Soeben erschienen im Verlag "der blaue reiter":
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Zur Orientierung im Archiv siehe: Landkarte
Minutiae: kleine, scheinbar unwichtige Details des täglichen Lebens
oder auch:
Als Minutiae werden Endungen und Verzweigungen der Papillarlinien eines Fingerabdrucks bezeichnet. Diese charakteristischen Punkte der Hautrillen sind für jeden Menschen und Finger einmalig und nicht veränderbar.
oder:
I think I can see the precise and distinguishing marks of national characters more in these nonsensical minutiae, than in the most important matters of state; where great men of all nations talk and talk so much alike, that I would not give ninepence to choose amongst them.
Laurence Sterne, The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman
Mission Statement Minutiae
Begleitstimmen und DenkpatInnen
Ich glaube es würde angenehm und nicht unnütz sein, wenn man Geschichten von der Art, wie sie bisher erzählt worden und deren uns manche im Leben vorkommen, aufsetzte und sammelte. Leise Züge, die den Menschen bezeichnen, ohne daß gerade merkwürdige Begebenheiten daraus entspringen, sind recht gut des Aufbehaltens werth. Der Romanschreiber kann sie nicht brauchen, denn sie haben zu wenig Bedeutendes, der Anekdotensammler auch nicht, denn sie haben nichts Witziges und regen den Geist nicht auf; nur derjenige, der, im ruhigen Anschauen, die Menschheit gerne faßt, wird dergleichen Züge willkommen aufnehmen.
Meine Herrin«, fuhr sie fort, »ist von der Wichtigkeit des augenblicklichen Gesprächs höchlich überzeugt; dabei gehe vorüber, sagt sie, was kein Buch enthält, und doch wieder das Beste, was Bücher jemals enthalten haben. Deshalb machte sie mir's zur Pflicht, einzelne gute Gedanken aufzubewahren, die aus einem geistreichen Gespräch, wie Samenkörner aus einer vielästigen Pflanze, hervorspringen.
Ein Eklektiker aber ist ein jeder, der aus dem, was ihn umgibt, aus dem, was sich um ihn ereignet, sich dasjenige aneignet, was seiner Natur gemäß ist.
Da man in der letzten Zeit mit niemand mehr reden mag, so lasse ich einstweilen drucken, wer’s liest, nehme es auf, lehne es ab, darüber bleibe ich ganz ruhig. Wenn ich nichts zu sagen hätte, als was den Leuten gefiele, so schwiege ich gewiß ganz und gar stille. Wenn meine Freunde mich nur immer wieder erkennen!
Goethe, Brief an Schultz, Juni 1818
Außerdem will ich euch sagen, daß die Vorsehung mich, der ich ganz in die Natur eingebunden bin, im voraus dazu bestimmt hat, diese Betrachtungen zu schreiben, so wie sie fünf oder sechs Leser vorausbestimmt hat, Nutzen daraus zu ziehen, fünf, sechs andere, sie zu verschmähen und sie im übrigen der ungeheuren Masse unnützer Schriften zu überlassen.
Voltaire, Der unwissende Philosoph
Man muss schreiben, wie mal lebt, erst um sein selbst willen, und dann existiert man auch für verwandte Wesen.
Goethe, Italienische Reise
He thought that good literature was common enough, that there is scarce a dialogue in the street which does not achieve it. He also thought that the aesthetic art can not be carried out without some element of astonishment, and that to be astonished by rote is difficult.
Jorge Luis Borge, An Examination of the Work of Herbert Quaint
Wie möchten wir denn vergangene Zustände uns selbst wieder hervorrufen und der Welt getrost mitteilen, wenn wir nicht Glauben und Überzeugung hätten, es werden sich begabte Geister finden, die das alles aufnehmen, wie es gegeben ist, in welchen gleiche Gesinnungen auf- und absteigen, gleiche Erfahrungen zu denselben Resultaten führen.
Goethe, Brief an Rochlitz, 6. April 1830
Ich weiß recht gut zu unterscheiden, was sich sehe, denke und sage: das Sehen ist ein Zusammenfaßen unendlicher Mannigfalgkeit, das Denken ein Versuch des Zerlegens; in wiefern das Sagen aber mit Sehen und Denken zusammentrifft, das hängt vom Glück ab
Goethe, Zum Triumphzug des Mantegna
Man hat sehen zu lernen, man hat denken zu lernen, man hat sprechen und schreiben zu lernen.
