Mattes-Verlag, Heidelberg 1997
978-3-930978-09-0
Inhalt
Jutta Heinz: Warum Wezel?
Klaus Manger: Johann Karl Wezel – biographisch. Dichter und Schriftsteller, Anthropozentriker und Aufklärer
Wolfgang Hörner: Die Mär vom wilden Schreckensmann. Arno Schmidt und Johann Karl Wezel – ein folgenreiches Mißverständnis
Thilo Joerger: Deutsche Lustspiele? – Wezel lesen!
Alexander Kosenina: »zwey Blätter …, die den Teutschen Ehre machen« Wezel an Daniel Chodowiecki, zwei Beispiele aus der BriefeditionIrene Boose: Wezel-Konstruktionen. Ein Nachleben in Sondershausen
Wolfgang Hörner: Mythos Johann Karl Wezel: Biographische Quellen und Dokumente
Wenn sich neue Werkausgaben, Feuilleton-Artikel und Sonderausstellungen zu einem bisher eher unbeachteten Autor verdächtig häufen, ahnen es Kenner des kulturellen Lebens und seiner Spielregeln sogleich: Ein Jubiliäum kündigt sich an. Es rundet sich entweder ein Geburts- oder Todesjahr - was zwar einen bedeutenden Unterscheid für den solcherart Geehrten machte, aber für die posthum geladenen Gäste die gleichen Folgen hat: Es darf eröffnet und veröffentlicht, geredet und geehrt, rehabilitiert und rekonstruiert, getagt und getafelt werden. Ein schöner Brauch im ansonsten an emotionalen Höhepunkten ja eher armen geistigen Leben der Nation, der hier ganz und gar nicht hämisch verspottet werden soll: Von solchen Merkzeichen im ewigen Kalender lebt das kulturelle Gedächtnis. Das in die Jahre gekommene Werk so manches Geehrten erfährt zudem bei dieser Gelegenheit auch eine Frischzellenkur, da sich unvermeidlich die Frage aufdrängt: Was hat der Dichter uns heute noch zu sagen? Womit wir bei der Ausgangsfrage wären: Warum also, trotz oder wegen seines 250. Geburtsjahres, nun wieder Wezel?
Es ist keine rechte Neuentdeckung mehr, die da gefeiert wird: Zwar hat Johann Karl Wezel lange Zeit zu den vergessenen Dichtern des 18. Jahrhunderts gehört, seine Wiederbelebung wurde jedoch von verschiedenen Gruppen - mit dementsprechend unterschiedlichen Interessen - bereits vor geraumer Zeit in Angriff genommen. Das Urheberrecht an der Wezelschen Wiederauferstehung darf wohl die unermüdliche Fangemeinde in seinem thüringischen Heimatstädtchen für sich beanspruchen, das - nomen est omen - den zugleich alltäglichen wie auch bedeutungsschweren Namen Sondershausen trägt. Denn das Besondere an Sondershausen war - und ist heute wieder - der schon in seiner Zeit als Sonderling bekannte Dichter Johann Karl Wezel; dort 1747 geboren, erzogen und mit schwerer Krankheit unter sonderbaren Umständen rund 40 Jahre später aus der Fremde nach Sondershausen zurückgekehrt und dort verstorben.
