Werther-Fieber, Werther-Tracht und Werther-Tassen; europäischer Bestseller und autobiographischer Schlüsselroman; Verbot wegen Anstiftung zum Selbstmord und Störung des Ehefriedens – selten wurde ein Roman so überlagert von seiner Rezeptionsgeschichte. Der Autor selbst hat sich später von seinem Erstling distanziert. Zwar habe er ihm wahrscheinlich in einer schweren persönlichen Krise das Leben gerettet, aber trotzdem sei doch die Literatur nicht einfach mit dem Leben zu verwechseln!
Die Goethe Akademie begibt sich zum 250-jährigen Jubiläum der „Leiden des jungen Werthers“ nach Wetzlar, an den Ort seiner Entstehung – aber nicht, um das Leben mit dem Roman zu verwechseln, sondern um ihr Wechselverhältnis in einer Fallstudie genauer zu beleuchten. Wir begleiten Werther zu Lotte (Charlotte Buff) und Karl Wilhelm Jerusalem, folgen seinen Spuren nach Garbenheim und Volpertshausen. Ergänzend dazu steht die Lektüre des „Werther“ auf dem Programm. Der Roman und seine Rezeptionsgeschichte werfen eine Reihe von Fragen auf: Was hat es mit der „Empfindsamkeit“ auf sich, der Epidemie des Gefühlsüberschwangs im gebildeten Europa jener Jahre? Welche Bedeutung hatten Briefe im Zeitalter der Aufklärung? Wie stellt sich das Geschlechter-Verhältnis bei Goethe dar, und warum wurde Lotte zur Heldin in Thomas Manns Werther-Roman „Lotte in Weimar“? Und schließlich, in ökologisch bewegten Zeiten: Welche Natur ist es eigentlich, die der Autor und seine Hauptfigur so enthusiastisch verehren?
Zum Nachlesen:
Nein, sprechen wir lieber nicht von meinem 275. Geburtstag in diesem Jahr – es ist zu viel der Greisenheit! Hatten wir dieses Jahr nicht schon ein anderes bedeutend-bedenkliches Geburtstagsfest? Ach ja, mein Jugend-Erstlingskind, die Leiden des jungen Werthers! Ganze 250 Jahre ist es her, und wie ich oft habe ich seither gewünscht, ihn nicht geschrieben zu haben! Lauter Brandraketen, wie ich meinem treuen Eckermann schon damals erläutert habe, und jede einzelne ein Treffer! Was hat er nicht alles in Brand gesetzt, mein Heldenjüngling mit dem Herzchen, das er wie ein Kindchen hielt – schon da hätten sie doch merken müssen, dass es kein gutes Ende mit ihm nehmen konnte; aber nein, so ein Herzchen wollten sie ja alle damals, die Jungen, Verwöhnten, im Geiste und auf dem Papiere Stürmenden und Drängenden – und wollte ich es nicht auch, habe ich nicht auch mein eigen Herzchen gewiegt und in den Schlaf gesungen mit all meinen wehmütigen und sehnsüchtigen Liebesliedern an all die Lotten und Charlotten und Friederiken und wie sie alle hießen? Aber ich wusste, wann ich mich aus dem Staub zu machen hatte; sonst wäre ich niemals so alt geworden, wie ich in diesem Jahre, ich mag es immer noch nicht aus- und durch- und hinterdenken, wohl geworden bin! Der arme Werther musste sterben, damit ich leben konnte – das habe ich sie alle denken lassen, ins Werk hinein- und wieder hinausdenken. Aber eigentlich musste er sterben, weil er ein rettungs-loser Schwärmer war, und vom ersten Satz an hätten sie sehen müssen, dass sein Platz nicht von hienieden war – „Wie froh bin ich, dass ich weg bin!“ Wer das schreibt, ist schon fast abgereist.
Aber ich habe dann ja doch noch das eine oder andere geschrieben, und manchmal schon war ich geneigt, meine gar nicht so kleine Romanenwelt als meine eigentliche Selbstbiographie zu lesen; Dichtung und Wahrheit, untrennbar verschlungen und aufs schönste verwebt! Mein Wilhelm, was ist er anders als ein überlebter Werther? Die gleichen überschwänglichen Ideale, die gleiche Narrheit in der Liebe, das gleiche allzuweiche Herzchen – aber ihm, ihm habe ich die Turmgesellschaft an die Seite gestellt und zuvor eine lieblich-entgegenkommende Schauspielerin dazu. War es nicht recht lebendig-heiter ersonnen, wie ich ihm dabei sogleich einen Sohn unterschob und ihn daran recht eigentlich im Menschlichen wachsen ließ? Und meine Wahlverwandtschaften, was sind sie anders als der Roman des schweren Mittelalters des Menschen, seiner Mittelzeit zwischen Kindheit und Greisenheit und deren Verflechtungen und Verfehlungen und (wenig genug waren es) Verzückungen? Und dann die Wanderjahre gar, das späte Sorgenkind, wie hätte sich Werther in ihnen verlaufen und nie wieder herausgefunden? Eine Pädagogische Provinz hätte ihn freilich retten können; aber wollte, sollte er denn gerettet werden und nicht besser jung sterben, in der Blütezeit des Lebens? Ach, am schönsten, am reichsten, am freu-digsten ist und bleibt das Leben in der Jugend; wenn ich doch nur das Mittelchen wüsste, mich selbst zu verjüngen, so wie es meinem Faust als alter Mann geschah, aber es will und will sich kein meiner Seele bedürftiger Mephistopheles mehr finden!
Nun, der junge Werther musste sterben, aber mein Werther lebt fort und fort; seine an-haltende Fortexistenz ist mir gewissermaßen ärgerlich und erfreulich gleichermaßen, zumal sie ja schon jedes einzelne Fädchen daran herausgezerrt und verkehrt und verunstaltet haben! Was hat der arme Werther nicht leiden müssen in seinem Fortleben! Nein, sie werden niemals verstehen, dass ein solches Werk – ein eigenes Leben hat von der ersten Minute seiner Schöpfung an. Und ich habe es gewusst, gerade bei dieser meinen ersten prosaischen Schöpfung habe ich es gewusst und bemerkt, dass es sich beinahe von selbst, unbewusst und aus einer geheimnisvollen Tiefe heraus schreibt! Keinen Plan hatte ich, keines der später so von mir geliebten Schema – nur meine eigene Erfahrung und den Tod des armen Jerusalem, der mich zutiefst choquirt hatte! Und so schrieb ich, ich schrieb mir in diesen vier Wochen nicht nur mein eigenes, krankes Herzchen aus dem Leibe – das, seien wir ehrlich, schon zwischendurch genesen und wieder neu erkrankt war –, sondern ich schrieb mir eine Erklärung aus dem Kopfe. Denn ich musste verstehen, warum Jerusalem das getan hatte, dieser stille, in sich gekehrte Mann, der immer etwas abseits war und nie bei unseren Streichen mittat. Und am Ende – hatte ich es verstanden. Und danach begann das Missverständnis, das unendliche….
Aber im Moment ist es mir sehr trostreich auch, dass mein guter, alter Werther noch so sehr lebt. Denn eines Tages, da bin mich mir ganz sicher, wird alles vergessen sein, jedes Wort von mir, jede Zeile, jeder liebende Hauch! Und nicht nur mein Werk wird vergessen sein; nein, jegliches Menschenwerk, jegliche Schreiberei, alle Dichtung ebenso wie alle Wissenschaft – einfach alles wird vergangen sein. Untergegangen, ausgelöscht, zernichtet für immer. Wie der Mensch, die Menschheit, das ganze Menschengeschlecht – oder, mit meinem Mephisto gesprochen: die Menschenbrut! – vergangen sein wird, untergegangen, ausgelöscht, zernichtet für immer. Staubkügelchen im Universum, bestenfalls. „Wie froh bin ich, dass ich weg bin“ – vielleicht hatte mein armer Werther ja, im mystisch-metaphysisch-mathematischen Sinne, doch Recht? Oder schauert es mich doch noch vor diesem Gedanken?
Wenn ich doch wüsste, wann ich den Werther zum ersten Mal gelesen habe! Weiß ich aber nicht mehr. Es kann nicht sehr eindrucksvoll gewesen sein, sonst wüsste ich es; von allen Büchern, bei denen mich die Erstlektüre sehr beeindruckt hat, weiß ich zumindest ungefähr, in welchem Lebensalter ich sie zuerst gelesen habe (bzw. welcher Lebensphase, beides ist nicht unwichtig für die Lektüre). Ich habe den Verdacht, dass wir, weil wir ein fortschrittliches Bundesland und ein fortschrittliches Gymnasium waren, irgendwann in der Schulzeit entweder beide oder auch nur Die neuen Leiden des jungen W. gelesen haben, was dann noch uneindrucksvoller war. Ziemlich wahrscheinlich habe ich den Roman dann im Studium irgendwann gelesen; keine Ahnung wann, wahrscheinlich für eine Goethe-Vorlesung? Irgendwann muss sich ja mein eher negatives Vorurteil herausgebildet haben, das mich dann lange Zeit von einer Neu- (oder doch: Erst-?)Lektüre abhielt: Dumme Liebesgeschichte, jugendliche Schwärmerei, schwächster Roman Goethes, definitiv, es hat schon seinen Grund, warum er selbst ihn sein ganzes Leben lang nicht wieder-gelesen hat! (und es hat einen Grund, warum in diesem Text so oft die Worte Erst- oder Wiederlesen vorkommen, wir werden darauf zurückkommen). Dass ich dann irgendwann ein Seminar zum empfindsamen Roman gehalten habe, zu Anfang meiner eher traumatischen Lehrzeit, in dem der Werther „behandelt“ (heute sagt man lieber: „verhandelt“, und schon das ist eine eigene Abhandlung wert!); dass ich sogar einen kleinen Aufsatz dazu geschrieben habe, für eine Tagung, zu der ich dann nicht gefahren bin (noch traumati-scher.) – das alles habe ich erfolgreich verdrängt. Und so kam dann die Anfrage zu einer Goethe-Akademie zum 275. Geburtstag des Ungeliebten als halb-willkommener, halb-unwillkommener Anlass, nun endlich mal das eigene Vorurteil zu überprüfen und, wo-möglich, den Frühling gegen seine eigene Rezeptionsgeschichte zu retten? Denn ich wollte schließlich keine ganze Akademie zu einem schlechten Roman halten! Und immerhin habe ich entdeckt, dass man eine Menge an ihm zeigen kann (auch wenn ich ihn wohl immer noch nicht so recht mag). Vor allem: Man kann an ihm Lesen lernen (und lehren)! Er ist nämlich, das haben schon viele Zeitgenossen entdeckt, die den Roman auch nicht recht mochten: Verdammt gut gemacht!
Lesen lernen also; das klingt natürlich etwas seltsam. Die meisten von uns haben lesen gelernt in einem Alter, wo man noch leicht und häufig sogar willig lernt, bevor es uns aus-getrieben wird. Sie können also einen Text aus Buchstaben entziffern, Worte erkennen, Sätze daraus zusammensetzen und vorlesen. Das ist die Basiskompetenz,; und es ist viel-leicht nicht ganz unnütz sich klarzumachen, dass sie so selbstverständlich gar nicht ist. Es gab nicht immer Schrift; es gab nicht immer Bücher, auch keine Schulen; und der größte Teil der Menschheit während des größten Teils ihrer Geschichte konnte definitiv nicht lesen. Und vermisste es auch nicht. Lesen ist eine, auch das Wort gibt es noch gar nicht so lange: „Kulturtechnik“. Denn wie eine jede andere (mechanische, physikalische, auf Naturgesetzen beruhende) Technik kann man Lesen erlernen, und je mehr man übt, desto besser wird man in der Beherrschung dieser Technik, und nicht jeder bringt es dabei gleich weit. Aber dann ist doch – und hier kommt die „Kultur“, die Schwer-Definierbare, ins Spiel – nicht alles am Lesen, selbst in seiner einfachsten Form lehrbar: Denn sein Ziel ist nicht „Funktionieren“ (wie ein Apparat, eine Maschine), sondern „Verstehen“. Und Verstehen – naja, ist schwer zu erklären. Belassen wir es erst einmal dabei; wir werden darauf zurückkommen.
Aber nun gut, die meisten von uns meistern diese Basiskompetenz, und danach lesen sie in sehr unterschiedlichem Ausmaß und mit sehr unterschiedlicher Frequenz – weiter. Je mehr man liest, das kann man wohl wirklich so einfach sagen: Versteht man. Es ist auch ein wenig egal, was man liest; alles fördert das Verstehen, zum einen nämlich als Technik, zum anderen als Erweiterung des Kontexts (man kann auch „Horizont“ sagen, oder „Weltwissen“, und inzwischen gibt es sogar T-Shirts, auf denen steht: „Kontext is King!“). Denn Verstehen braucht Kontext, weil kein Text für sich allein steht und lebt, sondern jeder Text eingebunden – Goethe hätte vielleicht gesagt: verwebt? – ist mit vielen Texten vor ihm (und nach ihm; vielleicht könnte man sogar von einem großen, universalen Text-Kontinuum sprechen?). Da aber jede und jeder von uns andere Texte auf eine andere Art und Weise liest, wird Verstehen immer persönlich und subjektiv sein; denn jeder hat ein anderes, ein einzigartiges Text-Kontinuum im Kopf. Genauso wie Schreiben, das Produzieren von Texten (und ich meine nicht nur: Kunst!), immer persönlich sein wird; selbst Programmierer, die in einer maximal unpersönlichen „Sprache“ „schreiben“, entwickeln bekanntlich häufig einen Personalstil. Lesen und Schreiben aber sind: Zwillingstechniken. Wenn keiner schreibt, hat auch keiner was zu lesen (umgekehrt ist es immerhin denkbar, dass geschrieben wird, ohne dass jemand liest. Aber meist liest wenigstens der Schreibende seinen eigenen Text).
Darüber hinaus sind Lesen und Schreiben nicht nur eingebunden in persönliche Text-, Gefühls- und Denkwelten; sie sind auch Produkte ihrer jeweiligen Zeit. Wie die Köpfe sich ändern, so ändert sich die Sprache (beides hängt enger zusammen, als man meint). Worte können ihre Bedeutungen subtil anders ausrichten oder ganz verlieren (oder auf einmal das Gegenteil bedeuten); Argumente, Denkgewohnheiten, Diskurse verschieben sich, über die Zeit hinweg durchaus mit der Gewalt einer Kontinentalverschiebung; das, was einmal interessant, neu und unterhaltsam war, wird sehr schnell alt, abgenutzt und anachronistisch. Themen kommen und gehen, Bilder und Metaphern sind komischerweise beinahe resistenter gegenüber der menschlichen Veränderlichkeit (Elementarmetaphern verschiebt man nicht; ebenso hartnäckig halten sich konventionalisierte Metaphern). Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns mit und in ihnen, tempora mutantur, nos et mutamur in illis; das wussten schon die Alten (und sagten es in dieser wunderbar invertierten Syntax), und Wandelbarkeit ist älter als jede Schrift und vielleicht dasjenige, was den Menschen wirklich zum Menschen macht, aber mit einem kleinen potenzierten Schwung dazu: reflektierbare Wandelbarkeit. Wandelbarkeit, die sich selbst erkennt und befragt und darstellt. Dazu braucht der Mensch Kunst (sie muss aber nicht künstlerisch wertvoll sein, dass ist nur ein dummes Vorurteil, das die Künstler in die Welt gesetzt haben, um die eigene Position zu sichern).
Wir haben uns sehr weit vom Werther entfernt, wir werden aber zurückkommen, keine Sorge! Denn wenn wir jetzt einen Schritt weitergehen in unserer Geschichte des Lesenlernens – wir sind inzwischen über die ABC-Bücher hinaus und auch über die Schullektüre –, dann kommen wir an den Punkt, wo einige von uns sich entscheiden, das Lesen zum Beruf zu machen: in einem Studium einer der diversen Literaturwissenschaften beispiels-weise (man kann auch übermütig sein und Autor werden, oder größenwahnsinnig sein und Kritiker werden). Und dort kommen sie nun an, all die mehr oder weniger leidenschaftlichen Leserinnen (die meisten sind immer noch weiblich), und die meisten von ihnen sind der festen Überzeugung – man hat ihnen das im Deutschunterricht so beigebracht, und sie haben es geglaubt, weil sie eigentlich alles geglaubt haben, was der Lehrer gesagt hat, kritisch waren sie nur da, wo man es ihnen explizit nahegelegt hat, dass es ungefährlich sei –, dass es eigentlich keine falsche Interpretation gibt. Nein, jeder verstehe das Buch, den Text auf seine persönliche Weise und interpretiere dann wacker drauf los! Dabei wird zwar so getan, als habe der Text eine versteckte Botschaft, am besten eine „relevante“; der Autor habe nämlich damit „etwas sagen wollen“; was eine zweifelhafte Annahme ist, wir werden darauf zurückkommen. Gleichzeitig gibt es jedoch keine falsche Interpretation, jeder darf also diese Botschaft so verstehen wie er will, und er hat Recht damit! Lesen wäre dann so eine Art Stille-Post-Spiel, wo alles, was am Ende herauskommt – und wir alle wissen, was bei diesem wirklich sehr lustigen Spiel am Ende herauskommt! – gleichermaßen richtig und sinnvoll ist. Denn man kann gar nicht falsch lesen, und das Wesen der Interpretation ist – ihre Beliebigkeit bei gleichzeitiger Gültigkeit!
Das, die Autorin spricht aus leidvoller Erfahrung, ist eine Überzeugung, die recht fest sitzt und schwer und schmerzvoll auszutreiben ist. Nicht, dass es schwer war, sie mir persönlich auszutreiben; ich war schon längst skeptisch genug (und hatte außerdem eine ausgezeichnete Deutschlehrerin gehabt), um zu wissen, dass mein Textverständnis, selbst nach intensiver Lektüre, sicherlich nicht der Weisheit letzter Schluss war. Und es wäre auch ziemlich langweilig gewesen, wenn dem so gewesen wäre; denn dann wäre das Studium ja eigentlich eine ziemliche Zeitverschwendung, und selbst in den schweren Zeiten vor Wikipedia hätte man sich ein wenig zusätzliche Bildung schon selbst anlesen können. Nein, ich war eher erleichtert, als ich merkte, dass es geradezu eigene Techniken gab, erlernbare, schöne Techniken, um sich selbst von einem Text zu distanzieren und ihn mit anderen Augen, mit geschärften Sinnen und vor allem: viel gründlicher zu lesen! Ach, es war geradezu eine Erleuchtung, was es in Texten alles zu entdecken gab, sobald man aufhörte, nur sich selbst in ihnen zu suchen und wiederzufinden!
It was an education, wie man im Englischen sagt; und seitdem kann ich auf zwei Arten lesen: nämlich professionell (distanzierend, objektivierend, kontextualisierend, gründlich) und persönlich (identifizierend, oberflächlich, vor allem zu Unterhaltungszwecken). Ich habe es, um meinem Gehirn die Unterscheidung zu erleichtern, sogar so weit getrieben, dass all meine (größtenteils auf Unterhaltung und Entspannung ausgerichtete) Freizeitlektüre in Englisch ist. Sobald ein Text in englischer Sprache verfasst ist, entspannt sich mein Gehirn ein wenig und packt das Sezierbesteck weg. Es macht dann auch nichts, wenn ich nicht jedes Wort verstehe oder einiges falsch, vor allem in den Subtexten. Als Nebeneffekt habe ich eine andere Sprache besser verstehen gelernt, durchaus auch inzwischen in den Subtexten, und für alle Lesebegeisterten ist das immer: eine Liebesgeschichte (wenn ich doch nur Französisch richtig könnte!).
Aber für all diejenigen, die ins Literaturwissenschaftsstudium kamen und meinten, nun fröhlich weiter vor sich hin deuteln zu können, wie sie das im Deutschunterricht so gern und erfolgreich (im Blick auf die Noten, nicht auf das Ergebnis!) getan hatten – gab es unter Umständen einen kleinen Schock: Nein, es gibt falsche Deutungen! (das glauben nicht alle Literaturwissenschaftler, aber die klügeren und vor allem vernünftigeren von ihnen schon) Und ja, vielleicht hat sich der Autor, den man im Seminar „behandeln“ will, weil er Texte geschrieben haben, die eine etwas intensivere Beschäftigung mit ihnen verdienen (und aushalten; und nicht nur irgendwie „relevant“ sind, für was auch immer), durchaus dabei etwas gedacht, als er sich die ganze Mühe gemacht hat. Aber dieses Et-was, dass wir gern auch verschleiernd „Intention“ nennen können – ist keine Botschaft, die man auf ein Plakat drucken könnte. Wenn er etwas einfach so hätte „sagen“ können – hätte er es ja einfach so aufschreiben können, vielleicht sogar in einfacher Sprache, und ohne all die Mühen literarischer Formung, Umsetzung in Handlung und Figuren, sprachlicher Sorgfalt und stilistischer Feilarbeit. Nein, er hat ein Kunststück gemacht (wie gut oder schlecht, ist erst einmal egal; er hat ein Werk gemacht, es technisch und künstlich hergestellt); und es spricht als Gestalt zu uns, nicht als Plakat. Es will verstanden werden, nicht ausgelegt; und wahrscheinlich kann auch dieses Verstehen selbst, wenn man es denn zu Papier bringen (muss), nicht letzte Klarheit erreichen. Bleiben wir bei Goethe und sagen wir: Verstehen ist auch, dem Werk sein Geheimnis zu lassen. Es ist aber ein öffentliches Geheimnis (paradox? Ach ja, gewöhne man sein Gehirn daran, es ist hilfreich und nützlich, wie jede Gymnastik).
