genug fühlen müßte. Ich habe nichts gewollt, als das Land sehen, auf welche Kosten es sei, und wenn sie mich auf Ixions Rad nach Rom schleppen, so will ich mich nicht beklagen.

Aber er kommt nach Rom, allen Hindernissen zum Trotz. Er nimmt die Route über den Brenner; dann über Trient zum Gardasee (wo er fast verhaftet wird, weil er das verfallene Schloß in Malcesine zeichnet, er könnte ja ein fremdländischer Spion sein!); von dort nach Verona und Vicenza, wo er über die Gebäude Palladios in Begeisterung gerät; und von dort nach Venedig, wo er zum ersten Mal die Dinge seiner Kindheit nun lebendig vor sich sieht:

So steht es im Buche des Schicksals auf meinem Blatte geschrieben, daß ich 1786 den achtundzwanzigsten September, abends, nach unserer Uhr um fünfe, Venedig zum erstenmal, aus der Brenta in die Lagunen einfahrend, erblicken und bald darauf diese wunderbare Inselstadt, diese Biberrepublik betreten und besuchen sollte. So ist denn auch, Gott sei Dank, Venedig mir kein bloßes Wort mehr, kein hohler Name, der mich so oft, mich, den Todfeind von Wortschällen, geängstiget hat.

Als die erste Gondel an das Schiff anfuhr (es geschieht, um Passagiere, welche Eil' haben, geschwinder nach Venedig zu bringen), erinnerte ich mich eines frühen Kinderspielzeuges, an das ich vielleicht seit zwanzig Jahren nicht mehr gedacht hatte. Mein Vater besaß ein schönes mitgebrachtes Gondelmodell; er hielt es sehr wert, und mir ward es hoch angerechnet, wenn ich einmal da-mit spielen durfte. Die ersten Schnäbel von blankem Eisenblech, die schwarzen Gondelkäfige, alles grüßte mich wie eine alte Bekanntschaft, ich genoß einen langentbehrten freundlichen Jugendeindruck.

17 Tage hält er es dort nur aus, dann zieht es ihn immer energischer nach Rom, der Weltstadt der Antike und der Kunst, über die er schon so viel gehört und gelesen hat! Dort angekommen, zieht er, seinem Inkognito gemäß – das aber nicht lange aufrechterhalten werden wird – in die Wohngemeinschaft der deutschen Künstler in Rom ein; und sein Mitbewohner Johann Heinrich Wilhelm Tischbein hat ihn für die Nachwelt in einer flüchtigen Zeichnung und in einem monumentalen Gemälde festgehalten: Et in Arcadio ego, auch ich endlich und wirklich in Arkadien, dem Traumland, der Utopie einer goldenen Zeiten der Künste – oder, wenigstens, den Resten davon, wie sie sich im Rom des 18.Jahrhunderts zwar zuhauf, aber teilweise in recht jämmerlichem Zustand und quer über die Stadt verstreut zeigen.

Doch Goethe macht nicht nur, brav mit dem kanonischen Kunstführer der Zeit, dem Volkmann unter dem Arm, einen Pflicht-Kultur-Trip. Nein, er interessiert sich von Beginn der Reise an für alles, was ihm begegnet. Er macht Wetterbeobachtungen (und entschuldigt sich bei den Briefempfängern zuhause für diese Fixierung, es sei aber nun einmal sei, dass der Reisende sehr vom Wetter abhänge; und außerdem interessiert er sich für alle Naturphänomene, basta!); er untersucht die Gesteine ebenso wie die Pflanzen, immer auf der Suche nach seiner Idee der einen „Urpflanze“, aus der sich alle anderen ableiten lassen, in der Realität; er schaut dem Volk aufs Maul, registriert schöne Frauen, verteidigt die Neapolitaner gegen den Vorwurf der kollektiven Faulheit, geht ins Theater und besucht Gerichtsverfahren. Kunst, Natur, die Menschen – das sind die drei zentralen Themen dieser Reise; und man würde ihr nicht gerecht, wenn man sie als reine Kunst- und Bildungsreise im Sinne der traditionellen Grand Tour abtun würde. Goethe besteigt mit der gleichen Begeisterung den (gerade aktiven) Vesuv (es ist eines der größeren Abenteuer dieser Reise), wie er die Ausgrabungen des antiken Herkulaneum besucht; er beschaut alle Arten antiker Überreste, Skulpturen, Münzen, Inschriften, aber beobachtet auch die Römer bei ihrem Karnevalstreiben (das wird einen eigenen Text geben später, Das römische Karneval, den man mit einigem guten Willen als eine der ersten ethnologischen Studien lesen könnte). Er ist, sozusagen, ein Universalreisender; und er verfolgt relativ energisch und zielgerichtet sein persönliches Bildungsprogramm.

Aber bevor wir darauf genauer zu sprechen kommen, verfolgen wir noch kurz die Reiseroute zu Ende. Goethe bleibt also erst einmal vier Monate in Rom, mit Ausflügen in die nähere und weitere Umgebung: dann geht er für fünf Wochen nach Neapel. Neapel ist gegenüber Rom tatsächlich noch einmal eine Steigerung: Die Natur ist noch üppiger, die Menschen sind noch freier und lebenslustiger, und Goethe beginnt das Leben hier wirklich zu genießen. Am 17. März schreibt er in sein Tagebuch, noch ganz berauscht von all dem Neuen, aber gleichzeitig auch mit scharfem Blick auf den wirtschaftlichen Nutzen eines solchen blühenden Landes:

Wenn ich Worte schreiben will, so stehen mir immer Bilder vor Augen des fruchtbaren Landes, des freien Meeres, der duftigen Inseln, des rauchenden Berges, und mir fehlen die Organe, das alles darzustellen.
[…]
Hierzulande begreift man erst, wie es dem Menschen einfallen konnte, das Feld zu bauen, hier, wo der Acker alles bringt, und wo man drei bis fünf Ernten des Jahres hoffen kann. In den besten Jahren will man auf demselben Acker dreimal Mais gebaut haben.

Doch er will immer noch weiter. Einige Zeit ringt er mit sich, aber dann entschließt er sich mehr oder weniger spontan, doch noch nach Sizilien zu gehen. Er engagiert dazu einen jungen deutschen Künstler als Zeichner und Reisebegleiter, was schon ein ziemlich genialer Schachzug ist (und auch zeigt, dass gewisse Reisemittel durchaus zur Verfügung standen). Die Schifffahrt ist, auf der Hinreise, geprägt durch lähmende Windstille (Goethe ist erst seekrank, und dann schreibt er ein ganz wunderbares Gedicht); die Rückreise ist eher stürmisch und endet beinahe im Schiffbruch (Goethe ist nochmal seekrank, kein Gedicht). Auch in Sizilien erlebt er das eine oder andere Abenteuer, unter anderem aufgrund einer Warnung vor einem bestimmten Hotel in Syrakus, die ein anderer Reisender an die Wand der vorherigen Herberge gekritzelt hatte (sozusagen eine Frühform von Reisebewertung). Und zwischendurch macht er auch Erfahrungen, die nicht ganz so klassisch sind, sondern eben typisches Touristenschick-sal; inmitten der berühmtesten Kunstwerke der Welt sinniert er:

Die Kunst, die dem Alten seinen Fußboden bereitete, dem Christen seinen Kirchenhimmel wölbte, hat sich jetzt auf Dosen und Armbänder verkrümelt. Die Zeiten sind schlechter, als man denkt.

Aber das können wir nicht alles erzählen, es ist auch interessanter es selbst zu lesen; kurz: Im Juni 1787 geht es, wiederum über Neapel, zurück nach Rom, und es beginnt der zweite Römische Aufenthalt (das ist auch der zweite Band der Italienischen Reise; er ist nicht ganz so interessant wie der erste und eher etwas für Goethe-Kenner und -Liebhaber).

Eigentlich ist das Jahr Urlaub vom Leben nun um, und Goethe müsste zurück in die Heimat. Aber kaum etwas ist erledigt von seinem Arbeitspensum, die angefangenen Werke liegen ihm wie Blei auf der Seele und auf dem Schreibtisch; und wahrscheinlich schreckt ihn auch die Vorstellung vor dem kalten Winter in Weimar. So redet er sich heraus, seine Mission sei noch nicht vollendet, sein Bildungsprogramm noch nicht abgearbeitet, und alle Mühe sei umsonst gewesen, wenn er jetzt schon zurückfahre! Er kommt damit durch, aber wir verlassen ihn hier; der eigentliche Reiseteil ist beendet. Er wird im zweiten Jahr in Rom ein wenig sesshaft, zeichnet und malt viel und beginnt eine Affäre mit einer römischen Gastwirtstochter, die als die „Faustina“ aus den Römischen Elegien in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Und auch das gehört letztlich zum universalen Bildungsprogramm der Italienischen Reise für Goethe: eine sexuelle Befreiung nach dem – wahrscheinlich – leidenschaftlichen, aber platonischem Verhältnis zu Charlotte von Stein; und beinahe direkt nach seiner Rückkehr nach Weimar um Ostern 1788 wird er sich zum Entsetzen der Hofgesellschaft eine Geliebte aus dem Volk in den Schoß fallen lassen, die sehr viel später auch seine Ehefrau wird: Christiane Vulpius, seinen „Bettschatz“.

Wie jedoch kann man dieses universale Bildungsprogramm nun genauer fassen, was macht diese Italienreise Goethes zu so einer besonders prototypischen Reise, einer, wie wir gesagt haben: transformativen persönlichen Erfahrung - und gleichzeitig auch zu einem der ersten Muster eines literarisierten Reiseberichts? Goethe selbst hat zu einem großen Wort gegriffen, noch in Italien, um das Erlebnis zu charakterisieren:

und ich zähle einen zweiten Geburtstag, eine wahre Wiedergeburt, von dem Tage, da ich Rom betrat.

Er fühlt sich nicht nur, metaphorisch, wie neu geboren, er ist neu geboren: ein neuer Mensch, mit neuen Ideen und Zielen, mit neuen Kräften und Interessen. An anderer Stelle spricht er davon, er mache diese Reise ja nicht, um sich selbst zu betrügen, sondern „um mich an den Gegenständen kennen zu lernen“ – also genau diese Wechselwirkung von Außen und Innen, Person und Umständen zu erfahren, die das produktive Reisen ausmacht. Und dazu ist es nötig, dass es neue Gegenstände, andere Gegenstände als die gewohnten gibt; dass es fremde, und im Falle Roms und seiner Kunstwerke: bedeutende Gegenstände gibt, mit einer langen, vielfältigen Geschichte. Aber auch die Natur ist Italien ist eine andere als in Thüringen; die Menschen sind andere, sogar die Liebe sieht eben anders aus in Italien als am Hofe in Weimar! Goethe wählt noch einen weiteren drastischen Vergleich, um diese Veränderung von Grund auf anschaulich zu machen:

Überhaupt ist mit dem neuen Leben, das einem nachdenkenden Menschen die Betrachtung eines neuen Landes gewährt, nichts zu vergleichen. Ob ich gleich noch immer derselbe bin, so mein‘ ich, bis aufs innerste Knochenmark verändert zu sein.

„Bis aufs innerste Knochenmark verändert“ – das muss ein starkes Gefühl sein! Man beachte aber auch den ersten Teil des Satzes: Um diese starke Veränderungserfahrung zu machen, muss man nachdenkend an das Fremde herangehen; also nicht nur mit offenen Augen, sondern auch mit freiem Kopf und schließlich; mit einer gewissen Geduld. Goethe ist schon einige Zeit in Rom, da schreibt er:

Mir ist jetzt nur um die sinnlichen Eindrücke zu tun, die kein Buch kein Bild gibt. Die Sache ist, daß ich wieder Interesse an der Welt nehme, meinen Beobachtungsgeist versuche und prüfe, wie weit es mit meinen Kenntnissen geht, ob mein Auge licht, rein und hell ist, wieviel ich in der Geschwindigkeit fassen kann, und ob die Falten, die sich in mein Gemüt gedrückt und geschlagen haben, wieder auszutilgen sind.

Das ist eine gute Reiseanleitung, eine Apodemik in nuce: den Beobachtungsgeist schärfen; mit eigenen Sinnen wahrnehmen; und die Augen dabei „licht, rein und hell“ zu halten, also: möglichst offen und aufnahmebereit zu sein. Nicht immer alles bekritteln, sondern versuchen, all die fremden Eindrücke vorurteilsfrei auf sich wirken zu lassen. Denn, und für solche Formulierungen lohnt sich die Lektüre doppelt: wir alle haben, zumal wenn wir ein gewisses Alter erreicht haben, Falten ins Gemüt nicht nur gedrückt, sondern geschlagen, nicht nur ins Gesicht; und wenn wir ein wenig nur wiedergeboren werden auf einer solche Reise, dann ist das das beste Anti-Falten-Mittel!

Zur Reisedisziplin und zur produktiven Verarbeitung all der neuen Eindrücke gehört schließlich auch, dass Goethe von Anfang an die große Mühe auf sich nimmt, ein sehr ausführliches Reisetagebuch zu führen (oft beklagt er sich, dass er in einer schlechten Unterkunft nicht einmal eine ordentliche Unterlagen fürs Schreiben findet); und er weist Charlotte von Stein, an die regelmäßig die Aufzeichnungen versendet werden, sie abzuschreiben und dabei alles persönliche zu tilgen; offensichtlich hat er schon eine mögliche Veröffentlichung im Sinn. Damit wird es aber nichts direkt nach seiner Rückkehr. Als er jedoch beinahe 20 Jahre später dabei ist, seine Autobiographie zu verfassen – Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit -, da lässt er sich auch die alten Briefe aus Italien wieder vorlegen und stellt daraus denjenigen Text zusammen, der dann als Teil der Autobiographie veröffentlicht wird; einzeln und unter dem heute bekannten Titel Italienische Reise erscheint er erst 1829. Dabei tilgt Goethe dann natürlich selbst alles allzu Persönliche; aber prinzipiell kann man vor allem den ersten Teil bis heute als lebendigen, vielseitigen und unterhaltsamen Reisebericht eines Mannes in einer Lebenskrise lesen, dem auf einmal, wörtlich: aus „heiterem Himmel“, eine Wiedergeburt als Mensch und als Dichter geschenkt wird. Wäre er in Weimar geblieben – er wäre nicht der Goethe geworden, wie wir ihn heute kennen.

Die Veröffentlichung der Reisetagebücher jedoch gibt uns die Chance, das sozusagen live mitzuerleben. Und man kann dabei durchaus sehen, dass es keine reine Erfolgsgeschichte ist, sondern dass Goethe während der Reise immer wieder mit Zweifeln kämpft. Am Ende des ersten Teils, bevor Goethe Neapel verlässt – wahrscheinlich für immer, wie er wehmütig verzeichnet – und zum zweiten römischen Aufenthalt nach Rom zurückkehrt, hält er noch einmal Rückschau. Ein Gefühl persönlichen Ungenügens (das es bei Goethe durchaus gibt, immer wieder) mischt sich hier mit der Skepsis darüber, ob solche Erfahrungen wie die seinigen auf dieser Reise überhaupt mitteilbar sind. Er wendet sich dabei direkt an seine zurückgelassenen Freunde in Weimar, die er immer wieder persönlich anspricht – Charlotte von Stein und Herder vor allem sind eine Art geistige Reisebegleiter; und er freut sich, dass sie seiner Reise anhand der von ihm übersandten Briefe folgen und sie sogar durch die Lektüre anderer Reisebeschreibungen ergänzen. Denn nur so, so schließt er, ist auch sein Reisebericht zu nutzen und von Nutzen: indem man ihn als individuelle Darstellung betrachtet, die zusammengehalten werden kann mit anderen individuellen Darstellungen, um ein vollständigeres Bild zu gewinnen – und am Ende am allerbesten ergänzt wird durch die eigene, lebendige Reiseerfahrung:

Da ich allein reise, habe ich Zeit genug, die Eindrücke der vergangenen Monate wieder hervorzurufen; es geschieht mit vielem Behagen. Und doch tritt gar oft das Lückenhafte der Bemerkungen hervor, und wenn die Reise dem, der sie vollbracht hat, in einem Flusse vorüberzuziehen scheint und in der Einbildungskraft als eine stetige Folge hervortritt, so fühlt man doch, daß eine eigentliche Mitteilung unmöglich sei. Der Erzählende muß alles einzeln hinstellen: wie soll daraus in der Seele des Dritten ein Ganzes gebildet werden?