Die Sondershäuser Heimat-, Literatur- und Wezelforscher hatten und haben also allen Grund, sich um eine Wezel-Renaissance zu bemühen; und sie haben sich unzweifelhaft Verdienste auf diesem Gebiet erworben. Lokalpatriotismus allein rechtfertigt jedoch noch keine eingehende wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Werk eines Dichters, wie sie der hier anzukündigende Plan einer wissenschaftlichen kommentierten Werkausgabe zu initiieren versucht. Die germanistische Auseinandersetzung mit Wezel empfing ihre Anfangsimpulse vielmehr zu DDR-Zeiten aus der Profilierung Wezels als sozialkritischem Autor und Anti-Klassiker. Dazu war im übrigen keine erhebliche Entstellung des Werks oder eine besonders eingeschränkte Betrachtungsweise erforderlich: Zum einen ist es, auch wenn es heutzutage nicht gerade up-to-date ist, ein legitimes literaturwissenschaftliches Interesse mit einer etablierten Methode, poetische Werke auf ihre gesellschaftliche Bedeutsamkeit und ihren sozialen Gehalt hin zu untersuchen. Zum zweiten verstand sich Wezel in außerordentlich hohem Maße als realistischer Dichter und gesellschafts- und kulturpolitischer Denker, dem die Wirkung seiner Texte auf Bildung und Geschmack der Nation stets vor Augen stand. Gewehrt hätte er sich jedoch vermutlich gegen jede Art von parteilicher Vereinnahmung oder Verpflichtung auf einen ideologischen Standpunkt. Als Autor, der die zutiefst relativistische Frage stellen konnte: „Welche Seite der Welt soll man jungen Menschen zeigen?“, war ihm selbst allein die historische, psychologische und mentale Determination menschlichen Handelns und Urteilens durch die verschiedensten äußeren und inneren Einflüsse auf das Individuum eine letzte, unhintergehbare Wahrheit. Deshalb taugt Wezel nicht als marxistisch-leninistischer, noch nicht einmal als sozialistischer Vorzeigeautor. Unbestritten bleiben jedoch auch die Verdienste der frühen Initiatoren einer Wezel-Forschung in der DDR, sei es in der Grundlagenforschung zu Leben, Werk und gesellschaftlichen Hintergründen seines Schaffens oder in der Neuherausgabe Wezelscher Werke. Doch wir stehen wiederum vor der Frage: Warum denn hier und heute immer noch Wezel?
Zu den Eigenheiten deutscher Literaturgeschichte gehört es, daß die besondere Sympathie des Publikums wie auch der Forschung dem kranken, verkannten, vorzugsweise dem wahnsinnigen Dichter gehört. Bei Wezel verhält es sich noch ein bißchen anders - was den Effekt aber eher verstärkt als ihn zu mindern: Es ist nämlich aus den Berichten seiner Betreuer und Pfleger nicht mit letzter Sicherheit zu schließen, ob und wie genau er denn tatsächlich und unheilbar geistig zerrüttet war. Zur Faszination über den wahnsinnigen Dichter kommt also noch der moralische Wiedergutmachungstrieb. Ein ganzer Zweig der Wezel-Forschung hat sich inzwischen der Rehabilitierung verschrieben und erhebt Verleumdungsklage vor allem gegen einen gewissen Herrn Blumröder, auf den die Berichte über Wezels Wahnsinn maßgeblich zurückgehen. Allerdings hat die - zweifellos tragische und mitleiderregende - Lebensgeschichte Wezels nur marginal mit seinem Werk zu tun - es sei denn, man favorisierte psychoanalytische oder zumindest psychologische Deutungsmuster, die schon in der negativen Theodizee im frühen Roman Belphegor oder der tödlich verlaufenden melancholischen Erkrankung der Wilhelmine Arend im gleichnamigen späten Roman Indizien für eine von Grund auf gefährdete und psychisch instabile Persönlichkeit sehen wollen - und die Texte damit auf Schlüsseldokumente für die Neurosen ihres Autors reduzieren. Es ist jedoch genauso wenig befriedigend, das gar nicht so kleine Œuvre Wezels als psychomedizinische Fallgeschichte wie als frühsozialistische Grundschrift zu lesen. Selbst beides zusammen ergibt noch keine hinreichende Antwort auf unsere Frage: Warum Wezel?
Nun hat sich in jüngerer Zeit in der Aufklärungsforschung einiges getan, und meistenteils Erfreuliches. Dazu gehörte auch, daß man sich bewußt vom sogenannten Höhenkamm der Literatur- und Geistesgeschichte herabbegab auf die steinigen Pfade und Sackgassen der sogenannten „poetae minores“ - ein vormals weites, unerschlossenes Feld, das in eine blühende Forschungslandschaft verwandelt wurde. Wer heute im 18. Jahrhundert, speziell dem der Aufklärung, mitreden will, kommt nicht mehr mit der guten alten Trias Lessing-Herder-Wieland über die Runden; neben Kenntnissen der englischen und französischen Szene gehört es jetzt zum guten Ton, zumindest Popularphilosophen wie Garve oder Engel, Seelenkundler wie Moritz oder Abel, Mediziner wie Unzer oder Platner, Pädagogen wie Campe oder Basedow zu kennen. Wiederum ist zu konstatieren: Das Wissen über die Aufklärung wurde durch diese Feldforschungen nicht nur verbreitert, sondern auch vertieft; alte Klischees wurden ausgemustert, neue Zusammenhänge geknüpft. Im Einzelfall muß jedoch immer wieder aufs Neue gefragt werden: Ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit einem Autor nur deshalb gerechtfertigt, weil er schwächer - sprich: unbekannter, vergessener, vielleicht aber auch uninteressanter - ist als andere? Und wie ist das bei Wezel?