Aber nun ist es ja wirklich nicht nötig, dass jeder Leser Literaturwissenschaftler werden muss; es wäre im Gegenteil wahrscheinlich sogar bedauerlich und würde zu einer definitiven Verarmung der (sowieso rapide verödenden) Landschaften des Verstehens führen. Aber es ist interessant und vielleicht auch wichtig, dass es eine Art professionalisierte Lesetechnik gibt, mit deren Hilfe man vielleicht am besten erschließen kann, was der Autor – vor dem Hintergrund seiner eigenen Zeit, seiner spezifischen Person, seiner Erfahrungen und Überzeugungen – ausdrücken wollte (nicht „sagen“ wollte!), wenn man ihn bei seiner Intention packt. Was das Buch jedoch für einen selbst, ganz persönlich, ausdrücken will und kann: Das weiß jede Leserin für sich selbst am besten. Deshalb: Ja, es ist in Ordnung, identifizierend zu lesen, mitgerissen zu werden, sich selbst wiederzufinden und die eigenen Gedanken, Probleme, Ge-fühle – vielleicht besser, vielleicht ein wenig modifiziert, oder aber auch: bis aufs I-Tüpfelchen genau und passend und richtig ausgedrückt zu finden. Und je persönlicher, desto besser! Genauso jedoch im anderen Lese-Modus: je unpersönlicher, je distanzierter, je vorurteilsfreier, desto besser! Es sind verschiedene Lese-Weisen und verschiedene Lese-Erlebnisse. Mit Goethe könnte man auch vermuten: Vielleicht sind es komplementäre Leseformen, die sich also in gewisser Weise widersprechen, in anderer Weise aber ergänzen? Jedenfalls wird es das – nicht beste, sondern reichste Lektüreerlebnis sein: wenn man einen Weg findet, beide zu vereinen (gern auch paradox).
Das aber ist nur der Vorspann, der allzu länglich geratene, zu der Frage, wie man Werther neu, besser, reicher, interessanter lesen kann (falls man kann). Und man kann auch diesen Roman natürlich auf die beiden bisher beschriebenen Weisen lesen: persönlich und unpersönlich, subjektiv und objektiv, oder auch: beides nacheinander. Daneben aber hat die Literaturwissenschaft, das ist ihr Job, eine Reihe exemplarischer Lesarten entwickelt; ebenso die zeitgenössische Kritik (die erste ist natürlich häufig vom Autor selbst, beim späteren Wiederlesen oder in irgendwelchen Selbstäußerungen, über die sich die Literaturwissenschaftlerin besonders freut, Autoren als Erstleser sind hilfreich – aber bieten auch nur eine Perspektive auf den Text). Und es liegt in der Natur der Sache, dass diese Lesarten – häufig zugespitzt sind; denn derjenige, der sie auf den Markt der Deutungen wirft, will sich klar von den Konkurrenzprodukten absetzen, will, wenn möglich: neu und originell sein, will etwas gesehen und gefunden haben, was noch keiner vor ihm gesehen und gefunden hat (und was häufig recht kontraintuitiv ist zu dem, was der „einfache Leser“ oder gar der Autor so gefunden bzw. hineingelegt haben). Aber das macht ja nichts, Geisteswissenschaften verkünden ja keine ewigen Wahrheiten oder Naturgesetze, sondern handeln in Deutungen; und deshalb kann sich der Benutzer gern ein wenig umsehen auf dem Markt und das eine oder andere anprobieren; um am Ende auch nichts davon zu kaufen, oder alles zusammen, wie es ihm in den Sinn kommt!
Werther ist nun, zum ersten, lesbar als autobiographischer Schlüsselroman. Es steckt jede Menge Selbsterlebtes darin, was sein Autor auch nicht direkt verschwiegen hat; die allermeisten Figuren haben sehr reale Vorbilder (die nicht immer glücklich damit waren), vieles, was auf der Handlungsebene geschildert wird, ist tatsächlich passiert, man kann auch sagen, wann und wo. Und Goethe hat sogar, in seiner umfangreichen Autobiographie, ganze Kapitel dazu geschrieben, wo er diese Bezüge erläutert. Aber es ist eben Dichtung und Wahrheit: Und wer nur den „Wahrheits“-Aspekt sehen und lesen will, wird eine ganze Hälfte (oder mehr) verpassen. Interessant ist nämlich, wie Goethe aus „Wahrheit“ (sowieso ein zweifelhafter Begriff für „Realität“) „Dichtung“ gemacht hat, und darüber lohnt es sich, am Beispiel des Romans nachzulesen und nachzusinnen. Man sieht dann zum Beispiel, wie man Figuren bauen kann, die immer irgendwie Collagen sind – von dort die Farbe der Augen, von hier die Figur, von der dritten vielleicht eine Redewendung, eine Geste? Am Ende aber muss die Figur wieder leben (können).
Werther ist, zum zweiten, lesbar als Liebesroman. Das hat sicherlich noch kein Leser jemals verpasst: Es ist die – tragische – Geschichte einer jungen Liebe und einer fatalen Dreiecksbeziehung. Man kann einiges aus dem Roman weglassen (die ganze Gesellschafts-Geschichte zum Beispiel, oder die eine oder andere Naturbeschreibung) – aber nicht das. Es ist ein Liebesroman, und die Liebe, die er beschreibt, ist nichts weniger als die absolute, ewige, leidenschaftliche – erste Jugend-Liebe (na gut, er hatte schon eine vorher; das war aber etwas anderes, wir werden darauf zurückkommen). Das sind vielleicht nicht ganz unwichtige Ergänzungen. Denn es ist sozusagen das Extrem von Liebe, das im Zentrum des Romans steht; und er zeigt geradezu bilderbuchartig, wie dieses Ge-fühl beginnt, wächst und so anschwillt, dass der Held am Ende – seiner Liebe willenlos ausgeliefert ist, sie hat die Kontrolle über sein gesamtes Denken und Handeln übernommen, und mit der Liebe scheitert deshalb auch sein gesamtes Leben. Das Medium, in dem diese Liebe sich mitteilt, ausdrückt und teilweise auch vollzieht – ist der Brief. In ihm sprechen die Leidenschaften ihre persönliche, subjektive, abgerissene, überschwängliche und gelegentlich paradoxe Sprache. Alles andere ist – unsagbar; es vollzieht sich zwischen Blicken, Händen und Köpfen. Werther ist ein Liebesroman in Briefen. Eine Lesart, eine starke – aber die einzige?
Denn man könnte zwar die Passagen, wo es um Werthers missglückte Erfahrungen mit der Standesgesellschaft – und seine beglückenden Erfahrungen mit dem Landvolk, das wird häufig vergessen – weglassen; aber der Roman wäre ärmer dadurch. Nein, er ist durchaus auch lesbar als ein, man gebrauche den Begriff vorsichtig, da er anachronistisch ist in diesem Zusammenhang: gesellschaftskritischer Roman; oder vielleicht besser noch: als Gesellschaftsroman. Denn er zeigt auch, nicht nur in Werther, sondern auch in den anderen Figuren, Strukturen der Lebenswelt des späten 18. Jahrhunderts; verschiedene Stände, verschiedene Berufsgruppen sind in ihm vertreten, und man kann sogar an ihm etwas über Geschlechterrollen lernen (nicht besonders fortschrittlich, im Großen und Ganzen). Ganz im Hintergrund spukt das Kanzlei- und Beamtenwesen durch die Szene; und auf dem Dorf findet, am Ende, sogar ein Gerichtsverfahren statt. Leute werden alt, krank, sterben. Gesellschaftliche Realität, so wie sie war und teilweise auch heute noch ist (Frauen, die versuchen, ihre überzähligen Verehrer an ihre Freundinnen zu vermitteln, sehr Sex and the City!). Diese Themen stehen nicht so sehr in den Briefen in den Vordergrund stehen, sondern werden in eher erzählenden Teilen (wie dem Herausgeberbericht oder den sich beinahe verselbständigenden Parallelgeschichten) dargeboten werden; häufig auch mit dialogisierenden Episoden. Von hier aus geht ein (wenig begangener, Literaturwissenschaftler glauben an Epochengrenzen und bewachen sie mit der Energie von Einwanderungsbehörden) Seitenweg zum realistischen Roman des 19. Jahrhunderts.
Ein realistischer Roman? Aber Werther ist doch ein Genie! Der Begriff fällt eher am Rande im Roman; aber immerhin heißt es an einer Stelle, all seine Handlungen und Gedanken trügen den „Stempel des Genies“ (Ironie oder Wahrheit?) Und dieser Aspekt wurde von den Zeitgenossen, vor allem: den stürmenden und drängenden Generationsgenossen des jungen Goethe, sehr in den Vordergrund gespielt: Werther, in der Absolutheit und Unkonventionalität seines Denkens und Handelns (Selbstmord!) und der Hochschätzung seines „Herzens“, ist ein Parade-Genie; und der Roman als Ganzer eine Programmschrift der Geniezeit (oder wenigstens, in der schwächeren Variante: ein Hauptwerk der Zeitströmung der Empfindsamkeit). Das geht beides ein wenig gegen die Intentionen des Autors, der sich schon wenig später ziemlich angewidert von diesen seinen jugendlichen Ausschweifungen distanzieren wird, aber das muss uns ja nicht stören. Lesen wir Werther als Genieschrift, dann treten beispielsweise die Passagen zur Kunst – und ihrem Verhältnis zum Leben bzw. zum Können – in den Vordergrund; denn als Genie hat Werther nicht nur ein extrem reiches Innenleben (er ist sozusagen hypersensibel, im positiven Sinne), sondern auch ein extrem starkes Ausdrucksverlangen: All das Gefühl will nicht innen bleiben, sondern drängt nach außen – in der Zeichnung (wo es ihm nicht gelingt), in den Briefen (schon mit größerem Erfolg) oder auch in der Liebe als eine Art Kunstwerk des gelingenden Lebens. Aber auch der Konflikt mit der Gesellschaft, und hier vor allem: mit bestimmten Typen des allzu bürgerlichen, des philisterhaften Alltags treten stärker ins Scheinwerferlicht; der Roman hat sogar einige geradezu karikaturhafte Passagen! (der pedantische Gesandte, der die Bindewörter liebt und die Inversionen hasst; ein Geniestreich, das…).
Als Genie tendiert Werther auch dazu, die Natur zu verherrlichen; und zwar nicht nur in ihrer niedlichen oder schönen oder reizenden Form, sondern als Ganzheit, die – und da ist der Roman geradezu erbarmungslos deutlich – Schöpfung und Zerstörung umfasst. Die Mückchen, die Werther im ersten Teil anhimmelt, wenn er im Gras liegt, zerdrückt er im zweiten Teil; der Fluss, der sich in schönen mäandrierenden Formen durch die sanften Hügel schlängelt, tritt am Ende reißend über die Ufer; und die alten, geschichtsträchtigen Nussbäume werden gefällt von einer dummen Pastorenfrau (nein, nicht Natur, sondern Dummheit der Menschen, aber irgendwie hat das auch etwas von einer Naturgewalt). Werther verehrt, da ist er ganz nah bei seinem Schöpfer, die Natur durchaus in beiden Formen. Er kann auch ihre zerstörerische Kraft empfinden, als Faszinosum und großartiges Schauspiel; er ist versucht, sich in die Wellen zu stürzen, um mit dem Eingehen in die Natur-Gewalt seine Menschheit endlich zu verlieren und sich selbst zu vergessen! Die einzige Natur, mit der Werther ein Problem hat, ist seine eigene. Seine sinnliche Natur. Seine Sexualität, um genau zu sein. Um über diesen Punkt hinwegzukommen, brauchte auch sein Autor noch ein paar Jährchen. Aber ansonsten: Ist die Naturbeschreibung in diesem Roman ziemlich großartig, und nicht umsonst gelten einige der Briefe mit diesen beschreibenden Passagen als Naturlyrik in Prosa. Wie überhaupt das ganze Werk, und das hat durchaus mit dem Natur-Thema zu tun, künstlerisch so souverän gemacht ist, dass schon die klügeren Zeitgenossen das zum Anlass nahmen, den Autor gegen die Vorwürfe in Schutz zu nehmen, die ihm der skandalöse Inhalt (Verherrlichung des Selbstmords! Wir werden darauf zurückkommen) eingebracht hatten. Das muss hier nicht ausgeführt wer-den, aber an irgendeinem Punkt muss man beim Lesen mit der Nase darauf gestoßen wer-den: Hier hat einer nicht nur wahllos drauflos geschrieben, um eine – naja, auch nicht sonderlich originelle Liebesgeschichte mit tragischem Ende mal zu Papier zu bringen. Nein, das ist das Kunstwerk, das Werther so gern geschaffen hätte, aber nicht schaffen konnte! Warum aber konnte er nicht, das so vielversprechende junge Genie?
Womit wir zu einer weiteren Lektüre-Ebene kommen, die bisher noch in unserem Mosaik fehlt. Denn es geht ja gar nicht wenig um den Selbstmord des Helden; sowohl in der Handlung, über der er von Anfang an schwebt, als auch und vor allem in der Rezeption der Zeitgenossen – es war der Selbstmord des Helden, der dem Roman letztendlich die Berühmtheit eingebracht hat, als Liebesgeschichte mit gesellschaftskritischen Episoden und prosalyrischen Passagen, von einem dann doch noch gar nicht so bekannten jungen Autor, hätte das nicht funktioniert. Dieser Skandal-Selbstmord jedoch (wir werden darauf zurückkommen) – er ist nicht nur künstlerisch vorbereitet, er wird nicht nur explizit und abstrakt diskutiert; er wird auch psychologisch aufs sorgfältigste eingefädelt, schrittweise dokumentiert und geradezu als psychologische Fallstudie durchmotiviert. Werthers eigene Analysen tragen gar nicht wenig dazu bei; er sieht sein Schicksal von Anfang an vorgezeichnet, er kann im nachhinein, bei der Wiederlektüre (Wiederlektüre!) seiner Aufzeichnungen total nachvollziehen, wie es mit ihm dahin gekommen ist, wo er nun steht; und sogar ein entsprechendes Vokabular wird uns angeboten: „Krankheit zum Tode“. Es ist eine pathologische Entwicklung, deren Zeugen wir werden; und wir würden ihn so gern auf-halten, diesen Zug, wir würden ihn retten und uns selbst in den Weg werfen – aber es hilft nichts. Nichts hilft. Also, nichts hilft Werther, dem Leser ja vielleicht schon. „und laß das Büchlein deinen Freund sein, wenn du aus Geschick oder eigener Schuld keinen nähern finden kannst“ – das hatte der weise Herausgeber uns für die Lektüre auf den Weg gegeben. Er wusste warum.
Was fehlt? Nun, und das mag ein Steckenpferd der Autorin sein, aber es fehlt eigentlich das, was für die Zeitgenossen sicherlich sehr viel schwerer zu übersehen war als für uns: Es fehlt der große metaphysische Rahmen (vom Himmel durch die Welt zur Hölle), der hier – und das ist auch ganz natürlich, da Goethe zu diesem Zeitpunkt noch ein ziemlich überzeugter Christ war, wenn auch nicht besonders dogmatisch inkliniert – ein religiöser ist. Werther ist zutiefst gläubig, er betet zu, er streitet und argumentiert mit seinem Vater Gott (zumal er keinen irdischen Vater mehr zu haben scheint). Die Natur ist für ihn, soweit so Spinoza, identisch mit diesem Gott, sie ist durch und durch seine Schöpfung, sie spiegelt sein Wesen, seine All-Macht, seine All-Güte und All-Liebe. Umso tragischer Werthers Ende: kein Geistlicher begleitet ihn, er wird außerhalb des Friedhofs beerdigt. Das bedeutet etwas für einen zutiefst gläubigen Menschen. Nun gibt es aber, soweit sich das sehe, kein Genre-Konstrukt „religiöser Roman“; aber natürlich spielt Religion in vielen Romanen des 18. Jahrhunderts eine zentrale Rolle. Was macht es für einen Unter-schied für die Lektüre, brauchen wir dieses Mosaik-Steinchen? Wir brauchen es, weil wir sonst wiederum einiges übersehen könnten. Zum Beispiel, wie zutiefst einsam Werther ist. Von seinem Vater ist nie die Rede, das Verhältnis zur Mutter scheint nicht das Beste zu sein. Die Freundschaft zu Wilhelm reicht zwar für einen intensiven Briefwechsel, aber offenbar hat der Freund nicht genug Gespür, um in der Krise persönlich herbeizueilen. Die meisten Leute, mit denen er in Kontakt kommt, schließen Werther zwar ins Herz, aber er bleibt dabei trotzdem – irgendwie isoliert. Umso mehr braucht er sein Gottvertrauen. Die Überzeugung, dass auch er seinen Platz in diesem Großen Ganzen hat und finden kann. Dass ihn sein Gott nicht verlässt. Dass er ihm auch die letzten und ultimative Sünde – die Selbsttötung – verzeihen wird, Friedhofsmauern hin oder her!
Das alles kann man im Werther lesen; und dazu hoffentlich das, was er einem, ganz persönlich, bedeutet. Man kann ihn sogar ein wenig als einen (popular-)philosophischen Ro-man lesen; das schlägt Wieland, einer der ersten sehr professionellen Erstleser vor, und er betont die Fülle schöner und nützlicher Maximen, die dieser junge, hochbegabte Autor auch noch versteckt hat, wie kleine Ostereier mit Zuckerguss und Schokoladenfüllung, unter all den Würmchen und Mückchen! Das Ideal aber wäre eine angereicherte Lektüre, die den Roman auf möglichst vielen verschiedenen Ebenen durchdringt und dabei immer wieder neue Details findet, die das Ganze wieder bereichern (ja, hermeneutischer Zirkel, und deshalb komme ich auch auf alles immer wieder zurück). Am Ende sollte man dabei, neben dem einen oder anderen Osterei, mindestens gefunden haben: einige neue Lieb-lingswörter (paradox, patriarchalisch, Inzidentpunkt), einige Lieblingszeilen („Und mit dem vollsten Blick der Liebe auf den Elenden eilte sie ins Nebenzimmer und schloß hinter sich zu“, wie wunderbar paradox und superlativisch und rhythmisch dahingleitend!; „Wie froh bin ich, dass ich weg bin!“ – der Anfangssatz schlechthin); am besten noch: Irgendetwas, was man mit aller Energie und Bemühung einfach noch nicht verstanden hat (Lottes Brief an Albert: „Bester, Liebster, komme sobald du kannst, ich erwarte dich mit tausend Freuden!“ – nein, das klingt nicht nach unserer Lotte, vielleicht hat sie dabei doch heimlich an Werther gedacht? Oder: der seltsame „Stempel des Genies“. Oder die ganze Ossian-Passage!). Dann lese man nochmals, irgendwann später, wenn man selbst eine andere ist. Sind Bücher jemals ausgelesen? Am Ende wartet vielleicht die Bücher-Telefonzelle. Aber es gibt schlimmere Schicksale.
Natürlich ist es Biologie, wir wissen das inzwischen, auch wenn wir es meistens nicht wahr-haben wollen. Verliebtheit ist nicht identisch mit Liebe; und sie ist auch kein himmlisches Geheimnis oder ewiges Mysterium, nein, sie ist einfach eine evolutionäre Notwendigkeit (niemand würde sonst jemals den Wahnsinn begehen, eine Familie zu grün-den!), angefeuert von Hormonen (in einer bestimmten Lebensphase) und kulturell verklärt bis zum Erbrechen: „One more stupid love song, and I will be sick!“ Aber neben dieser unsterblichen Liedzeile steckte mir seit längerem ein anderer Satz im Ohr, wenn auch nie so recht verstanden: „Wenn ich dich lieb habe, was geht’s dich an?“ (Goethe natürlich, den ich damals noch nicht als großen Liebenden kennen und verstehen gelernt hatte; genauer gesagt, die leichtsinnige Philine in seinem Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre). Das, immerhin, hatte selbst unverstanden mehr Substanz, als all die romantischen Liebeshymnen zusammengenommen!
Denn natürlich ist es Biologie. Es sind unsere eigenen Mängel und Minderwertigkeiten, die uns nach Erwiderung in der Liebe suchen lassen (sonst könnten wir es bei Philines frechem Spruch belassen, es wäre die schönere, die reinere Verliebtheit und schon fast Liebe); es ist unsere Anfälligkeit für alle Arten von endorphin-getriggerten Rauschzuständen, die uns die Welt in einem neuen Licht zeigen und uns selbst genauso erhöht und verschönert wie das durch dieses neue Licht verschönte und erhöhte Gegenüber. Der Rest ist Zufall und Glück (oder eben nicht): In uns tragen wir wahrscheinlich alle einen kleinen idealen Geliebten, der unser idealer Immunpartner (möglichst anders) ebenso ist wie unser Schönheitsideal (ziemlich universell, aber mit persönlichen Vorlieben) und unser Seelenverwandter (möglichst genauso). Und ob und wann und wie wir diesen idealen Mix treffen – liegt nicht in unserer Hand. Natürlich beginnen die klügeren von uns des-halb irgendwann damit, Kompromisse zu machen und die eigenen Erwartungen zu managen; aber man sollte nie ausschließen, dass man eines Tages doch noch in eine wirkliche Verliebtheit mitten hineinfällt (to fall in love ist die einzig richtige Bezeichnung dafür).
Goethes junger Werther nun, um zum eigentlichen Thema zu kommen, hat ganz sicherlich eine sehr ideale Geliebte in sich, falls man „ideal“ steigern kann. Und er ist, weil jung und hormonell in der besten Phase für Verliebtheit überhaupt, auf eine Art und Weise empfänglich, die später im Leben ziemlich sicher nicht mehr reproduziert werden kann. Und als er sie dann sieht, die eine und einzige Lotte – kommt sie diesem Ideal, rein zufällig, so dicht, wie man einem Ideal nur kommen kann. Sie ist jung, weiblich, attraktiv, sie hat sogar einen gewissen Ruf als ländliche Schönheit erworben, und ihretwegen ruiniert sich nicht nur Werther im Roman. Sie ist aber nicht von bedrohlicher femme-fatale-Schönheit, sondern eben von ländlicher, ein wenig rotbackiger, aber trotzdem zierlicher und gewandter Schönheit. Sie tanzt gern, und das offensichtlich anmutig genug, dass man sich noch einmal mehr verlieben kann; sie lacht gern und spielt Spiele, das macht sie noch liebenswürdiger; und sie schneidet ihren kleinen Geschwistern, für die sie nach deren Tod die Mutter diese ersetzen muss (und das mit der ihr eigenen Freudigkeit und Verbindlichkeit tut), das Brot. Und diese so oft gemalte Szene ist es, die Werthers Herz gleich beim ersten Anblick völlig gefangen nimmt; er fällt in die Liebe seines Lebens beim Beobachten einer ganz einfachen, alltäglichen Handlung. Warum nur, warum ist genau das so entscheidend für Werthers Liebe?