Deshalb konnte mir nichts Tröstlicheres und Erfreulicheres begegnen als die Versicherungen eurer letzten Briefe, daß ihr euch fleißig mit Italien und Sizilien beschäftigt, Reisebeschreibungen leset und Kupferwerke betrachtet; das Zeugnis, daß dadurch meine Briefe gewinnen, ist mein höchster Trost. Hättet ihr es früher getan oder ausgesprochen, ich wäre noch eifriger gewesen, als ich war. Daß treffliche Männer wie Bartels, Münter, Architekten verschiedener Nationen vor mir hergingen, die gewiß äußere Zwecke sorgfältiger verfolgten als ich, der ich nur die innerlichsten im Auge hatte, hat mich oft beruhigt, wenn ich alle meine Bemühungen für unzulänglich halten mußte.

Überhaupt, wenn jeder Mensch nur als ein Supplement aller übrigen zu betrachten ist und am nützlichsten und liebenswürdigsten erscheint, wenn er sich als einen solchen gibt, so muß dieses vorzüglich von Reiseberichten und Reisenden gültig sein. Persönlichkeit, Zwecke, Zeitverhältnisse, Gunst und Ungunst der Zufälligkeiten, alles zeigt sich bei einem jeden anders. Kenn' ich seine Vorgänger, so werd' ich auch an ihm mich freuen, mich mit ihm behelfen, seinen Nachfolger erwarten und diesem, wäre mir sogar inzwischen das Glück geworden, die Gegend selbst zu besuchen, gleichfalls freundlich begegnen.

Und in diesem Sinne werden auch wir das nächste Mal, wenn wir aus dem Regen hinaus über den Brenner der Sonne entgegen fahren – unseren Goethe wenigstens im geistigen Gepäck haben!


SPIRITUELLE KARTENHÄUSER UND IRRE TYPEN: HAPE KERKELING AUF PILGERREISE

Vielleicht sollte ich vorausschicken, dass ich einer von wahrscheinlich ungefähr drei Menschen in Deutschland bin, die Hape Kerkeling nicht kennen. Also, nicht aus dem Fernsehen, nicht als eine seiner diversen Kunstfiguren, nicht als Comedian und Alleinunterhalter und Moderator. Das hat verschiedene Gründe, die hier egal sind; es war jedoch wahrscheinlich eine ideale Voraussetzung dafür, nun endlich für diesen Reise-Podcast das Buch zu lesen, das beinahe noch berühmter geworden ist als sein Autor und darüber hinaus zum geflügelten Wort: „Ich bin dann mal weg!“ Sachbuch-Bestseller, über viele Jahre hinweg, nächstes Jahr wird er zwanzig, und immer noch mehr Leute lassen sich von ihm beflügeln und nehmen sich einen Urlaub von ihrem Leben (wie auch Goethe, nebenbei bemerkt): „Ich bin dann mal weg!“, ach, das möchte wirklich jede und jeder irgendwann sagen!

Besagter Hape Kerkeling also, mir nur vage bekannt, gerät in der Mitte des Lebens in einen dunklen Wald (wie so viele von uns); Hörsturz, Entfernung der Gallenblase, nichts Großes und Dramatisches, aber gerade genug, um vieles in Frage zu stellen, zumal wenn man sowieso, von Typus und Charakter her, religiös inkliniert ist (was der Autor uns freiwillig gesteht, im Laufe eines seiner längeren lebensgeschichtlichen Exkurse). Und wahrscheinlich war es ein anderes Buch, das ihn auf die Idee gebracht hat (Shirley MacLaines Bericht vom Jakobsweg, man sollte nicht glauben, was Bücher bewirken können!). So macht er sich auf, mit sorgsam zusammengestelltem leichtem Gepäck (es ist immer noch zu schwer), genialen kanadischen Wanderschuhen (nicht eine Blase auf dem ganzen Weg, niemand will es ihm glauben) und einem leeren Tagebuch; er reist nach Frankreich, von dort aus wird er starten zu einem der klassischen Varianten des Jakobswegs nach Santiago de Compostela, dem Camino France. Und während sich die Seiten des Tagebuchs füllen und der Rucksack sich leert und die Malaisen sich häufen – denkt Hape im Wesentlichen, wie so viele Pilger vor ihm und nach ihm, über zwei Fragen nach, nämlich: „Wer bin ich?“, und: „Gibt es eigentlich Gott?“ (also jedenfalls, wenn er nicht darüber nachdenkt, ob er doch lieber für die nächste Etappe den Zug nehmen soll und wo sich ein besseres Hotel als die überfüllte und hygienisch mal wieder zweifelhafte Pilgerherberge findet).

Nun, die erste Frage ist zweifellos eine, die die Philosophie seit einiger Zeit umtreibt (aber beileibe nicht jeden Philosophen!) und die Richard David Precht mit einem weiteren inzwischen geflügelten Nachsatz ergänzt hat: „Wer bin ich, und wenn ja, wie viele?“ Und Hape zählt auf, wörtliches Zitat:

„Ich! Hans Peter Wilhelm Kerkeling, 36 Jahre, Sternzei-chen Schütze, Aszendent Stier, Deutscher, Europäer, Adoptiv-Rheinländer, Westfale, Künstler, Raucher, Dra-chen im chinesischen Sternkreis, Schwimmer, Autofahrer, GEZ-Gebührenzahler, Zuschauer, Komiker, Radfahrer, Autor, Kunde, Wähler, Mitbürger, Leser, Hörer und Monsieur“

Das hört sich nach viel an, und die Reihung profitiert natürlich von der Assoziationskraft des gelernten Komikers. Aber während man ihm noch auf dem Leim geht, nagt das Gefühl, dass bemerkenswert viel fehlt: Mann zum Beispiel. Oder Sohn. Liebender, Geliebter (seine öffentlich gemachte Homosexualität ist übrigens ziemlich hilfreich beim Pilgern). Oder wenigstens Freund? Denn Freundschaft wird noch eine große Rolle spielen im Laufe des Weges, der ein vielfacher ist: ein innerer Weg ebenso wie ein langer, langer Fußweg; ein Weg in die Gemeinschaft der Pilgernden (das ist, bitte zu bemerken, keine krampfhafte Vermeidung von gegenderten Substantiven durch Partizip, sondern es ist ein echtes, grammatisches Partizip Präsens: Pilgernde sind Leute, die derzeit pilgern!) und in die Einsamkeit der Natur; und ein Weg des Schreibens und Geschriebenwerdens. Denn wie jeder gute Pilgernde kommt auch der gute Hape irgendwann (nicht besonders schnell, um ehrlich zu sein) zu der Einsicht, dass sich die Gegensätze berühren. In Gott oder: wenigstens im Leben!

Aber beginnen wir am Anfang dieses mehrfachen Weges. Am Anfang ist der Wanderer untrainiert und grenzwertig naiv; und der Text kommt etwas schludrig-mündlich-alltagsweltlich daher, aber na gut: Es ist ein Tagebuch, in einem Tagebuch spricht man erst einmal mit sich selbst (wer konnte schon wissen, dass es ein Super-Bestseller werden wird?), und es ist schon eine große disziplinarische Leistung, dass man nach den Strapazen eines langen Marschtages noch den Stift zückt und das Erlebte zu Papier bringt; gekrönt von einer „Erkenntnis des Tages“, die anfangs auch beliebig trivial sein darf (aber selbsterwandert, hallo!). Und während man noch darüber nachdenkt, dass es mit gutem Grund ja eine Unterscheidung zwischen mündlicher und Schriftsprache gibt; und ob es dieser leicht übergewichtige mittelalte Mann mit multiplen Rollen-Identitäten wirklich bis zum Ziel schaffen wird; und welche seltsamen Menschen er noch treffen wird – ist man schon gefangen. Ein wenig gegen den eigenen Willen wandert man mit, es tut nach einer Weile auch stilistisch nicht mehr ganz so weh. Denn es mag ein schwacher Spannungsbogen sein, aber es ist definitiv einer, und er ist eine ganz nette Abwechslung zu den bekannten Ro-man-Spannungsbögen (bekommen sie sich oder nicht?): Findet Hape sich, findet er Gott, und findet er nach Santiago? (und das alles wirklich ohne Blasen an den Füßen???)

Wer sich dabei als erstes findet, ist das Buch. Es entwickelt nämlich, wie noch jedes wenigstens halbgute Buch, eine Persönlichkeit. Und wenn man von jedem Pilgerer sagen kann, dass er ein eigenes Tempo und einen eigenen Rhythmus beim Gehen hat (weshalb die echten, richtigen, allein gehen, selbst wenn sie in der Gruppe gestartet sind!); und wenn diese Art des Gehens nicht nur ein mechanischer physischer Prozess ist, sondern ein Bewusstseinszustand – „Die Pilger sind, fühlen und denken, wie sie laufen“, notiert Hape in einem recht gelungenen philosophischen Apercu; dann kann auch ein Buch zu sich selbst finden. Weil es aber ein erfahrener und nach allgemeiner Auffassung auch recht guter und gescheiter Komiker ist, der es schreibt, finden sich dazu noch viele humorvolle Episoden und liebevoll ausgemalte Begegnungen mit Sonderlingen. Aber sie sind zunehmend auf eine ganz anrührende Weise human unterfüttert, sozusagen; und wenn Kerkeling in einer lautstark besserwisserischen Ehefrau seinen dunklen „Schatten“ erkennt, den er nicht leiden mag und den er nicht los wird und den er letztendlich noch nicht einmal richtig verurteilen kann – dann scheint mir das eine Erkenntnis zu sein, die tiefer geht als ein Bekenntnis zu einer eher konventionellen „Brüderlichkeit“, die dann aber wenigstens, in einer überraschenden Paraphrase, als „vielleicht irdischste Tugend“ bezeichnet wird. Oder wenn der Wanderer ständig Schmetterlingen begegnet, solange er auf dem richtigen Weg ist – aber keinerlei Tiere mehr seinen Weg kreuzen, wenn es der falsche ist; oder wenn Leuchttafeln und Plakatwände zu ihm persönlich zu sprechen scheinen – kann man das alles in schönster rationalistischer Manier wegerklären, das ist eine nette Übung. Man kann es aber auch stehen lassen – als Zeichen, als Bild, als Leitmotiv. Das macht auf jeden Fall mehr Spaß beim Lesen!

Zur Hochform läuft das Buch in seinen Bildern auf; und das ist durchaus ernst gemeint. Wenn Hape erwägt, ob „die heiligen Schriften auf unserem Planeten komplizierte, schlecht ins Deutsche übersetzte japanische Bedienungsanleitungen für einen hoch-wertigen japanischen DVD-Player sind“, scheint noch der Komiker durch; der Vergleich hat aber durchaus interessante Implikationen beim Weiterdenken. Mein persönlicher Favorit findet sich bereits im ersten Drittel des Weges; wir sind noch sehr beim Sortieren, Ausprobieren, Herumtasten. Hape fasst das in folgendes Bild: 

„Ich habe das Gefühl, hier auf dem Weg eine Art spirituelles Kartenhaus zu bauen. Jede Karte, die ich dazupacke, macht das Haus zwar für mich beeindruckender, aber es wird immer schwieriger, die nächste Erkenntnis so zu positionieren, dass das gesamte Gebilde stehen bleibt und nicht wieder in sich zusammenfällt“. 

Das könnte man durchaus auch auf andere als religiöse Such- und Erkenntnisprozesse übertragen; und es führt zu überraschenden Ergebnissen!

Am Ende versucht der Wanderer selbst eine Art Zusammenfassung und Deutung. Sie ist – nun ja, so unbefriedigend, wie das Reden von mystischen Erfahrungen immer ist; und es spricht sehr für Autor und Buch, dass die entscheidende Gotteserfahrung, die sich dann eines Tages doch einstellt – einfach ausgespart wird. Unsagbar, unbeschreibbar, und deshalb sagen wir es einfach nicht! Natürlich könnte man sich auch in Unsagbarkeitstopoi ergehen, wie Heerscharen berühmterer Autoren vor ihm (die auf unterschiedlicher Stilhöhe gescheitert sind) und das tut das Schlusswort dann; aber man kann es auch einfach sein lassen. Denn das Wesentliche an mystischen Erfahrungen, Epiphanien, Visionen, wie auch immer man es nennt, ist: Man muss sie haben! Wie man den Weg selbst gehen muss. Allein, sonst funktioniert er nicht, und ohne Handy-Kontakt und ohne Begleitlektüre und ohne all das, was uns sonst ablenkt vom Weg. Dass man dabei erkennt, dass jedes Leben ein Weg ist; und dass man vielleicht, mit etwas Glück und viel Disziplin, in der zweiten Lebenshälfte diesen Weg mit etwas mehr „heiterer Gelassenheit“ gehen kann als in der ersten Lebenshälfte; das alles gehört zu dieser besonderen Form von Reise, die Menschen schon seit Jahrhunderten praktiziert haben - immer auf der Suche und unbeirrt von den Schrecken von Wetter, Räubern, halbwilden Hunden oder rücksichtslosen LKW-Fahrern. Und es liest sich, wie die Autorin dieses nun auch endlich persönlich bezeugen kann: sogar aufschlussreich und unterhaltsam!


DIE ERFINDUNG DER KREUZFAHRT UND LIVE-BERICHTE AUS DEM HAREM:
LADY MARY WORTLEY MONTAGUE

Noch klarer wurde mir aber die Besonderheit dieser Reiseform und dieses Reiseberichts erst auf der Folie des nächsten, den ich las – und der in sehr vielen Hinsichten das reine Gegenteil von Kerkelings Pilgerbuch ist. Geschrieben, das ist ein wesentlicher Unterschied überhaupt und in diesem Fall besonders, von einer Frau; von einer Frau, die auch Ehefrau, Mutter und Tochter war; von einer Frau, die von Adel war; die Geliebte war und öffentliche Intellektuelle, streitbare Autorin und romantische Lyrikerin; und die ein unbezweifelbar komisches Talent hatte, das sich aber eher als Ironie äußerte. Ihr Name war Lady Mary Wortley Montague, geborene Pierrepont; sie wurde 1689 in Nottinghamshire geboren und starb 73jährig in London nach einem abwechslungsreichen und produktiven Leben. Und eigentlich erhielt sie nur die typische Mädchenerziehung für Frauen des Adels: Lernte also Zeichnen, Sticken, Kochen, Tanzen und Reiten. Aber immerhin auch die Fremdsprachen des gebildeten Europas, also Französisch und Italienisch; und weil sie bald erkannte, dass das der Schlüssel zur gelehrten Welt war, brachte sie sich selbst Latein bei. Mit 23 Jahren heiratete sie, gegen den Willen des Vaters, Edward Wortley Montagu; im Jahr darauf wurde der erste gemeinsame Sohn geboren. Die ersten Jahre der Ehe waren geprägt von finanziellen Schwierigkeiten, aber dann begann der Mann Karriere zu machen; er wurde Parlamentsabgeordneter, man zog gemeinsam nach London, kaufte ein Haus und verkehrte in gehobenen Kreisen und bei Hofe. Mary, man stelle sie sich jung, hübsch, witzig und gebildet vor, schloss bald einige Freundschaften, die ihr Leben lenken und prägen sollten: beispielsweise mit dem Dichter Alexander Pope, einem der bekanntesten und einflussreichsten Autoren der Zeit, und der Schriftstellerin Mary Astell, die sich auch für Frauenrechte einsetzte.