Womit endlich Schluß sein soll mit dem Genörgel, den Einschränkungen und den halbherzigen Zugeständnissen; hier beginnt der apologetische Teil, der in einer Werbe- und Propagandaschrift zu recht erwartet werden kann. Die Verteidigung plädiert zum ersten: Lesen Sie Wezel als vielseitig interessierten und engagierten Autor. Lesen Sie also nicht nur das Romanwerk - oder hier gar nur den am stärksten mainstream-konformen Roman Herrmann und Ulrike, den bekanntlich sogar der zu diesem Zeitpunkt bereits völlig mit Wezel zerfallene Wieland protegierte und den die Forschung ziemlich bald für das sonst relativ mager mit Exempeln ausgestattete Gebiet Forschungs- und Entwicklungsroman vereinnahmte. Lesen Sie, auch wenn Sie keine Kinder haben, dazu die pädagogischen Schriften des Hofmeisters Wezel, die die Kindheit weder romantisch verklären noch rationalistisch verkürzen. Lesen Sie unbedingt seine sprachkritischen und bildungspolitischen Schriften, die eine Bestandsaufnahme und kritische Wertung der Debatte um die Nationalliteratur seiner Zeit sind. Lesen Sie zumindest im Auszug seinen Versuch über die Kenntniß des Menschen - nicht nur ein wertvolles Kompendium des medizinischen, ethnologischen, psychologischen und philosophischen Wissens um den Menschen in seiner Zeit, sondern auch ein Versuch zur Zusammenschau verschiedener Disziplinen in einer Zeit fortschreitender fachlicher Spezialisierung; dazu angereichert mit kuriosen Anekdoten und schonungslosen Selbstbeobachtungen. Werfen Sie vielleicht sogar einen Blick in die Streitschriften gegen Ernst Platner, die eine einmalige Dokumentation der Streitkultur des 18. Jahrhunderts sind. Es gibt keine Ausrede mehr: Dies alles und noch viel mehr wird in der neuen Gesamtausgabe enthalten und damit leicht zugänglich sein.
Mit etwas Glück und ehrlichem Bemühen wird sich dann bei einer solchen breiten Lektüre über den Einzeltext hinaus ein Panorama ergeben, bei dem nicht nur das Wezelsche Œuvre selbst unter einer neuen Perspektive gesehen werden kann; Sie werden auch substantielle Erkenntnisse über die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts und die deutsche Spätaufklärung in ihrer Diskussionsvielfalt gewinnen. Denn das ist das Besondere an Wezel: Er führt - in seiner Person wie in seinem Werk - ansonsten getrennte Diskurse zusammen; er ist in einem Dichter, Psychologe, Literatur- und Sprachkritiker, politischer und ökonomischer Denker, praktizierender Pädagoge. Er ist, um es in einem Wort zu sagen, ein Zeitgenosse.
Es wird Ihnen dabei wahrlich nicht alles gefallen, was Sie lesen. Sie werden sich vielfach ärgern über Wezels intellektuelle Arroganz, seinen harten Stil, seine Obsession auf bestimmte Themen. Wezel wirbt nicht um seine Leser; ihm fehlt die Eleganz eines Wieland, die scharfzüngige Lakonik eines Lessing, die mitreißende Bildlichkeit und rhetorische Leidenschaftlichkeit eines Herder. Seine literarischen Gestalten sind nicht sympathisch, seine philosophischen Überlegungen keine großen systematischen Würfe. Aber er läßt den Leser an seinen Gedankengängen teilnehmen und bezieht ihn in seine Argumentation ein, die mit ihren Fragen, Einwänden und in ihrem rhetorischen Gestus häufig mehr wie ein Dialog denn ein Selbstgespräch wirkt.