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung
First Thoughts are the everyday thoughts. Everyone has those. Second Thoughts are the thoughts you think about the way you think. People who enjoy thinking are having those. Third Thoughts are thoughts that watch the world and think all by themselves. They're rare and often troublesome.
Terry Pratchett, A Hat Full of Skies
Her original power was nothing more than was due to earnestness and intellectual clearness within a certain range. With small imaginative and suggestive powers, and therefore nothing approaching to genius, she could see clearly what she did see, and give a clear expression to what she had to say. In short, she could popularize while she could neither discover nor invent.
Harriet Martineau, An Autobiographic Memoir
Das kann aber einem denkenden Menschen nie begegnen, so lange es noch Dinge überhaupt für ihn auf der Welt gibt; denn an jeden Gegenstand, sei er auch noch so scheinbar geringfügig, lassen sich interessante Gedanken anknüpfen, und das ist eben das Talent der Dichter, welche ebensowenig wie wir in Arkadien leben, aber das Arkadische oder überhaupt interessante an dem Gemeinsten, das uns umgibt, heraus finden können. Wenn wir weiter nichts zu tun wissen, so treten wir ans Fenster, und machen Glossen über die Vorbeigehenden, aber gutmütige, denn wir vergessen nicht, daß wenn wir auf der Straße gehen, die Rollen getauscht sind.
Heinrich Kleist, Briefe
Mir scheint es eine Menschenpflicht, hingeworfene Gedanken aufzunehmen, fortzusetzen, zu prüfen. Die Fragen eines Gestorbenen müssen nicht mit ihm gestorben sein; dazu ist Schrift und Buchdruckerei, dazu sind wir da.
Johann Gottfried Herder, Zerstreute Blätter
If you write, write from the heart, yet carefully, objectively. Never pose. Write little things which you think are true. Then you may sometimes find that they are beautiful as well.
Iris Murdoch, The Black Prince
Weil Schriften, deren Wert nur in den Resultaten liegt, die sie für den Verstand enthalten, auch wenn sie hierin noch so vorzüglich wären, in demselben Maße entbehrlich werden, als der Verstand entweder gegen diese Resultate gleichgültiger wird, oder auf einem leichtern Weg dazu gelangen kann: da hingegen Schriften, die einen, von ihrem logischen Gehalt unabhängigen Effekt machen, und in denen sich ein Individuum lebend ausdrückt, nie entbehrlich werden, und ein unvertilgbares Lebensprinzip in sich enthalten, eben weil jedes Individuum einzig und mithin auch unersetzlich ist.
Schiller, Brief an Fichte, 4. August 1795
Daß man wertvolle eigene Meditationen möglichst bald niederschreiben soll, versteht sich von selbst: vergessen wir doch bisweilen was wir erlebt, wie viel mehr was wir gedacht haben. Gedanken aber kommen nicht, wann wir, sondern wann sie wollen. Hingegen, was wir von Außen fertig empfangen, das bloß Erlernte, was sich auch jedenfalls in Büchern wiederauffinden läßt, ist es besser nicht aufzuschreiben.
Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipmena
Wir haben das unabweisliche, täglich zu erneuernde, grundernstliche Bestreben, das Wort mit dem Empfundenen, Geschauten, Gedachten, Erfahrenen, Imaginierten, Vernünftigen möglichst unmittelbar zusammentreffend zu erfassen.
Folgende Blätter streu ich ins Publikum mit der Hoffnung, daß sie die Menschen finden werden, denen sie Freude machen können. Sie enthalten Bemerkungen und Grillen des Augenblicks ... Sei's also nur denen, die einen Sprung über die Gräben, wodurch Kunst von Kunst gesondert wird, als Salto mortale nicht fürchten, und solchen, die mit freundlichem Herzen aufnehmen, was man ihnen in harmloser Zutraulichkeit hinreicht.
Goethe, An den Leser
Die Fragmente eines ganzen Lebens nehmen sich freilich wunderlich und inkohärent genug nebeneinander aus; deswegen die Rezensenten in einer gar eigenen Verlegenheit sind, wenn sie mit gutem oder bösem Willen das Zusammengedruckte als ein Zusammengehöriges betrachten wollen. Der freundschaftliche Sinn weiß diese Bruchstücke am besten zu beleben.