Natürlich ist das Folgende Interpretation, und als solche ein Geschäft im Sinn-Machen und anfällig für alle Verführungen, die von Geschäften ausgehen; aber der Roman macht ein ziemlich handfestes Angebot für das Sinn-Machen. Brot schneiden also: Werther hatte schon die Wochen vorher mehr in einer patriarchalischen Bibel-Idylle gelebt als in der ländlichen Realität um Wetzlar. Er hatte Homer gelesen und die Bibel und nicht viel sonst; er hatte am Brunnen gesessen, wo die Dorfmädchen Wasser holen, er hatte mit den Dorfkindern gespielt und sich mit den „einfachen Leuten“ angefreundet. Werther selbst ist im Übrigen natürlich ziemlich gebildet und wird von Gesandten und Fürsten geradezu umworben, weil er sich in Geschäften als geschickt erweist; er könnte einen raschen Auf-stieg machen bei Hofe, so wie ihn Albert anstrebt, wenn er denn nur in die Stadt gehen würde. Werther aber will lieber mit den Kindern spielen und in der Bibel lesen. Und er will, was man nicht übersehen darf, gern ein Künstler sein, ach, welch hoffnungsvoller Jüngling will das nicht? Und so zeichnet er gelegentlich ein wenig, dilettantisch, wie er selbst einsieht; oder er entwirft kleine Szenen im Kopfkino, um dann doch wieder in einen leidenschaftlichen Brief auszuweichen, die offene, ungekünstelte Form der Seelenaussprache. Dann geht er wieder spazieren, legt sich in die Wiesen und sieht den Bienen und Blümlein bei der Arbeit zu; sieht die Wolken ziehen und sehnt sich in eine unbestimmte Ferne; folgt den Flüssen, wie sie schweifen, und will ein Wanderer sein, ist immer, mit einem Wort: gerade dort in Gedanken, wo er mit den Füssen nicht ist. Ist er dann mit den Füssen dort, wo er mit dem Kopf vorher war, ist es auch nicht recht, die Gedanken sind wieder schon weiter. Ankommen ist nie. Fort-Sein ist sein Lebens-Motto.
Kurz gesagt: Werther ist das, was man in dieser Zeit einen „Schwärmer“ nennt, aber das Phänomen ist absolut universell und wahrscheinlich eine notwendige Entwicklungsphase einer bestimmten Art des (vor allem männlichen) Geistes in seiner Jugend (die Verfasserin kann davon aber auch ein paar melancholische Lieder singen): Man hat gelesen, man hat zu viel und das Falsche gelesen; in der Literatur ist alles schöner, reicher, fülliger, befriedigender als in der Wirklichkeit; also zieht man aus, um das, was man in der Literatur gefunden hat (eine ideale Welt), in der realen Welt zu finden. Irgendwo muss es doch sein, es hat sich nur versteckt! Ist es aber nicht. Es gibt keine ideale Welt in der realen Welt. Erwachsenwerden ist: eine harte Schwärmerkur, ein Idealismus-Entzug. Hinterher ist man ärmer an Illusionen, aber reicher an Erfahrung. Das tröstet nicht jeden.
Werther also ist ein Schwärmer reinsten Wassers, schon bevor er Lotte trifft. Er hat allerdings, was man leicht überliest, schon zuvor einmal fast eine ideale Beziehung gehabt, die vor allem deshalb ihre Idealität bewahren konnte, weil das Objekt gestorben ist (das klingt zynisch, ist aber nur realistisch. Keine Liebe ist unsterblich, das ist eine Erfindung von Romanschriftstellern, weil verkaufsfördernd. Illusionen verkaufen sich, je größer, desto besser. Außerdem – dazu später). Und er ist auf der Suche (es ist eine Art quest) nach der patriarchalischen Idylle im Leben; etwas Einfaches, aber irgendwie Symboltaugliches. Das tägliche Brot, gibt es etwas Einfacheres und Symbolischeres? Zudem noch potenziert in einer Religion, in der Werther im Übrigen tief verwurzelt ist, schon ihres Schwärmer-Potentials wegen; in einer Religion also, die das Brot zum Sakrament erklärt hat, zur geistigen Verkörperung des wahren und wahrhaftigen Leibes des Herren! Und das Brot schneiden, es aufteilen, Gerechtigkeit walten lassen und gleichzeitig Leben spenden – ach, die Szene könnte nicht besser erfunden sein (war sie nicht sogar real? Das Leben schreibt eben doch die besseren Geschichten)! Und außerdem geht man danach tanzen, man tanzt die ganze Nacht, und wo kommt man sich näher als in der gemeinsamen Bewegung zur Musik, dem Lebensrhythmus schlechthin? Und dann, dann schließlich spielt man etwas gemeinsam und bekommt Klapse statt Küsse (was zu diesem Zeitpunkt schon fast genauso gut ist); und dann, dann sieht man gemeinsam einem Gewitter zu und trifft sich in einem Gedanken, den man eigentlich für ganz eigen und speziell gehalten hatte, aber der nun zum Wort der Seelen-Vereinigung wird, lange bevor die Körper sprechen (dürfen): „Klopstock!“ Danach ist es um Werther geschehen, für immer und für diese Welt.
Man kann das Ganze als einen großen Glücksfall betrachten, als einen Sonnentag der Gnade in einem durchschnittlich meist eher wechselhaften Leben; oder man kann es für eine idealisierende dichterische Erfindung halten, das ist egal. Wichtig ist: Lotte ist in diesem Moment die Antwort auf alle Fragen, von denen Werther noch gar nicht wusste, dass er sie hatte; sie füllt eine Lücke in seinem Wesen aus, die er selbst noch gar nicht wahrgenommen hatte (und die wieder aufreißen wird, schmerzhaft, als er erkennt, dass er sie nicht haben kann). Lotte ist die ideale Geliebte, und sie ist real. Nur ein winziges Problemlein: Sie ist verlobt. Thomas Mann wird später spekulieren, dass das sie vielleicht noch attraktiver gemacht hat: Die Bindungsgefahr war deutlich reduziert, und man konnte eine Zeitlang so tun, als sei das alles sowieso nur ein verzauberter Sommer, bevor der Herbst des Lebens eintritt. Aber für Werther ist das vorerst auch einfach: egal. Der Bräutigam ist noch unterwegs, und als er dann kommt, zeigt er sich liberal und großzügig. Und so tändelt der Sommer dahin, die Sonne scheint immer, Werther spielt mit den Kindern und palt Erbsen, Lotte schneidet weiter Brot (Werther darf dann auch später) und pflegte Alte und Kranke in der Umgebung. Man spielt Spiele, man macht Spaziergänge, man trifft Freunde, man redet über Bücher. Manchmal diskutiert man sogar, ernsthafte Themen, wie: über den Selbstmord. Aber mit Werther ist nicht gut diskutieren, er hat eine Neigung zum leidenschaftlichen Monolog, und er kann genauso hinreißend reden wie er – lieben kann; auf dem Papier wenigstens (die Prüfung im Leben findet nicht statt). Eines steigert das andere, und genau so sollte es sein: Liebe ist ein exemplarischer Steigerungsvorgang; man steigert sich selbst im Anderen und umgekehrt, man steigert die ganze Welt im liebenden Blick – und die Welt, wenn man großes Glück hat und es ist ein perfekter Sommer in Wahlheim, sie lächelt zurück. Wechselseitigkeit, Erwiderung, und am Ende: Intimität – bis dahin kommen wir, immerhin, in diesem ersten Sommer. Doch dann – bricht die Realität ein und Werther realisiert, dass er Lotte nicht haben kann. Und er tut das einzig Vernünftige, was er jemals tut in diesem Roman, nämlich: Er nimmt eine Stelle anderwärts an und verlässt Wahlheim.
Hier könnte der Roman enden, und es wäre eine schöne Sommer-Geschichte, wenn auch ein wenig rührselig, mit einem milden melancholischen Schluss. Aber Werther ist leider nicht nur ein Schwärmer in der Liebe (oder auch: nicht leider, sondern zum Glück? Man denke das Andere immer mit!), sondern auch in allem anderen. Und so wäre er zwar durchaus befähigt, einen guten Job zu machen, eine schnelle Karriere und sein Glück bei Hofe; und auch hier findet er in einem fast unverschämten Maß von Glück Förderer und Gönner. Aber er findet auch hier einen Widerstand; sein Vorgesetzter ist ein Pedant, wie er im Buche steht, und das kann Werther nicht ertragen; müsste er sich doch zügeln, sich Regeln unterwerfen, seine Schriftsätze ordnungsgemäß ausfeilen – keine Inversionen! Inversionen sind des Teufels! – und sich mit kleinen Schritten begnügen. Das Genie, das Werther dann doch irgendwie ist (obwohl der Begriff kompliziert ist), geht nicht wie ein Arbeitsross im Geschirr; es stürmt davon, sei es im Amt oder in der Liebe (das Bild vom Pferd taucht im Text mehrfach auf)! Und immer noch würde das irgendwie gut gehen, seine Gönner schützen ihn. Wovor sie ihn aber nicht schützen können, das ist: er selbst.
Es passiert nämlich nun der „Verdruss“. Das ist ein komisches Wort, das etwas außer Gebrauch gekommen ist, obwohl man eigentlich allenthalben Grund für die damit gemeinte Empfindung zwischen Ärger, Unlust und Überdruss hat (man denke nur an den öffentlichen Nahverkehr!). Eigentlich ist ein Verdruss nicht direkt tragisch, sondern eher von mittlerer Emotionstiefe. Sollte man meinen. Was Werther konkret widerfahren ist, ist für heutige Verhältnisse sowieso etwas schwer nachvollziehbar: Er hat aus Unachtsamkeit ein ungeschriebenes soziales Gesetz verletzt (er ist in einer höfischen und damit exklusiven Gesellschaft geblieben, wo er nichts zu suchen hatte; also er hat sozusagen ein Party gecrasht, zu der nicht eingeladen war und auch niemals eingeladen werden würde); das war ein wenig peinlich für den Gastgeber und für ihn selbst, auch ein gewisser Schlag für das Selbstgefühl, aber – ganz im Gang der Dinge, Peinlichkeiten kommen vor. Viel schlimmer aber ist, dass bei der besagten Abendgesellschaft auch die neue Dame des Herzens – keine Lotte, aber sie hätte ein akzeptabler Ersatz werden können – anwesend war und das Ganze mit ansehen musste. Als Werther sie dann am nächsten Tage trifft und sie darauf anspricht, reagiert sie ganz sympathisch und mitfühlend und bedauert, dass man sie zu einem solch unwürdigen Verhalten gezwungen hat; und sie bedauert auch den armen Werther, dass er so behandelt wird, was soll sie denn sonst tun? Damit aber erst wird Werthers Demütigung perfekt und unvergesslich: Dass er sich selbst durch die Au-gen der (neuen) verehrten Frau als Objekt des Mitleids sehen muss. Als einer, der nicht dazugehört und niemals dazugehören wird, aus keinem anderen Grund, als weil er in den falschen (also: nicht adeligen) gesellschaftlichen Stand geboren worden ist! Ach, das Leben ist so ungerecht! Und dabei hätte man es eigentlich auch belassen können, einige Tage gekränkt vor sich hin brüten, einen giftigen Brief an Wilhelm schreiben und mit der (neuen) Dame des Herzens irgendwann darüber lachen. Werther aber hat einen „Verdruss“, und er schmeißt den Kram hin, kündigt, packt zusammen, will in den Krieg zie-hen, besucht aber lieber seine Heimatstadt, lässt sich ein wenig von einem neuen Gönner protegieren – so ein vielversprechender junger Mann! Und wie gepflegt man sich mit ihm unterhalten kann! – und endet, nach dieser etwas wirren Odyssee, wenig überraschend: wieder in Wahlheim. Er musste Lotte wiedersehen, die Einzige, Unvergessliche; nur sie wird ihn den „Verdruss“ vergessen machen können!
Damit sind wir im zweiten Buch, in dem Werthers Verliebtheit nach und nach deutlich pathologische Züge annimmt (Wikipedia spricht in diesem Fall ganz sachlich von dem Sonderfall der „unerwiderten Liebe“ oder, gesteigert, dem „Liebeswahn“). Denn die Hochzeit wird demnächst stattfinden, und alle wissen, dass danach kein Platz mehr für diesen Dritten sein wird. Aber man benimmt sich zivilisiert; der Bräutigam weicht bald aus, wenn der Dritte seine Besuche macht, er vertraut seiner Verlobten und er ist ja auch selbst Werthers Freund; und Lotte spielt auf dem Klavier, wenn Werther zu trübsinnig wird. Aber sie macht auch kleine erotische Scherze, das erstaunt einigermaßen; das Schnäbeln mit dem Papagei würde man heute sicherlich als teasing werten, und je mehr Werther darauf beharrt, wie absolut rein seine Liebe ist – auch wenn er die reale Lotte dadurch zu einer Art Heiligen machen muss –, desto unaufhaltsamer bricht sich die verdrängte Sexualität Bahn. Und das ist – Biologie, reine Biologie, und völlig unvermeidlich, und Goethe war zu diesem Zeitpunkt sicherlich schon erfahren genug, um zu wissen, wie sich ein männlicher Körper anfühlt, der in vollem Maße verliebt ist (er hatte sich seit seinem Studium in Leipzig mehrfach verliebt, und jedesmal war das Verhältnis durch Flucht beendet worden; aber er war, im Unterschied zu Werther, niemals zurückgekommen).
Werther leidet also, er leidet psychisch und physisch an einer unerfüllten und unerfüllbaren Liebe; und die Selbstmordgedanken fangen an, ihn ständig zu begleiten. An diesem Punkt – es ist kurz vor Weihnachten –, an dem auch Lotte und Albert einsehen, dass ein solches Verhältnis kein gutes Ende nehmen wird und deshalb versuchen, die Besuche einzuschränken, ist es schon zu spät. Lotte ist zur fixen Idee in Werthers Kopf geworden, es ist ein Zustand, der weder mit Liebe noch mit Verliebtheit etwas zu tun hat, sondern der die pathologischen Züge einer Zwangsneurose hat: Werther sieht in allem nur noch Lotte, er kann nichts mehr tun, sich nicht mehr konzentrieren, seine Gedanken kreisen immer nur um das Eine, die Eine, und wenn sie nicht darum kreisen, dann kreisen sie um – den Tod als vermeintlich einzigen Ausweg aus diesem unendlichen Elend.
Dass Lotte sich im Übrigen auch längst in Werther verliebt hat, war etwas erfahreneren Leserinnen wohl schon etwas länger klar; wie sollte sie nicht, jede Liebe erzeugt automatisch, beinahe reflexhaft, ein wenig Gegenliebe, und kommt sie dazu noch von einem unterhaltsamen, interessanten, lebendigen und – wir nehmen an: körperlich nicht unattraktiven, es gibt ziemlich hinreißende Goethe-Porträts aus dieser Zeit – jungen Mann, wie könnte sogar eine sehr moralisch gefestigte junge Frau widerstehen? Es ist Biologie, ganz einfach. Aber natürlich ist da noch Albert. Lotte ist Albert versprochen, auf dem Totenbett der Mutter sind sie sich versprochen worden, und es ist unvorstellbar, ein solches Versprechen zu brechen. Und natürlich wird sie Albert heiraten, und sie werden gern an den heiteren Freund denken, den lieben Dritten, der sie einen Sommer lang ein wenig verzaubert hatte; und dann werden sie wieder ihren Geschäften nachgehen und die Kinder großziehen, die eigenen diesmal, und ihnen Brot schneiden. Natürlich ist Lotte also verliebt in Werther; aber sie ist es auf eine mädchenhafte, weitgehend ungefährliche und vielleicht sogar: verspielte Art und Weise. Es ist keine pathologische Leidenschaft; es ist: Mädchen-Biologie und ein klein wenig Übermut (was im Übrigen wirklich spekulierende Interpretation ist, da der Roman gar wenig über Lotte sagt, sie spricht erstaunlich selten). Vielleicht wäre sie glücklicher mit Werther geworden, aber wahrscheinlich: auf die Dauer eher unglücklich. Denn Werther ist ein Schwärmer, und jede schwärmerische Verliebtheit hat: ein Ende. Dann wird sie entweder: Freundschaft, Hass oder Verzweiflung.
Werther aber will, dass die Verliebtheit ewig dauert; es ist derjenige Zustand, der ihm sein junges Leben unendlich erhöht und lebenswert gemacht hat, zumal er vorher keine rechte Vorstellung davon hatte, was er überhaupt mit diesem Leben anfangen sollte. Werther will keine Kompromisse; er will nicht das Zweit- oder Drittbeste, es schiene ihm Verrat: an seinen Idealen ebenso wie an seinem eigenen Herzen. Denn dieses Herz fühlt nun einmal am stärksten für die einzige Geliebte, für Lotte! Werther erliegt hier einem sehr verbreiteten und gleichzeitig sehr natürlichen Fehlschluss: Nämlich, dass etwas, das sich so stark anfühlt – irgendwie real, ja sogar: wahr sein muss Das stimmt nur leider nicht, sonst wäre die Welt wirklich genau das, was sich jeder in seinem liebsten Wunsch-traum oder in seiner stärksten Psychose ausmalt (es stimmt im Übrigen noch nicht einmal für den physischen Schmerz, von dem das Muster vielleicht abgeleitet ist; nein, Phantomschmerzen fühlen sich genauso real an wie die stärksten „echten"!). Nein, nur, weil man jemand mit ganzem Herzen und der ganzen Person liebt, verehrt und begehrt – wird diese Liebe nicht (zumindest: in gleichem Maße, und nur darauf kommt es an!) automatisch erwidert; und es ergibt sich daraus auch kein Anspruch darauf, dass diese Beziehung zu-stande kommt, allen Hindernissen zum Trotz. Es heißt nur: Das eigene Herz, die eigene Person ist zu einem solchen starken Gefühl fähig – noch einmal ein Goethe-Zitat dazu, es bezieht sich auf Eduard und dessen unglückliche – wenn auch erwiderte – Liebe zu Otti-lie in den Wahlverwandtschaften: Es sei an Eduard wenigstens unschätzbar, dass er „unbedingt liebe“ (auch lange ein unverstanden im Ohr steckendes Wort bei mir). Aber, um es mit der Trilogie der Leidenschaft zu sagen, in der Werther dann auch ein spätes comeback hat: „Leidenschaft bringt Leiden“. Starke Leidenschaft bringt starkes Leiden. Sich verlieben (zu können), im Vollsinn des Wortes und mit allen Konsequenzen, ist eine Gnade und ein Geschenk und ein Talent; aber es ist auch ein Fluch (so ist das meist mit Göttergeschenken), vor allem, wenn einem dazu Verfluchten nicht ein Gott als Gegengewicht die Gabe verlieh, „zu sagen was ich leide“. Deshalb lebt Goethe, deshalb stirbt Werther.
Kann man sich entlieben? Ach, die Zeit, der große Heilmeister und Desillusionierungskünstler! Natürlich hätte sich Werther, nach einer vielleicht längeren Phase der Rekonvaleszenz, wieder neu verlieben können; er hat sich ja schon einmal wieder verliebt, es war vor dem großen „Verdruss“ gewesen. Es ist eher fraglich, ob er sich jemals wirklich glücklich verlieben könnte, sei es in die Frau oder in die Welt; anders formuliert: ob er jemals die Kunst des Kompromisses erlernen könnte oder die noch höhere der Entsagung, wie sie Goethe später als einziges wahres und gleichzeitig: menschen-würdiges Hilfsmittel verstand. Es wäre nie mehr die erste Liebe gewesen, keine andere Frau hätte jemals das Lotte-Ideal erreichen können; aber darauf kommt es gar nicht an. Denn jede andere Frau kann ein anderes Ideal verkörpern; man sehe nur die Frauen in Goethe Leben, so verschieden voneinander, ein derartig weites Spektrum an Frauen-Typen und -Persönlichkeiten, und immer, immer wieder schafft er es sich zu verlieben (zwischen-durch verliebt er sich allerdings in die Naturwissenschaft, die eine beinahe so strenge Ge-liebte wie Christiane von Stein sein wird)! Das bleibt Biologie, auch wenn die Hormone nicht mehr ganz so treiben; aber es wird immer mehr Erfahrung und Geschicklichkeit, immer mehr: geglückte Anpassung von weiterhin vorhandenen Idealen an reale Gegebenheiten. Wer mit offenen Augen durch die Welt läuft, sieht so viel Liebens-Wertes und -Würdiges; und das Herz ist ein biegsamer Muskel, wenn man es in möglichst vielfältiger Bewegung hält.
Es kann aber auch verhungern. Man könnte meinen, dadurch das Leiden, den Schmerz zu vermindern, nach dem Motto: „Nicht leidenschaftlich sein, schafft keine Leiden“. Ausnahmsweise haben aber die Pop Songs und die amerikanischen Serien mit ihren endlosen „I love you“-Momenten recht. Man kann nicht auf die Liebe verzichten. Das schafft nur andere Leiden.
NATUR! Das ist auch so ein Wort, das sich schon vieles hat aufladen lassen müssen in seiner Geschichte. Und nein, wir rekapitulieren jetzt nicht, was Natur schon alles war, nicht war, hat sein sollen oder müssen, nicht dürfen oder nicht heißen. Natur ist: das, was geboren ist, nasci, das ist der lateinische Ursprung, und bei ihm wollen wir bleiben. Oder, und diese erste metaphorische Erweiterung wird nötig sein: erschaffen wurde. Denn wir alle sind aus Sternenstaub, geboren von einer Mutter (dem All?) und gezeugt von einem Vater (einem Schöpfer?); aber wer hat den Sternenstaub erschaffen? Natur, Natur, nichts so geheimnisvoll wie dein Ursprung! Deshalb verlassen wir jetzt auch den philosophischen Sektor und begeben uns mit einem Sprung, wie es sich gehört – die Natur springt nämlich durchaus, zum Beispiel in winzigen Quäntlein, und selbst die scala naturae hat ja einzelne Stufen und Übergangsglieder – in den hymnischen Duktus, den auch Goethe/Werther pflegen, in ihrer Frühzeit: Natur!