Anfang 1716 nahm ihr Schicksal dann diejenige Wendung, die ihr Leben entscheidend verändern und ihre bleibende Berühmtheit sichern sollte: Ihr Ehemann wurde nämlich als Botschafter an den Osmanischen Hof nach Konstantinopel gesandt, und die Familie machte sich, samt dem noch sehr jungen Sohn, auf den langen Weg dorthin. Man reist über Zwischenstationen in Köln, Regensburg, Wien und Adrianopel; es war eine ein wenig abenteuerliche, wenn auch im Großen und Ganzen sicherlich relativ komfortable Reise. Je weiter sie fortschritt, sah Mary Orte und Dinge, die nur wenige Frauen und auch gar nicht so viele Männer in Westeuropa vor ihr gesehen hatten. Ihre gesellschaftliche Stellung sicherte ihr den Empfang in den allerhöchsten Kreisen ebenso wie bei Provinzverwaltern; viele nahm sie sicherlich mit ihrem Charme, ihrem Humor und ihrer offenen Neugier für sich ein. Denn sie schaute genau hin, egal ob man sie in Kirchen, Paläste, öffentliche Bäder oder über Schlachtfehler führte; sie war eine gute Beobachterin, und sie war bemerkenswert frei von jeglichen Vorurteilen politischer, religiöser oder menschlicher Art. Und über all das, was sie sah und erlebte und verarbeitete, schrieb sie Briefe; sie war wohl auch eine eifrige Tagebuchschreiberin.


Die Familie blieb nur bis 1718 in Konstantinopel, der Mann wurde bald wieder abberufen; aber Mary brachte das zweite Kind, ihre Tochter, dort zur Welt. Dann kehrte man nach London zurück, wieder eine lange Reise; und Lady Mary erwarb sich zunehmend einen Ruf als Schriftstellerin, obwohl sie sich den üblichen Vorurteilen gegen schreibende Frauen ausgesetzt sah, so zirkulierten ihre Gedichte nur als Manuskripte im Freundeskreis und wurden niemals veröffentlicht. Später entzweite sie sich mit Alexander Pope, und man geriet in eine zu dieser Zeit nicht übliche Autoren-Fehde mit Schriften und satirischen Gegen-Schriften; und noch später übersiedelte sie auf den Kontinent, lebte in Avignon, Brescia und Venedig, verließ ihren Mann für eine Affäre mit einem jüngeren Mann (Italiener, Kunstkritiker und Schriftsteller) und kehrte zum Sterben nach dem Tod ihres Mannes nach London zurück. Erst nach ihrem Tod wurden ihre Reisebriefe von der Reise nach Konstantinopel veröffentlicht und bald auch ins Deutsche übersetzt; und sie begründeten ihren Ruhm als eine der ersten weiblichen Reiseschriftstellerinnen überhaupt, bis heute.

Diese Pionierstellung betonen schon die beiden Vorworte, die gemäß den zeitgenössischen Publikationssitten die Briefe einleiten. Das erste ist von der schon erwähnten Mary Astell; sie ist stilistisch genauso gewandt und offensichtlich auch genauso gebildet wie die Briefautorin selbst. Denn sie kennt offensichtlich die dominant männlichen Vertreter des in der Zeit schon reichlich bedienten und beliebten Genres Reiseliteratur, auf die sich auch Lady Mary gelegentlich – und meist nicht besonders freundlich – in ihren eigenen Briefen bezieht; und sie stellt demgegenüber gezielt die Möglichkeiten und Vorzüge der femininen Form der Gattung dar. Denn Frauen könnten den inzwischen schon recht eingefahrenen, wenn nicht gar in Routine festgefahrenen Reiseberichten neues Leben einhauchen; einfach, weil sie andere Dinge sehen, und weil sie sie die Dinge anders sehen, und weil sie sie dann auch anders zu Papier bringen! Inhalt und Form, beides ändere sich, wenn Frauen von ihren Reisen berichten; und dazu komme, dass Lady Mary mit geradezu vorbildlicher stilistischer Korrektheit wie Lebendigkeit schreibe („Lebendigkeit“ ist ein Wort, das relativ häufig im Zusammen-hang mit weiblichen Schreiben fällt, es ist sozusagen die klassische weibliche Autoren-Tugend). Und schließlich, auch das ist bezeichnend: Atmeten die Briefe einen Geist weiblichen Zartgefühls, der sich in Vorurteilsfreiheit und Urteilsenthaltung äußere. Das alles schreibt die ungenannte Lady im Vorwort aber viel besser und lebendiger; deshalb hier der Wortlaut im schönen, korrekten, lebendigen Englisch:

I confess, I am malicious enough to desire, that the world should see to how much better purpose the Ladies travel than their Lords; and that, whilst it is surfeited with Male travels, all in the same tone, and stuffed with the same trifles; a lady has the skill to strike out a new path, and to embellish a worn-out subject with variety of fresh and elegant entertainment. For, besides the vivacity and spirit which enliven every part, and that inimitable beauty which spreads through the whole; besides the purity of the style, for which it may justly, be accounted the standard of the English tongue; the reader will find a more true and accurate account of the customs and manners of the several nations with whom this lady conversed, than he can in any other author. But, as her la-dyship’s penetration° discovers° the inmost follies of the heart, so the candour of her temper passed over them with an air of pity, rather than reproach; treating with the politeness of a court, and the gentleness of a lady, what the severity of her judgment could not but condemn.

Die Lobeshymne endet damit, dass die Männer aufgerufen werden, die außerordentliche Leistung tat-sächlich neidlos anzuerkennen; allein ein solches Verhalten sei eines rationalen wie christlichen Autors und Menschen würdig. Das scheint sich der Autor des zweiten Vorworts, nämlich der männliche Herausgeber, durchaus zu Herzen genommen zu haben: Er lobt ebenfalls die Musterhaftigkeit von Inhalt und Form der Reisebriefe, die sie deshalb zu einer geeigneten Lektüre – sogar! – für Männer machen:

The letters from Ratisbon, Vienna, Dresden, Peter-waradin, Belgrade, Adrianople, Constantinople, Pera, Tunis, Genoa, Lyons, and Paris, are certainly, the most curious and interesting part of this publication; and, both in point of matter and form, are, to say no more of them, singularly° worthy of the curiosity and attention of all men of taste, and even of all women of fashion. As to those female readers, who read for improvement, and think their beauty an insipid thing, if it is not seasoned by intellectual charms, they will find in these letters what they seek for; and will behold in their author, an ornament and model to their sex.

Was ist nun der weibliche Blick, und wie verändert sich die Reiseberichterstattung, wenn sie von einer gebildeten und stilistisch versierten Autorin betrieben wird? Nun, auch hier informiert die äußere Reise selbst nicht unwesentlich die Reisebeschreibung: Es ist kein Jakobsweg, aber eine ebenso lange, teilweise sicherlich beschwerliche Reise mit vordefiniertem Ziel – Konstantinopel – und vielen Stationen; und es ist eine Reise in den Orient, den fremden und sagen-umwobenen, von dem seit Marco Polo noch gar nicht so viele Reisende berichtet haben. Doch schon in Deutschland bewährt sich der scharfe, in gewissem Sinn ethnologische Blick der Frau auf das öffentliche Leben: Denn Lady Mary bemerkt einen wesentlichen Unterschied zwischen den freien Reichsstädten, sie sie besucht hat, und den Provinz-Hauptstädten der kleineren deutschen Fürstentümer. Und anstelle lange über die Ursachen der Unterschiedlichkeit zu spekulieren, fasst sie diesen Unterschied lieber in einen sprechenden Vergleich:

Tis impossible not to observe the difference between the free towns and those under the government of absolute princes, as all the little sovereigns of Germany are. In the first, there appears an air of commerce and plenty. The streets are well-built, and full of people, neatly and plain-ly dressed. The shops are loaded with merchandise, and the commonalty are clean and cheerful. In the other you see a sort of shabby finery, a number of dirty people of quality° tawdered out; narrow nasty streets out of repair, wretchedly thin of inhabitants, and above half of the common sort asking alms. I cannot help fancying° one under the figure of a clean Dutch citizen’s wife, and the other like a poor town lady of pleasure, painted and ribboned out in her head-dress, with tarnished silver-laced shoes, a ragged under-petticoat, a miserable mixture of vice and poverty.

Natürlich wirkt es ein wenig stereotyp: Frauen reden immer über Mode, sogar wenn sie über Politik reden; und Lady Mary redet in der Tat relativ viel über Mode in ihren Briefen, auch über Frisuren oder Fragen der Innenausstattung. Und sie tut das mit der Fachkenntnis derjenigen, die selbst durch und durch woman of fashion ist; die mit ihrer Garderobe zu Hofe geht und ihren Salon geschmackvoll einrichtet. Aber ist das nicht tatsächlich interessant, durchaus auch für man of taste? Sind Kleider, Frisuren und Accessoires nicht – Zeichen eines ästhetischen Zeitgeistes ebenso wie eines Gestaltungswillens, und darüber hinaus: gesellschaftlich, politisch und wirtschaftlich von nicht nur symbolischer Bedeutung? Denn Lady Mary sinniert auch über die – segensreichen! – Folgen einer gesetzlichen Regulierung von Kleidungssitten; oder darüber, wie die Wahrnehmung von Menschen – speziell: Frauen – sich verändern würde, wenn wir alle nackt wären. Das tut sie anlässlich ihres Besuches eines türkischen Bades, reserviert für Frauen, einem der berühmteren Höhepunkte der Reisebriefe und tatsächlich unkartiertes Gelände bis-her: Denn wie sollte ein männlicher Beobachter in ein Frauenbad kommen? Oder sie berichtet, mit durchaus liebevollem weiblichem Verständnis ebenso wie mit zarter Ironie gewürzt, von den seltsamen Sitten der Katholiken bei der Ausstattung ihrer Altäre:

But I was particularly diverted° in a little Roman Catholic church which is permitted here, where the professors of that religion are not very rich, and consequently cannot adorn their images in so rich a manner as their neighbour. For, not to be quite destitute of all finery, they have dressed up an image of our Saviour over the altar, in a fair full-bottomed wig very well powdered. I imagine I see your ladyship stare at this article, of which you very much doubt the veracity;° but, upon my word, I have not yet made use of the privilege of a traveller; and my whole account is written with the same plain sincerity of heart, with which I assure you that I am, dear Madam,

In Deutschland und Österreich bewegen sich die Reisenden jedoch vorerst durchaus noch auf vertrautem Gebiet. Erst mit der Reise die Donau hinab beginnen Landschaft, Sitten und Städte zunehmend fremder und exotischer zu nehmen. Nebenbei entdeckt Lady Mary, und auch das ist wahrscheinlich eine Premiere nicht nur in der Reiseliteratur und ein Ergebnis eines spezifisch weiblichen Blicks, die Vorzüge von Kreuzfahrten:

We travelled by water from Ratisbon, a journey perfectly agreeable, down the Danube, in one of those little vessels, that they, very properly, call wooden houses, having in them all the conveniences of a palace, stoves in the chambers, kitchens, &c. They are rowed by twelve men each, and move with such incredible swiftness, that in the same day you have the pleasure of a vast variety of prospects; and, within the space of a few hours, you have the pleasure of seeing a populous city adorned with magnificent palaces, and the most romantic solitudes, which appear distant from the commerce of mankind, the banks of the Danube being charmingly diversified with woods, rocks, mountains covered with vines, fields of corn, large cities, and ruins of ancient castles.

Kann man weiter weg von Hape Kerkelings entbehrungsreichem Pilgerbericht sein? Zumal Lady Mary wenig zu grübelnder Introspektion neigt und ebenso wenig Zweifel darüber hat, wer sie ist – sie ist Frau, Mutter, Ehegattin, Dame von Adel und Geschmack und Autorin! Aber umso schärfer sieht sie nach außen, auf das, was diese Reise ihr alles entgegen-bringt, und das sind nicht nur großartige Paläste, romantische Einsiedeleien oder blühende Landschaften, bestückt mit schmucken Burgruinen. Denn man besucht auch, wahrscheinlich eher um den Ehemann zu beeindrucken: ein kürzlich noch umkämpftes Schlachtfeld. Es ist das bei Zenta, wo in einer entscheidenden Schlacht die Türken besiegt wurden, was dann endlich zum Frieden von Karlowitz führte. Der Sieg kostete um die 25.000 Türken das Leben; und Lady Mary zieht aus diesem gruseligen Besuch den einzigen sinnvollen Schluss:

This little digression has interrupted my telling you we passed over the fields of Carlowitz, where the last great victory was obtained by prince Eugene over the Turks. The marks of that glorious bloody day are yet recent, the field being yet strewed with the skulls and carcasses of unburied men, horses, and camels. I could not look, without horror, on such numbers of mangled human bodies, nor without reflecting on the injustice of war, that makes murder not only necessary but meritorious. Nothing seems to be a plainer proof of the irrationality of mankind (whatever fine claims we pretend to reason) than the rage with which they contest for a small spot of ground, when such vast parts of fruitful earth lie quite uninhabited. ’Tis true, custom has now made it unavoid-able; but can there be a greater demonstration of want° of reason, than a custom being firmly established, so plainly contrary to the interest of man in general? I am a good deal inclined to believe Mr Hobbs, that the state of nature is a state of war; but thence I conclude human nature, not rational, if the word reason means common sense, as I suppose it does. I have a great many admirable arguments to support this reflection; I won’t however trouble you with them, but return, in a plain style, to the history of my travels.

Man kann, bei vernünftiger Betrachtung – und ist es nicht wunderbar, wie Lady Mary ganz im Vorbeigehen jegliche Menschenvernunft als „common sense“ beschreibt, gesunden Menschenverstand in Deutsch, aber im Englischen noch ein wenig mehr als das: ein gemeinsamer, geteilter Sinn für das Richtige und Wahre! -; man kann, wenn man sich auf diesem gemeinsamen Sinn für das Richtige und Wahre besinnt, den Krieg nicht anders als Beweis für die menschliche Unvernunft sehen; und man kann das sogar rational begründen. Aber das wollen wir jetzt nicht tun, denn es hilft auch nichts; wir fahren lieber fort, im „plain style“ – was eine ziemliche Untertreibung angesichts des betriebenen stilistischen Aufwandes ist – in der Reisegeschichte.