An Carl Friedrich Zelter, 22. Juni 1808
Perhaps in future generations a law would be passed allowing consenting adults to practice art openly; an Intellect Relations Board might be set up to encourage tolerance towards people who, through no fault of their own, were interested in ideas. Meanwhile, it was just as well to keep quiet and play the fool.
Edward St. Aubyn, Lost for Words
Aber Selbsterforschung ist meist schon der erste Schritt zur Wandlung, und ich erfuhr, daß niemand ganz der bleibt, der er war, indem er sich erkennt.
Thomas Mann, On Myself
Aber der Mensch ist nur geschaffen, um täglich ein wenig an Nahrung, Farben, Tönen, Empfindungen, Ideen zu kosten. Was über das Maß hinausgeht, ermüdet oder berauscht ihn; es ist der Stumpfsinn des Trunkenbolds, es ist die Narrheit des Estatikers.
Gustave Flaubert, Über Feld und Strand
Sich genügen lassen. - Die erlangte Reife des Verstandes bekundet sich darin, dass man dorthin, wo seltene Blumen unter den spitzigsten Dornenhecken der Erkenntnis stehen, nicht mehr geht und sich an Garten, Wald, Wiese und Ackerfeld genügen lässt, in Anbetracht, wie das Leben für das Seltene und Außergewöhnliche zu kurz ist.
Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches
Let us record the atoms as they fall upon the mind in the order in which they fall, let us trace the pattern, however disconnected and incoherent in appearance, which each sight or incident scores upon theconsciousness. Let us not take it for granted that life exists more fully in what is commonly thought big than in what is commonly thought small.
Viriginia Woolf, Modern Fiction
Whether it’s a symphony or a coal mine, all work is an act of creating and comes from the same source: from an inviolate capacity to see through one’s own eyes – which means: the capacity to perform a rational identification – which means: the capacity to see, to connect und to make what had not been seen, connected and made before.
Ayn Rand, Atlas Shrugged
Selbst wenn wir wissen, daß ein nie zustande kommendes Werk schlecht sein wird, ein nie begonnenes ist noch schlechter! Ein zustande gekommenes Werk ist zumindest entstanden. Kein Meisterwerk vielleicht, aber es existiert, wenn auch kümmerlich wie die Pflanze im einzigen Blumentopf meiner gebrechlichen Nachbarin. Diese Pflanze ist ihre Freude, und hin und wieder auch die meinige. Was ich schreibe und als schlecht erkenne, kann dennoch die eine oder andere verwundete, traurige Seele für Augenblicke noch Schlechteres vergessen lassen. Ob es mir nun genügt oder nicht, es nützt auf irgendeine Art, und so ist das ganze Leben.
Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares
Der Parnaß ist ein Mont Serrat, der viele Ansiedlungen, in mancherlei Etagen erlaubt; ein jeder gehe hin, versuche sich und er wird eine Stätte finden, es sei auf Gipfeln oder auf Winkeln.
Goethe, Antik und Modern
Die Sachen anzusehen so gut wir können, sie in unser Gedächtnis schreiben, aufmerksam zu seyn und keinen Tag, ohne etwas zu sammeln, vorbeygehen lassen. Dann, jenen Wissenschaften obliegen, die dem Geist eine gewisse Richte geben, Dinge zu vergleichen, jedes an seinen Platz zu stellen, jedes Wert zu bestimmen.
Goethe, Brief vom 24.8.1770
Ich wollte die Philosophie in einer Weise behandeln, die ganz und gar nicht philosophisch sein sollte; ich habe mich bemüht, sie in einen Zustand zu bringen, in dem sie für die Leute von Welt nicht zu trocken und für die Gelehrten nicht zu unernst ist. […] Es kann durchaus geschehen, daß ich auf der Suche nach einem Mittelweg, bei dem die Philosophie allein angemessen wäre, einen solchen gefunden habe, bei dem sie niemandem angemessen ist: Die Mittelwege lassen sich zu schwer einhalten.
Bernard le Bovier de Fontenelle, Philosophische Neuigkeiten für Leute von Welt und für Gelehrte
My ideal is the cocktail-party chat: getting across a profound idea in a brisk and amusing way to an interested friend by stripping it down to its essence (perhaps with a few swift pencil strokes on a napkin). The goal is to enlighten the newcomer while providing a novel twist that will please the expert. And never to bore.