Sprechen wir also wie Goethe/Werther von ihr, nämlich in: Ausrufen, abgerissenen Sätzen, Inversionen und vor allem: Paradoxien! Denn es ist noch nicht eigentlich paradox – also: der doxa entgegen, der allgemeinen Meinung, die es mehr mit dem Entweder-Oder hat also mit dem schönen, zweiseitigen Widerspruch –, dass Natur sowohl Schaffen wie Zerstören, Geboren werden und Sterben umfasst; das liegt, ja, genau: in der Natur der Dinge, da die Bäume sonst schon längst in den Himmel gewachsen wären und die Leben-den sich um jedes Quäntchen Lebensraum auf diesem winzigen Planeten hauen und stechen würden. Nein, was geschaffen ist, muss wieder zugrunde gehen, schon aus logistischen Gründen. Dass aber die Natur gegenüber all diesem Werden und Vergehen, diesem schönen Blühen und dem weniger schönen Absterben, einfach völlig gleichgültig ist; dass sie, das plagt Werther vor allem, in allem auf die Entstehung und Bildung interessanter und in sich selbst vollendeter Bildung abzuzielen scheint (also: auf Individualität, vor-zugsweise die des Genies), aber eben diese sorgsam entfaltete Individualität dann unter-schiedslos dem Vergessen und Vergehen anheimgibt, wie die geringste Ameise oder das entfernteste Sonnensystem! Nein, was so viel Zielgerichtetheit hat (er kannte die Evolution noch nicht, die aber auch irgendwie ein Zielsystem hat), was soviel Bedeutung nahelegt, so viel Sinn machen könnte – macht am Ende keinen, sondern versinkt wieder im Chaos. Natur, Natur! Wie kann man so viel denken, so viel hervorbringen, so viel umfas-sen und in sich bewegen – und dem allen gegenüber so gleich-gültig sein?
Das ist das Paradox, das ist das Schwer-Verdauliche an der Natur, der unvergleichlichen, unbedingten, unendlichen und unsagbaren (in menschlichen Begriffen): Dass sie sich den Anschein des Denkens gibt und sogar die Liebe geschaffen hat, diese universelle Bindungskraft, die die Individuen, die geteilten, dann wieder zusammenführt – zu weiterer Zeugung, zu weiterer Blüte, zu weiterem Vergehen: dass sie selbst aber nicht liebt und nicht denkt und auch nicht an schönen Kunstwerken interessiert ist. Sie ist die Natur, und sie ist: Alles. Man kann ihr nicht entkommen, und je schneller man von ihr davon läuft, desto sicherer holt sie einen ein. In einem Moment liebt man und denkt, man sei die Krone der Schöpfung; und im nächsten wird man des Hauses verwiesen und ist der letzte Staub, den die Füße der Glücklicheren treten, wenn sie das Haus betreten, ungehindert. Natur, Natur!
Aber eben, weil sie alles ist, muss sie auch für alles herhalten. Man kann ihr alles unterstellen (vor allem, wenn man nicht ihre Muttersprache spricht, nämlich: Mathematik), man kann alles von ihr behaupten, man kann alles von ihr verlangen. Und so sieht Werther all ihre sanften Seiten, als er verliebt ist und glücklich und aufnahmefähig und erwartungsvoll; er sieht den geringsten Staub mit Liebe, er könnte all die Würmchen und Mückchen umarmen und den zartesten Grashalm ans Herz drücken (natürlich zerdrückt er ständig Grashalme, während er im Gras liegt und in den Himmel schaut, er zerdrückt auch Insekten; später wird ihm das auffallen, dass er ein Zerstörer wider Willen ist, genau wie die Natur). Und er sieht all ihre schreckenerregenden Seiten, als er aus der Liebe gefallen ist und unglücklich und innerlich leer und emotional ausgewrungen: Sie, die vorher die Quelle auch alles Lebens in ihm selbst war, ist genauso erstarrt zu einem „lackierten Bildchen“ wie sein eigenes Inneres; oder, wahlweise, genauso aufgewühlt in Winterstürmen wie seine wunde Seele, die sich am liebsten in die wallenden Ströme werfen würde (ach, die W-s im Werther!) und sein bisschen „Menschsein“ drangeben für: die Wiedervereinigung mit dem Element. Denn das Element ist der Natur am nächsten. Und die Natur: leidet nicht.
Die Lösung des Autors für den Umgang mit diesem fühllosen Monster ist eine zweifache. Zum einen wird er sich der Natur künftig als Beobachter und Forscher nähern; immer im Bewusstsein, dass sie letztlich unerforschlich ist (so viel Unsagbarkeitstopos muss bleiben), aber in der Zuversicht, dass man sie am besten versteht, dass man ihr auch am nächsten kommt, wenn man versucht, sie als Phänomen zu ergründen und zu verstehen. Nicht in ihren Ursachen oder Gründen, bewahre! Nein, es geht um Erscheinungen, und die sind komplex genug. Kleine Gesetzmäßigkeiten, das reicht uns. Ordnungen, wie die im Mineralienkasten; und nie vergessen, dass es nur Schubladen sind, die diese Ordnung aufrechterhalten. Auf wie viele verschiedene Weisen kann man sich der Natur nicht nä-hern! Alle Wege versuchen, ob es Steine, Pflanzen, Tier- oder Menschenskelette sind; Wolken oder Farben, diese größten denkbaren Wunder des Auges schlechthin. Werther aber will die Natur erleben, er will sie fühlen, mit seinem – extrem – fühlbaren Herz, mit seinen Sinnen (den meisten wenigstens), mit seinem ganzen Wesen! Nein, nicht mit sei-nem Verstand, das eher nicht. Der Verstand distanziert, er nimmt das Wunder auseinan-der; das volle, das warme, das innige Gefühl für die Natur und in der Natur ist jedoch unteilbar.
Goethe versucht, sich dieses Gefühl auch zu bewahren; es wohnt aber in seiner anderen Schublade, nein: sogar in einem anderen Schrank (obwohl die Schränke dicht nebeneinander stehen). Es bleibt natürlich – natürlich! – reserviert für sein Künstlertum, das er sich niemals ohne Natur wird denken können; für den Kosmos an menschlichen Gestalten, die er im Laufe seines Lebens erschaffen wird, und der voll ist mit Figuren, die nicht aus Papier sind, sondern eine Natur haben; aber natürlich – natürlich! – eine sehr unterschiedliche. Es sind Individuen, aber nicht ihrer besonders gelungenen „Selbstverwirklichung“ wegen, sondern der mehr oder weniger gelungenen Ausbildung ihrer natürlichen Anlagen in einer natürlichen Umwelt wegen. Er schafft eine Menschenwelt, aber eine natürliche, keine künstliche (das kann man nicht von allen Romanen sagen; aber von al-len guten). Das volle, warme, innige Naturgefühl aber ist am ehesten erlebbar, und da ist er gar nicht so weit entfernt von Werther (der gern möchte, aber nicht kann): im Schöpfungsprozess selbst. In ihm ist der Künstler zwar nicht mit Gott – identisch, deckungs-gleich, „auf Augenhöhe“, wie man heute so schrecklich sagt; aber er partizipiert ein ganz klein wenig am Göttlichen. Erst war da – Nichts, und dann ist da: nicht alles, aber immerhin: Etwas. Und wenn man Glück hat, lebt es sogar. Eine Weile jedenfalls.
Werther schafft es aber nicht bis zum Künstler, es fehlen ihm letztendlich – von Natur aus: das Talent, die Geduld, die Kompromissfähigkeit (das Genie muss in die Schule, auch wenn es sich dort gelegentlich frech aufführen mag). Er bringt es nur zu einem Selbstmord, der eine gewisse Schöpfungstiefe hat – was zynisch klingen mag, aber auch ein wenig wahr ist: Er wird inszeniert, in einem Roman, der ständig in allem „Szenen“ sieht und schildert, ist das nicht wenig; er wird vielfach motiviert und auf verschiedene Arten begründet; und er wird, am Ende, tatsächlich durchgeführt. Ist es eine natürliche oder naturwidrige Handlung, sich selbst das Leben zu nehmen? Wenn Natur alles ist, kann es das nicht sein. Es ist kategorisch unmöglich, die Natur zu verlassen, egal wie extrem man sich benimmt. Nein, es lag mit einer gewissen Konsequenz in Werthers Na-tur, sich am Ende zu töten; und wären wir großzügig wie die Natur, würden wir seine Entscheidung – nicht nur respektieren, sondern kommentarlos hinnehmen. Wir alle sind Sternenstaub!
Aber einiges wäre vielleicht doch zu lernen von Werthers Naturverständnis, so enthusiastisch und übertrieben und projektiv es auch phasenweise daherkommt. Wenn wir an ihn denken, wie er da liegt und die Würmchen bestaunt und die Moose und das Geniste ihm genauso würdig und heilig sind wie die Sonnenstrahlen und die erhabenen Felsen; wäre er heute nicht vielleicht das, was man etwas respektlos einen „tree hugger“ nennt? Ein Öko-Freak, ein Klimaaktivist, oder wenigstens: jemand, der sich Gedanken darüber macht, wie man nachhaltig mit einer Natur umgeht, die nicht nur irgendwie unspezifisch „Umwelt“ ist oder umkämpfte Ressource, sondern: der Lebensraum nicht nur der jetzigen, sondern auch der kommender Generationen von Menschen, unserer eigenen Art? Werther ist, unter diesem Blickwinkel, interessiert an Artenvielfalt, auch wenn sie für ihn eher ästhetische Zwecke erfüllt: Jedes Lebewesen ist gleich wichtig und gleich würdig im großen Zusammenhang des Ganzen, und gerade der Mensch, mit seinen ultimativen Zerstörungsmöglichkeiten, sollte sich hüten, gedankenlos andere Arten zu zertreten, weil sie nun einmal seinem Fortschritt vor die Füße laufen. Auch für eine einfachere, weniger kon-sumorientierte Lebensweise wäre Werther durchaus zu haben; er träumt vom Landleben, vom eigenhändigen Gemüseanbau, ja sogar von der Zivilisationsferne eines patriarchalischen Gemeinwesens (ob er es durchhalten würde, ist eine andere Frage). In der Natur findet er einen Seelenfrieden, den er nicht in der Stadt und schon gar nicht im Berufsleben mit seinen Abhängigkeiten und Zwängen findet; wenn er doch nur darauf verzichten könnte, alles dann gleich in Kunst umsetzen zu wollen, man könnte auch sagen: sich dem Verwertungszwang entziehen!
Und ist es nicht vielleicht sogar zukunftsweisend und produktiv, die Natur tatsächlich als genuin nicht-normative, genuin nicht-moralische, genuin eigengesetzliche Instanz zu sehen und nicht als etwas, was ständig anverwandelt und anthropomorphisiert werden muss? Oder bedarf der Mensch der Kultur und der Moralität, um seine eigenen destruktiven Natur-Seiten, wenn er sie schon nicht ausleben darf oder längerfristig verdrängen kann, wenigstens: zu sublimieren? Auch dafür spricht einiges. Denn Werthers Natur (und sogar, wahrscheinlich: die Goethes) ist dann doch gebändigt dadurch, dass sie ein Ebenbild Gottes ist, seine Spiegelung nach außen sozusagen. Dass Gott tot ist, wäre sowohl für Werther wie für Goethe nicht nur eine schlechte, sondern eine: weltumstürzende Nachricht. Nein, Gott ist – genauso unbegreiflich, unnahbar, unverständlich, unerforschlich für alles menschliche Bemühen, wie die Natur. Und er ist zwar jenseits von Gut und Böse – aber nur jenseits eines menschlichen, und damit: begrenzten, voreingenommenen Verständnisses von Gut und Böse. Dass Gott jedoch seiner Natur nach, seinem innersten Wesen zufolge: ein böser Gott sein könnte, oder auch nur: ein gleichgültiger – das wäre so paradox, dass sich alle Natur dagegen sträubt.
„Die fatalen bürgerlichen Verhältnisse!“ Ach ja. Es ist so leicht, in Werthers Stoßseufzer ein-zustimmen, so verführerisch leicht; und schon hat man einen der großen Universalschul-digen der Moderne, wieder einmal erfolgreich auf die Anklagebank gesetzt. Und sie waren ja auch ein wenig fatal, die Verhältnisse, damals: als man noch glaubte, man sei der Vorsehung (oder: dem Schicksal; oder: der Natur) soviel Respekt schuldig, dass man nicht aufbegehrte gegen den Platz im Leben, auf den sie einen nun einmal durch Geburt gestellt hatte. Denn war das Leben nicht sowieso ein Glücksspiel und nur im Vertrauen auf Gott und seine ewige, ausgleichende Gerechtigkeit erträglich? Und ist es nicht bis heute, entgegen allen Beschwörungen von Chancengleichheit und Gleichberechtigung faktisch unmöglich – und vielleicht sogar: wenig wünschenswert? –, dass wir alle gleich auf die Welt kommen und die gleichen Entwicklungschancen haben und die gleichen Hindernisse; und die gleichen Glücksmöglichkeiten und die gleichen Unglücksmöglichkeiten (jeder ist seines Unglücks Schmied, das war der Aphorismus, der mir dazu heute Mittag durch den Kopf schoss, und er stimmt auch)? Das mag man fatal nennen, oder ungerecht, oder unfair, oder gar zynisch. Ist aber trotzdem so.
Aber nun meint ja Werther gar nicht nur die fatalen gesellschaftlichen Verhältnisse im Großen und Ganzen (so naiv ist noch nicht mal Werther); nein, er spricht von den fatalen bürgerlichen Verhältnissen – also einer bestimmten sozialen Klasse, die es in dieser Form eigentlich (in Deutschland zumindest) erst seit dem 18. Jahrhundert gab und die gerade darum kämpfte, ihre eigene Kultur – naja, zu einer eigenen Art Leitkultur zu entwickeln und damit den Adel abzulösen, die andere fatale gesellschaftliche Klasse gleich nebenan (gegen das Volk musste man sich nicht abgrenzen. Nicht satisfaktionsfähig). Natürlich gab es schon in der Antike so eine Art Bürgertum; aber die polis-Bürger waren doch eher eine gesellschaftliche Elite und deutlich dichter am Geburtsadel, der ja sowieso (aus natürlichen Gründen) eine viel längere Geschichte hat. Und der Bürger im engeren politischen und gesellschaftlichen Sinne als Kreatur der Zivilisation und der Aufklärung hat eine Art natürliches Legitimationsproblem: Während man in den Adel hineingeboren wird (oder in die Leibeigenschaft, das macht keinen Unterschied in diesem Punkt), kann sich ja mehr oder weniger jeder zum Bürger erklären, hat er nur ein wenig Besitz und ein wenig Bildung. Denn das sind zwei wesentliche Punkte, auf die es bei der Selbstdefinition des Bürgertums erst einmal ankommt: Man muss ein Auskommen haben, und zwar durch ein selbstverdientes Einkommen. Ein Bürger ist jemand, der etwas gelernt hat und danach mehr oder minder wirtschaftlich erfolgreich einen Beruf ausübt; was man vom Adel nicht sagen kann (der höchstens ein Hobby hat), und auch nicht wirklich vom Landmann (der einer Lebensnotwendigkeit folgt). Er ist also jemand, der sich in abhängigen Tätigkeiten bewährt, zumeist heißt das gegen Ende des 18. Jahrhunderts: im Dienst des Staates. Oder der Kirche.
Die „fatalen bürgerlichen Verhältnisse“ – das sind also diejenigen, in denen man sich selbst „verarbeitet“, schreibt der junge Werther, der das nicht will. Er will weder für Geld noch Ehre arbeiten, sondern nur, in voller Freiheit – ja, was will er eigentlich genau? Das wird nicht so recht klar. Natürlich wäre er am liebsten ein Künstler, das Wollen ist aber deutlich größer als das Vollbringen, und der „Stempel des Genies“ scheint eher eine Art un-definiertes Gütesiegel zu sein, das man sich selbst verleihen kann. Nein, für Werther ist eigentlich die Kanzlei als Aufstiegsort vorhergesehen, und wer weiß, vielleicht würde er es, wenn er brav und fleißig ist, sogar zu einem kleinen Verdienstadel bringen?
Immerhin scheint Werther über ein gewisses Kapital zu verfügen, eher unverdient (von einer Erbschaft ist etwas verschämt die Rede); und er hat eine nicht geringe Bildung auf-zuweisen. Er ist also ein Bürger, der vorherigen Definition zufolge. Sie ist aber noch nicht vollständig. Denn das Bürgertum versucht sich durchaus nicht nur als Erwerbsgemeinschaft, sondern auch als Wertegemeinschaft zu etablieren, und zwar auch hier: in ausgeprägter Konkurrenz zum Adel. Bürgerliche Werte, das ist es, was sozusagen das „Herz“ des Bürgertums ausmacht, aber auch seinen aufgeklärten Kopf definiert: Dazu gehören die oft etwas abschätzig verhandelten „Sekundärtugenden“ wie Pünktlichkeit, Ordentlichkeit, Zuverlässigkeit, Disziplin, Redlichkeit, Sauberkeit oder Verantwortungsbewusstsein. Das sind Tugenden, die im Erwerbsleben nützlich sind, aber durchaus auch im Privatleben; mit ihnen führt man ein solides Geschäft oder einen funktionierenden Haushalt. Und die Frau als Gattin, Mutter und Ehefrau hat durchaus ihren Teil daran: Denn Bürgertum ist für sie tatsächliche eine Aufstiegsstrategie und Gleichberechtigungschance (vorher, so schreibt Kant in seiner Anthropologie, ist die Frau mehr oder weniger ein „Haustier“).
Aber die Frau ist darüber hinaus auch zuständig für die family values, die Sozialtugenden: Liebe, Treue, Gefälligkeit, Freundlichkeit, Barmherzigkeit und Mitleid. All das gehört mit zur DNS des Bürgertums, wie es im Zeitalter der Aufklärung entsteht (die politische Bedeutung kommt erst deutlich später hinzu): Die Gesellschaft, ja sogar: der Staat soll nicht nur genauso funktionieren wie die bürgerliche Familie; nein, die Familie ist wirklich und wörtlich die Keimzelle des Staates, denn sie erzieht die Bürger – und durch-aus auch: die Bürgerinnen – zu den neuen Werten und zu ihren neuen Zwecken. Man glaube nicht, dass Mann von heute auf gestern ein zuverlässiger Beamter wird oder ein perfekter Pastor oder ein mitfühlender Medikus; und man glaube ebenso wenig, dass Frau von heute auf morgen die perfekte Ehefrau, aufopferungsvolle Mutter und souveräne Hauswirtschaftlerin wird. Nein, das sind Disziplinierungsprozesse. Sie haben ihren Preis, die „fatalen bürgerlichen Verhältnisse“. Um ein nützliches Glied zu werden, muss man sich nämlich einschränken. Freie Ausbildung aller angeborenen Kräfte und Fähigkeiten zu ihrer vollen und ungehinderten maximalen Entfaltung samt ebenso umfassender Würdigung durch die Umwelt – mag recht schön sein, wenn man in einer Utopie unterwegs ist, samt anderen Halbgöttern und Genies. In der fatalen bürgerlichen Gesellschaft muss man Opfer bringen. Es geht nicht anders.
Nun kommt Werther gar nicht erst bis zu der Stufe, wo er dieses Opfer bringen würde, er scheitert schon am Kanzleistil, an pedantischen Vorgesetzten (die ab und zu sogar Recht haben), an den Spielregeln des gesellschaftlichen Umgangs (niemand hat zu jeder Party Zutritt, auch heute nicht). Mehr noch aber scheitert er an seiner eigenen Unfähigkeit zum Kompromiss (sie gehört zum „Stempel des Genies“). Das wilde Pferdchen, es will weder zurück in den Stall noch will es sich den Regeln der Rennbahn fügen; es will in freier Wildbahn grasen, wenn es grasen will, und galoppieren, wenn es galoppieren will, und mag die Welt darüber zugrunde gehen! Nein, es ist geradezu lächerlich einfach, Werthers Defizite in gesellschaftlicher und sozialer Hinsicht vorzuführen; und deshalb macht der Roman auch keine große Geschichte daraus. Interessanter ist es vielmehr, ein wenig darüber nachzudenken, inwiefern wir denn heute noch vergleichbar „fatale“ – also: ungerecht einschränkende und in ihren Folgen schädliche – Verhältnisse sozialer Art haben, und was sie in ihrer Fatalität bewirken?
Nun, die Klassen- und Ständegesellschaft ist abgeschafft, jedenfalls auf dem Papier; komischerweise erhält sie sich ziemlich hartnäckig in den Köpfen der Menschen, die meisten freuen sich eigentlich eher, wenn sie mal wieder eine Gruppe gefunden haben, die ihnen die lästige individuelle Jagd nach einer unverwechselbaren Identität abnimmt. Immerhin kann man die Gruppen dann wechseln; man kann sogar sein Geschlecht wechseln, seine Hautfarbe mit etwas Mühe auch, wenn auch nicht seinen ökonomischen Status: Reich oder arm wird man immer noch geboren (wir arbeiten aber dran). Außerdem haben wir erfolgreich hingekriegt, dass eigentlich alle unglücklich sind mit den Ergebnissen der Geburtslotterie: Die einen (global gesehen: the lucky few) sind überprivilegiert, die anderen (leiser oder lauter) unterprivilegiert. Vielleicht gibt es in einer winzige Mitte einige, die meinen, genau da zu sein, wo sie hingehören – aber es wird schwer halten, sie zu finden, es ist eine eher seltene Position geworden, die Mitte. Zudem ist die unglückliche menschliche Neigung zur Ermittlung des Selbstwertgefühls durch Vergleich mit anderen – die Werther schon messerscharf detektiert und beklagt – eher noch ausgeprägter und definitiv „fataler“ geworden durch die Ausweitung der Vergleichszone, die wir das „Internet“ nennen, das massenhaft von schöneren, klügeren, beliebteren, erfolgreicheren oder reicheren Menschen bewohnt wird als man selbst. Und während sowohl die Erziehungs- als auch die Ratgeberpropaganda immer stärker – und wiederum: ganz im Einklang mit Werther – die freie Entfaltung aller persönlichen Talente und Fähigkeiten (selbst in deren erwiesener Abwesenheit) als ultimative Glücksmaxime ausrufen („Lebe deinen Traum! Du kannst alles, wenn du es nur willst!“), wächst geradezu proportional die Ratlosigkeit der derart Befreiten: Was um Himmelswillen soll ich eigentlich anfangen mit meinem Leben, wenn nun wirklich das gap year zu Ende ist und es keinen Stundenplan mehr gibt? Weder will Mensch völlig frei aus mehreren hundert Joghurt-Sorten noch aus mehreren hundert Bachelor-Studiengängen wählen. Dann schon lieber Influencer!