Natürlich konzentriert sich Lady Mary auch, als sie im Orient ankommt, auf sogenannte Frauenthemen – aber in einem sehr weiten Sinn. Denn auch wenn sie mit großer Sorgfalt und einem gewissen modischen Neid die Vorzüge und Besonderheiten der kostbaren orientalischen Frauen-Kleidung beschreibt, tut sie das häufig mit deutlichen politischen oder gesellschaftlichen Implikationen. Sie weist, nachdem sie schon einige Zeit in Konstantinopel verbracht hat, zudem explizit darauf hin, welche Vorzüge ihr gesellschaftlicher Stand und ihr Geschlecht mit sich bringen: Denn bisher sei der Orient bisher vor allem von kaufmännischen Reisenden besucht worden – die sich im Großen und Ganzen nur für ihre eigenen finanziellen Angelegenheiten interessierten und zudem für die türkische Oberschicht keine geeigneten Gesprächspartner seien - oder von oberflächlichen Reisenden, die nicht lange genug blieben, um wirklich in die tieferen Strukturen oder auch nur die privaten Räume einzudringen:

’Tis certain we have but very imperfect accounts of the manners and religion of these people; this part of the world being seldom visited, but by merchants, who mind little but their own affairs; or travellers, who make too short a stay, to be able to report any thing exactly of their own knowledge. The Turks are too proud to con-verse familiarly with merchants, who can only pick up some confused informations, which are generally false; and can give no better account of the ways here, than a French refugee, lodging in a garret° in Greek-street, could write of the court of England.

Vor allem aber hat Lady Mary Zutritt zu dem am meisten geheimnisumwobenen, sagenhaften, häufig auch mit erotischen Phantasien umwobenen Ort des Orients: dem Harem nämlich. Und anstelle die Freiheitsberaubung und Versklavung von Frauen zu beklagen; oder über die Tyrannei ihrer männlichen Beherrscher zu schimpfen; oder überhaupt die große moralische, christliche oder politische Verurteilungs-keule zu schwingen, ist sie hingerissen von der Schönheit der Frauen und der geradezu paradiesischen Schönheit und Abgeschlossenheit des Raumes. Und sie kommt darüber hinaus zu einem – wahrscheinlich provokant zugespitzten Schluss:

Upon the whole, I look upon the Turkish women, as the only free people in the empire; the very divan pays respect to them; and the grand signior himself, when a bassa is executed, never violates the privileges of the haram, (or womens apartment) which remains unsearched and entire to the widow. They are queens of their slaves, whom the husband has no permission so much as to look upon, except it be an old woman or two that his lady chuses. ’Tis true, their law permits them four wives; but there is no instance of a man of quality° that makes use of this liberty, or of a woman of rank that would suffer it. When a husband happens to be inconstant, (as those things will happen) he keeps his mistress in a house apart, and visits her as privately as he can, just as it is with you. Amongst all the great men here, I only know the testerdar, (i.e. a treasurer) that keeps a number of she slaves, for his own use, (that is, on his own side of the house; for a slave once given to serve a lady, is entirely at her disposal) and he is spoke of as a libertine, or what we should call a rake, and his wife won’t see him, though she continues to live in his house. Thus you see, dear sister, the manners of mankind do not differ so Widely, as our voyage-writers would make us believe. Perhaps, it would be more entertaining to add a few surprising customs of my own invention; but nothing seems to me so agreeable as truth, and I believe nothing so acceptable to you.

Die Wahrheit, und nichts als die Wahrheit! Was in diesem Falle nicht nur meint: nicht die Ausschmückungen und Übertreibungen der professionellen Geschichtsschreiber; sondern auch, im positiven Sinne: das Selbsterlebte und nach vielen Eindrücken und Beobachtern zu einer Hypothese zugespitzte. Und diese Hypothese hier lautet: Im insgesamt durchaus tyrannischen und im politischen Sinne unfreien Orient – sind die Frauen im Harem die einzigen wahrhaft Freien! Denn nicht nur herrschen sie uneingeschränkt über ihren kleinen Herrschaftsbereich; er ist auch ausgenommen von juristischer und strafrechtlicher Verfolgung, beispielsweise bei einer Verurteilung des Ehemannes. Und Ehemänner, so Lady Mary wahrscheinlich aus der Erfahrung ihres jungen Lebens, am englischen Hofe und anderswo – werden immer, in einem gewissen Maße, untreu sein. Eine zivilisierte Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie diskret damit umgeht; ein „man of quality“ wird sowieso keine Vielehe führen, und wenn er es doch tut: ist er eben kein „man of quality“, und, implizit: Man kann ihn ruhig gehen lassen, es lohnt die Mühe nicht. So handelt jedenfalls eine freie Frau!

Lady Mary Montagu wird nach ihrer Rückkehr noch viel erleben, lesen und schreiben. Aber wahrscheinlich ist es die Reiseerfahrung – und auch: das Schreiben der Reisebriefe -, die mehr zu ihrer persönlichen Bildung beiträgt, als alles Selbststudium in der Bibliothek des Vaters oder alle Korrespondenz mit berühmten Männern hätten ausrichten können. Sie bringt genug mit, um das Beste daraus zu machen – eine hinreichende Allgemeinbildung, ein nicht geringes Schreibtalent, eine ausgeprägte Neugierde und eine natürliche Beobachtungsgabe, dazu ein mitfühlendes Herz; und sie verweigert sich keiner Erfahrung und glaubt nur den eigenen Sinnen wie ihrem common sense. Und sie ist eine Frau; was ein Nutzen sein kann und eine Last, in diesem Fall aber vor allem eines ist: die Quelle vieler origineller Beobachtungen und Geschichten; und eines Stils, der das Lebendige der Reiseerfahrung – in lebendiges Bildungsenglisch überträgt.

Letztlich macht Lady Mary Montague eine eigenwillige Grand Tour pour la dame; aber sie wird dabei nicht wiedergeboren, wie Goethe in Italien, oder verwandelt, wie Hape Kerkeling in Spanien auf dem Jakobsweg. Das ist auch nicht nötig; denn sie ist schon und sie ist bleibt: eine selbstbewusste reisende Frau, die weiß, was sie kann und denkt und fühlt. Für die Unsterblichkeit hat sie sowieso ihre zwei Kinder.



Empfindsam reisen als Schule der Empathie: Sophie von La Roche

Der Begriff „empfindsam“ wurde geprägt von dem irischen Schriftsteller Laurence Sterne mit seiner Sentimental Journey, er gab der Zeitströmung der Empfindsamkeit im 18. Jahrhundert den Namen, und er meint: Man reist jetzt ebenso, nein vielleicht: noch mehr mit dem Herzen als mit den Augen. Man sieht und besucht also nicht nur die touristischen Höhepunkte Europas, sondern man konzentriert sich auf die Menschen, ihre Schicksale, Leiden und Freuden; man leidet mit und freut sich mit, und man wird dabei – so die Theorie – letztendlich zu einem besseren Menschen, denn, mit Lessing gesagt: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch! Wie ändert das nun die Reisepraxis; und inwiefern reisen Frauen empfindsam?

Sophie von La Roche, geboren 1730 in Kaufbeuren in Oberschwaben in einem gutbürgerlichen Haushalt, Kurzzeit-Verlobte von Christoph Martin Wieland, erfolgreiche Romanautorin, Herausgeberin der ersten deutschen Frauenzeitschrift und nicht zuletzt: Mutter von acht Kindern, von denen fünf das Kindesalter überlebten; Sophie von La Roche war auch eine fleißige Reisende und Reiseschriftstellerin. Reiseberichte waren eines der großen Erfolgsgenres der Aufklärung, dienten sie doch der Unterhaltung und Belehrung gleichermaßen (und man muss immer dazu denken: Es gab kein Fernsehen, es gab kein Internet, und was man von fernen Ländern wusste, entstammte Reiseberichten!). Man konnte tatsächlich Geld mit ihnen verdienen; und Sophie von La Roche finanzierte tatsächlich unter anderem damit den Lebensunterhalt ihrer Familie. Von 1787 bis 1793 veröffentlichte sie mehrere Reiseberichte, im Titel angekündigt als „Tagebücher“ oder „Journale“, von ihren Reisen in die Schweiz, nach Frankreich sowie durch Holland und England. Letzteres, das Tagebuch meiner Reise nach Holland und England, leitet sie dementsprechend mit dem Ausruf ein (und einem direkten Bezug auf Sterne, nämlich dessen Erzählfigur „Yorick“):

Wieder eine Reise! Werden meine Freunde, meine Kinder und Bekannte sagen. Ja es werden Alle staunen, daß eine Frau, in meinen Jahren, die Gelegenheit und den Willen hat, solche Reisen zu machen, welche sonst ganz allein die Sache der Jugend, des Reichsthums, der Freiheit und der Geschäfte, sind. Yorik setzte noch zwei Arten Reisende hinzu: Kranke, die eine Hülfsquelle aussuchen, und Wißbegierige, welche sich, auch ausser ihrem Wohnort, nach der Erde und ihren Kindern umsehen. Zu der letzten Gattung gehöre ich; und meine Geschäfte sind - an der Seite einer höchst edlen Freundin, welche wegen ihrer Gesundheit reiset - mich umzusehen, und alles zu bemerken, was mir Unterricht und Freude geben kann. Da mein Herz mir das Zeugniß giebt, und alle, die mich kennen, wissen, daß ich so gerne alle Menschen glucklich sehen mögte, and immer gerne zu der allgemeinen Zufriedenheit beitrug; so hoffe ich, daß man diese, wirklich edle große Freude, auch mir gerne gönnt, und daß meine Kinder die Erzählung davon gerne lesen werden; besonders, da ich bei dieser letzten Reise, wie bei der ersten, einen meiner Sohne bei mir habe.

Der empfindsame Tonfall, in dem der Reisebericht durchgängig gehalten ist, wird hier schon deutlich. Aber der Text ist gar nicht sentimental in einem negativen Sinn: nicht gefühls- oder tränenselig, wenig geprägt von der überenthusiastischen Sprache vieler empfindsamer Texte. Natürlich gibt es gelegentlich empfindsame Landschaftsbeschreibung; eine solche Passage demonstriert direkt die therapeutische Wirkung einer solchen gefühlvollen Sicht auf die Natur als Landschaft:

Aber die Betrachtung einer schönen Gegend erweitert und erweicht ein gefühlvolles Herz. Freude und traurige Ideen bekommen eine sanfte Gestalt und Farbe. Unmöglich ist mir dabei, daß ich nicht an die alte und neue Bewohner denken sollte.

Die empfindsame Wirkung schlägt aber hier direkt in ein soziales Interesse: Landschaft kann nicht unabhängig von ihren Bewohnern gedacht werden; und immer wieder beschreibt la Roche deshalb auch die agrarische Nutzung der Landstriche. Mit den Bewohnern kommt sie, wo immer es geht, in ein offen geführtes Gespräch; sie lässt sich die Familienverhältnisse schildern, die Einkommenssituation, die konkreten Lebensumstände, die Probleme, Sorgen und Kümmernisse. Zudem ist die gesamte Reise, vor allem im späteren Teil in London, geprägt durch Besuche bei Bekannten, Freunden und lokalen Berühmtheiten. Auch hier nutzt la Roche die Gelegenheit, sich alles ausführlich zeigen und erzählen zu lassen, was zum Verständnis einer Stadt oder des gesamten Landes, seiner Geschichte und seiner Gegenwart beiträgt; sie gibt dazu manchmal ganze Gespräche praktisch wörtlich wieder.

Auch Anekdoten sind dabei. So referiert sie ein Gespräch mit einem „Philosophen“ in Holland, der ihr darlegt, dass die holländischen Staaten die einheimische Zuckerproduktion massiv subventionieren, um „andere (also: ausländische) Zuckersiederein zu Grunde zu richten“ (man sieht, dass vieles unerwartet aktuell ist); und ihre große Aufmerksamkeit beim Zuhören erklärt er sich durch ein klassisches Geschlechterstereotyp:

Da vermuthete der stolze Scharfsinn des Mannes, daß meine ernste Aufmerksamkeit durch die Idee des Zuckers entstanden sey. – Aber er irrte sich, wie Männer des höchsten Geistes sich oft in ihren Urtheilen über uns irren. – Denn mein Ernst ruhte auf dem Gedanken: Wie menschenfeindlich die Gewinnsucht in diesem Versprechen handelt, indem sie Preise zum Untergang dieses Nahrungszweiges bei andern Nationen aussetzt.

Wiederum zeigt sich hier die Verbindung von empfindsamer Grundhaltung und umfassendem Wissensdurst. Dazu kommt jedoch, und nicht nur hier: ein weiblicher Scharfsinn, der eben nicht so „stolz“ ist wie derjenige des vermeinten Philosophen, sondern geprägt durch Offenheit, ein waches Auge und ein bewegliches Gehirn. Denn Sophie von la Roche ist, das zeigt sich schon bei der Reise durch Holland, wirklich interessiert an allem: an dem Alltag der Holländer ebenso wie an ihrer Wohnkultur, ihren Essgewohnheiten, ihrer Kunst, ihren sozialen Institutionen und ihrer Geschichte. Einiges davon mutet „weiblich“ an; so als sie mit Begeisterung erläutert, wie die Holländerin eine Form von Lockenwicklern verwenden. Oder ihre ebenso enthusiastische Beschreibung der holländischen „Garküchen“, also einfacher Speisegaststätten,

„in welchen die Speisen so niedlich geordnet dastehen, die Schüsseln und Teller so silberartig geputzt sind, und die Hauswirthin mit ihren goldenen Ohrringen, weissen Schürze, Haube und Halstuch, den vollen und runden Backen und dem ruhigen Blick wirklich Lust giebt, ein Stück kalte Pastete, Braten oder Schinken zu essen“

Ist das nun weiblicher Blick, oder ist es ganz einfach: die Betrachtung von Essen und Kleidung als Bestandteil einer Nationalkultur, deren „allgemeiner Geist der Ordnung“ der Reisenden ebenso imponiert wie die sagenhafte Reinlichkeit, Fleissigkeit und Effizienz der Holländer im Allgemeinen? Sind das Nationalstereotype oder ist das eine Art ethnologischer Mentalitätsanalyse? Wie auch immer man das entscheiden oder beurteilen mag – weiblich ist an Sophie von La Roches Beobachtungen vor allem ihre immense Aufmerksamkeit auf den Alltag und auf die vielfachen Verflechtungen von individuellem Leben, öffentlichen Institutionen, politischer Geschichte und ökonomischer Situation; das alles gekoppelt mit einer lebendigen Beschreibung und einer menschlich mitfühlenden Haltung. So besucht sie beispielsweise eine Ziehung der Haager Lotterie, einer staatlichen Glücksspielinstitution, und sie reagiert gleichermaßen empfindsam wie empathisch darauf:

„der Gedanke, daß gewiß das Vermögen von vielen Familien in diesen sogenannten Glücksrädern umgetrieben und verloren wurden – gab mir die halbe Stunde über viel düstere Gedanken“

Sie besucht, das gehört zum klassischen touristischen Programm von jeher, Gemäldegalerien (wiederum: die berühmtesten Werke der Kunstgeschichte waren oft nur in unvollkommenen Abbildungen in teuren Druckwerken zugänglich); sie ist begeistert von der holländischen Genre- und Landlebenmalerei, aber ebenso von einem weiblichen Genre:

„Eine Stickerei der Frau Statthalterin verdient hier zu seyn, indem sie, mit gleichem Geist und Fleiß, mit der Seide und Nadel ausführte, was zu beiden Seiten der Pinsel in Oehlfarbe that“.