Jim Holt, When Einstein walked with Gödel
Life isn't a support-system for art .It's the other way round.
Verzeihung meinen Verworrenheiten!
Goethe, Brief an Voigt, September 1917
„Ist man treu das Gegenwärtige festzuhalten,
so wird man erst Freude an der Überlieferung haben,
indem wir den besten Gedanken schon ausgesprochen,
das liebenswürdigste Gefühl schon ausgedrückt finden.
Hiedurch kommen wir zum Anschauen jener Übereinstimmung,
wozu der Mensch berufen ist,
wozu er sich oft wider seinen Willen finden muss,
da er sich gar zu gern einbildet, die Welt fange mit ihm von vorne an“.
Angela fuhr fort, dem Gaste weiter zu vertrauen,
dass dadurch ein bedeutendes Archiv entstanden sei,
woraus sie in schlaflosen Nächten manchmal ein Blatt Makarien vorlese;
bei welcher Gelegenheit denn wieder auf eine merkwürdige Weise
tausend Einzelnheiten hervorspringen, eben als wenn
eine Masse Quecksilber fällt und sich nach allen Seiten hin
in die vielfachsten unzähligen Kügelchen zerteilt.
Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre
Wir sind es gewohnt, das menschliche Leben als Geschichte zu betrachten. Wie eine Geschichte hat es einen Anfang und ein Ende. Dazwischen liegen Höhen und Tiefe, auf jeden Fall: Lebenswege, Reihenfolge, Handlung, Entwicklung. Man übersieht aber leicht, dass nicht alle Geschichten diesem Erzählmuster folgen. Es sind nur diejenigen Geschichten, an die uns die Literatur gewöhnt hat. Und natürlich vollzieht sich das menschliche Leben zwischen Geburt und Tod. Aber vielleicht ist das eine gar kein Anfang, und das andere kein Ende?
Wenn man das menschliche Leben nicht als solche eine Geschichte betrachtet, die am Schnürchen des Nacheinanders sich abspult und dementsprechend erzählt werden kann, braucht man ein anderes Denk- und Anschauungsmodell. Vielleicht ist es ja eine Erfahrungsansammlung, die am besten in einem Archiv präsentiert werden kann? In Archiven haben Schriftkulturen seit jeher ihre Erfahrungen, Erlebnisse, Erkenntnisse und deren Zeugnisse niedergelegt. Das Wort kommt von griech. arche, dem Ursprung von allem, aber auch: dem Ersten; später bezeichnete es auch die Herrschaft, die Regierung. Ein Archiv könnte sein: ein persönliches Lager des ursprünglich Erlebten. Auch die Herrschaft darüber?
Ein persönliches Archiv ist keine Bibliothek. Es hat dem Leben eher geschadet, es zu kunst- oder wissenschaftsförmig zu denken. In einer Bibliothek stehen geformte Schriften, seien es künstlerische oder wissenschaftliche, die buchförmig gemacht wurden. In Archiven liegen Zeugnisse und Dokumente aller Art. Sie sprechen direkt und jedes für sich, aber nicht immer in Worten und schon gar nicht in Begriffen. Die Archivarin präsentiert sie in einer gewissen Ordnung, aber ohne strenge Systematik. Den Zusammenhang muss jeder selbst finden.
Ein persönliches Archiv ist keine Homepage; also auch keine Website im umfassenden Sinn. Die äußere Form eines Archivs kann aber eine Homepage sein. Ein Archiv hat Portale. Es ist nicht offen, es verfließt nicht mit seiner Umwelt; aber es ist von vielen Seiten zugänglich. Die Portale sind eher als Toriis vorzustellen: Sie markieren symbolisch den Zugang zu einer anderen (nicht notwendig sakralen) Welt, die nicht streng durch Mauern und Zäune abgeschlossen ist, aber bestimmte Eintrittswege vorschlägt und eine Gestimmtheit als Zugangsvoraussetzung nahelegt.