Wir könnten natürlich jetzt auch noch über die Entlastungsfunktion von fertig zugeschnittenen Geschlechterrollen – vielleicht gar im Einklang mit der menschlichen Natur? – reden, aber damit hätten wir wohl endgültig die Toleranzschwelle des derzeitigen Dis-kursuniversums überschritten. Obwohl immerhin ein Punkt zu machen wäre derart, dass ein gut organisierter, wirtschaftlich geführter und angenehm präsentierter Haushalt sich nicht von allein macht; oder, dass das Berufsleben durchaus nicht die reine Wonne ist, für die man es halten könnte, wenn man den Karriereratgebern und der Familienpolitik folgt; oder dass ein wenig mehr Opferbereitschaft, von wem auch immer, sowohl in der Kindererziehung als auch im Beziehungsverhalten nicht direkt von Übel wäre. Ob man gleich so weit gehen würde, zu erwägen, ob nicht auch eine Gesellschaft insgesamt besser dran wäre, wenn sich alle als deren nützliche Glieder und nicht nur als ihre Nutznießer verstünden? Das würde aber wahrscheinlich nur funktionieren, wenn alle ein wenig mehr – mit dem Herzen dabei wären? Wie in einer großen, wenn auch gelegentlich ziemlich dysfunktionalen Familie? Denn auch die Familie – wenn auch vielleicht nicht in ihrer spezifisch (klein-)bürgerlichen Form der Kernfamilie – hat sich als ziemlich abschaffungsresistent erwiesen; und selbstgewählte Familien jeglicher Form und Farbe sprießen überall, wo man einst meinte, lästige Verbindlichkeiten und emotionales Übergepäck abschütteln zu können. Werther aber – stirbt allein.
Bis heute ist er eines der größten Tabus überhaupt: der „Selbstmord“ – den wir im folgenden lieber „Selbsttötung“ nennen wollen, denn schon, wer vom Selbstmord spricht, unterstellt: Hier wird das Unsagbare getan, ein Mensch wird getötet, willentlich und aus niederen Motiven; dass er es selbst ist, der sich die Untat zufügt, spielt in dieser moralischen Pauschalverurteilung keine Rolle. Nicht nur religiös, sondern auch moralisch zu-tiefst verwerflich ist es, wenn man sich sein eigenes Leben „nimmt“; es ist die Ursünde gegen das Leben schlechthin, das pralle, volle, glückverheißende (auch wenn es das schon lange nicht mehr ist), und zudem ist es: eine Zumutung für die Hinterbleibenden, die fertigwerden müssen mit ihrer (vermeintlichen) Schuld, ihrer Trauer, ihrer Wut vielleicht auch. Für alles kann man in Gesellschaften (und nicht nur modernen) inzwischen mit Verständnis rechnen; nicht aber für das freiwillige Ausscheiden aus dem eigenen Leben.
Und so musste auch Goethe, als er in den Leiden des jungen Werthers einen der berühmtesten Selbstmorde der Literaturgeschichte beschrieb, sich vielfach rechtfertigen; nicht nur gegen die Anwürfe der Vertreter von Religion und Kirche, sondern auch gegen den Vorwurf, junge Nachahmungstäter ermutigt zu haben, die fortan angeblich quer durch Europa ihr Leben nahmen, in blau-gelber Montur gekleidet und mit einem Exemplar des Buches unter dem Arm. Abgesehen davon, dass die Anzahl bis heute etwas ungeklärt ist; abgesehen auch davon, dass es solche Nachahmungstaten immer geben wird; hat Goethe selbst schon das entscheidende, wenn auch ein wenig zynische Argument gegen diesen moralisierenden Vorwurf vorgebracht. In einem Gespräch mit einem Bischof soll er ge-sagt haben: „Wenn Ihr so über den armen ›Werther‹ redet, welchen Ton wollt Ihr denn gegen die Großen dieser Erde anstimmen, die durch einen einzigen Federzug hunderttausend Menschen ins Feld schicken, wovon achtzigtausend sich töten und sich gegenseitig zu Mord, Brand und Plünderung anreizen. Ihr danket Gott nach solchen Gräueln und singet ein Tedeum darauf!“ Recht hat der Mann, und auch das: bis heute. Lassen wir also, wenigstens versuchsweise, das alte Tabu einmal am Rande liegen und versuchen wir für einen Moment – die Möglichkeit zuzulassen, dass man über das Thema „Freitod“ (was eigentlich der schönere und passendere Begriff ist) wenigstens vorurteilslos, vielleicht sogar: mit einer gewissen Unbefangenheit diskutieren könnte?
Nun wird Werthers Selbsttötung am Ende des Romans gewöhnlich auf seine eigene Formulierung der unheilbaren „Krankheit zum Tode“ reduziert; so interpretiert er nämlich selbst im berühmten Selbstmord-Gespräch im ersten Buch den Fall, dass sich ein junger Mensch derart in seine Liebesleidenschaft verrannt hat, dass er sich selbst schließlich alle Auswege abschneidet, der Vernunft nicht mehr zugänglich ist und nur noch einen verbleibenden Weg offen sieht, um ein Elend zu beenden, das seine Kräfte übersteigt und eben unheilbar geworden ist. Doch wenn man den Roman etwas genauer liest, kann man eine überraschende Entdeckung machen: Das Selbsttötungs-Thema ist nämlich von An-fang an präsent, es unterlegt schon die enthusiastischen Passagen des Anfangs mit einer düsteren Begleitstimme. Der Roman präsentiert geradezu eine repräsentative Auswahl verschiedener Begründungsmuster für Lebensunwillige. Und dies alles wird noch dazu von einem äußerst geschickten, in Rechtsfragen geschulten und von jugendlicher Genialität geradezu übersprudelnden advocatus diaboli vorgetragen! Das Bemerkenswerte am Erstlingsroman des noch ziemlich jungen Goethe ist nicht nur, wie offen und wie vielfältig und wie überzeugend er über ein derart tabuisiertes Thema schreibt; es ist, wie gut er dabei ist!
Rechtfertigungsvarianten also: Beginnen wir mit dem Klassiker, der schon erwähnten „Krankheit zum Tode“. Sie wird eingeführt in einer gereizten, mit vielen Untertönen auf-geladenen Diskussion, die Werther mit Albert, dem Bräutigam, dem Begünstigten, seinem Charakter-Antipoden führt. Aber Albert ist in dieser Diskussion auf einzelne Ausrufe und skeptische Äußerungen reduziert, während Werther seine ganzen sophistischen Talente entfalten darf; ein echtes Gespräch entwickelt sich nicht, und das ist auch schon Teil des Problems. Zudem werden von Werther, ganz unter der Hand, einige Gesprächsnormen etabliert bzw. verbreitete Unsitten kritisiert. So beklagt er (natürlich am Beispiel Alberts) die Neigung, sich in „unbedeutende Gemeinsprüche“ zu flüchten, während andere ihr ganzes Herz ausschütten; er diagnostiziert also eine grundlegende Ungleichheit von Gesprächspartnern und eine damit einhergehende Uneinigkeit darüber, wie ein ernsthaftes, ehrliches und über allgemeines Gerede hinausgehendes Gespräch zu führen ist. Man ist hier durchaus geneigt ihm zuzustimmen; gerade weil eine leise Stimme im Hinterkopf flüstert, wie oft man selbst genau in solchen heiklen Situationen aus reiner Hilflosigkeit zu diesem Hilfsmittel gegriffen hat und Herzensergießungen mit Gemeinplätzen abgekühlt hat. Ja, existentielle Gespräche sind schwierig. Aber sie können leider nicht immer ideale Dialoge sein. Und manchmal sind Gemeinplätze sogar richtig und hilfreich, gerade in Krisen!
Werther aber geht sogar noch weiter. Er behauptet nämlich, in einer Art fundamentalem Gesprächs-Apriori: „Denn nur insofern wir mitempfinden, haben wir Ehre, von einer Sache zur reden“. Man hätte an dieser Stelle zumindest eine bedeutungsschwere Pause erwartet (sie kommt in der Verfilmung sicherlich), aber Werther lässt Albert keinen Raum zur Erwiderung, sondern fährt fort in seinem Vortrag über die „menschliche Natur“ und ihre natürlichen „Grenzen“. Wir aber bleiben einen Moment stehen und sinnen ein wenig nach über dieses aus dem Hut gezogene Diskurs-Apriori: Darf wirklich nur jemand in grundsätzlichen, substantielle Fragen betreffenden Gesprächen mitreden, der auch mitempfindet? Ist das nicht geradezu die Gegenposition zu der erheblich verbreiteteren Forderung, sich gerade allgemeinen, substantiellen Themen möglichst vorurteilsfrei, unpersönlich, ja besten-falls: „objektiv“ zu nähern? Und woher soll man denn bitte die Empfindung nehmen, wenn man keine zu einem bestimmten Thema hat? Endet das Ganze nicht in einer Art exklusiven Betroffenheits-Diskurs jenseits des common sense und seiner gelegentlich ganz nützlichen und erfahrungsbewehrten Gemeinplätze?
Andererseits, andererseits (und die Verfasserin empfindet in diesem Punkt durchaus mit, sie darf also von der Sache reden) sind Gespräche mit Leuten über Themen, deren existentielle Reichweite sie nicht einmal ansatzweise erfasst haben – aus mangelnder Reife, aus fehlender Erfahrung, aus intellektueller Arroganz, es kommt nicht darauf an – wirklich eine ziemlich blutleere und fruchtlose Angelegenheit. Sicherlich, akademische Diskurse leben von dieser Blutleere, aber wir reden hier von persönlichen Gesprächen zwischen Vertrauten und Freunden. Und es ist ja durchaus gelegentlich die bessere Entscheidung, einmal einfach den Mund zu halten, wenn man zu einer Sache wirklich nichts zu sagen hat. Aber um nun die Maxime auf unser Tabu-Thema „Selbsttötung“ anzuwenden: Dürfen dann also nur Leute über Selbsttötung mitreden, die wenigstens einmal der Versuchung erlegen sind, diesem Gedanken ein wenig weiter als bis über die Türschwelle des Bewusstseins zu folgen? Ist Albert also prinzipiell ausgeschlossen von diesem Diskurs, weil er schon den Gedanken nicht zulassen kann, geschweige denn eine korrespondierende Empfindung? Nun ja, er könnte immerhin, ein wenig später, einen Roman lesen, der sich mit diesem Thema nicht nur akademisch beschäftigt und es nicht nur sophistisch in all seinen Varianten entfaltet präsentiert; er könnte auch, beim Lesen dieses Romans, durchaus in eine Mitempfindung geraten. Denn es ist ein sehr, sehr gut gemachter Roman; und sein elaboriertes Mitempfindungs-Potential war eine der wesentlichen Ursachen für sein Gefährdungs-Potential.
Damit haben wir uns glücklich auf die poetologische Meta-Ebene gerettet, der älteste Literaturwissenschaftler-Trick der Welt; aber sie ist uns zu blutleer, und wir kehren deshalb lieber zum Text zurück. Werther also, nachdem er diese Gesprächsnormen aus der Hinterhand gezogen hat – und des Weiteren eine persönliche Neigung zur „Radotage“, also zu verwegenen, auf der Oberfläche unverbundenen Schlüssen zugestanden hat; Werther versucht zumindest im Gesprächsverlauf, einige konsistente Argumente zur Verteidigung der Selbsttötung zu machen. Dazu benutzt er zum ersten eine Analogie, um gegen Alberts Vorwurf vorzugehen, der Selbstmörder sei ein schwacher Mensch: Ein Volk, das gegen einen Tyrannen aufbegehre, sei nicht schwach, wenn es seine Ketten zerreiße – man muss sich schon etwas Mühe geben, um die Analogie aufzudröseln, das geht wohl in etwa so: Die Seele ist das Volk, die Leidenschaft tyrannisiert sie, und um der Abhängigkeit zu entkommen, vernichtet die Seele beide zugleich. Mäßig überzeugend, bestenfalls.
Zweiter Versuch: Ein Mensch, der in einer realen Krisensituation durch Anspannung all seiner Kräfte über sich hinauswächst – sei, so Werther, sicherlich nicht schwach. Aber Anspannung sei ja irgendwie auch eine Art von Überspannung, und deshalb mache es keinen Sinn, ihm ständig Überspannung und daraus resultierende Schwäche vorzuwerfen, im Gegenteil! Leider scheint uns Albert wiederum recht zu haben, der einwendet, die Bei-spiele schienen ihm nicht recht in diese Diskussion zu passen. Na gut, letzter Versuch von Werther: Berufung auf die menschliche Natur, bekanntermaßen von Grund auf schwach; auch der Körper kommt gelegentlich an seine Grenzen, und wenn das daraus resultierende Leid zu groß wird, wird er krank, und Krankheit ist nicht Schwäche, sondern Krankheit! Und ist die Krankheit gar eine zum Tode, also eine, die durch keinerlei „glückliche Revolution“ (im altertümlich-schönen Sinne einer Umkehr zum guten, richtigen, regelmäßigen Umlauf) zu heilen ist – dann stirbt man eben, und niemand kann einem Schwäche angesichts einer unheilbaren Krankheit des Körpers vorwerfen!
Soweit ganz gut und hörbar. Das Ganze wird nun übertragen auf den Geist, wir folgen Werther noch diesen nächsten, letzten Schritt (den man natürlich in seiner Gültigkeit be-zweifeln kann): Auch der Geist hat Grenzen, der Mensch ist eingeschränkt, ist schwach, auch geistig; nun strömen Eindrücke von außen und Ideen von innen auf ihn ein, sie setzen sich in ihm fest und beeinflussen ihn; und dann kommt die eine, große Leidenschaft, die all seine Sinne und seinen Verstand überwältigt, ihn immer weiter einengt, seine Kräfte immer weiter aufzehrt; er erkrankt nicht nur, er erkrankt geistig zum Tode, und alles vernünftige Zureden hilft ihm so wenig wie dem im Fieberdelirium Steckenden ein Fiebersäftlein – der Mensch muss sterben. Ein aussichtsloser Fall. Werther beschreibt damit, ganz zu Beginn des Romans und seiner fatalen Leidenschaft, in äußerster Klarheit sein eigenes Schicksal, seine eigene Zukunft; und es nutzt ihm rein überhaupt nichts (quod demonstrandum esse). Albert versucht kurz ins Gespräch zu bringen, man könne ja seinen eigenen Verstand benutzen; aber wenn „die Grenzen der Menschheit einen drängen“, so Werther, knapp und enigmatisch, sei des Redens und des Argumentierens ein Ende. „Vielmehr – Ein andermal davon….“ – mit diesem abgebrochenen Satz Werthers endet das Gespräch. „Ein Andermal“ findet nicht statt. Hätte es Werther retten können, eine Fortsetzung des Gesprächs, aber vor allem: ein wirkliches, mitempfundenes Gespräch?
Wenn aber nun schon gestorben werden muss, weil man der „Krankheit zum Tode“ anheimgefallen ist – kann man dann den eigenen Tod wenigstens nicht nur als Krankheit rechtfertigen, sondern ihm eine eigene Stärke, ein wenig Heroentum, ein wenig mehr moralisches Gewicht verleihen? Genau das versucht Werther zweimal. Wir sind inzwischen im zweiten Teil des Romans, die Krankheit ist schon ziemlich weit fortgeschritten. Der Romanheld hat Ossian gelesen, eine ziemlich ungesunde Lektüre in diesem angegriffenen Zustand; und er identifiziert sich aufs Äußerste mit den düsteren Heroen auf den düsteren Heiden der Vorzeit, die ständig ihr Leben opfern oder Tote besingen. So sehen wir durch seine Augen und mit seinen Gefühlen den letzten Sänger eines großen Geschlechtes über die wüste Heide ziehen; alle sind tot außer ihm – junge Menschen, Liebende und Helden, alle dahingerafft, und der Sänger betrauert nicht nur ihre, sondern auch die eigene Vergänglichkeit im Angesicht einer allzu vergesslichen Nachwelt (was alles ziemlich komisch ist, wenn man weiß, dass das Ganze eine Fälschung ist, aber das weiß weder Werther noch Goethe). Und Werther springt dem klagenden Sänger nun in der vollen Rüstung seiner lebhaften Imagination als „edler Waffenträger“ zur Seite und bietet ihm an, ihn von der „zückenden Qual des langsam absterbenden Lebens auf einmal“ zu „befreien“ – was zwar letztlich das Vergänglichkeitsproblem nicht lösen würde, aber immerhin das hörbare Elend des Sängers beenden. Und dann, so imaginiert Werther weiter, würde er „dem befreiten Halbgott“ die eigene „Seele nachsenden“.
Das ist ein kühner Sprung, nicht nur im Blick auf die Erhebung des Sängers zum „Halbgott“, nein: Hier findet nicht eine doppelte (Selbst-)Tötung statt, sondern ein Befreiungsakt! Denn wenn das Leben selbst langsam und qualvoll abstirbt, hilft nur noch ein Befreiungsschlag. Mit dem Schwert. Das aber bleibt Imagination, und es ist zweifelhaft, ob Werther wirklich dazu die Nerven hätte. Wozu er aber ziemlich sicher fähig wäre, das wäre, für Lotte zu sterben. Denn auch das imaginiert er sich in seiner Verzweiflung etwas später. Ihn quälen inzwischen nicht nur Selbsttötungs-, sondern auch Mordphantasien; er stellt sich vor, Albert zu ermorden, Lotte zu töten, sich selbst – alles, nur um dieser quälenden Situation, diesem ungelösten und unlösbaren Dreierverhältnis ein Ende zu bereiten! „Eins von uns dreien muß hinweg, und das will ich sein!“ Der erste Teil des Satzes stimmt wohl; aber er impliziert natürlich nicht automatisch, dass „weg“ ein sehr endgültiger Abschied sein muss. Aber es wäre, das kann man sogar schwach mit- oder wenigstens nach-empfinden, eine irgendwie beruhigende Vorstellung, im Opfer zu sterben und in einer schönen Erinnerung weiter zu leben. Was im Roman dann passiert, ist jedoch weit davon entfernt. Nach Werthers Selbsttötung fürchtet man um Lottes Leben; und sogar Albert ist unfähig, dem Trauerzug beizuwohnen. Das Opfer lädt die Last auf die Überlebenden; bekanntermaßen tut es das sogar, wenn es ein unvermeidliches und wahrhaft heroisches war. Und vom Ruhm in der Nachwelt – wissen die Toten nicht.
Neben dieser (vermeintlich) altruistischen Rechtfertigungsvariante „Selbsttötung als Opfer“ gibt es eine weitere, modernere und auch überzeugendere Strategie. In der Bemühung, sich von dem Vorwurf der Schwäche zu befreien, benutzt Werther einen bezeichnenden Vergleich. Er will dartun, dass Selbsttötung im Gegenteil einen besonderen Mut erfordere; und er habe manchmal, so schreibt er, „so einen Augenblick aufspringenden abschüttelnden Muts, und da –“. Wieder bleibt es bei dem abgebrochenen Satz, es ist ja auch nur ein Augenblick. Aber die Adjektive sind etwas verwirrend: „aufspringend und abschüttelnd“, klingt das nicht irgendwie wie –? Ja, es klingt wie ein Pferd; und wenig später kommt dann auch der ausgelassene Vergleichsteil: „Man erzählt von einer edlen Art Pferde, die, wenn sie schrecklich erhitzt und aufgejagt sind, sich selbst aus Instinkt eine Ader aufbeißen, um sich zu Atem zu helfen. So ist mir’s oft, ich möchte mir eine Ader öffnen, die mir die ewige Freiheit schaffte“. Wiederum: Selbsttötung ist ein Befreiungsakt, ein endgültiger; es ist ein Abschütteln von einengenden Zwängen und ein instinktives Aufspringen zur Freiheit. Ein gehetztes Pferd, ein von seinen galoppierenden Leidenschaften verfolgter, erhitzter, in die Enge getriebener Liebender – sie beide ringen um Luft zum Atmen und um Abkühlung, und schon ein körperlicher Instinkt treibt sie dazu, diese auch tatsächlich mit ultimativen Maßnahmen zu erreichen: Aufspringen, Abschütteln, Aufbeißen!
Noch stärker findet sich diese, nennen wir sie: dionysische Variante des Befreiungstodes dort, wo Werther voller Verzweiflung das „fürchterliche Schauspiel“ einer Überflutung seines geliebten Tales nach eintretendem Tauwetter bei einem Wintersturm betrachtet. In einem zum Paradoxen neigenden Roman ist diese Beschreibung ganz sicherlich einer der Höhepunkt der Paradoxie: Die Flut rollt und klingt in „fürchterlich herrlichem Widerschein“; Werther fühlt ein „Schauern“ und ein „Sehnen“; er verliert sich in „der Wonne, meine Qualen, meine Leiden da hinabzustürmen“; und er würde, am Höhepunkt der Phantasie, sein „Mensch-sein drum geben, mit jenem Sturmwinde die Wolken zu zerreißen, die Fluten zu fassen!“ Der Zer-störte wird zum Zerstörer; er vereinigt sich mit den Naturkräften, die gleichzeitig höchst schauerlich und höchst herrlich sind, und er wird dabei – vom Mensch zum (wenigstens:) Halbgott! Sterblichkeit ist ihm nichts mehr; er lebt im ewigen Kreis von Schöpfung und Vernichtung, der für Gott und seine Natur reserviert ist!
Aber Werther stürzt sich nicht in den Abgrund der Welten, er erlebt nicht seinen letzten höchsten Augenblick, nein, im Gegenteil, er fürchtet sich und steht da „wie ein altes Weib“. Noch kann er diesen letzten Schritt nicht gehen. Noch argumentiert und streitet er immer wieder mit Gott darüber. Diese religiösen Passagens sind die letzte Variante eines Rechtfertigungsversuchs und gleichzeitig eine Wiederaufnahme des Gespräches mit Albert auf höherem Niveau: Auch Gott antwortet Werther nicht, und er kann seine religiösen Phantasien deshalb genauso ungehindert und monologisch ausspinnen wie seine Krankheits-Theorie. Kann es nicht einfach sein, so Werther im vollen Rechtfertigungsmodus, dass Gott, der Vater, ihn, den schwachen, geplagten, elenden Sohn – besonders liebt und ihn deshalb eben: „für sich behalten will“? Wenn Christus rufen durfte in der Stunde seiner Qual: „Mein Gott! Mein Gott! Warum hast du mich verlassen“ – sollte er, der so viel schwächere Sohn, es nicht rufen dürfen? Und sind nicht die verlorenen Söhne dem Vater im Himmel immer schon die liebsten gewesen? Was wäre das für ein Vater, der einen von seiner Wanderschaft in die wahre Heimat zurückkehrenden Sohn abweist?