Besonders begeistert ist sie von der Stadt Amsterdam, ihrer großen Vergangenheit ebenso wie ihrer gegenwärtigen Betriebsamkeit, ihren weitreichenden Handelsverbindungen, aber auch der kulturellen Dichte an Galerien, Bibliotheken und Sammlungen (das wird sich in London wiederholen): Wirksame, effiziente, praktische Tätigkeit, das ist ein wichtiges gesamtaufklärerisches Ideal, das gelegentlich gegenüber den „hohen“ aufklärerischen Zielen in den Hintergrund tritt. Sophie von La Roche sieht ganz klar, dass der ökonomische Erfolg der Holländer erst die Grundlage ihres Wohlstandes und dann ihrer politischen Verfassung bildet; ohne Wohlstand, ohne ein erfolgreiches ebenso wie gebildetes Bürgertum ist Aufklärung (zumindest nach dem europäischen Modell) unmöglich. Aber sie sieht auch, eben: weil sie eine Reisende ist und weil sie gerade vorher in der Schweiz war (in England wird Frankreich den Vergleichsmaßstab bilden), dass es verschiedene Varianten menschlicher Entwicklung und Glückseligkeit geben kann:

„In der Schweiz sah ich Ströhme, die unaufhaltsam nach den Gesetzen der Natur herunter fließen: - hier das Meer, durch Menschenhände in Gränzen eingeschlossen. – Zwischen ewigen Felsen der Schweiz Menschen, deren Sinne und unsterblicher Geist nichts begehren, als was ihr enges Thal und ihre Heerden ihnen geben; hier, zwischen beweglichen Sandhügeln, ewige tausendfache Bemühung nach Uebermaaß des Ueberflusses aller Güter der Erde. Die frohe Genügsamkeit der Alpenbewohner, und die ernste, immer rege Betriebsamkeit der Holländer, sind aber beide gleich scheinbare Gaben der Vorsicht, nach den angewiesenen Wohnplätzen ihrer Kinder ausgetheilt.“

Lebensart, Mentalität, ökonomische wie politische Verfasstheit – dies alles wird geprägt durch die natürliche Umgebung, durch geographische Randbedingungen, und ein Meeresvolk wird sich anders entwickeln als ein Binnenland, eingeschlossen von Bergen. Das ist, für die überzeugte Christin Sophie von La Roche wie für ihre Zeitgenossen, ein Werk der Vorsehung, die für den Menschen wie eine gute Mutter sorgt, indem sie ihnen angemessene „Wohnplätze“ anweist. Einer ist dabei nicht besser als der andere; aber es ist auch ganz natürlich, dass eine Mutter für einige ihrer Kinder eine stärkere Neigung hat als für andere. Und Sophie von La Roche zieht es, so wie es Goethe nach Italien zog, nun mit aller Gewalt: nach England! England das neue Sehnsuchtsland der Aufklärung; nicht nur, aber vor allem: die Empfindsamkeit ist von Grund auf anglophil, und auch in La Roches Romanen spielt England immer wieder eine Rolle. Kurz vor der Überfahrt nach Dover (es wird schauklig und stürmisch, und sie wird seekrank, wie alle Reisenden auf dem Meer) schreibt sie, ihre Reiseliebe und ihre Englandliebe verbindend:

„Bücher und Reisen waren immer für mich die einzige vollkommne Glückseligkeit dieses Lebens. Besonders England, dessen Geschichte, Schriftsteller und Landwirthschaft ich mir schon so lange bekannt machte , sie schon so lange liebte – war immer ein Punkt nach welchem meine ganze Seele begierig war“

Die einzig vollkommne Glückseligkeit dieses – also: des irdischen – Lebens: Das sind starke Worte! Und dasjenige Reiseland, in dem all diese Vollkommenheit für Sophie von La Roche am stärksten zum Ausdruck kommt, ist England, das sie nun, im Jahr 1786? erstmals betritt, noch schwankend von der Überfahrt. Von Anfang an ist sie hellauf begeistert; schon auf der Reise nach London bewundert sie die Landschaft, die Kleinstädte, die Vorgärten, überhaupt: den „Verstand in allem“! In London, wo sie sich länger aufhält, absolviert sie dann ein strammes touristisches Besuchsprogramm. Dazu gehören nicht nur die klassischen Sehenswürdigkeiten, Westminster, der Tower, St Paul; natürlich die großen Museeen und Galerien, die großen Sammlungen und und und (die alle ausführlich beschrieben werden; besonders interessant ist eine Passage über die Tierhaltung in einem Teil des Towers, wo Löwen, Leoparden, Tiger, Wölfe, eine Hyäne, ein junger Adler, Bären und Affen gehalten werden). Nein, sie besichtigt auch eine Fabrik mathematischer und physikalischer Instrumente, wohnt einer Teeversteigerung der ostindischen Gesellschaft bei oder streift durch eine Bank. Sie inspiziert das berüchtigte Irrenhaus Bedlam, beschreibt Wohnverhältnisse und Zwangsjacken und erkundigt sich dort besonders nach dem Schicksal und der Geschichte weiblicher Insassen. Anschließend besucht sie eine Buchhandlung, die sie als „Apotheke […] in welcher alle Hülfs- und Verwahrungsmittel gegen die Seelenkrankheit zu finden sind“ (wir erinnern uns: Bücher sind neben dem Reisen die zweite volllkommene Glückseligkeit dieses Lebens“). Sie geht häufig in die verschiedenen Londoner Theater und beschreibt Aufführungen ebenso wie Architektur, Inszenierung, Schauspieler, die Besucher (besonders interessant hier: eine Anekdote, wie sie in einem starken Londoner Regen nach dem Theaterbesuch keine Kutsche bekommt und sich kurzzeitig auf dem Vorplatz aufhalten muss, wo eine „Menge lustiger Mädchen“ wohl auf Kundschaft warten; das Schicksal englischer Prostituierter wird auch an anderer Stelle direkt angesprochen). Sie liest täglich die lokalen Zeitungen, ist beeindruckt von Breite wie Tiefe der Berichterstattung und notiert einmal, durchnumeriert, den Inhalt einer ganzen Ausgabe bis hin zu den Anzeigen.

Und sie spricht weiterhin, wo immer es geht, mit den Menschen; nicht nur ihren Bekannten und den Berühmtheiten, sondern auch einmal mit einem Schwarzen, der „als Mohr der Gräfin“ ihr den Kaffee bringt; es ist, wie sich herausstellt, ein ehemaliger Sklave, der von wohlmeinenden Engländern nach Europa gebracht wurde, um dort „schreiben, rechnen, Chirurgie und andere Kenntnisse zu lernen“. Durchgängig äußert sie sich dabei, wie wir heute sagen würden; massiv kolonialismuskritisch; so auch an dieser Stelle:

„Ihr wißt Kinder, daß das Schicksal der Neger, immer meine Seele bewegte, und immer sah ich sie mit Trauer an; ich sprach mit diesem Menschen, weil ich Züge eines sanften Charakters an ihm bemerkte“.

„Züge eines sanften Charakters“ – das ist unter anderem deshalb bemerkenswert, weil es gegen ein zeitgenössisches Klischee des rohen, ungebildeten, zivilisierter Gefühle nicht fähigen Farbigen verstößt. La Roches Kolonialismuskritik zehrt aus ihrer Empfindsamkeit; aber ist das nicht andererseits genau dasjenige Verhalten, das wir heute als Empathie bezeichnen würden und als eine Quelle menschenfreundlichen Verhaltens wertschätzen?
Es sind ausgefüllte Tage in London und Umgebung, jede Minute scheint genutzt; dazu muss die enorme Schreibarbeit kommen, denn la Roche führt regelmäßig ihr Reisetagebuch, das dann in Form von Briefen an ihre Kinder die Grundlage der Veröffentlichung bildet. Und wenn sie könnte, die Kraft und die Zeit hätte, würde sie noch viel mehr tun:

„Ich würde jede Manufaktur besuchen; Große und Kleine bei ihren Festen und bei ihrer Trauer beobachten; auch die Sprache mir so eigen machen, daß ich alle Reden im Parlament verstehen könnte. Landwirtschaft des armen und reichen Bauern -, das Leben des Edelmannes, des Pfarrers und des Richters – Alles wäre Gegenstand meiner Aufmerksamkeit; so wie die Arbeit der Bäuerin, der Handwerksfrau, und besonders auch der Kindsmägde, neben dem allgemeinen Ton der Erziehung“

Dies alles zusammengenommen erklärt, warum Reisen die „einzige Vollkommenheit“ in diesem Leben ist. Denn Reisen verschafft konzentrierte Welt- und Menschenkenntnis, nicht aus Büchern, sondern aus der eigenen Anschauung; jeder Tag bringt derjenigen, für die schlechthin „Alles“ der Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit ist, neue Nahrung, neue Gegenstände, neue Menschen – Erfahrungen, die Geist und Herz gleichmäßig in Tätigkeit und Bewegung halten. Und es ist eine Quelle neuer Erfahrung, die niemals versiegt; jedenfalls für die, die offene Augen und Ohren hat und die nicht nur in sich selbst hinein, sondern energisch und konzentriert nach außen, auf die Welt und die Menschen in ihr schaut (das gegen ein verbreitetes Vorurteil über die Empfindsamkeit als selbstverliebt und egozentrisch). Insofern ist la Roches Reise, im Unterschied beispielsweise zu Goethes Italienreise, keine Selbstfindungsreise. Sie wird nicht neu geboren in England, das braucht sie nämlich gar nicht; sie hat acht Kinder geboren, das reicht. Vielleicht kann man sogar im Gegenteil und etwas provokant sagen: Nicht die empfindsame Grundhaltung ist typisch für die „weibliche“ Art des Reisens, wie sie Sophie von La Roche praktiziert; sondern ihre Neugier auf und Offenheit für alle Arten von Erfahrung auf allen Ebenen und in allen Bereichen des Lebens, „Groß und Klein“, Mann und Frau, Feste und Trauer. Sie ist eine gereifte Frau, sie geht auf ihrer fünfzigstes Lebensjahr zu; aber sie hat keine midlife crisis, sondern sie genießt die relative Freiheit, die ihr ihre Reisen bieten und nützt sie aus, sehr aufklärerisch: im Sinne der Vermittlung nützlichen Wissens über andere Länder und anderer Völker, moralisch nützlich und, wo es geht, unterhaltsam. Dass man damit auch Geld verdienen kann, ist umso besser! Am wichtigsten aber ist: Reisen bewegt nicht nur den Körper, sondern auch den Geist; und für viele Menschen, egal ob Mann oder Frau, ist das wohl einfach der größte vorstellbare Jungbrunnen und vielleicht sogar: sein natürlicher Zustand?


Romantisch reisen als Bienenflug der Phantasie: Mary Shelley


Schon ihre Mutter hatte einen Reisebericht veröffentlicht, auch er war ein großer Erfolg. Die 1796 erschienenen Letters Written in Sweden Norway, and Denmark von Mary Wollstonecraft waren das Ergebnis einer abenteuerlichen Reise mit einem ungewöhnlichen Ziel; und sie unternahm die Reise tatsächlich nur gemeinsam mit ihrer gerade zweijährigen Tochter und ihrer Dienerin. Ganz so abenteuerlich ist die Reise, die ihre Tochter, die beinahe gleichnamige Mary Wollstonecraft Shelley, beschreibt, dann doch nicht: Die mit dem Roman Frankenstein oder der moderne Prometheus (1818) in die Literaturgeschichte eingegangene Romantikerin bereist mit ihrem 18jährigen Sohn und einigen seiner Studienfreunde Italien, das alte und neue Sehnsuchtsland deutscher Reisender. Für sie war Italien zunächst mit schmerzhaften persönlichen Erinnerungen verbunden: In Italien war ihr Ehemann Percy Bysshe Shelley bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen; ihr dreijähriger Sohn war dort an Malaria gestorben, und sie hatte eine Missgeburt, die sie beinahe das Leben kostete. Doch auch sie tritt diese neue Reise an bekannte Orte mit größerem Abstand als gereifte Frau im fünften Lebensjahrzehnt an; und als erfolgreiche Schriftstellerin, genau wie Sophie von La Roche. Ihre Rambles in Germany and Italy (deutsch als Streifzüge durch Deutschland und Italien) beschreiben, ebenfalls in einer fiktionalisierten Briefform, die längere Anreise durch Deutschland bis zur Ankunft in Mailand; der zweite Band deckt dann die Rückreise ab, von Antwerpen nach Prag.

An dieser in gewisser Weise „romantischen“ (im Sinne der Zeitströmung), in gewisser Weise aber auch immer noch aufklärerisch-empfindsamen Reise sollen vor allem zwei Aspekte hervorgehoben werden. Zum einen lenkt Shelley ganz pragmatisch die Aufmerksamkeit an mehreren Stellen auf die unterschiedlichen Verkehrsmittel. Denn gerade war in England dasjenige Verkehrsmittel eingeführt worden, dass das Reisen völlig revolutionieren sollte und wesentlich dazu beitrug, dass England das Pionierland des europäischen Tourismus wurde: die Eisenbahn nämlich. Keine kraftraubenden tagelangen Reisen mit voll bepackten Kutschen, nervigen Mitreisenden, gebunden an den Rhythmus der Poststationen und des Pferdewechsels! Und so schreibt auch Shelley, als sie in Frankreich unterwegs ist:

„In England haben wir nächtliche Reisen schon fast vergessen – dank der Eisenbahn, der ich trotz aller Fehler ewig dankbar bin, denn sie hat es mir ermöglicht, viele neue Orte zu besuchen“

Die Eisenbahn erweitert speziell den Radius möglicher Reisen für Frauen. Und auch ein zweites Verkehrsmittel hat es Mary Shelley angetan, genauso wie vor ihr Lady Montague - und auch Sophie von La Roche lobt die Schiffsreisen auf Flüssen mit ihren sanften Bewegungen und freundlichen Schiffskapitänen. Hier kann man aber auch deutlich sehen, wie das aufklärerische Reisen durch ein romantisches Reisen mit anderen Zielen und Zwecken abgelöst wird; in Beschreibung einer Schiffsreise schreibt Mary Shelley nämlich:

„es macht alles Freude, besonders auf einer Reise, die man noch nie zuvor gemacht hat und die daher gemischt ist mit einem Tropfen Unsicherheit und dem starken Reiz des Neuen, der nicht mit Worten zu beschreiben ist – Du musst deinen Teil der Aufgabe erfüllen, nachempfinden und fantasieren, sonst sind alle Schilderungen öde und nutzlos“

Die Leserin muss bei der Lektüre also genauso ihre Phantasie aktivieren, wie die Autorin bei der Betrachtung der vorbeigleitenden Landschaften; Landschaftsbeschreibung um ihrer selbst willen oder zur Erläuterung agrarischer Lebensformen wird nicht mehr angestrebt. Sophie von La Roche würde gemäß einer Unterscheidung, die Shelley an einer Stelle ergänzend zu Sternes Klassen von Reisenden einführt, wohl demgegenüber zu den „neugierigen Reisenden“ mit einem „echten Wissensdurst“ gehören; jedoch nicht zu den „allwissenden Reisenden“, die jeden Mitreisenden mit ihrem allumfassenden Pseudo-Wissen über alles und jedes belehren.