Durch ein persönliches Archiv führen viele Wege. Querverbindungen sind beinahe unbegrenzt möglich; das Nacheinander der Geschichte zerfällt in das Nebeneinander der Zeugnisse, der Kausalzusammenhang der Geschichte wird zur Koinzidenz, zum Muster, zur Struktur. Ein Archiv organisiert sich selbst: im Archivar wie im Benutzer. Seitdem wir hyperlinks haben, brauchen wir dafür keine lästigen Kataloge mehr; die Brücken wachsen aus dem Nichts hervor, und sie führen ins Unbekannte. Wir tun uns aber alle noch schwer mit einem lateralen Lesen.
Im persönlichen Archiv steht nicht die Fiktion der Person als unverwechselbares Subjekt im Mittelpunkt. Es kann sein, dass jedes Element des Archivs „Ich“ sagen muss, weil es nur so radikal ehrlich sprechen kann; aber es geht nicht um dieses Ich. „Ich“ ist ein Beispiel, ein Ausschnitt, eine Perspektive. „Ich“ steht als Objekt neben anderen Objekten, Sachverhalten, Werken, Artefakten, Lebewesen. „Ich“ ist notwendig ein Teil der in diesem Archiv gespeicherten Welt, aber nicht ihr letzter Sinn oder ultimativer Zweck.
Im persönlichen Archiv ist alles gleich wichtig; es gibt keine Hierarchie der Dinge oder Ideen. Ein Archiv besteht aus Details, die zum Sprechen gebracht werden können. Je mehr einzelne Dinge es aufhebt, desto mehr Verbindungen kann man zwischen ihnen herstellen. Es zielt nicht auf Vollständigkeit, aber auf möglichste Vielheit und Unterschiedlichkeit der Zeugnisse.
Das persönliche Archiv bleibt dadurch immer dynamisch und unabgeschlossen. Es kann zwar exoterische und esoterische Teile haben. Aber die geheimen werden nicht verborgen und die öffentlichen nicht zur Schau gestellt. Die Einweihung geschieht durch die Benutzung; sie ist ein unvermeidlich hermeneutischer und damit kreisförmig ablaufender Prozess mit einem gewissen Steigerungspotential.
Ein persönliches Archiv ist ein dokumentarischer Lebensspeicher von mittlerer zeitlicher Reichweite und auf mittlerem Reflexionsniveau. Nicht jede braucht einen solchen dokumentarischen Lebensspeicher; nicht jeder interessiert sich für ein anderes Leben als das eigene; nicht alle wollen ihre Lebenserfahrung überhaupt reflektieren, ein bekanntlich melancholieträchtiges Unterfangen. Es gibt genug andere Ausdrucks- und Überlieferungsformen.
Wenn man die Menschheit als Archiv denkt, ist das ein Angebot zur Verständigung auf Sachebene. Die im Archiv enthaltenen Zeugnisse sind weder gut noch schlecht, weder wichtig noch unwichtig, weder schön noch hässlich. Sie sind dokumentarisch, und im besten Fall: direkt erlebt, nachvollziehbar reflektiert und redlich verzeichnet. Sie können in diesem Prozess in einer Weise geformt werden, die wir gewohnt sind „Kunst“ zu nennen. Es ist aber nur eine gegenseitige Anpassung von überlieferten Darstellungsformen und erlebtem Inhalt.
Es war schon bei der ersten Lektüre eine Herzenslektüre, und ich habe gar nicht verstanden, warum. Nun hatte ich gerade den literarischen Realismus für mich entdeckt, seine brave, etwas umständliche, aber durchweg liebevolle Schilderung von realen, blassen, unscheinbaren Dingen, Menschen, Geschichten. Die völlige Abwesenheit einer übergeordneten Idee war mir geradezu erholsam nach einer etwas überstrapazierten idealistischen Jugend. Ich kaufte viele Bände in einem der letzten Antiquariate dieser Welt, bevor amazon und der kindle diesem speziellen Habitat ein rasches Ende bereiteten; es waren alte, blasse, gelegentlich angeschmutzte, aus einem Haushalt wahrscheinlich, der seine einstigen bildungsbürgerlichen Ambitionen neben den DDR-Memorabilien eingemottet hatte. Aber sie waren gut genug fürs abendliche binge reading mit Zitronentee und kleinen Mengen Schokolade im Wohnheim am Berg in Jena. So las ich mich durch die realistische Literatur Kerneuropas, in schlechten deutschen Übersetzungen und insgesamt mit eher wenig analytischer Aufmerksamkeit. Einiges aber blieb stecken, und diese eine ganz besonders: Es war Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsang.