Das ist nun sicherlich nicht die reine Lehre, und einmal mehr nicht wenig sophistisch; aber daneben auch durchaus gefühlt und empfunden. Denn Werther bleibt, das wird häufig übersehen, bis in seinen selbst gewählten Tod ein gläubiger Sohn wenn schon nicht der Kirche, dann doch der christlichen Religion. Aber genau deshalb ist die Betonung des Vater-Aspektes Gottes so wichtig für ihn; nur so, im Appell an eine ja zweifellos anerkannte patriarchalische Autorität, kann Gnade für die ultimative Sünde gegen die Religion erwartet werden. Diese, nennen wir sie ruhig etwas gewagt: religiöse Paradoxie kehrt noch einmal gesteigert zurück im allerletzten Brief Werthers an Lotte. Immer wieder war er in den Wochen und Tagen zuvor kurz davor gestanden, sein Leben zu beenden – und war doch vor dem letzten Schritt zurückgeschreckt. Das ändert sich nach der Liebesszene mit Lotte, dem abgerungenen Kuss und der nunmehrigen Gewissheit, dass auch er geliebt wird; danach spürt er erstmals wieder „Lebensbalsam und Kraft“ in seinem Herzen, dem vielgeplagten Organ. Werther weiß aber auch, dass nach diesem Höhepunkt nichts mehr kommen kann und wird. Die Tat war zweifellos – „Sünde“, in den Augen der Welt und der Religion; aber es ist ja nur „diese Welt“! In der anderen, der jenseitigen, der wahren Welt wird Lotte ihm gehören, der Vater selbst, der ihrer beider Vater ist, wird ihre Verbindung anerkennen und legitimieren, für alle Ewigkeit!
Und damit, mit dieser Paradoxie – man begeht eine große Sünde in dieser Welt und bekommt dafür ewigen Lohn in der nächsten – könnte der Abschiedsbrief enden. Tut er aber nicht. Denn Werther drückt nicht nur seine Gewissheit aus, dass sie sich beide in der Ewigkeit wiedersehen werden; nein, er wird auch Lottes Mutter dort sehen, er wird ihr sein „ganzes Herz ausschütten“, ihr, Lottes „Ebenbild“! Das ist nicht wenig überraschend und nicht wenig kryptisch. Ein Gang zu den Müttern, ganz am Ende, nach demjenigen zum Vatergott? Warum ist es so wichtig, Lottes Mutter zu sehen und mit ihr zu sprechen? Tat-sächlich erinnert diese Wendung jedoch weniger an die Mütter-, als an die „Bergschluchten“-Szene ganz am Ende des Faust II: und zwar an das Auftauchen Gretchens, der ehemals Geliebten, der zum Engel gewordenen ehemaligen Sünderin. Und vielleicht ist hier auch im Werther der Punkt erreicht, wo endgültig alles Argumentieren, Streiten, Rechten und Auslegen an seine Grenze gekommen ist: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen“, so singt der Engelschor in Faust II – und Werther ist, all seine Schwächen und Fehlbarkeiten und Idiosynkrasien mitgerechnet, ein sich unablässig strebend Bemühender (natürlich könnte frau Goethe an dieser Stelle vorrechnen, dass das auch nur eine sexistische Geschlechtertheorie ist: Männer sind immer „sich strebend Bemühende“, egal, was sie für Dummheiten machen; und erlöst werden können sie nur von liebenden Frauen. Aber wenn man sich stark genug dafür fühlt, kann man die Geschlechterrollen in dem Szenario auch gern wechseln; das entsprechende Tabu haben wir immerhin schon vor einiger Zeit gerissen!) Was aber vielleicht wichtiger ist: Werther hätte dieser Mutter (nicht seiner eigenen!) sein Herz ausschütten können. Sein Herz, wir werden noch sehen, wie wichtig Werther dieses Herz ist, sein Kindchen, sein krankes, fühlbares, erschütterbares, mitempfindendes, mitschauerndes und mitsehendes Herz!
Aber hat er nicht Wilhelm sein Herz ausgeschüttet, dem seltsam abwesenden (warum ist er eigentlich niemals gekommen, in persona?) Brieffreund? Nein, er hat sich gerechtfertigt vor Wilhelm, den wir gern auch als sein eigenes Über-Ich bezeichnen können, wenn wir zu dieser Begrifflichkeit neigen; immer, wenn er ihm sein Herz wirklich ausschütten wollte, sind wir in abgebrochenen Sätzen geendet. Und kann man überhaupt in einem Brief sein Herz ausschütten, ohne ein sehbares, fühlbares, mitempfindendes Gegenüber? War es das, was Werther gefehlt hat, den ganzen Roman hindurch: die mitliebende Mutter?
Das könnte der Schluss zumindest andeuten (mitempfinden muss es sowieso jede für sich). Wir aber stehen am Ende des Romans und eines jungen Lebens und schauen in ein offenes Grab. Der Weg dorthin schien unausweichlich, aber alle Rechtfertigungsstrategien stolpern irgendwie über ihre Sophistik oder ihre ungeklärten Voraussetzungen. Mit dem Kopf kommt man nicht weiter an dieser Stelle, das zeigt der Roman zweifellos, und zwar weder in der Rechtfertigung des Aktes noch in seiner religiösen oder moralischen Verdammung: In die Selbsttötung kommt man nur mit einem Sprung. Aber die Überlebenden (und das heißt hier auch: die Leser) können das nicht hinnehmen, es liegt nicht in der menschlichen Natur und ihren Schwächen. Sie wollen kein Menschenopfer, sie wollen eine Erklärung. Sie wollen, besser noch, einen oder mehrere Schuldige. Hätte man den jungen Mann nicht doch gegen seinen Willen in die Psychiatrie einweisen können? (Es gab keine, und die Vorformen, die es gab, waren extrem wenig menschenfreundlich) Hätte Albert nicht über seinen Schatten springen können, wie Nicolai imaginierte, und Lotte freigeben können? (es wären andere Charaktere gewesen) Eine Ménage a trois? (gleiches Problem, nicht mit diesen Figuren denkbar) Eine unerwartete und ehrenvolle Berufung Werthers an einen aufklärerischen Modellhof? (funktionierte, im Großen und Ganzen, für den Autor, der aber nicht Werther war; Werther hätte immer einen neuen „Verdruss“ gefunden) Neue Liebe, neues Glück? (immerhin hatte es schon beinahe funktioniert, zu Beginn des zweiten Teils, wenn nicht der dumme gesellschaftliche „Verdruss“ dazwischen gekommen wäre) – wahrscheinlich wäre das sogar die denkbarste, wenn auch ein wenig zynische Lösungsmöglichkeit. Die zweite und dritte Liebe haben zwar nie mehr die Süßigkeit der ersten, aber die Geschmacksknospen werden auch unempfindsamer mit dem Alter.
Goethe schließlich hat, das war seine persönliche Lösung auf der Meta-Ebene, einen Skandal-Roman daraus gemacht, der seinen Helden sterben lässt; in der Blüte seiner Jahre, im schönsten Augenblick seines Liebesglücks und im Vertrauen auf die göttliche Gnade und das mütterliche Verständnis. Können wir das mit-fühlen, wollen wir das mit-fühlen, diesen Sprung? Mitgefühlt haben die meisten Leserinnen und Leser lieber die junge Liebe, das überwältigende Gefühl des ersten und völligen Verliebtseins im Frühling; mitgefühlt haben sie vielleicht, wenn sie in ähnlichen Situationen waren, die völlige und überwältigende Verzweiflung angesichts der Unmöglichkeit, dieses Gefühl in irgendeine Art von Realität zu versetzen (dass es sowieso ein endlicher Zustand ist, weiß wenig später jede und jeder). Man kann aber auch mitfühlen lernen, was es heißt, die „Qual des langsam absterbenden Lebens“ mit einem Schlag zu beenden; sich in einem Befreiungsakt die Adern aufzureißen oder sich in den Strudel der zerstörerischen Wellen zu stürzen; oder nach einer langen und mühevollen Wanderung vertrauensvoll zu seinem Vater zurückzukehren, der zum Glück in einer besseren Welt residiert. Es ist die größte und schwierigste Paradoxie eines Romans, der den Rationalisierungen seiner Zeit die unheil-bare Widersprüchlichkeit menschlicher Erfahrung gegenüberstellt (beide haben ihr Recht und ihren Platz), dass es die (allzu?) große Liebe ist, die direkt in den Tod führt; und dass ultimative Freiheit nur im ultimativen Opfer ist. Will man das nicht, bekommt man die Freuden des jungen Werther; ein ungleich schwächerer Roman zweifellos, aber deshalb ist das Leben das Leben, und die Kunst die Kunst.
Es geht ums Herz, werden wir also ein wenig persönlich. Und nein, wahrscheinlich kann ich wirklich nicht von mir sagen, dass ich mein Herz jemals gehalten habe wie ein „krankes Kindchen“ und ihm „jeden Willen verstattet“. Eher im Gegenteil. Ziemlich lebhaft erinnere ich mich an ein Familienessen mit Kindern, etwas unerzogenen, die zu Besuch waren; und der jüngere, sehr dominante Bruder beanspruchte einfach sämtliche der nur begrenzt zur Verfügung stehenden Würstchen (es mögen auch Frikadellen gewesen sein) für sich, ohne Rücksicht auf die anderen Kinder (von Erwachsenen ganz zu schweigen) oder darauf, dass es schließlich noch jede Menge andere Nahrungsmittel gab (von gesünderen ganz zu schweigen) und man nicht direkt verhungern musste. Nein, er wollte einfach alle Würstchen auf seinem Teller versammeln, und ich verbot es ihm kurzerhand. Das war er nicht gewohnt. Er schaute weinerlich, seine Mutter wollte auch schon einschreiten, da rutschte mir mehr oder weniger unwillkürlich der Satz heraus, ich hätte ein Herz aus Stein, er müsse es gar nicht mehr versuchen. Wahrscheinlich lächelte ich dazu, ein ziemlich kalt-mephistophelisches Lächeln. Die Tischgesellschaft lachte verlegen, irgendwie wurde die Situation aufgelöst, aber das Kind sah – ernsthaft verschreckt aus. Mit dem üblichen Geschimpfe hätte man ja gut leben können, aber – ein Herz aus Stein, wie sollte sich denn das anfühlen, gab es das wirklich?
Ach ja, mein Herz aus Stein. Na gut, aus Stein war es schon nicht, aber auch nicht direkt aus Butter, noch nicht einmal im Umgang mit niedlichen Kindern. Und gerade in den letzten Jahren ertappe ich mich immer mehr dabei, dass das „Herz“ sich in meine Texte einschleicht: Zuerst in die „herzlichen Grüße“, die mir immer irgendwie sympathischer waren als die etwas abgenutzten „freundlichen“; bis heute ist es mein bevorzugter, wenn auch inzwischen ziemlich abgegriffener Abschieds-Gruß, und ein bisschen bewegt sich das Herz dabei immer noch, wenigstens manchmal. Aber auch andere Texte hatten auf einmal ein „Herz“, sogar philosophische. Denn mit dem Alter wuchs die überraschende Einsicht, dass sich im Menschen gar nichts bewegt, wenn sich sein Herz nicht bewegt, und alles Schreiben ist, um beim Meister zu bleiben, leeres Strohdreschen, wenn es das nicht wenigstens auch tut: vom Herzen zum Herzen sprechen! Und dazu war es manch-mal einfach am besten, das Wort „Herz“ zu benutzen, einfach so, als sei es das Selbstverständlichste der Welt und jeder könne sich etwas dabei – fühlen?
Aber im direkten Gegensatz zu Werther war ich wohl noch nie stolz auf mein eigenes Herz, und Werthers Argument für diese Haltung will mir auch nicht recht einleuchten, es greift nämlich zu kurz: Sein Wissen, sein Kopf, seinen Verstand, so schreibt er nämlich, das könne jeder haben; sein Herz jedoch sei einmalig und allein sein eigen. Aber um zu erläutern, warum das zu kurz greift, muss man ausgreifen – und endlich diese etwas peinliche persönliche Ebene verlassen, die nur für eine anekdotische Evidenz dafür sorgen soll, dass es gar nicht selbstverständlich ist, sich auf sein Herz und seine Gefühle etwas einzubilden; noch nicht einmal, wenn man jung und verblendet ist! Andererseits gibt es auch keinen Grund dafür, sich auf sein steinernes Herz etwas einzubilden, in welchem Lebensalter auch immer. Und dazwischen irgendwo, nein, wahrscheinlich eher: im schönen gleichmäßigen Wechsel von Systole und Diastole, ist das richtige Maß der Herz-Haftigkeit zu finden (ich aber leide schon länger unter Herz-Rhythmusstörungen).
Also, das vielzitierte „Herz“ im Werther – und überhaupt, im gar nicht so ausschließlich kopflastigen, sondern auch sehr herzensbewegten 18. Jahrhundert: Wie kam es auf einmal so in Mode, also zumindest: in die Mode-Romane? Die philosophische Geschichte ist anderswo erzählt, sie ist verworren vor allem wegen der verworrenen (durch fremdsprachige Begriffe noch potenzierte) Sprachverwirrung: Irgendwo zwischen Affekt, Passion, Emotion, Empfindung und Leidenschaft changiert der Gefühlsbegriff im Deutschen, und alles hat ein wenig andere Konnotationen, und jeder denkt sich sowieso dabei, was sie will. Bleiben wir, für unsere Zweck und ohne jeglichen Anspruch auf Verallgemeinerbarkeit (ha! ein wenig doch?) erst einmal dabei: „Affekte“ sind philosophisch eingekleidete Phänomenkomplexe mit standardisiertem Ausdrucksverhalten und problematischem Ruf; sie kommen in Listen, Charakter und Typen und müssen im Wesentlichen beherrscht werden. „Passionen“ sind, der Begriff sagt es schon, Regungen, die einem widerfahren, also eher passiver Natur; das verbindet sie mit dem „Empfindungen“, die eine klar sinnliche Ausgangsbasis haben (das Gefühl ist schließlich auch ein ordentlicher physiologischer Sinn). „Empfindung“ ist so ungefähr der neutralste Begriff, aber auch der leerste; während „Leidenschaft“ einen sehr starken Grad von Empfindung ausdrückt und damit auch wie-der in die Gefahrenzone einrückt. „Gefühl“ hingegen hat einen kleinen Beisinn des Nur-Seelischen, Gemütshaften, Verinnerlichten gegenüber den stärker sinnlichen Varianten; und das nun erklärt auch seinen Aufstieg im 18. Jahrhundert und seine enge Verwandtschaft mit dem „Herzen“: Das Herz ist der Sitz des Gefühls und der Seele, während im Kopf der Verstand wohnt; und damit auch zurück zu Werther und seinem fehlgeleiteten Argument: Denn natürlich ist der Kopf (mit dem Gehirn nämlich) genauso individuell wie das Herz (das konnte und wollte er aber wirklich noch nicht wissen); das liegt, wieder einmal, in der Natürlichkeit der Sache.
Nun macht die ganze Begriffs-Artistik nur halbwegs Sinn, falls es denn wirklich eine saubere Unterscheidungslinie zwischen Kopf und Herz gibt – womit wir beim berühmten commercium-Problem des 18. Jahrhunderts wären, nämlich der (bis heute für einige ungeklärten) Frage nach dem Verhältnis von Leib und Seele: Falls das zwei grund- und wesensverschiedene Dinge/Substanzen sein sollten (Lieblingsmeinung der meisten Philosophen, Dogma der meisten Religionen), begegnen sie sich jedoch im Menschen ständig, schlimmer noch: müssen irgendwie miteinander kommunizieren, sich abstimmen, einen Verkehr vollziehen! Wenn man jedoch meint, dass es sowieso nur eine Natur gibt und deshalb auch im Menschen nur verschiedene Ausdrucks- und Erscheinungsformen der-selben – wie Goethe und die Verfasserin: Dann löst sich zumindest dieses Problem in Wohlgefallen auf, und Gedanken und Gefühle sind nur – verschiedene Erscheinungsformen des Gleichen, nämlich: der Art und Weise, wie äußere Eindrücke in unserem Organismus aufgenommen und verarbeitet und ggf. wieder ausgedrückt werden. Gedanken entstehen so aus der Wahrnehmung von Phänomenen, die in nur schwacher Verbindung zu unserem persönlichen Wohlergehen stehen und deshalb mit einem gewissen Maß an „Objektivität“ verarbeitet werden können; ein Vorgang, der dann wahrscheinlich zu größeren Teilen im Gehirn (und damit zu größeren Teilen: im Kopf) stattfindet; und dessen Ergebnisse meist in sprachlicher Form (und damit zum größeren Teil: missverständlich) nach außen befördert werden. Wenn wir hingegen etwas wahrnehmen, was einen stärkeren Einfluss auf unser (imaginiertes, hier kommt die klassische Einbildungskraft dazu) Wohlergehen, unsere Person insgesamt hat, uns guttun oder nicht, uns Lust versprechen oder Unlust: Werden daraus Gefühle, die mit einem größeren Maß an „Subjektivität“ verarbeitet werden. Das ist ein Vorgang, der nicht zuletzt im Herzen stattfindet, an dem sich verschiedene Körperfunktionen konzentrieren und der deshalb besonders, im physiologischen Sinne gesprochen: empfindsam, empfindungsfähig ist (das Herz kann sich nämlich, physiologisch gesehen: zusammenziehen und ausdehnen, und das ist für Goethe schon mal eine ganz grundlegende Lebensbewegung; keine Idee, eine Erfahrung!).
Das Herz kann uns schwer werden oder im Leib hüpfen, es kann uns brechen oder auf-gehen – das alles sind reale Empfindungen, verbunden mit körperlichen Reaktionen auf als freud- oder leidvoll wahrgenommene Eindrücke und damit assoziierte Ideen. Aber auf jeden Fall, und das ist das wichtige für Goethe/Werther: Das Herz reagiert wirklich, nicht nur eingebildet; genauso wie die Tränen eine nicht vom Verstand zu regulierende, intuitive Ausdrucksform sind, genauso wie das „Schauern“ – wir werden darauf zu sprechen kommen – eine körperliche Reaktion auf die unterschiedlichsten Erregungszustände sein kann; genauso wie die Augen sprechen und die Hände, spricht das Herz. Aber es spricht, zum Glück, nicht in Worten, sondern in: Gefühlen. Und es lügt nie.
Lügt es nie? Nun, jedenfalls nicht, solange man nicht versucht, seine Empfindungen in Worte zu pressen, was auch im Werther nur in unendlichen Varianten des Unsagbarkeits-topos endet. Aber das Herz ist ein Muskel, und als solches kann man es trainieren. Deshalb ist die Empfindsamkeit des 18. Jahrhunderts zu guten Teilen Gefühlsertüchtigung und Herzmuskel-Training: Denn vielleicht ist dem Menschen das Mitgefühl angeboren – oder irgendein moral sense –, vielleicht aber auch nicht; und vielleicht ist es ihm natürlich, seine Mitmenschen zu lieben, vielleicht ist er ihnen aber auch eher ein Wolf; und vielleicht haben alle Emotionen, auch die ganz negativen und schlimmen, einen guten Zweck im großen Design der Schöpfung – nämlich als Handlungsantrieb –, vielleicht sind sie aber auch nur Teufelswerk und vollendete Sündhaftigkeit. Letzteres ist natürlich der Hauptgrund für den schlechten Ruf der Gefühle vor dem 18. Jahrhundert (die Antike war insgesamt nicht so arg gefühlsselig und ja im Großen und Ganzen eher sinnenfreundlich): ihre verwandtschaftliche Verbindung mit der Erbsünde, ihre Nähe zu den großen Lastern, besonders im Falle der Liebe oder andere Formen des sinnlichen Genusses! Nein, besser gar keine Gefühle als solche! Und so übte man sich in Gefühlsunterdrückung plus Überkompensation, stoisch oder christlich; so schmorte man in glühenden Eisenfässern und verehrte in der begehrten Frau die Heilige (und für die allermeisten Leute wären Gefühle jeglicher Art sowieso Luxus gewesen, es ging ums Überleben!).
Aber irgendwann setzte sich der Gedanke in einigen Köpfen (oder Herzen?) fest, dass das doch ein allzu – sparsames Verhältnis zu all den Wunderbarkeiten der Schöpfung sein könnte? Dass Gott doch selbst ein liebender war, ein barmherziger und milder Gott, die Quelle aller schönen und mitmenschlichen Tugenden? Nein, es war möglich, zu glauben und zu fühlen; wenn man das Gefühl nur gut genug beobachtete, protokollierte, unter Kontrolle hielt! Aber wie immer behielt Pandora recht: Nachdem die Büchse einmal geöffnet war und all die Affekte, Passionen, Leidenschaften entflohen waren – ließen sie sich nie wieder einfangen. Jetzt konnte jeder kommen und sein Herzchen wie ein krankes Kindchen halten und ihm jeden Willen gestatten; was sollte man dagegen schon tun?