Zum zweiten: Für Mary Shelley ist das Reisen ein anderer Lebens-Zustand, ein expliziter Gegenpol zur gesellschaftlichen Existenz. Sie sinniert:

„Die Gesellschaft misst den Menschen an seinen äußerlichen Besitztümern – das Einkommen, die Verbindungen, die Positionen haben mehr Gewicht als alles andere – und man selbst ist nur eine Feder auf der Wagschale. Aber was kümmert es mich jetzt? Mein Zuhause ist das günstigste Fortbewegungsmittel, das ich auftreiben kann, oder der Gasthof, in dem ich übernachte – meine einzigen Bekannten sind meine Reisebegleiter – und meine einzige Lebensaufgabe besteht darin, die vorüberziehende Landschaft zu bewundern“

Das klingt, ebenso wie der „Tropfen Unsicherheit“ im vorigen Zitat, schon etwas abenteuerlustiger und atmet vielleicht auch ein wenig den Geist ihrer Mutter, die mit einem Kleinkind Europas rauen Norden bereiste. Mary Shelley hat für diese Reise offensichtlich begrenzte finanzielle Mittel, es geht teilweise wirklich um das „günstigste“ Fortbewegungsmittel – oder auch die günstigste Übernachtungsmöglichkeit; an einer Stelle heißt es: „den höchsten Preis bezahlten wir natürlich in dem schlechtesten Gasthaus in Brückenau“. Aber passagenweise ist es auch ein durchaus klassischer Reisebericht; Land und Leute, Kunst und Kultur, Landschaft und Geschichte – aber nicht mehr empfindsam gesehen, sondern aus einer dezidiert individuellen Perspektive und mit wechselnder Stimmung und Beleuchtung.

In der Gesamtbewertung jedoch trifft sich Mary Shelley auf bemerkenswerte Weise mit ihrer Vorgängerin Sophie von La Roche, nämlich in einem ganz umfassenden Reiselob:

„Und außerdem – was könnte herrlicher sein, als immer wieder Neues zu erleben, als der unerschöpfliche Strom neuer Ideen, die einem auf Reisen kommen? Wir lesen, um uns Gedanken und Wissen anzueignen; Reisen ist ein Buch, das der Schöpfer selbst geschrieben hat, und es enthält höhere Weisheit als das gedruckte Wort des Menschen …. Das Zuhause mit Erinnerungen zu schmücken, wie eine Biene den Stock verlassen und auszuschwärmen, um mit dem Honig der Reisen zurückzukehren – mit Szenen, die das Auge nie vergisst – mit wilden Abenteuern, die die Fantasie beflügeln – mit Wissen, das den Geist erleuchtet und ihn von hartnäckigen, tödlichen Vorurteilen befreit – mit größerem Verständnis für unsere Mitmenschen –, das sind die Segnungen des Reisens. Ich bin überzeugt, das sie jeden besser und glücklich machen“

Auch hier: stärkere Betonung der Phantasie, der gelegentlichen Abenteuerlichkeiten im Sinne der Romantik – aber eben auch: Reisen als die einzige Situation im Leben, in der es ständig und unerschöpflich Neues gibt; als Prozess, in dem nicht nur Erlebnisse, sondern auch Wissen und menschliches Mitgefühl angesammelt, gehortet werden können. Das ist für Frauen im 18. und auch im 19. Jahrhundert so wichtig, um das noch einmal zu betonen, weil selbst für Autorinnen wie La Roche und Shelley der persönliche Wirkungsradius doch im Großen und Ganzen auf die Familie beschränkt war; sie konnten nicht hinaus ins Leben, wie die Männer, und umso befreiender, ja geradezu beflügelnder mussten sie das Reisen erleben!

***
Zum Abschluss noch eine Fußnote zu den Frauen und Fortbewegungsmitteln und der damit verbundenen Erweiterung des Reiseradius: Was Mitte des 19. Jahrhunderts die Eisenbahn war, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Automobil – eine Chance und eine Befreiung, auch und vor allem für Frauen. So war auch Virginia Woolf (die leider niemals einen Reisebericht schrieb) ganz begeistert, als sie und ihr Ehemann sich 1927 das erste gebrauchte Auto kauften. Sie notiert in ihren Tagebüchern, sie hoffe dadurch, „dieses merkwürdige Ding, die Weltkarte im eigenen Kopf“ zu erweitern; das Auto schenke ihnen ein zweites Leben, in dem man sich „frei & beweglich & luftig“ bewegen könne, „so leicht & beweglich wie ein Habicht in der Luft“, im Gegensatz zur „gewöhnlichen stationären Tätigkeit“. Leider meisterte Virginia Woolf das Autofahren – das technisch wohl etwas schwieriger war als heutzutage – nicht, so dass ihr Ehemann kutschieren musste; aber gleichwohl verdanken wir dieser besonderen Erfahrung, die man in einem Auto machen kann, während die Welt vorbeizieht, auch kleine Meisterwerke wie den Essay Evening over Sussex: Reflections in a Motor Car.



Alexander von Humboldt oder:
Reisen, Forschen und Fühlen


Er ist der Weltreisende schlechthin, und immerhin werden die meisten schon einmal seinen Namen gehört haben: Alexander von Humboldt. Er kam bis nach Südamerika und bis tief nach Sibirien; und er hinterließ neben seinen Reisetagebüchern und all den Exponaten, die auf seinen Reisen gesammelt hatte, ein unvollendetes mehrbändiges Werk, dass das gesamte naturkundliche und geographische Wissen seiner Zeit zusammenfassen sollte: Kosmos, Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Aber nur die wenigstens werden das monumentale Werk gelesen haben; und in Deutschland kennen ihn viele wahrscheinlich eher als eine der beiden Hauptfiguren in Daniel Kehlmanns Erfolgsroman Die Vermessung der Welt. Im Ausland hingegen, vor allem in vielen Ländern Lateinamerikas, wird er bis heute geradezu verehrt: Hat er sie doch sozusagen auf der neuzeitlichen Landkarte verortet, die vorher noch viel eurozentrischer war, als man sich das heute vorstellen kann. Was nun ist das Besondere an Alexander von Humboldts Art zu reisen, und warum kommt ihm diese prototypische Bedeutung als „Weltreisender“ zu?


Was ist eine Forschungsreise?

Humboldt machte tatsächlich erst einmal genau das, was man schon vor ihm und bis heute als Forschungsreisen bezeichnete: also Reisen in meist ferne Länder mit der expliziten Absicht (und einer speziellen Ausrüstung dafür), wissenschaftliche Erkenntnisse über sie zu sammeln – über ihre Pflanzen und Tiere genauso wie über ihr Klima, ihre Landschaftsformen, ihre Gesteinsformationen und Gebirge; oder auch über die dort lebenden Menschen, ihre Lebensweise und Gemeinschaftsformen, ihre Sitten und Bräuche. Die Forschungsreise unterscheidet sich von ihrem Vorläufer, der Entdeckungsreise (die es gibt, seitdem sich Leute an irgendeiner Küste in ein Boot setzen mit der Hoffnung, dass auf der anderen Seite des Ozeans auch Leute wohnen), dadurch, dass sie sie primär an Erkenntnis interessiert ist und nicht an politischer Eroberung oder wirtschaftlichem Nutzen (den beiden Hauptantrieben des Kolonialismus). Man sollte aber nicht aus den Augen verlieren, dass auch Forschungsreisen finanziert werden müssen, und sie sind keine billige Angelegenheit; und auch bei Humboldt ergibt sich deshalb durchaus der eine oder andere wirtschaftliche Nebenzweck. Insgesamt jedoch, und das ist der erste Aspekt, der Alexander von Humboldt zu einem ganz besonderen Weltreisenden macht, hat er seine Reisen zu großen Teilen selbst finanziert; und er hat sie auch aus eigenem Antrieb organisiert und dabei vor allem seine eigenen Erkenntnisinteressen verfolgt. Und man muss sich wirklich klarmachen, was das bedeutet: Es ist ein Privatmann, der sich daran macht, auf eigene Faust, auf eigene Kosten und auf eigenes Risiko die neue Welt in ihren noch weitgehend „unentdeckten“ Teilen zu erkunden!

Seine eigenen Interessen nun, und das ist der zweite Aspekt, der ihn zu einem prototypischen Weltreisenden – und vielleicht ja auch zu einem prototypischen Reisenden an sich? – macht, sind wahrhaft umfassend. Alexander von Humboldt interessiert sich, und zwar mehr oder weniger von Jugend an: für die belebte Welt, das heißt alle Tiere und alle Pflanzen (er hat einige Lieblinge); und für die unbelebte Welt, das heißt alles von den Sternen am Nachthimmel über die Gebirge und Ozeane der Welt bis hin zu den Vulkanen (die ihn besonders fasziniert haben) und Gesteinsformationen. Er sammelt alles, er misst alles, er notiert alles; er bereitet sich vor durch ausführlichste Lektüre aller zu einem Thema nur greifbaren Literatur, durch weitgespannte Korrespondenz mit den wissenschaftlichen Koryphäen seiner Zeit, durch die Anschaffung von und das Training im Umgang mit den besten wissenschaftlichen Geräten seiner Zeit, die er tatsächlich mitnimmt auf die Reise. Und nach der Rückkehr sortiert und katalogisiert er alles und schreibt, bis zum Ende seines langen Lebens (er wird 90 Jahre werden und bis zum Schluss arbeiten), viele viele Bände mit den Ergebnissen und Erkenntnissen seiner Reisen. Er ist, um endlich dieses häufig missbrauchte Wort zu benutzen, vielleicht der letzte Universalgelehrte der Neuzeit; man verglich ihn mit Gottfried Wilhelm Leibniz und die Franzosen nannten ihn den „neuen Aristoteles“. Sein universales Wissen jedoch, seine Myriaden von Einzelerkenntnissen in den unterschiedlichsten Sach- und Fachbereichen – hat er nicht zuhause am Schreibtisch erworben und auch nicht im Labor; er ist dafür auf Reisen gegangen.

„Die Natur muß gefühlt werden“ – Kenntnis des Einzelnen und Naturgefühl

Alexander von Humboldt also geht auf Forschungsreisen, und er verfolgt sein eigenes, ambitioniertes Forschungsprogramm dabei. Aber ist er wirklich nur der große Vermesser, ein allein an Zahlen und Fakten interessierter und für alles Menschliche blinder Naturwissenschaftlicher? Das könnte man meinen, und Daniel Kehlmann hat ihn so dargestellt (man darf das, es heißt poetische Lizenz oder Fiktionalität). Wer seine Reisetagebücher sieht mit ihren endlosen Tabellen oder seine vielen, vielen Veröffentlichungen zu wissenschaftlichen Spezialthemen konsultiert; oder auch, wer sich an den großen Kosmos wagt, sein monumentales Hauptwerk, der wird das im Großen und Ganzen bestätigt finden. Aber es ist nicht der ganze Alexander von Humboldt. Zwei Zitate von ihm selbst, die auf den ersten Blick etwas gegensätzlich wirken, mögen helfen, seine Spannweite als Mensch und als Naturforscher etwas gerechter in den Blick zu nehmen. Das erste von ihnen bestätigt die Charakterisierung als entschiedener Spezialist (wenn auch in vielen Spezialgebieten), der sich um Erkenntnis ganz tief unten auf der Sachebene übt:

Ich war durch den Umgang mit hochbegabten Männern früh zu der Einsicht gelangt, dass ohne den ernsten Hang nach der Kenntnis des Einzelnen alle große und allgemeine Weltanschauung nur ein Luftgebilde sein könnte.

"Kenntnis des Einzelnen“ – das könnte man geradezu als Motto über seine Reisen und ihren, ersehnten wie tatsächlichen Ertrag stellen. Aber dazu kommt ein zweites, es ist nicht ganz so präsent in den Texten, aber es ist, so meint zumindest Alexander von Humboldt selbst, eigentlich die unersetzliche Grundlage für alle Naturforschung, wie er sie über die Kenntnis des Einzelnen hinaus versteht. Der Satz wird häufig zitiert, er ist aus einem Brief an Goethe, der ihn verehrt und geschätzt hat wie nur ganz wenige Zeitgenossen; denn beide teilten nicht nur das außergewöhnliche breite Interessen- und Forschungsspektrum, sondern auch einige Grundüberzeugungen im Blick auf die Natur selbst. Humboldt also schrieb an den ihm durchaus geistesverwandten Goethe:

Die Natur muß gefühlt werden, wer nur sieht und abstrahirt, kann ein Menschenalter, im Lebensgedränge der glühenden Tropenwelt, Pflanzen und Thiere zergliedern, er wird die Natur zu beschreiben glauben, ihr selbst aber ewig fremd sein.

„Gefühlt“, ja, das steht tatsächlich da! Es reicht also nicht aus, zu messen und zu notieren und zu sammeln und zu katalogisieren und zu „sehen und zu abstrahieren“; nein, die Natur verstehen, wirklich so verstehen, dass man ihr nicht mehr „fremd“ ist, sie also von innen heraus verstehen: Kann nur der fühlende Forscher. Wie fühlt man nun die Natur, und: Was tragen Reisen dazu bei, dass man die Natur fühlt – beispielsweise die der „glühenden Tropenwelt“, die Humboldt fasziniert hat wie wenig anderes auf seinen weiten Reisen? Er selbst beschreibt in seinem Kosmos einmal diejenigen Natureindrücke, die ihn besonders fasziniert haben; und er reflektiert dabei gleichzeitig die Art des Eindrucks des Äußeren auf das Innere:

Darf ich mich hier der eigenen Erinnerung großer Naturscenen überlassen, so gedenke ich des Oceans, wenn in der Milde tropischer Nächte das Himmelsgewölbe sein planetarisches, nicht funkelndes Sternenlicht über die sanftwogende Wellenfläche ergießt; oder der Waldthäler der Cordilleren, wo mit kräftigem Triebe hohe Palmenstämme das düstere Laubdach durchbrechen und als Säulengänge hervorragen, „ein Wald über dem Walde“1; oder des Pics von Teneriffa, wenn horizontale Wolkenschichten den Aschenkegel von der unteren Erdfläche trennen, und plötzlich durch eine Oeffnung, die der aufsteigende Luftstrom bildet, der Blick von dem Rande des Kraters sich auf die weinbekränzten Hügel von Orotava und die Hesperidengärten der Küste hinabsenkt. In diesen Scenen ist es nicht mehr das stille, schaffende Leben der Natur, ihr ruhiges Treiben und Wirken, die uns ansprechen; es ist der individuelle Charakter der Landschaft, ein Zusammenfließen der Umrisse von Wolken, Meer und Küsten im Morgendufte der Inseln; es ist die Schönheit der Pflanzenformen und ihrer Gruppirung. Denn das Ungemessene, ja selbst das Schreckliche in der Natur, alles was unsere Fassungskraft übersteigt, wird in einer romantischen Gegend zur Quelle des Genusses. Die Phantasie übt dann das freie Spiel ihrer Schöpfungen an dem, was von den Sinnen nicht vollständig erreicht werden kann; ihr Wirken nimmt eine andere Richtung bei jedem Wechsel in der Gemüthsstimmung des Beobachters. Getäuscht, glauben wir von der Außenwelt zu empfangen, was wir selbst in diese gelegt haben.