Nun war dies sicherlich noch eines der idealischeren Werke des deutschen Realismus: Drei Jugendfreunde suchen das Ideal im Leben und finden – die Verzweiflung, das Bürgertum und die große Welt. Aufgewachsen in einem wahrhaften „grünen Fleck“, dem kleinen Stadtteil "Vogelsang" nämlich, der seinem idyllischen Namen durchaus gerecht wird; in bemerkenswert patchwork-artigen Familien erzogen oder nicht erzogen, mit Familienfreundschaft und guter Nachbarschaft, und ich sah die immer wieder erwähnten „lebendigen Hecken“ im Garten meines Großvaters vor mir, und ich habe selbst seit Jahren einige sehr lebendige Hecken, bewohnt von lautstarken Vögeln, und bald werden es die letzten sein in der ganzen Nachbarschaft. Das alles war der Vogelsang, wo man über die Hecke hinweg sprach und wo die Kinder den ganzen Tag lang herumstromern durften, ihre geheimen Orte hatten und ihre idealistischen Pläne für die Zukunft. Dabei gab es auch Mobbing, und es gab ein wenig Dramatik, wenn mal wieder ein Kind in den See gefallen war und gerettet werden musste; es gab nicht viel Geld und die daraus erwachsenden Sorgen und Probleme, aber am Ende des Tages war alles gut, weil: Es war der Vogelsang. Der Vogelsang jedoch, und das würde ihn sogar aktuell machen, wenn man auf so etwas steht; der Vogelsang jedoch musste sterben, er stirbt das ganze Buch über dahin, und mit ihm sterben eine Lebensform und die Träume der jugendlichen Vogelsang-Bewohner.
Ich könnte nun noch viel schreiben über den Roman, den ich später sauber bis in seine verstecktesten Winkel analysiert habe („darf man einem Text so an die Wäsche gehen?“, fragte der Kollege in einem anderen Zusammenhang, und ich war belustigt von der Metapher und betroffen von ihrer Weisheit; trotzdem, ich mache es bis heute, die Warnung bleibend im Ohr). Und ich habe ihn beim ersten Male ganz sicher so identifizierend gelesen, wie lange Zeit zuvor nichts mehr; was wohl deshalb so ausgezeichnet klappte, weil ich mich ein wenig mit allen drei Hauptfiguren identifizieren konnte. Der Spalt, die Spannung zwischen Karl und Velten, dem Bürger und dem Künstler (mit Thoms Mann gesprochen) ging durch meine eigene Seele, und dazwischen tanzte Helene, Frau durch und durch, Inbegriff der Lebendigkeit und ein Weltkind von hohen Graden und bei alledem reinster Vogelsang. Während sie in die Welt geht und reiche Männer heiratet, gründet Karl seine Familie; und Velten studiert, es wird noch nicht einmal so recht gesagt, was, es ist auch egal: Denn Velten ist von einer derart tiefsitzenden Melancholie, dass sie sich sogar über die hellen Teile des Buches ausbreitet. Velten könnte alles machen, er ist klug über die Maßen, er ist sogar gebildet, belesen in der Weltliteratur seit der Antike, ein williger und origineller Zitatenspender, ein grandioser Unterhalter, wenn er will. Er ist sicherlich, und das kommt mir schwer über die Zunge: ein Romantiker; aber nur insofern, als er in einem durchaus romantischen, großen Sinn in die Welt verliebt ist, ihre Schönheit und Vielfalt (das arme, zerschundene Wort!). Dass diese Liebe sich dann konzentriert über Helene ergießt, ist ganz folgerichtig, denn Helene ist genau diese Welt, die man lieben könnte, die große, lebendige, in jedem Sinne aufgeschlossene Welt. Und Helene kriegt er nicht, das ist klar, und das ist tragisch. Weshalb er ab einem bestimmten Zeitpunkt in seiner kurzen Lebensgeschichte (er selbst weiß, dass sie kurz sein wird, von Anfang an), beschließt, dass nur Eines des Findens für jemand wie ihn würdig und lebensrettend sein würde: ein kaltes, empfindungslos gewordenes Herz. Denn, so schrieb der junge Goethe, der einige ganz bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit dem jungen Velten aufweist, und der junge Velten hängt sich den Spruch übers Bett: „Sei gefühllos! / Ein leichtbewegtes Herz / Ist ein elend Gut / Auf der wankenden Erde“. Ach, wenn es doch so leicht wäre, gefühllos zu sein, zur Unempfindlichkeit geschmiedet in der Kältekammer des Lebens, ein klarer Kristall, von Eis, ungetrübt, untrübbar. Ja, das konnte ich verstehen.