Und so nimmt Werthers Schicksal, nehmen seine: Leiden („Leidenschaft schafft Leiden!“) seinen Lauf, und nicht Natur noch Religion noch seine Mitmenschen halten ihn auf. Denn zum einen gehört zu seinem Schicksal Werthers Persönlichkeit, die er schon gleich am Anfang selbst als manisch-depressiv beschreibt: Zwischen den „Extremen“ von Melancholie und Leidenschaftlichkeit werde er hin- und hergeworfen, das Ganze hat offenbar Vorgeschichte. Dazu kommen, zum zweiten, die Lebensumstände, und hier vor allem die fehlende soziale Kontrolle: Die Mutter ist in der Ferne – und wird offenbar nicht sehr geliebt; der Freund schreibt zwar eifrig, aber kommt auch niemals in Person, und die Umgebung ist hingerissen von Werthers unbestreitbarem Charme und seiner Liebenswürdigkeit: Er hat ein offenes „Herz“ für Groß und Klein, für Reich (naja, in Grenzen) und Arm, für Mann und Weib, er schüttet sein Herz auch gern aus und teilt seinen reichen Empfindungsschatz – an der Natur, an der Literatur – mit allem und jeden. Und am Anfang hat er ja, das ist das dritte Schicksals-Element: Glück. Er ist jung, finanziell unabhängig, reiselustig; es ist Frühling, und es folgt ein Bilderbuchsommer; und er findet fröhliche Gesellschaft und, nun ja: die Liebe seines Lebens. Kann man sich ein aufblühenderes Herz vorstellen, um einen ziemlich unmöglichen Superlativ über ein Buch, in dem es vor Superlativen nur so wimmelt, zu benutzen? Kein Wunder, dass Werther so stolz ist auf dieses von Natur aus fühlbare, aber nun auch: würdige Objekte zum Fühlen allenthalben findende Gefühlsorgan! Und doch, und doch – gelegentlich nagt sogar an ihm der Verdacht, es sei Zeit, auch einmal etwas für den Kopf zu tun; all die Talente, deren er sich sicher ist (Bescheidenheit ist keine seiner Tugenden), vielleicht doch einmal zu einem öffentlichen Nutzen einzusetzen! Aber dann ist Sommer in Wahlheim, Homer lockt und Lotte, er liest den Kindern Geschichten vor, palt seine Zuckererbsen und gewährt seinem Herzchen jeden Willen. Bis Albert kommt. Bis es Herbst wird. Bis, wir springen ein wenig ins zweite Buch, die Nussbäume gefällt werden und der Knecht seine Geliebte umbringt. Bis Wahlheim überschwemmt wird von Tauwetter, und er den „Verdruss“ erfährt. Denn das ist die Sache mit dem Herzen: Es ist ein Motor, und er muss von außen in Gang gesetzt werden, und dann braucht er Treibstoff, um in Gang zu bleiben. Solange die Welt gut ist, läuft das Herz, stockungsfrei und auf Hochtouren. Wenn die Welt sich wendet – holpert der Motor. Das Herz zieht sich zusammen, schaltet einen Gang zurück. Noch einen. Noch einen. Dann –
Am Ende schießt sich Werther in den Kopf, nicht ins Herz (sicherer so, es ist die gängige Methode); er hätte es wahrscheinlich auch nicht über sich gebracht, sich ins Herz zu schießen (ins Herz rammt man den Dolch; wie Emilia Galottis Vater bei Emilia). Am Ende schwankte er zwischen zu viel Gefühl – gebrochene Dämme, innerlich wie äußerlich, düstere Verzweiflung und hochfliegende Liebesgewissheit – oder zu wenig – Winterdepression; Untätigkeit, Unmut und Unlust (die böse Trias), Gefühlskälte, ein Herz aus Stein. Was tut man nun mit diesem unbeständigen Klumpen Materie, diesem hochkomplexen inneren Motor, diesem wetterwindischen Genossen des Kopfes, diesem – so selten und unzuverlässig sprudelnden Quell des Entzückens wie des Elends? Es verniedlichen, das ist wohl offensichtlich, kann die Lösung nicht sein; ebenso, wie es zu domestizieren oder vollständig zu unterdrücken. Zumal es, da ist nicht drumherum zu reden, nicht nur das ist, was uns wörtlich und organisch am Leben hält; nein, es ist das, was uns dieses Leben fühlen lässt, erleben lässt, unmittelbar wahrnehmen, nicht durch die immer trübe Brille des Verstandes! Das ist ein Satz, der zuverlässig in allen Filmen und Serien bis heu-te fällt, wenn sich jemand heftig verliebt hat, und er ist einfach wahr: Niemals habe man sich je zuvor so lebendig gefühlt. Niemals – aus dem Rückblick – wird man sich je wieder so lebendig fühlen. Gefühl ist das, was uns unser Leben fühlbar, er-leb-bar macht; und extreme Gefühle machen, ja, genau: lebendiger. Sie sind trotzdem brandgefährlich, wie es Werther demonstriert und nach ihm all die früh gestorbenen Helden der Pop-Kultur: live fast, die young!
Bleiben wir Mittelalte, Mittelbegabte und Mittelempfindsame deshalb lieber beim schönen Mittelweg und beim aufklärerischen Allheilmittel, es heißt: Erziehung! Erzie-hung des Herzens, des schwer erziehbaren – ist das möglich, ist das denkbar, ist das wünschenswert? Hierschweigt der Sängerin Weisheit (ein seltenes Phänomen, schenken wir ihm eine Schweigeminute); aber immerhin, sie hat ein Herz aus Stein (gehabt) und es langsam ein wenig erweicht über die Zeit, mit herzlichen Grüßen an die Welt (die ihr komischer-weise genau in dieser Zeit eher feindlich wurde). Gelernt hat sie, immerhin: Dass man zum Herzerweichen Mut braucht; es ist eine gefährliche Angelegenheit (siehe Werther), selbst wenn man den Weg in sehr kleinen Schritten geht. Dass Fühlbarkeit ein sehr zwei-schneidiges Schwert ist, aber scharf in beiden Richtungen (siehe Werther). Dass Augen-blicke alles sind, was man vom Herzen erwarten kann, niemals aber: Zuverlässigkeit, Dauerhaftigkeit, Beständigkeit (siehe Werther). Und dass man mit dem Herzen lesen kann und mit dem Kopf – und damit zur nächsten Annäherung, sie hängt aber sehr eng mit dieser zusammen.
Vorher aber noch die oben versprochene Digression zum „Schauern“, einfach, weil es ein so schönes Wort ist und auch zur Sache gehörts. Ich habe es vollständig überlesen bisher, was soll man sich auch dabei schon denken? Es ist ein wechselhafter Sommer, ständig schauert es. Nein, natürlich nicht in diesem Sinne, und doch, und doch – ein klein wenig hängt es zusammen. Denn Werther schauert es ziemlich oft, der Liebe oder der Ergriffenheit halber; es ist ein physischer Zustand der Überwältigung, auf die der angegriffene Organismus – mit einem Zittern antwortet, sei es einem kleinen Kälteschauer der Haut, sei es dem berühmten kalten Schauer, der einem über den Rücken läuft. Es schauert den Menschen, wenn er friert, wenn er entsetzt ist oder erschreckt, aber auch (zumindest in empfindsameren Zeiten), wenn er ehrfürchtig über sich selbst erhoben ist, im Angesicht von etwas Größerem, Heiligem gar. Nach der gemeinsamen Ossian-Lektüre schauert es Lotte zum ersten Male, und das führt beinahe dahin, wo beide ja so gern hinwollen, aber nicht dürfen – weshalb sie ihr Heil in der Flucht sucht, „mit dem vollen Blick der Liebe“ dem Elenden das Haus verweisend. Werther aber hat sie schauern gesehen, und jetzt weiß er, ohne jeden Zweifel: Dass er wiedergeliebt wird. Worte wären nicht genug gewesen.
Es ist jedoch nicht nur der junge Goethe, der das Schauern hochschätzt; als eine Art Signum, ein Wahrheitszeichen in Bezug auf ein Gefühl. Denn noch im Faust wird es heißen, und zwar, bevor sich Faust voller Schaudern (was das gleiche ist wie Schauern, es sei mir geglaubt) auf den Weg zu den geheimnisvollen Müttern macht (und Mephisto ihn deswegen neckt und „Feigling!“ ruft): „Doch im Erstarren such' ich nicht mein Heil, /Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil, /Wie auch die Welt ihm das Gefühl verteure, /Ergriffen, fühlt er tief das Ungeheure“. Auch Faust weiß noch das Gefühl zu schätzen, zumindest: das sich auf das Ungeheure beziehende – nämlich als den besten, den ursprünglichsten, den unverdorbensten und unkorrumpierbaren Teil des Menschen.
Sage mir, was du liest, und ich sage dir, wer du bist! Es ist schon ein Wunder, mit wie vielen Verben der Tätigkeit dieser Satz funktioniert, aber egal: Er funktioniert. Er lässt allerdings außer Acht, dass es auch Leute gibt, die gar nicht lesen, aber das ist ein unnatürliches Verhalten, und wir strafen es deshalb mit Nichtachtung. Und er lässt genauso außer Acht, dass es Leute gibt, die gar nicht lesen könnten (aber es vielleicht gern würden, könnten sie es denn); und das ist ein Satz, der immerhin auf einige interessante Gedanken über den Zusammenhang von Lesen und Sein, oder genauer, worum es uns hier geht: von Lesen und Fühlen geht (was das Lesen und die Selbst- bzw. Fremderkenntnis angeht: Das ist ein sehr weites Feld, und wir haben es anfangs schon etwas länglich bearbeitet).
Denn unser Roman ist ja in vielerlei Hinsicht das Werk nicht nur einer jungen, sondern einer Umbruchszeit in mehrerlei Hinsicht. Genauso verrufen bzw. einfach unterschätzt und unterschlagen wie da Gefühl war der Roman; eine Gattung, die die Alten nicht kannten; die in Prosa geschrieben war und deshalb keine ordentliche Dichtung; die sich nicht so recht an das schöne alte prodesse et delectare halten wollte, also nicht: primär moralische Lehren erteilte (wie die Fabeln oder eine ordentliche Heiligenlegend); sondern die von der Liebe erzählte, immer nur und immer wieder von der Liebe, als gäbe es sonst nichts auf der Welt! Und die Leute, kaum hatten sie lesen gelernt (an der Bibel und dem Katechismus, natürlich; allenfalls ein christliches Abc-Buch dazu!), vor allem aber: das weibliche Geschlecht und die Jugendlichen, stürzten sich auf diese unerfreuliche Neuheit, verschlangen sie und konnten gar nicht genug davon bekommen! (Dienstmädchen, die Klopstock lasen! Wo sollte das nur hinführen!) Und dann wurden diese Romane auch noch immer „empfindsamer“, es wurde sehr viel geweint und sich tief in die Augen ge-schaut, und gelegentlich hob sich vielleicht eine Brust unterm Seidentuch oder zwei Hände berührten sich oder, wie in diesem neuen Skandalroman: sogar die Füße, unabsichtlich (ha!), unterm Tisch! Nein, der Roman durchlief eine unaufhaltsame Erfolgsgeschichte gerade deshalb, weil er immer und immer wieder von der Liebe sprach – und Gefühle in Wallungen brachte, von denen man vorher vielleicht ja auch nicht wusste, dass man sie gehabt hatte oder wie sie sich äußerten. Man kann sich das durchaus vorstellen wie einen Sündenfall: Nachdem man einmal eine Liebesszene in einem Roman gelesen hat, ist die Unschuld für immer dahin. Nun weiß man, wie sich das anfühlen muss, damit es richtig ist! Nun kennt man Liebesglück und Liebeskummer (beides hat man noch nie erlebt, wie so vieles andere auch nicht).
Ach, wäre es nicht schön, man könnte all das vergessen, was man jemals über die Liebe, das große Gefühl schlechthin, gehört, gesehen, gelesen hat? Kann man aber nicht, und deshalb wird auch die Suche nach dem Originalgefühl scheitern müssen; stattdessen Gefühlsschablonen, mit winzigen Variationen und in endlosen Umdrehungen. Aber immer-hin müssen sich die ersten Romanleserinnen gefühlt haben wie die Entdeckerinnen auf einem unbekannten Kontinent. Und war es nicht natürlich, dass man deshalb nach Anleitung suchte beim Erstlesen, nach Orientierung, nach moralischer Unterfütterung und Abrundung, ja letztendlich: nach einem Gottesbeweis auch hier, in dieser neuen noch sehr unsicheren Gattung? Ach, so lange man wenigstens noch den auktorialen Autor hatte, der seine Figuren kannte und so für sie verantwortlich war für Gott für seine Lieblingsschöpfung und sein Problemkind? Aber wenn man nun ganz allein war (über allem schwebte nur ein ominöser „Herausgeber“, was war das nun wieder?), mit diesem wunderbaren Buch, das solche ungekannte Gefühle in einem auslöste – allein, wie der Held in diesem wunderbaren Buch, der sich zu den einfachen Menschen und Kindern hingezogen fühlte, aber dann wieder genauso gern in die Einsamkeit floh – und wenn dann die Gefühle an-wuchsen, wenn das Herz schlug und die Augen überflossen, ja, wenn einem Schauer den ganzen Körper entlang liefen – dann war offenbar etwas passiert, was man gar nicht mehr so recht kontrollieren konnte. Ach, und wie wunderbar wäre es nun gar, wenn man jemand hätte, der mit einem am Fenster stünde oder auf dem Sofa säße, und dem man nur ein Wort zulispeln müsste: „Werther!“ Und der genau das Gleiche fühlen würde in diesem Moment, zwei Herzen im absoluten Gleichklang – wäre es nicht geradezu zum Vergehen schön und der endgültige Beweis – dass es Gott gibt, geben muss, der den Menschen zur Liebe geschaffen hat, und nicht allein, sondern in passenden Paaren?
Und so lesen Werther und Lotte Klopstock: begeistert, enthusiastisch, sowohl von der Sprache als auch von der Empfindung als auch von ihrer Übereinstimmung. Lotte jedoch will ansonsten nicht so recht empfindsame Romane lesen, obwohl sie genau im Zielprofil ist: Sie hat das früher gelegentlich getan und auch ganz gern gemacht, irgend so einer „Miß Jenny“ mitzufühlen; aber jetzt – seit sie Kinder hat, seit sie Mutterpflichten übernommen hat, seit sie keine Zeit mehr hat für Schwärmereien, weil das Leben sie in die Pflicht genommen hat – interessiert sie das alles nicht mehr so recht. Jetzt würde sie wohl etwas lesen mögen, was ihre reale, alltägliche Welt so schildert, dass sie sich darin wiederfindet und erfreuen kann! Würde sie den Werther lesen? Wohl nur in ganz wenigen Passagen. Hingegen trifft sie sich mit Werther in der Hochschätzung des Landpredigers von Wakefield, Oliver Goldsmiths nur halb-empfindsamen, halb aber satirischen europaweiten Bestseller über das bürgerliche Landleben und den Pastorenhaushalt. Sein Autor war ein Spieler mit einer etwas zweifelhaften Vergangenheit und einer etwas zu flinken Feder, aber er schrieb einen Bestseller, nach dessen Lektüre sich niemand umbringen wollte, sondern sich die meisten: wohl unterhalten und moralisch erhoben fühlten (jedoch ohne, wie Goethe absichtsvoll hervorhob, Frömmelei oder Pedanterei!).
Das jedoch ist der Werther nicht. Und er entspricht auch nur in ganz wenigen Passagen dem Ideal von Werthers Lektüre in seiner Frühzeit, nämlich: der Bibel und Homer. Patriarchalische Idyllen, das zieht den Titelhelden an; das Heimliche, Anzügliche, Schauerliche von menschlichen Urszenen, zwischen Brunnen, Hütten und Flüssen. Man wird aber zwischendurch den Verdacht nicht los, dass sich hier gelegentlich schon eine Ironie ein-schleicht. Denn wenn Werther, ganz im patriarchalischen Pathos, schildert, wie er sich an einem schönen Tag in Wahlheim mit selbstgepulten Erbsen an den Herd setzt und seinen Homer liest und sich dabei fühlt, jetzt kommt der Vergleich: wie die Freier der Penelope, wenn sie ihre Ochsen und Schweine schlachten – dann macht die sorgfältigere Leserin, die schon immer ein Herz für Penelope und ihre List hatte, einen ziemlich Hopser vor Verwunderung: Werther vergleicht sich mit diesen unflätigen, unerzogenen Jünglingen, die das Haus usurpiert haben und nun ihre Orgien feiern, während die Hausfrau webt und wieder auftrennt und webt und wieder auftrennt und wartet – wie bitte? Wahrscheinlich ist der Vergleich jedoch einfach so gemeint, dass Werther sich schon an kleinen Genüssen freuen kann, im Unterschied zu den Unflätlingen mit ihren Ochsen. Aber trotzdem stehen jetzt die Freier der Penelope in einer Szene, wo der Bräutigam nicht zu Hause ist und der Freier die Küche okkupiert hat. Das kann und soll einem dann vielleicht doch ein wenig seltsam aufstoßen, auch wenn die Zuckererbsen daneben zu einer ziemlich süßen Identifikation einladen!
Später, als die Dinge ihre Wendung zum Schlimmen genommen haben, weil Odysseus/Albert wieder zuhause ist, liest Werther nur noch Ossian. Das ist ziemlich komisch, weil es sich dabei nun eben nicht um ursprüngliche Originaltexte aus einer wilden Vergangenheit handelt, sondern um einen geschickt altertümelnden zeitgenössischen Fake, aber das nur nebenbei. Es ist darüber hinaus für den heutigen Leser etwas anstrengend, denn man versteht das ganze Getue um Ossian wirklich nicht mehr so recht: Dier Heldengeschichten sind unübersichtlich, die Figuren sind tot und bleiben auch Schemen, alles ist düster und wild und rettungslos – und nimmt kein Ende. Bis heute hege ich den kleinen Verdacht, dass Goethe diese längliche Text-Passage (seine eigene Ossian-Übersetzung) nur deshalb eingefügt hat, um die Leserinnen – ein wenig zu quälen und zu langweilen. Denn die Identifikation, die uns so nahegelegt wird, ist gar nicht so naheliegend; es sind keine empfindsamen Helden, keine empfindsamen Situationen, es ist einfach nur – längliche Totenklage aus einer vergessenen Kultur, vielleicht von einem gewissen kulturhistorischen Interesse (oder vielleicht noch erträglich als eine Frühform von Fantasy-Literatur?). Dass aber auch Lotte dabei dahinschmilzt – nun, das muss schon eher auf das Konto des Lesenden gehen als auf den Text selbst; nie würde sie die Augen zum Himmel heben und „Ossian“ murmeln, das kann man wohl mit Sicherheit sagen. Sie sieht den Mann, den sie doch heimlich sehr liebt, aufs schlimmste leiden; die Vorlesung ist ein reines displacement, und mit jeder Minute wird die Sinnlosigkeit des Unterfangens deutlicher. Aber man kann sich nicht sicher sein: „Sie fühlten ihr eigenes Elend in dem Schicksale der Edlen, fühlten es zusammen“, so heißt es im Text, und darüber kann man auch nicht einfach hinweglesen. Aber die Geduld der Leserinnern wird trotzdem auf eine arge Probe gestellt….
Am Ende jedoch liegt Emilia Galotti aufgeschlagen auf dem Tisch, wenn der tödliche Schuss die Mitternacht durchreißt. Das war ein Stück Faktum, nicht Fiktion, denn der Text lag tatsächlich dabei bei Jerusalem; und da hat er wohl auch mehr Sinn gemacht als hier. Hier aber – ist er ein weiterer Lektürewiderstand. Denn Werther wurde uns bisher nicht direkt als Lessing-Leser präsentiert. Warum sollte er nun gerade Emilia Galotti lesen, in seinen letzten Minuten? Nein, es war wohl als Hinweis gemeint, als eine Art Abschiedsbrief; aber was will er uns dann sagen? Meine persönliche Lieblingsdeutung ist – aber nein, wir versuchen uns jetzt erst einmal an einem schönen hermeneutischen Verfahren, es heißt „vierfacher Schriftsinn“ und kommt aus der Bibel-Auslegung. (1) Wörtlich also: Das empfindsame Trauerspiel lag einfach da, es war ein Prop in der sorgfältig inszenierten Kulisse des Schlusses. (2) Moralisch: Es verweist auf die ähnlich gelagerten Konflikte zwischen Bürgertum und höfischer Welt im Werther und im Trauerspiel, die im wesentlichen Wertekonflikte sind. Es verweist ebenso auf die moralische Problematik eines (selbst, wenn auch mit geliehenen Pistolen) oder assistiert durchgeführten Selbstmord (der in beiden Fällen von den Protagonisten mit geradezu übermenschlicher Sophistik begründet wird). (3) Symbolisch: Bücher beziehen sich immer auf andere Bücher (wie das Neue auf das Alte Testament); und sie bauen eine eigene Bildebene über die Handlungs-ebene (hier geprägt von Elementarmetaphorik, Idyllenmetaphorik, allein schon das Wasser wäre eine eigene Abhandlung wert). (4) Anagogisch, im Blick auf die Zukunft, das Ende der Dinge, aber für unsere Zwecke vielleicht besser nun die synthetisierende Frage: Was ist das Ziel und der Zweck dieser Parallelen, wenn man etwas tiefer schaut als auf die oberflächlichen Beziehungen in Handlung und moralischer Problematik?
Nun: Beide Texte demonstrieren die sinnliche Verführbarkeit des Menschen, die tiefer geht als alles Reden von der Verehrung des Tugendhaften, Reinen, Schönen, Heiligen, was die eigentliche Liebe sei. „Ich habe Blut, mein Vater; so jugendliches, so warmes Blut, als eine. Auch meine Sinne, sind Sinne. Ich stehe für nichts“, das lässt Lessing seine Emilia sagen, die gemerkt hat – dass der Fürst, jung und schön, sie nicht vergewaltigen müsste, um sie zu erobern, nein: Sie würde ihm leidenschaftlicher um den Hals fallen als ihrem gesetzten Bräutigam Appiani! Ich bin jung, ich habe Blut, ich habe Sinne – das hat auch Werther in seinem Traum gemerkt und dann, spätestens, beim ersten Kuss, den er auch nicht er-zwingen musste; Lotte war ihm leidenschaftlich um den Hals gefallen. Liebe ist – Natur, Biologie am Werk. In diesem Moment braucht man keine Gefühlsschablone, der Körper tut das Seine. Davon aber – kann der Roman noch nicht sprechen (es besteht Grund zu der Annahme, dass davon nicht gut zu sprechen ist und der Unsagbarkeitstopos keine Verlegenheitslösung, sondern einfach die einzig angemessene Form; der Rest ist Pornographie).
Wie lesen wir den Werther nun jedoch, wenn wir ihn richtig lesen wollen, also: nicht nur identifikatorisch dahinschmelzend, und nicht nur oberflächlich moralisierend, und nicht nur literaturwissenschaftlich sezierend, und auch nicht nur ästhetisch goutierend? Nun, wir lesen ihn natürlich mehrfach, wie jeden Klassiker. Und zwar, da es parallel nicht geht, mehrmals nacheinander. Lesen und Wiederlesen und Wiederlesen und Wiederlesen. Vielleicht, wer weiß, erzieht sich das Gefühl dabei ja sogar, ganz von selbst?