Alexander von Humboldt: eine Lebensreise

Ist Humboldt also nun ein romantischer Reisender, der mit Hilfe der Phantasie und des Gemüts sich die Natur erschließt; oder ist er der unermüdliche Datensammler und pedantische Messknecht, den Kehlmann beschreibt:

Tatsachen, wiederholte Humboldt, die verblieben noch, er werde sie alle aufschreiben, ein ungeheures Werk voller Tatsachen, jede Tatsache der Welt, enthalten in einem einzigen Buch, alle Tatsachen und nur, der ganze Kosmos noch einmal, allerdings entkleidet von Irrtum Phantasie, Traum und Nebel; Fakten und Zahlen, sagte er mit unsicherer Stimme, die könnten einen vielleicht retten.“

Zur Beantwortung dieser Frage – und vielleicht zur Auflösung dieses scheinbaren Widerspruchs – wollen wir zunächst einen Blick auf sein Leben werfen; es war nicht nur lang, sondern auch ziemlich außergewöhnlich und ziemlich ereignisreich. Wir beschränken uns dabei aber auf diejenigen Dinge und Einflüsse, die ihn als Reisenden geprägt haben. Denn es war dem Sohn eines geadelten preußischen Offiziers und einer vermögenden Hugenottin nicht direkt in die Wiege gelegt, dass er die Welt bereisen sollte; sein Bruder Wilhelm von Humboldt (beide führten übrigens, der Nähe zum Königshaus wegen, beide als erstes die Vornamen „Friedrich Wilhelm“), blieb in Europa und brachte es als Philologe, Sprachwissenschaftler, Bildungsreformer und Diplomat zu mindestens gleicher Berühmtheit. Beide genossen gemeinsam eine hervorragende, geradezu bilderbuchmäßige Erziehung durch eine ganze Schar akademisch angesehener Hauslehrer; dazu erhielt Alexander auch eine exzellente Ausbildung im Zeichnen und Malen, die ihm sehr bei der späteren Illustration seiner Reisewerke zugutekam (und bis heute sind einige seiner Illustrationen stärker im öffentlichen Bewusstsein verankert als seine Texte). Aber schon früh zeigte sich offenbar eine grundlegende Verschiedenheit der Interessen; denn schon der kleine (im übrigen ziemlich sicher hochbegabte) Alexander streifte gern durch die Natur und sammelte und botanisierte und katalogisierte. Und offensichtlich blättert er auch gern in Reiseberichten und sieht sich Bildbände an; später nämlich erinnert er sich, als es darum geht, wie man den Menschen überhaupt die Freude und das Gefühl an Naturerscheinungen schmackhaft machen kann:

Kindliche Freude an der Form von Ländern und eingeschlossenen Meeren, wie sie auf Carten dargestellt sind, der Hang nach dem Anblick der südlichen Sternbilder, dessen unser Himmelsgewölbe entbehrt3, Abbildungen von Palmen und libanotischen Cedern in einer Bilderbibel können den frühesten Trieb nach Reisen in ferne Länder in die Seele pflanzen. Wäre es mir erlaubt eigene Erinnerungen anzurufen, mich selbst zu befragen, was einer unvertilgbaren Sehnsucht nach der Tropengegend den ersten Anstoß gab, so müßte ich nennen: Georg Forster's Schilderungen der Südsee-Inseln; Gemälde von Hodges die Ganges-Ufer darstellend, im Hause von Warren Hastings zu London; einen colossalen Drachenbaum in einem alten Thurme des botanischen Gartens bei Berlin.

Schon als Kind also träumt Alexander von den Reisen, die er – zumindest teilweise – später dann energisch in Angriff nehmen wird; und er wird zwar niemals, zu seinem großen Bedauern, am Ufer des Ganges, wohl aber am Fuß eines gigantischen Drachenbaumes stehen. Vorerst aber studieren die Brüder eine wilde Mischung von Dingen, auch das im Rekordtempo; und, was wahrscheinlich wichtiger ist für Alexanders Werdegang als Reisender: Er lernt tatsächlich in Göttingen Georg Forster kennen, einen der berühmtesten deutschen Reisenden vor ihm; Forster war als Naturforscher auf Cooks zweiter Weltumsiedlung dabei und hatte darüber auch einen vielgelesenen Reisebericht veröffentlicht. Gemeinsam mit ihm macht Alexander nun eine erste Forschungsreise, immerhin: nach England. Wichtiger aber wiederum ist, dass man dabei auch nach Paris kommt; es ist Paris im Jahr 1789, dem Jahr, in dem die großen französische Revolution ihren Anfang nimmt, und auch dieses Erlebnis prägt Alexander lebenslang: Er wird immer ein überzeugter Anhänger der größtmöglichen politischen Freiheit für alle bleiben und sich beispielsweise auch energisch für die Abschaffung der Sklaverei einsetzen.

Nach dem Studium wird Alexander im Staatsdienst angestellt, und zwar in der Bergverwaltung in Freiberg; er setzt noch ein Studium des Bergbaus drauf, erfindet einige Bergbau-Geräte, gründet eine Bergbauschule, macht die ersten Schritte auf einer vielversprechenden Karriereleiter – aber daneben bereitet er vor allem die ersehnte Weltreise vor, und zwar langwierig und gründlich; er schreibt:

Meine Reise ist unerschütterlich gewiß. Ich präpariere mich noch einige Jahre und sammle Instrumente, ein bis anderthalb Jahre bleibe ich in Italien, um mich mit Vulkanen genau bekannt zu machen, dann geht es über Paris nach England, wo ich leicht auch wieder ein Jahr bleiben könnte … und dann mit englischen Schiffen nach Westindien.

Bei seinen Vorbereitungen in Paris findet er dann, mehr oder weniger zufällig, auch einen Reisegefährten. Es ist der Botaniker Aimé Bonpland; Humboldt schreibt über ihn:

Mit meinem Reisegefährten Alexandre Bonpland bin ich überaus zufrieden. […] Er ist überaus thätig, arbeitsam, sich leicht in Sitten u Menschen findend, spricht sehr gut spanisch, ist sehr muthvoll u unerschrokken. Er hat vortrefliche Eigenschaften eines reisenden Naturalisten.

„Reisende Naturalisten“ – so sehen sich die beiden wahrscheinlich, als sie im Juni 1799 endlich aufbrechen. Das ist aber etwas tief gestapelt. Denn mit an Bord sind rund fünfzig hochmoderne wissenschaftliche Instrumente, und Alexander klingt dann schon etwas ambitionierter, als er in einem anderen Brief den Zweck seiner Reise erläutert:

Ich werde Pflanzen und Fossilien sammeln, mit einem vortreflichen Sextanten von Ramsden, einem Quadrant von Bird, und einem Chronometer von Louis Berthoud werde ich nüzliche astronomische Beobachtungen machen können; ich werde die Luft chemisch zerlegen – dieß alles aber ist nicht der Hauptzweck meiner Reise Auf das Zusammenwürken der Kräfte, den Einfluß der unbelebten Schöpfung auf die belebte Thier- und Pflanzenwelt; auf diese Harmonie sollen stäts meine Augen gerichtet seyn.

Es geht also nicht nur ums Messen und Aufzeichnungen; es geht vielmehr um das „Zusammenwürken der Kräfte“: Denn alles ist Wechselwirkung in der Natur, sie ist ein einziger großer belebter Organismus – diese Grundauffassung, man könnte sie „organistisch“ nennen (im Unterschied zu dem vorher vorherrschenden Bild der Natur als Maschine und Mechanismus, beispielsweise) teilt Humboldt mit Goethe. Es ist ihr großes wissenschaftliches Glaubensbekenntnis, und alle ihre Forschungen zielen darauf ab, diesen Zusammenhang von den Details, den Einzeldingen her zu erschließen; und je mehr solche empirischen Einzelerkenntnisse und Daten aus allen Teilen der Welt vorlegen, desto vollendeter und geschlossener wird man diesen Naturzusammenhang – verstehen, modellieren, rekonstruieren können (früher hätte man Gott dazu gesagt; Goethe hält es mit Spinoza: Das ist das Gleiche wie die Natur!). Aber: Um die ganze Natur verstehen zu können – muss man möglichst die ganze Welt gesehen haben; denn man hat immerhin schon verstanden, wie unendlich, geradezu unvorstellbar anders die Natur in anderen Erdteilen und Klimazonen ist. Navigare necesse est!, könnte man sagen in Abwandlung eines bekannten antiken Zitates.

Zwischenspiel in Teneriffa

Doch vor die Erkenntnis haben die Götter die Mühen und die Winde gesetzt. Denn die Expedition startet zwar planmäßig, man kommt aber erst einmal nur bis Teneriffa (mit bleibenden Wirkungen bis heute, wie alldiejenigen bezeugen können, die einmal auf dem Mirador de Humboldt gestanden sind und ins heute nicht mehr ganz so idyllische Orotava-Tal geschaut haben). Alexander ist ungeduldig, er will endlich in die neue Welt; aber immerhin hat Teneriffa schon eine fast tropische Natur, und es hat einen höchst eindrucksvollen Vulkan. Vulkane nämlich interessieren Alexander besonders; denn die Frage, ob die Gesteine das Ergebnis vulkanischer, eruptiver Prozesse sind oder aus dem Wasser kommen (Neptunismus vs. Plutonismus), ist eine der großen Glaubensfragen der Zeit; hängt von ihrer Beantwortung doch nicht nur das wissenschaftliche Verständnis der Erdgeschichte, sondern auch die Korrektheit der Heiligen Schrift ab! (die wesentliche kürzere Formierungszeiten vorsehen und den Neptunismus favorisieren würde). Außerdem ist es, man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, wenn man Alexanders Beschreibung des ziemlich mühevollen Aufstiegs auf den Teide liest: einfach ein großes Abenteuer, auf einen Vulkan zu steigen! Und er sieht auch einen uralten Drachenbaum (noch heute als Drago Milenario bekannt), auch dieser ein Zeuge einer tiefen Vergangenheit, die in ihm lesbar und sichtbar wird. Nein, der Aufenthalt ist nicht umsonst; er ist im Gegenteil die sanfte Einstimmung auf all die überwältigende tropische Natur, die ihn noch erwartet, auf die noch höheren Berge der Anden, auf eine Fülle von Farben, Gerüchen und Eindrücken, die für den Nordeuropäer einfach wirklich eine vollständig neue Welt sind. Humboldt selbst hat am Ende der Teneriffa-Woche in seinem Tagebuch festgehalten:

Sechs Tage lang hielten wir uns auf Teneriffa, in Sainte Croix, der Laguna, dem puerto Orotava und dem Pic von Teyde auf — die genußreichsten Tage meines Lebens, helle Punkte … In diesen Tagen habe ich so viel gesehen, empfunden und erfragt, daß ich jezt in der Furcht, vieles aus dem Gedächtniß zu verlieren, die Materialien nur flüchtig und ungeordnet niederschreiben will. Meine Einbildungskraft wird noch mehrere Jahre warm genug bleiben, um einst ein nicht unvollständiges Bild des Ganzen daraus zusamenzusezen, um einst andern einen Theil der Freude mitgenießen zu lassen, welchen jene große und dabei so sanfte und milde Natur gewährt. […]
Meine Erwartung, ans Land zu steigen, war sehr gespannt. Seit meiner frühesten Jugend war es einer meiner Lieblingsträume, diese Insel zu betreten. Meine Reisen mit Georg Forster hatten diesen Wunsch noch lebhafter gemacht. Was kann man mehr zum Ruhm dieser Inseln sagen, als daß dieser Weltumsegler, dieser tief fühlende Mensch, der die glüklichen Eilande der Südsee gesehen, mich oft versicherte, die wenigen Tage, die er in Teneriffa zugebracht blieben ihm eben so wichtige Momente seines Lebens, als seine ganze Existenz in Tahiti.

Dann endlich sind die Wetter-Bedingungen besser, und das Schiff sticht wieder in See. Auch dieser Augenblick hat Humboldt durchaus persönlich berührt; er schreibt:

Der Augenblick, wo man zum erstenmal von Europa scheidet, hat etwas Ergreifendes. Wenn man sich noch so bestimmt vergegenwärtigt, wie stark der Verkehr zwischen beiden Wehen ist, wie leicht man bei den großen Fortschritten der Schiffahrt über den Atlantischen Ozean gelangt, der, der Südsee gegenüber, ein nicht sehr breiter Meeresarm ist, das Gefühl, mit dem zum erstenmal eine weite Seereise antritt, hat immer etwas tief Aufregendes. Es gleich keiner der Empfindungen, die uns von früher Jugend auf bewegt haben. Getrennt von den Wesen, an denen unser Herz hängt, im Begriff, gleichsam den Schritt in ein neues Leben zu tun, ziehen wir uns unwillkürlich in uns selbst zusammen, und über uns kommt ein Gefühl des Alleinseins, wie wir es nie empfunden.

Am Orinoco, oder: die Natur ohne den Menschen

Die Weltreise ist, das kann man hier sehen und spüren, tatsächlich eine persönliche Herausforderung; sie ist keiner anderen Reise vergleichbar, da sie auch den schon etwas erfahrenen Reisenden völlig von seinem bisherigen Leben abtrennt (eine Erfahrung, die man in Zeiten des Flugverkehrs nur  noch schwerlich machen kann, und manchmal bedauert man das). Zwanzig Tage später legen sie in Venezuela an, und dann beginnt endlich die eigentliche Forschungsreise. Sie ist nichts weniger als komfortabel; der erste Teil, die Erkundung des Orinoco auf der Suche nach seinen Quellflüssen, geschieht beispielsweise auf einem größeren Floss, auf dem auch die gesamte Ausrüstung transportiert werden muss (übrigens: Jules Verne schreibt knapp einhundert Jahre später einen Roman mit dem Titel Der stolze Orinoco, in dem es immer noch um die Suche nach der Hauptquelle geht; sie wurde übrigens erst 1951 definitiv festgestellt). Die Strapazen, die Humboldt und Bonplandt auf sich nehmen, sind für heutige verwöhnte Reisende kaum vorstellbar (und wer sie genau und mit literarischer Phantasie beschrieben lesen will, kann das sehr eindrücklich bei Daniel Kehlmann nachlesen; er beschreibt es als eine Art gesteigertes Dschungel-Camp, Gesteigertes Dschungelcamp: Wie die beiden von Mücken bis aufs Blut zerstochen werden wie sie Zehenflöhe haben, wie sie in bitterer Kälte Berge besteigen, auf denen sie nicht mehr atmen können, Phantasien haben und das Zahnfleisch zu bluten beginnt; wie sie Selbstversuche mit Zitteraalen anstellen, wie sie Ameisenpastete essen; und wie sie immer wieder Vulkane besteigen und in den Krater blicken; zur Widerlegung des Neptunismus. Humboldt selbst resümiert das harte Schicksal des Forschungsreisenden im tropischen Regenwald in der Nähe des Äquator:

Vier Monate hindurch schliefen wir in Wäldern, umgeben von Krokodilen, Boas und Jaguaren… nichts genießend als Reise, Ameisen, Maniok, Pisang, Orenocowasser und bisweilen Affen. … In Guayana, wo man wegen der Mosquiten, die die Luft verfinstern, Kopf und Hände stets verdeckt haben muß, ist es fast unmöglich am Tageslicht zu schreiben; man kann die Feder nicht ruhig halten, so wütend schmerzt das Gift der Insekten.

Die genauen Reiserouten sowie den wissenschaftlichen Ertrag kann man an anderer Stelle nachlesen; hier soll es vor allem darum gehen, was Humboldt als Forschungsreisenden per excellence und als Reisenden überhaupt ausmacht. Und das ist wohl, neben seinem physischem Durchhaltevermögen und seinem nach eigenen Bezeugen ziemlich obsessiven Drang zur ständigen Tätigkeit, seine immer wache Aufnahmefähigkeit und auch seine Unvoreingenommenheit gegenüber jeglicher Art von Erfahrung. So kommt er beispielsweise, nachdem er schon länger in Lateinamerika unterwegs ist, umgeben mehr von Krokodilen, Affen, Mücken und Zehenflöhen als von Menschen, zu einem Schluss, der für seine Zeit extrem ungewöhnlich ist und geradezu hyperaktuell anmutet:
Hier, inmitten des neuen Kontinents, gewöhnt man sich beinahe daran, den Menschen als etwas zu betrachten, das nicht notwendig zur Naturordnung gehört.