Was ich beim ersten Lesen jedoch noch nicht verstand, war die Sache mit dem Herzensmuseum. Velten hat näm-lich eine Mutter, er hat nur eine Mutter; der Vater war früh gestorben, und sie hatte den sehr besonderen Sohn sehr besonders großgezogen in der Güte ihres sehr großen Herzens; und sie selbst war das Herz (ja, man muss hier so viel „Herz“ sagen, es ist nötig, es ist geradezu aus Abhärtungsgründen nötig) des gesamten Vogelsangs, und so lange ihres schlug, gaben sich auch die Anderen Mühe, die Vögel sangen noch einmal besonders herzlich in den Hecken. Aber niemand lebt ewig, auch nicht Mutter Velten (Amalie hieß sie, wenn ich mich richtig erinnere). Und so stirbt sie irgendwann, nicht besonders dramatisch, in ihrem kleinen „Herzensmuseum“; denn das hat sie sich eingerichtet, solange der Sohn in der Fremde war; es enthielt alles, was je dem Gatten oder dem Sohn lieb gewesen war und von dem sie sich nicht trennen konnte; weil an ihm Leben hing, gelebtes Leben, wenn auch nur noch im Destillat der Erinnerung. Und was tut Velten, der einzige Sohn, direkt nach der Beerdigung? Er geht hin und verschenkt alles davon, was sich nur verschenken lässt, und den Rest verbrennt er, gemeinsam mit dem widerwilligen, aber dann wie immer folgsamen Freund Karl. Und das, das war für mich – ein Skandal, monströs, unverständlich. Wie kann man das tun, das Herzensmuseum verbrennen? Und warum ist es nötig?
Denn die Idee eines Herzensmuseums selbst fand ich sehr für mich verständlich („sehr aus mir selbst“, sagte Velten gern, wenn man ihn fragte, wo er einen besonders abwegigen und richtigen Gedanken habe, „sehr aus mir selbst“, und das zitiere ich gern, es erkennt aber keiner). Natürlich baue ich auch Herzensmuseen, aus Freund-schaftsgaben, Funden, und, im Unterschied zu Amalie: auch Eigenem. Man kann es Sammeltrieb nennen, es ist zum Glück nicht das, was man Messietum nennt. Aber es ist von beidem etwas und viel mehr: Es ist eine Befestigung gegen das Leben. Gegen den Verlust. Gegen das Alter. Gegen das Vergessen. Wenn alles weggeht, wird etwas bleiben, an dem man sich festhalten kann. Und so verbringt man, verbrachte ich die erste Lebenshälfte damit, mein Herzensmuseum anzulegen und zu vergrößern. Es kam so viel willig dazu, es fügte sich schön, der Platz war da. Und wer denkt schon an den Tod mitten im Leben?
Mitten im Leben kommt der Tod, auf einmal, und er macht einen Bruch, und es wird niemals heil. Nach diesem Bruch, aber das wurde mir erst nach und nach mühsam klar, lebt man auf das Ende zu, also: das geschlossene Ende. Nicht mehr das offene Ende, das "Zukunft" heißt und so viele Möglichkeiten hat! Nein, von nun an heißt es: Sich einschränken. Möglichkeiten abschreiben. Fertig werden. Kleiner werden, nicht mehr sich ausdehnen. Weniger Raum. Und je mehr mir dieses alles klar wurde, und je mehr ich mir wünschte, ein völlig fühlloses Herz zu haben (zur Hälfe hatte ich es schon geschafft), desto mehr verstand ich auf einmal: Man kann das Herzensmuseum nicht nur verbrennen, man muss es sogar verbrennen. Wenn man es den Nachkommen ersparen will (der Sohn könnte ja auch ein allzu warmes Herz haben), dann muss man es sogar selbst tun, Stück für Stück. Man geht so dem Tod entgegen und wird selbst leichter. Gefühlloser. Man braucht schon immer weniger Platz, wir wissen alle, wie wenig ganz am Ende übrigbleibt. Aber es ist schwer, so schwer.