Werthers Leiden. Ach ja, die alte Geschichte, von der leidenschaftlichen, aber aussichtlosen Liebe eines jungen Mannes zu einem hübschen jungen Mädchen auf dem Lande, sie war leider schon anderweitig vergeben. Am Ende hat er sich erschossen, und einige sollen ihm nachgefolgt sein, nachdem sie den Roman gelesen hatten; man nannte das „Werther-Fieber“ (Werther selbst war der Meinung, seine Krankheit sei eine zum Tode), und es ergriff ganz Europa. Der Autor hingegen, ein junger Mann aus der Stadt, der sich gern und leidenschaftlich in hübsche junge Mädchen auf dem Lande verliebte, die gelegentlich auch schon anderweitig vergeben waren, und der sich selbst dann aber nicht erschoss, sondern entschlossen weiterritt und Europa mit der Feder eroberte – war natürlich Johann Wolfgang von Goethe. Wissen wir alles, haben wir vielleicht selbst gelesen, als wir jung waren und hübsch und uns gern leidenschaftlich verliebten (wir haben überlebt, sonst würden wir das hier nicht lesen bzw. schreiben)!
Was aber wissen wir eigentlich von dem hübschen jungen Mädchen? Was wissen wir von Lotte? Komischerweise wissen wir mehr von ihrem realen Vorbild (u.a. einer Dame namens Charlotte Buff), weil Thomas Mann einen ganzen dicken Roman darüber geschrieben hat (Lotte in Weimar), wie sie später, als gereifte Dame mit leicht zitternden Händen und wackelndem Kopf, nach Weimar kommt und den großen, genauso gealterten Dichter – dann doch nicht trifft. Aber Charlotte ist nicht Lotte; diejenige Lotte im Roman, die sich so rührend nach dem Tod der Mutter um ihre acht Geschwister kümmert und ihnen abends das Brot schneidet, ganz freihändig und unverletzt; und die gern tanzt, die ganze Ballnacht durch, und die gern liest, was man damals so liest, nämlich: Klopstock! Und die, es gehört zu den rührendsten Stellen des Romans, ihrem Ehemann auch noch nach der Heirat Zettelchen schreibt auf denen steht: „Komm, Liebster, ich erwarte dich mit tausend Freuden!“ Na gut, so redete man damals. Aber es ist diejenige Stelle im Roman, wo wir Lotte am deutlichsten sehen.
Und viel mehr wissen wir darüber hinaus auch nicht. Es gibt im Roman ein paar versteckte Hinweise darauf, dass auch Lotte ziemlich verliebt ist in Werther, aber wer weiß, vielleicht ist das nur das Wunschdenken der jugendlichen Leser, die natürlich wollen, dass eine Liebesgeschichte gut ausgeht; dass es wirklich die ganz große Liebe war, von beiden Seiten, und nicht nur der Irrtum eines Wirrkopfes, der am Ende die Pistole des Nebenbuhlers ausleihen muss, um sich vor den Kopf zu schießen, und Lotte packt sie ihm noch ein!. Und wieder sind wir bei Werther gelandet, aber wir wollten doch über Lotte nach-denken! Was fühlt Lotte, was fühlt die Lotte des Romans für Werther? Da Thomas Mann das nicht für uns nachgefühlt und aufgeschrieben hat, müssen wir es halt selbst –
– aber nein, wir müssen gar nicht! Denn Goethe hat, etwas später, noch einmal die Feder angesetzt – er brauchte ein Manuskript für Schillers neue Zeitschrift, irgendwas! -, um eine kleine Wertheriade zu schreiben. Versteckt ist sie verwirrenderweise unter dem Titel Briefe aus der Schweiz. Erste Abteilung, aber das ist nur von Bedeutung insofern, als Werther hier – und zwar bevor er nach Wahlheim kommt und Lotte kennenlernt – eine Reise durch die Schweiz macht. Werther erzählt also in diesem Fragment ein paar Anekdoten von seiner Schweizerreise; und eine davon ist die Geschichte seiner früheren Liebe, Leonore. Und das ist eine ziemlich bemerkenswerte Geschichte; wir könnten sie jetzt zur Gänze zitieren, aber für uns Ungeduldige hier das Wesentliche im Zeitraffer:
Also, Werther ist in der Schweiz unterwegs, und er wird von einer Familie auf Empfehlung hin gastfreundlich empfangen, beköstigt, untergebracht und unterhalten, wie das damals so üblich war. Es handelt sich um einen begüterten Haushalt, und man lebt in einer Art Großfamilie in der wunderschönen Schweizerischen Landschaft ein fröhliches Landleben, befreit vom steifen Zwang der Städte. Deshalb müssen auch die anwesenden jungen Leute abends nicht sich mit den Alten am Spieltisch langweilen, sondern man macht, alle zusammen, eine Art Partyspiel (und ja, das war nicht unüblich, gerade Pfänderspiele waren äußerst beliebt, es durfte dann geküsst werden). Der junge Werther hat sich schon ein wenig verguckt in eine der Töchter des Hauses, Leonore mit Namen; sie ist etwas kränklich, aber es ist eine „heilbare Krankheit“, und sie strahlt, man lese das genau: „eine unglaublich angenehme Gegenwart“ aus. Werther ist aufgedreht, weil alles so nett und hübsch ist, das Wetter, das Haus, die Familie, die Landschaft; und er reißt alle mit seiner Fröhlichkeit mit, und speziell Leonore findet immer wieder einen Vorwand, an seine Seite zu kommen; es geht also durchaus eine Initiative von ihr aus!
Und dann spielt man das Heiratsspiel. Das geht so: Frauen und Männer schreiben ihren Namen in einen Zettel und werfen diese in geschlechtergetrennte Hüte; und dann wirft man, um es lustiger zu machen, noch Zettel mit den Namen von celebrities dazu. Und daraus werden nun Ehepaare gezogen; und dann muss die Gesellschaft auf jedes Ehepaar, das gezogen wird, ein Hochzeitsgedicht machen. Natürlich erweisen sich nicht alle als gleich willig und begabt, aber man hat ziemlich viel Spaß, und vor allem Eleonore brilliert mit ihren Versen. Dann kommt endlich auch Werther an die Reihe, sein Ehegespons wird gezogen, und es ist niemand anders als – die russische Kaiserin! (man kann sie gern auch durch Lady Gaga ersetzen, egal). Das findet Eleonore so komisch, dass sie fordert, darauf müsse nun jeder aus der ganzen Gesellschaft ein Gedicht machen, unbedingt; und sie greift selbst sogleich zur Feder, und auch die anderen „zerkauen“ ihre Feder im Dienste der guten Sache.
Als alle fertig sind, bestimmt Eleonore, dass ihr Gedicht als letztes an die Reihe kommt; alle tragen also ihre mehr oder weniger gelungenen Lobgesänge auf das Beilager von Werther mit der russischen Zarin vor, und dann kommt Eleonore. Und obwohl sie es doch darauf angelegt hatte, ist sie jetzt so verschüchtert, dass sie nicht mehr lesen kann, sondern nur noch „lispeln“ (der alte Vater beschwert sich, er habe kein Wort verstanden); aber Werther versteht, Wort für Wort, und er ist zutiefst erschüttert: „Ich war erstaunt, erschrocken; so bricht die Knospe der Liebe in ihrer größten Schönheit und Bescheidenheit auf! Es war mir, als wenn ein ganzer Frühling auf einmal seine Blüten auf mich herunterschüttelte“. Leonore hat Werther, nur ein wenig verkleidet, eine Liebeserklärung gemacht; sie hat ihm eine öffentliche, wenn auch nur: dahingelispelte Liebeserklärung gemacht. Verlegenheit allenthalben, jemand macht einen Scherz, dann gibt es Abendessen. Aber Leonore hat Werther eine Liebeserklärung gemacht.
Das Fragment nimmt dann eine andere Wendung, und darauf kommt es auch nicht an. Und wie gern hätte man Eleonores Gedicht gelesen, ihren Lobpreis auf Werther als würdigen Gattin einer großen Kaiserin! Aber es wird nicht mitgeteilt, das ist auch nicht nötig und taktisch nicht unklug. Denn man empfindet entweder in diesen kurzen Zeilen den Schauer, der auch Werther überströmt, als er sich so umworben sieht, oder man empfindet ihn nicht. Und es macht gar keinen Unterschied in dieser so fröhlichen und freien Geselligkeit, ob es der Mann oder die Frau ist, der seine Liebe erklärt; zwar ist es „nur“ ein Spiel, aber beginnt nicht jede Liebe als ein solches Spiel? Und auch Werther, der diese Episode im Brief an seinen Freund mit den Worten eingeleitet hatte, er habe ein „liebes Abenteuer“ zu erzählen, nimmt diese Worte im nächsten Satz zurück: Denn es sei ja gar kein albernes Abenteuer, nein: „es ist nichts Abenteuerliches in einem sanften Zuge, der Menschen zu Menschen hinzieht“, und nur unsere komischen, albernen bürgerlichen Konventionen zwingen uns, das natürlichste Gefühl der Welt in das Gewand eines albernen Spieles zu kleiden. Oder das eines albernen Romans. „Die Leiden der jungen Eleonore“ wären zwar wahrscheinlich nicht zum Welt-Beststeller geworden. Wir hätten sie trotzdem gern gelesen.
Man darf auf keinen Fall den Fehler machen, den Film zuerst zu schauen (das gilt prinzipiell für Buchverfilmungen, aber vor allem, wenn es sich um „Klassiker“ handelt). Der Film hat seine Vorzüge – nicht der Geringste von ihnen ist Lili Palmer als Lotte, mit unvergesslichem Halszucken, wir werden darauf zurückkommen –, und er hat sei-ne Momente – wie die geradezu ins Tierische Lachorgie der Subalternen im Haus des Titans, die sich gar nicht genug ausschütten können über die – eigentlich sehr ernsten, aber nur Lotte merkt das – Scherze des Hausherrn. Aber allzu leicht-fertig bedient die Verfilmung von Egon Günther (DEFA, 1975) das Klischee vom kühlen, menschenfeindlichen Tyrannen, der für sein Werk über Leichen geht, kein Herz hat (schon gar nicht für die armen, biertrinkenden Massen) und dessen Werk so marmorkalt und abweisend ist wie die Monumentalskulpturen in seinem fremdartigen Meisterhaus sind. Nein, ich bin mir ziemlich sicher: So hat es Thomas Mann nicht gemeint, als er seinen Roman Lotte in Weimar schrieb, mitten in düsteren Zeiten, im Exil und mit seinem großen Geistesbruder im Geist und im Herzen. Denn Thomas Mann schreibt immer ironisch (genau wie Goethe); und wenn man meint, ein Text sei von ihm einseitig und nehme Partei für irgendetwas, so sehr würdig und ehrenwert es auch sein mag (die armen, biertrinkenden Massen) – dann hat man etwas Wichtiges verpasst. Und deshalb ist Goethe in seinem Weimar-Roman durchaus ein eitles und kaltblütiges Monster; und er ist daneben, mit dem gleichen Recht und der gleichen Würde: ein schwacher und warmherziger Mensch, mit Gemüt und Seele und Opfermut (wir werden auch darauf zurückkommen).
Im Zentrum des Weimar-Romans, der (ebenso Thomas-Mann-typisch) mit einer Unzahl an wörtlichen Goethe-Zitaten und anderen intertextuellen Spielereien gespickt ist, steht aber endlich einmal: Lotte. In Goethes Werther-Roman sehen wir sie meist als idealisierte Projektionsfigur des Helden und in zu Bildchen geronnenen Szenen: Wie sie das Brot für die Geschwisterlein schneidet; wie sie ausgelassen mit ihrer blassrosa Schleife an der jugendlichen Brust auf dem Ball tanzt; wie sie danach am Fenster steht, sich nach dem Gewitter Luft zufächelt und „Klopstock“ lispelt (was Werthers Herz endgültig in Kerkerhaft nimmt); wie sie Kranke pflegt, bei Gesprächen der Männer sittsam schweigt, dann und wann in die Klaviertasten greift, um den aufgewühlten Werther zu beruhigen, und dann wieder mit ihrem Vögelchen schnäbelt, was den armen Werther um den Rest seiner Sinne bringt. Nein, als Figur ist Lotte relativ nebensächlich in dem Roman, der ja auch nicht Lottes Leiden, sondern Werthers Leiden heißt; sie ist einfach ein, wie es in Dichtung und Wahrheit später heißen wird, „höchst wünschenswertes Frauenzimmer“. Dass sie dann, nur etwas fahrlässig, in ein tödlich endendes Dreiecksverhältnis läuft und der Gegenstand einer pathologischen Leidenschaft wird – führt aber natürlich dazu, dass sie auch leidet, und zwar nicht unerheblich; der Herausgeber berichtet am Ende lakonisch: „Man fürchtete um Lottes Leben“.
In der Realität jedoch bringt sich Goethe in seiner Werther-Persona nicht um, sondern schreibt einen Roman, der eine befreiende „Generalbeichte“ ist; danach befreit auf zu neuen Großtaten und neuen Frauen! In der Realität bringt Charlotte Buff ihrem würdigen Albert zwölf Kinder zu Welt und zieht sie groß. Mit dem Dritten bleibt man in etwas unverbindlichem Briefkontakt, Goethe übernimmt die Patenschaft für den ältesten Sohn (der er niemals sehen wird), und erst spät, bei einem Verwandtenbesuch 1816 in Weimar, kommt es noch einmal zu einem Treffen: Lotte in Weimar. Und Thomas Manns Roman imaginiert kongenial, wie es dabei – über die überlieferten, etwas kärglichen äußeren Fakten hinaus – in den Köpfen der Beteiligten zugegangen sein könnte: und zwar nicht nur in denjenigen Goethes und Lottens, sondern auch in denen der um das Zentralgestirn Goethe in Weimar kreisenden kleineren Sterne, angefangen mit einer reisenden englischen Malerin, dicht gefolgt von seinem Faktotum Riemer, ihm auf den Fersen Adele Schopenhauer, die beste Freundin der von August von Goethe eher halbherzig umworbenen Ottilie von Pogwisch. Am Ende der nicht abreißenwollenden Besucherkette stellt sich schließlich der Sohn selbst ein, der arme August, der wenig später in der Ferne in Italien sterben wird, wo sein Vater vor ihm eine seiner vielen Wiedergeburten erlebte (seine leibliche Mutter, Christiane Goethe, war kurz zuvor in Weimar verstorben). Das Glanz- und Schaustück des Romans ist allerdings dasjenige Kapitel, in dem der Titan selbst erwacht (samt einer Morgenerektion) und sein Leben im Monolog an sich vorbeiziehen lässt; ungeschminkt, selbstverliebt und dazwischen – herzrührend verletzlich. Oder ist es doch das Schlusskapitel, in dem sich die beiden Hauptfiguren nachts, sozusagen inkognito, in Goethes Kutsche aussprechen? Wir werden darauf zurückkommen!
Aber der Roman heißt nicht Goethe in Weimar, sondern Lotte in Weimar, und tatsächlich ist Lotte in diesem Roman eine würdige Gegenspielerin: Sie allein ergreift Partei für die Goethe-Opfer. Und sie ist die Einzige, die dem Titan nicht nur widerspricht, des nachts in der Kutsche; nein, sie stellt sogar sein Leben – und damit sein davon untrennbares Werk – in Frage: Hat es nicht einfach zu viele Menschenopfer gefordert, von denen sie und ihr Verlobter nur die Ersten (und bis anhin: Berühmtesten) waren? Das ist tatsächlich die Grundfrage des Romans, und wir werden zu ihr kommen. Aber bleiben wir einen Moment bei der Frage stehen, warum Lotte als Einzige zu dieser Frage fähig ist? Sie ist es, kann man summierend sagen – und das wäre an den einzelnen Gesprächen mit den einzelnen Figuren zu zeigen -, weil sie genauso wandlungsfähig geblieben ist wie der große Goethe; aber auf eine ganz andere, lasst uns ruhig sagen: weibliche Art und Weise. Denn sie beharrt zunächst, energisch und bei jeder Gelegenheit, auf ihrer Lebensleistung ganz im Realen: Sie hat zwölf Kinder geboren und großgezogen, sie war ihrem Mann (der schon längst gestorben ist) eine gute Ehefrau, sie hat sich bewährt als „wünschenswertestes Frauenzimmer“! Aber sie kann auch zuhören; sie kann jedem Einzelnen der so verschiedenen Gesprächspartner so zuhören, dass diese immer weitersprechen, ganz aus sich herausgehen – und sich am Ende ebenso getröstet wie verstanden spüren. Was das für ein Fähigkeit ist? Die einer Mutter natürlich. Lotte war, von ihrem ersten Auftritt in Werthers Leiden an, eine Mutterfigur mindestens ebenso wie eine ideale Geliebte. Und sie war es schon, bevor sie eigene Kinder hatte; sie war es von Natur aus. Sie konnte sich einlassen auf ganz verschiedene Charaktere – wie sie schon in Kindern deutlich sichtbar sind; und sie konnte zu jedem gerecht sein. Und sie konnte Albert lieben, den archetypischen, biederen „Bräutigam“; und natürlich hat sie Werther auch geliebt, keine Frage. Es ist aber kein Entweder-Oder; genauso, wie man mehrere Kinder lieben kann, kann man mehrere Männer lieben, sogar zur gleichen Zeit (frau jedenfalls kann das); manchmal ist das sogar gerecht.
Lotte ist also von Anfang an, als Figur, nicht nur Werthers würdig (das war nicht besonders schwierig); sie ist – jedenfalls: in der Version von Thomas Mann – als Charlotte Buff Goethes würdig. Das zeigt sich gerade in ihrer Verletzlichkeit. Denn Lotte wackelt mit dem Kopf, wenn sie nervös und unsicher wird; sie hat eine liebenswerte kleine Alters-schwäche, vielleicht einen beginnenden Parkinson, wer weiß? Aber sie weiß ihre Schwäche gut zu vertuschen; durch Kleidung, durch Integration in andere Bewegungsabläufe oder dadurch, dass sie sich selbst bei der Hand nimmt. Warum wackelt Lotte mit dem Kopf? Weil sie, bei all ihrer weiblichen Gesundheit und erwiesenen Realitätstauglichkeit, einen kleinen Anflug von Krankheit in sich trägt; etwas, das stört, aus der Reihe fällt, unterscheidet. Genau das aber ist, für Thomas Mann jedenfalls, ein Signum von: Auserwähltheit. Nicht-Bürgerlichkeit. Künstlertum und Geistesadel. Es kommt nun nicht da-rauf an, möglichst krank zu sein, genauso wenig, wie es gut wäre, möglichst gesund zu sein. Ironie heißt: Es geht darum, zu beidem fähig zu sein! Und so ist Lotte eine Art Künstlerin des Alltäglichen, des Weiblichen, des auf seine Art Schöpferischen; sie ist in einem Wort, wir sagten es schon: eine Mutter. Faust geht zu den Müttern, als wirklich alle anderen Mittel erschöpft sind; am Ende erlöst ihn die Mater dolorosa von seiner ewigen Streberei. Werthers Leiden enden damit, dass Werther darauf hofft, im anderen Leben vor Lottes Mutter sein Herz ausschütten zu können und dort – man nimmt an: nicht Verständnis, sondern auch Vergebung zu finden? Die Mütter, sie sind das große öffentliche Geheimnis in Goethes Werk; und sie sind das notwendige Äquivalent zum übermächtigen Vater-(Dichter-)Gott.
Eine Mutter aber bringt Opfer; genauso wie der Dichter Opfer bringt. Und damit kommen wir auf die Schlussabrechnung in Thomas Manns Roman zurück und auf die Frage, ob das Werk das Menschenopfer rechtfertigt. Lottes Vorwurf lautet, im Wesentlichen: Größe entsteht durch Opfer; seien es die Frauen in Goethes Leben (nicht nur sie, sondern auch ihre Vorgängerin Friederike Brion, der ebenso schnöde Verlassenen, deren sie immer wieder gedenkt), seien es die Männer (sein versklavter Sohn, seine instrumentalisierten Hausgenossen). Sie alle würden von der Größe des Genius angezogen wie die Mücke vom Licht; und dann würden sie natürlich verbrennen. Ist die Größe das wert? Der Genius nun weicht zwar aus ins Gnomisch-Allgemeine und Geheimnisvolle, nimmt dann jedoch dankbar das zunächst banal klingende Gleichnis auf. Es liege ihm auch am Herzen (was die vielen Flammentode in seinem Werk redlich bezeugen), doch, in der Bildlogik gesprochen und weitergedacht: Wenn er die Flamme sei, dann würde sich diese doch selbst verzehren, würde ihren Leib dafür geben, dass ein Licht leuchte! Ohne Opfer, ohne: das Selbstopfer des Dichters gibt es kein Licht in der Literatur, vielleicht sogar: in der Welt? Wäre in ihm selbst, im realen jungen Goethe also, nicht ein Werther gestorben, hätte er sich selbst nicht in dieser vom eigenen Herzblut zehrenden Flamme seinem Werk zum Opfer gebracht – würden all die, die jetzt ihn (und ja auch die unsterblich gemachte Lotte in Weimar) umkreisend verehren, gar nichts zu verehren haben: „Einst verbrannte ich dir und verbrenne dir allezeit zu Geist und Licht“. Das alles ist jedoch nötig im großen Gang des Ganzen, ist Wandlung, Metamorphose, Tod und Wiedergeburt in einem; und so, wie die Mutter in ihren Kindern fortlebt, lebt der Dichter in seinem Werk und verwandelt sich mit jedem neuen Leser. Das Werk jedoch wird umso mehr leuchten, desto stärker der Lebensstoff war, von dem es zehrt: „Leidenschaft schafft Leiden“, und ohne Leidenschaft – bleibt das Werk ein blasses Flämmlein.
Das nun ist höhere Schöpfungs-Metaphysik, und als solche kann man es glauben oder nicht. Man kann es gern auch ironisch lesen; oder man kann Lotte den Preis geben, die die Schwäche des Genius mutig und argumentativ überzeugend auf den Punkt gebracht hat. Es ist das bleibende Verdienst von Thomas Mann, Lotte in diesem Roman eine überzeugende und bleibende Stimme gegeben zu haben; und das ist etwas, wozu Goethe, all der gelegentlich starken Frauengestalten in seinem Werk zum Trotz, vielleicht dann doch nicht fähig gewesen wäre (es sei denn, er hätte jemals einen Roman über Charlotte von Stein geschrieben, die ihm anscheinend weitestgehend gewachsen war; vielleicht eine Aufgabe für eine – Autorin?).