Eine Welt ohne Menschen – auf diese Idee wäre man zweifellos auf einer klassischen Bildungsreise in der alten Welt nicht gekommen! Und allzu gern wäre Humboldt nach seiner Rückkehr aus Lateinamerika noch einmal aufgebrochen und hätte, um ein noch vollständigeres Bild der Welt zu bekommen, auch noch die östliche Hemisphäre bereist; nach Indien zog es ihn, an das Ufer des Ganges, und in den Himalaya, nach Tibet. Aber alle Pläne dafür scheitern. Immerhin jedoch tritt er in seinem sechzigsten Lebensjahr noch einmal eine Reise nach Russland an, diesmal deutlich komfortabler ausgestattet und kommt immerhin bis zur chinesischen Grenze. Aber der Eindruck wird niemals so stark wie der auf Amerika-Reise, was ziemlich sicher auch daran liegt, dass die Natur hier nicht in der gleichen Weise vielfältig, bunt und überwältigend ist wie eben in den Tropen.

„Kosmos“ und „Ansichten der Natur“: das Lebens- und das Reisewerk

Den Rest seines langen Lebens wird Alexander von Humboldt der systematischen Auswertung seiner Reisetagebücher und der mit gebrachten Exponate widmen; zwischen 1854 und 1862 erscheint sein Hauptwerk mit dem Titel Kosmos. Entwurf einer physischen Erdbeschreibung, reich illustriert, bald in mehrere Sprachen übersetzt und ein großer Verkaufserfolg (und so großen Teilen aus seinem Vermögen finanziert). Humboldt selbst beschreibt das ziemlich verwegene Konzept:

„Ich habe den tollen Einfall, die ganze materielle Welt, alles was wir heute von den Erscheinungen der Himmelsräume und des Erdenlebens, von den Nebelsternen bis zur Geographie der Moose auf den Granitfelsen, wissen, alles in Einem Werke darzustellen, und in einem Werke, das zugleich in lebendiger Sprache anregt und das Gemüth ergötzt“.

Der Weltreisende gibt eine Weltbeschreibung; und sie soll nicht nur fakten- und detailreich sein, sondern auch, „in lebendiger Sprache“ und nicht im trockenen Wissenschaftsjargon verfasst, angenehm lesbar sein. Sie soll sogar, das erscheint am verwegensten: „das Gemüt ergötzen“, also eine angenehme, unterhaltende und lehrreiche Lektüre sein, die die Leser auch emotional mitnimmt; wir erinnern uns: Man muss die Natur fühlen, um sie zu verstehen. Humboldt nimmt sich also vor:

Ein Buch von der Natur muß den Eindruck wie die Natur selbst hervorbringen. Worauf ich aber besonders in meinen Ansichten der Natur geachtet …. Ich habe gesucht, immer wahr beschreibend, bezeichnend, selbst scientifisch wahr zu sein, ohne in die dürren Regionen des Wissens zu gelangen“.

Man könnte sagen: Humboldt erstrebt nichts Geringeres als die Erfindung der populären Wissenschaftsprosa aus dem Geist der ganzheitlichen Bildung, die ja auch sein Bruder Wilhelm von Humboldt ebenso verkörperte wie propagierte und in Bildungspolitik umsetzte! Alexander jedoch musste irgendwann selbst erkennen, dass er sich in mehrerlei Hinsicht zu viel vorgenommen hatte. Nicht nur blieb das große Werk unvollendet, sondern es ist auch sprachlich nicht direkt einfach zugänglich; irgendwann hatte der Autor selbst die Idee, eine Kurzfassung als „Mikrokosmos“ zu verfassen, konnte sie aber nicht mehr umsetzen. Aber er brauchte den großen Plan, um all die Energie, die er in seiner Jugend in eine große, ziemlich abenteuerliche Forschungsreise investiert hatte, auch im Alter noch produktiv zu kanalisieren; er schrieb einmal, unter Anspielung auf eine Bibelstelle, bei der Jesus die Dämonen aus einem Besessenen austreibt und diese in 2000 Säue fahren:

„Ich weiß wohl, daß ich meinem großen Werk über die Natur nicht gewachsen bin, aber dieses ewige Treiben in mir (als wäre es 10 000 Säue) wird nur durch die stete Richtung nach etwas Großem und Bleibendem erhalten“

Oder, an anderer Stelle:

Jeder Mensch soll sich in die Position begeben, in der er glaubt, auf seine Weise am nützlichsten zu sein, und ich glaube, daß ich entweder an einer Krateröffnung ums Leben kommen oder von den Wellen des Meeres verschlungen werden sollte.

Tatsächlich stirbt Alexander von Humboldt im hohen Alter von neunzig Jahren in seinem Bett in Berlin, und ganz Berlin trauert um seinen großen Naturforscher und weltberühmten Weltreisenden. Kurz vor seinem Tod hatte er noch eine Anzeige in einem Berliner Anzeigen-Blatt veröffentlicht, die deutlich macht, wie sehr er inzwischen erstickt wurde von seinem weltweiten Ruhm:

Leidend unter dem Druck einer immer noch zunehmenden Korrespondenz, fast im Jahresmittel zwischen 1600 bis 2000 Nummern (Briefe, Druckschriften über ganz fremde Gegenstände, Manuskripte, deren Beurteilung gefordert wird, Auswanderungs- und Kolonialprojekte, Einsendungen von Modellen, Maschinen und Naturalien, Anfragen über Luftschifffahrt, Vermehrung autobiografischer Sammlung, Anerbieten, mich häuslich zu pflegen, zu zerstreuen und zu erheitern usw) versuche ich einmal mehr die Personen, welche mir ihr Wohlwollen schenken, öffentlich aufzufordern, dahin zu wirken, daß man sich weniger mit meiner Person in beiden Continenten beschäftige und mein Haus nicht als ein Adreß-Comptoir nutze.

Die Aufzählung spiegelt noch einmal die Breite von Alexanders Interessen, Tätigkeiten und Veröffentlichungen: Der prototypische Weltreisende galt als Experte für alles und jedes, und gerade seine Bemühungen um Popularisierung der Naturforschung machten ihn zu seinem gesuchten Ansprechpartner über das akademische Milieu heraus.

Reisender und Forschender

Wie verhalten sich nun der Reisende und der Forscher in der Person Alexander von Humboldts zueinander? Ihre enge Verbindung hat er selbst einmal in einen Vergleich gefasst:

Das Studium jeglicher neuen Wissenschaft, besonders einer solchen, welche die ungemessenen Schöpfungskreise, den ganzen Weltraum umfaßt, gleicht einer Reise in ferne Länder. Ehe man sie in Gemeinschaft unternimmt, fragt man, ob sie ausführbar sei; man mißt seine eigenen Kräfte, man blickt mißtrauisch auf die Kräfte der Mitreisenden, in der vielleicht ungerechten Besorgniß, sie möchten lästige Zögerung erregen. Die Zeit, in der wir leben, vermindert die Schwierigkeit des Unternehmens. Meine Zuversicht gründet sich auf den glänzenden Zustand der Naturwissenschaften selbst, deren Reichthum nicht mehr die Fülle, sondern die Verkettung des Beobachteten ist. Die allgemeinen Resultate, die jedem gebildeten Verstande Interesse einflößen, haben sich seit dem Ende des 18ten Jahrhunderts wundervoll vermehrt. Die Thatsachen stehen minder vereinzelt da; die Klüfte zwischen den Wesen werden ausgefüllt. Was in einem engeren Gesichtskreise, in unserer Nähe, dem forschenden Geiste lange unerklärlich blieb, wird oft durch Beobachtungen aufgehellt, die auf einer Wanderung in die entlegensten Regionen angestellt worden sind. Pflanzen- und Thier-Gebilde, die lange isolirt erschienen, reihen sich durch neu entdeckte Mittelglieder oder durch Uebergangsformen an einander. Eine allgemeine Verkettung, nicht in einfacher linearer Richtung, sondern in netzartig verschlungenem Gewebe, nach höherer Ausbildung oder Verkümmerung gewisser Organe, nach vielseitigem Schwanken in der relativen Uebermacht der Theile, stellt sich allmälig dem forschenden Natursinn dar. […] Unser Zeitalter erkennt, nach der Tendenz, die ihm seinen individuellen Charakter giebt, daß Thatsachen nur dann fruchtbringend werden, wenn der Reisende den dermaligen Zustand und die Bedürfnisse der Wissenschaft kennt, deren Gebiet er erweitern will, wenn Ideen, das heißt Einsicht in den Geist der Natur das Beobachten und Sammeln vernunftmäßig leiten.

Der Reisende in der Wissenschaft wird hier von Alexander von Humboldt durchaus nach dem eigenen Vorbild modelliert: Bevor man sich in eine neue Wissenschaft stürzt wie in ein neues Reiseabenteuer – hat man sich angemessen vorzubereiten; hat die schon vorhandenen Kenntnisse und Forschungsergebnisse ebenso zur Kenntnis zu nehmen wie die eigenen Kräfte und Fähigkeiten zu evaluieren. Wenn diese persönliche Evaluation jedoch positiv ausfällt – sind Reisen notwendig für den Fortschritt beinahe jeder Naturwissenschaft. Denn die Natur versteht Humboldt, wir hatten es schon erwähnt: als eine „allgemeine Verkettung“, ein großes Ganzes, ein Netzwerk. Ab einem gewissen Punkt in der Wissenschaftsgeschichte kommt es deshalb mehr darauf an, durch Vergleiche die Verbindungen und Übergänge zwischen den einzelnen Phänomenen, die Knotenpunkte im Netz zu erkennen als weiter isolierte Fakten anzuhäufen. Dazu ist aber zuerst ein Überblick über das Ganze nötig, eine leitende Idee, die Humboldt durchaus idealistisch „Einsicht in den Geist der Natur“ nennt; nur eine solcher Überblick rechtfertigt das umfangreiche, obsessive Beobachten und Sammeln von Fakten und Einzelheiten.

„Ansichten der Natur“ – Einblicke in Mikro-Kosmen

Das ist der Geist, aus dem der Kosmos geschrieben ist. Wer es jedoch lieber eine Nummer kleiner, in Richtung „Mikro-Kosmos“ sozusagen, möchte, sollte die Ansichten der Natur lesen; nach eigenem Bezeugen Humboldts „Lieblingsbuch“. Es enthält eine Reihe von Einzelaufsätzen, die Humboldt im Vorwort folgendermaßen charakterisiert:

Schüchtern übergebe ich dem Publikum eine Reihe von Arbeiten, die im Angesicht großer Naturgegenstände, auf dem Ocean, in den Wäldern des Orinoco, in den Steppen von Venecuela, in der Einöde peruanischer und mexicanischer Gebirge, entstanden sind. Einzelne Fragmente sind an Ort und Stelle niedergeschrieben, und nachmals nur in ein Ganzes zusammengeschmolzen. Überblick der Natur im großen, Beweis von dem Zusammenwirken der Kräfte, Erneuerung des Genusses, welchen die unmittelbare Ansicht der Tropenländer dem fühlenden Menschen gewährt, sind die Zwecke, nach denen ich strebe.

Auch hier geht es also, wie im Kosmos später, um eine ansprechende sprachliche Darstellung ebenso wie um eine anrührende oder mitreißende emotionale Wirkung auf den „fühlenden Menschen“ – das alles im Interesse dessen, was Humboldt das „Naturgefühl“ nennt und was er beim Leser, vor allem auch beim jugendlichen, fördern möchte. Aber in den viel stärker auf Popularität angelegten Ansichten der Natur beschreibt Humboldt sehr ehrlich auch die Probleme, die diese Darstellungsweise mit sich bringt:

Reichthum der Natur veranlaßt Anhäufung einzelner Bilder, und Anhäufung stört die Ruhe und den Totaleindruck des Gemäldes. Das Gefühl und die Phantasie ansprechend, artet der Styl leicht in eine dichterische Prosa aus. Diese Ideen bedürfen hier keiner Entwickelung, da die nachstehenden Blätter mannigfaltige Beispiele solcher Verirrungen, solchen Mangels an Haltung darbieten.

Verirrungen und Mängel sind es vielleicht jedoch gerade, die den Stil für den heutigen Leser streckenweise hier etwas zugänglicher machen als im Kosmos. Sie fördern vielleicht sogar den von Humboldt als Ideal erstrebten gleichermaßen sinnlichen, emotionalen und geistigen Zugang zur Natur, verstanden als ausdauernden und bewusst und reflektiert betriebenen Bildungsprozess, sowohl im Blick auf den Einzelnen als auch auf die Menschheit. Die Einübung in eine ganzheitliche Naturbetrachtung, sei es für den Forscher oder auch nur für den interessierten Leser, profitiert dabei von dem Enthusiasmus, den die sinnlichen Eindrücke einer überwältigenden Naturvielfalt beispielsweise in den Tropen auf das dafür empfängliche Gemüt erregen, so Humboldt:

„Der Einfluß der physischen Welt auf die moralische, das geheimnißvolle Ineinanderwirken des Sinnlichen und Außersinnlichen giebt dem Naturstudium, wenn man es zu höheren Gesichtspunkten erhebt, noch zu wenig erkannten Reiz“.

Besonders deutlich wird diese Auffassung von der Naturbetrachtung als Bildungsprozess in dem Aufsatz Das nächtliche Tierleben im Urwalde, in den Humboldt auch wörtliche Auszüge aus einen Reisetagebücher einbaut. Hier führt er den Begriff einer „Naturwahrheit“ ein, die der letzte Zweck aller Naturbeschreibung sei:

„Der Menschen Rede wird durch alles belebt, was auf Naturwahrheit hindeutet; sei es in der Schilderung der von der Außenwelt empfangenen sinnlichen Eindrücke, oder des tief bewegten Gedanken und innerer Gefühle. Das unablässige Streben nach dieser Wahrheit ist im Auffassen der Erscheinungen wie in der Wahl des bezeichnenden Ausdrucks der Zweck aller Naturbeschreibung. Er wird am leichtesten erreicht durch Einfachheit der Erzählung von dem Selbstbeobachteten, dem Selbsterlebten, durch die beschränkende Individualisierung der Lage, an welche sich die Erzählung knüpft. Verallgemeinerung physischer Ansichten, Aufzählung der Resultate gehört in die Lehre vom Kosmos.

Das Attribut der „Wahrheit“ kommt hier, und das ist bemerkenswert, vor allem dem authentischen eigenen Erleben, Fühlen und Denken zu – dem „Selbstbeobachteten, dem Selbsterlebten“, das sich in einer einfachen Erzählung am besten dem Leser vermittelt. Individualisierung, nicht Verallgemeinerung, Einzelerlebnisse, nicht Aufzählung der Resultate – das ist das Ziel der Ansichten der Natur. In ihr ist der Reisende als Wissenschaftler – und der Wissenschaftler als Reisender – am stärksten präsent. Denn wer die ganze Welt beschreiben will – muss sie nicht nur gesehen, sondern selbst erlebt und gefühlt und gedanklich bewältigt haben, er muss sich ihr ausgesetzt haben, als individueller Reisender in individuellen Situationen nämlich. Nur so kann er die Natur tatsächlich fühlen – und sei es in Form von Zehenflöhen und kreischenden Affen.



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