Damit offenbart sich Wezel, und das ist das zweite Argument der Verteidigung, als Aufklärer par excellence. Das „sapere aude“ könnte als Motto über seinem gesamten Werk stehen - und es war für ihn ein Wagnis, das ihn letztendlich seinen guten Ruf als Dichter, seine Freunde, vielleicht auch seinen Verstand gekostet hat. Wezel ist ein entschiedener Selbstdenker; er denkt vielleicht nicht immer richtig, aber meist folgerichtig und vor allem von Grund auf. Er ist deshalb nichts weniger als ein Dilettant oder einfach nur ungebildet; bei den meisten Themen, zu denen er sich äußert, sind ihm die Bildungstraditionen von der Antike an geläufig, der aktuelle Stand der Diskussion gegenwärtig und die geistigen Autoritäten der Zeit präsent. Er bewahrt sich jedoch eine bemerkenswerte Selbständigkeit des Urteils; mehr noch, er ist ein Kritiker im positiven Sinn des Wortes, der nicht nur autokratisch verdammt oder verklärt, sondern immer versucht, zunächst die Grundlagen dessen, was wir überhaupt zu einer bestimmten Frage wissen und urteilen können, zu ermitteln. Und gleiches gilt für seine literarischen Texte, die zwar poetische Verfahren der Zeitgenossen aufnehmen und variieren, häufig auch parodieren können; sie bleiben jedoch darüber hinaus geprägt von seinen eigenen poetologischen Konzepten und Zielvorstellungen - die er außergewöhnlich bewußt reflektierte und gezielt einsetzte -, geprägt auch von seiner eigenen sprachlichen Schaffenskraft.
Deshalb fällt und fiel es der germanistischen Forschung auch gemeinhin schwer, Wezel in einer der Epochen-Schubladen unterzubringen, die sich für die relativ begrenzte Zeit seiner literarischen Tätigkeit anbieten. Er hielt Distanz zu Empfindsamkeit wie Sturm und Drang, ohne jedoch beides pauschal zu verdammen, sondern schätzte jeweils gewisse Aspekte und einzelne Autoren und kritisierte andere erbarmungslos. Ein Aufklärer ist er zwar im oben beschriebenen, methodischen Sinn des Zweifels und der Kritik; seine Werke propagieren aber keinesfalls nur Überzeugungen, die man mit einer streng aufklärerischen Grundhaltung inhaltlichzu verbinden gewohnt ist. Am besten wäre er wohl als Vertreter der deutschen Spätaufklärung zu beschreiben; also als jemand, der die Folgen der Dialektik der frühen, optimistischen Aufklärung zwar schon am eigenen Leibe erfahren hat, aber darüber weder zum hard-core-Materialisten noch gar zum Nihilisten und noch nicht einmal zum Skeptiker konvertiert ist, sondern der inmitten einer verwirrenden Vielfalt von Meinungen, Urteilen und Handlungsalternativen immer noch an das Ideal der ausgewogenen, harmonischen, nicht einseitig vom Verstand dominierten, wohl aber rational verantwortlichen Persönlichkeit glaubt.
Warum also, zu guter Letzt und in kurzen Worten zusammengefaßt, gerade Wezel? Weil er ein ungewöhnlich vielseitiger und universell interessierter Autor war; weil er mit seinem Beharren darauf, sich einzig und allein seinem eigenen Verstand verpflichtet zu fühlen, ein vorbildlicher Aufklärer war; weil er schließlich als Beispiel eines gesellschaftlich engagierten Intellektuellen gelten kann, wie ihn nicht nur die Feuilletons heute wieder mit all ihren schwachen Kräften herbeiwünschen. Als solcher war er sowohl teilnehmen in geistigen Traditionen teilnehmen wie auch aufgeschlossen für aktuelle literarische, wissenschaftliche und politische Entwicklungen; war er gleichzeitig Schaffender und Kritiker, Gelehrter und Lernender. Daneben war er höchstwahrscheinlich ein schwacher Mensch mit einem schweren Schicksal, vom Erfolg nicht verwöhnt, von den Frauen nicht geliebt, mit einer Anlage zu Hypochondrie und Verfolgungswahn, vielleicht sogar ein Querulant und ein Neurotiker. Kein Held der Literatur oder des Geistes also - aber zumindestens ein interessanter Zeitgenosse für das endende 18. wie auch für das endende 20. Jahrhundert.